15
Als Jack auf ihr lag, ließ Callie ihre Hände sanft über die weiche Haut auf seinem Rücken gleiten, und als er sie küsste, wusste sie, dass ihre Entscheidung richtig gewesen war. Sie begehrte ihn, und er begehrte sie. Ihre Jungmädchenfantasien von perfekter Liebe hatten keinen Platz in der realen Welt. Alles, was man jemals hatte, war das Hier und Jetzt.
Und was sie augenblicklich hatte, war ein beinahe nackter Jack, der mit zitternden Händen über ihren Körper strich.
Küssend bahnte er sich einen Weg von ihrem Hals hinab zu ihrer Brust und schob eine Hand in ihren Slip. Ungeduldig reckte sie ihm die Hüften entgegen, denn sicher wäre es ein herrliches Gefühl, ihn endlich zu berühren, ohne dass auch nur ein Hauch von Stoff zwischen ihren Körpern lag. Er schob den Slip an ihr herab, und sobald er sie des hauchdünnen Seidenhöschens entledigt hatte, glitt er mit der Hand an der Innenseite ihres Oberschenkels wieder herauf.
»Ich brauche dich«, stieß er mit rauer Stimme aus. »Oh Gott …«
Sie spürte seinen warmen, nassen Mund an ihrem Nabel, doch der Schock über den Kuss ging in einer Hitzewoge unter, weil er mit den Fingerspitzen über ihren Venushügel strich. Dabei stieß er ein zufriedenes Knurren aus, und sie umfasste, da sie seinen Mund auf ihren Lippen spüren musste, sehnsüchtig sein Gesicht.
Als er sich von ihr löste, protestierte sie, aber er zog nur seine Hose aus, warf sie, dicht gefolgt von seinen Boxershorts, achtlos auf den Boden und schob sich völlig unbekleidet wieder über sie. Sie reckte sich ihm nochmal entgegen und war erneut frustriert, denn wieder unterbrach er ihren Kuss und richtete sich auf.
»Ich kann mich nicht mehr beherrschen, ich … Sag mir, dass ich zur Hölle fahren soll, sonst …« Die Adern an seinen Schläfen schwollen sichtbar an, und auch seine angespannten breiten Schultern machten deutlich, dass er sich nur noch mühsam unter Kontrolle hielt.
Für den Bruchteil einer Sekunde verspürte Callie Angst. Dies war also der große Augenblick.
Sie sah ihn reglos an. Wenn sie ihm jetzt die verlangte Antwort gäbe, würde es nicht weiter gehen. Dann könnte sie morgen früh erwachen, ohne bis ins Paradies vorgedrungen zu sein. Noch immer als Jungfrau. Wieder allein.
Aber, verdammt noch mal, das Leben war einfach zu kurz, um sich immer nur zurückzuhalten, dachte sie. Deshalb rahmte sie erneut sein Gesicht mit ihren Händen, zog seinen Mund zu sich herab und flüsterte ihm zu: »Ich möchte, dass du mit mir schläfst.«
Er atmete erleichtert auf, küsste sie erneut, rutschte ein wenig auf ihr herum und schob sich dann kraftvoll in sie hinein.
Sie zog eine Grimasse, doch sofort wurde der stechende Schmerz von einem Glücksgefühl ersetzt, das alles, was sie bisher empfunden hatte, übertraf. Sie murmelte zufrieden vor sich hin, dann aber wurde ihr bewusst, dass Jack völlig reglos auf ihr lag.
Sein Gesichtsausdruck gefiel ihr ganz und gar nicht.
Seine Augen waren vor Entsetzen aufgerissen, und er starrte blind auf irgendeinen Fleck hinter ihrem Kopf.
»Jack?«, fragte sie leise.
Sein Blick war völlig leer. Sie hätte ihn beinahe nicht mehr erkannt, und es brachte sie aus dem Gleichgewicht, einen völlig Fremden anzusehen, vor allem, da er noch in ihr war.
»Alles in Ordnung?«, fragte er mit hohler Stimme.
Als sie nickte, zog er sich langsam aus ihr zurück, hüllte sie vorsichtig in die Decke ein und setzte sich auf den Rand des Bettes.
»Sag mir, dass du nicht … dass du nicht noch …«
»Dass ich nicht noch Jungfrau war?« Sie konzentrierte ihren Blick auf seine auf den Knien abgestützten Hände und nickte verhalten mit dem Kopf. »Tja, doch.«
Er sah sie von der Seite an. »Und du findest nicht, dass du das hättest vorher erwähnen sollen?«
»Ich habe einfach nicht mehr nachgedacht.«
Er schüttelte den Kopf. »Himmel …«
»Warum macht es einen Unterschied, dass es für mich das erste Mal gewesen ist? Schließlich hättest du auch kein Problem damit gehabt, wenn ich vor dir auch schon mit einem anderen geschlafen hätte, oder?«
Er stieß ein harsches Lachen aus. »Gott, ich kann es selbst kaum glauben, dass mir dieser Satz über die Lippen kommt, aber ich bin froh, dass ich für dich der Erste bin.« Er hörte auf, den Kopf zu schütteln, und fügte hinzu: »Ich wünschte mir nur, ich hätte es gewusst. Denn dann hätte ich alles ganz anders gemacht.«
»Ich, ähm, ich fand es schön so, wie es war.«
Es folgte ein Moment der Stille. Sie fing an zu frieren, als sie daran dachte, dass er vielleicht seine Kleider einsammeln und aus dem Zimmer stürzen würde wie der Typ am College.
Doch das würde er nicht tun, sagte sie sich. Das würde er bestimmt nicht tun.
Er sah sie wieder an. »Das erste Mal sollte erinnerungswürdig sein.«
»Ich weiß nicht, Jack. Ich finde, dass du ziemlich unvergesslich warst«, sprach sie in bewusst munterem Ton, um sich nicht anmerken zu lassen, wie verzweifelt sie bei dem Gedanken war, dass er sie vielleicht im nächsten Augenblick unbefriedigt und allein hier liegen ließ.
Er bedachte sie mit einem ernsten Bick, und sie konnte sehen, dass er sich fragte, ob ihre Gelassenheit vielleicht geheuchelt war.
Dann aber räusperte er sich. »Ich würde es gern … noch mal versuchen.«
Lächelnd streckte sie die Arme nach ihm aus.
Vorsichtig, als wäre sie zerbrechlich, schob er sich wieder an sie heran, strich mit seinen Knöcheln über ihre Wange und schob eine Strähne ihres Haars hinter ihr Ohr. Dann glitt seine Hand über ihren Kiefer bis zu ihrem Kinn, und er zog mit dem Daumen die Konturen ihrer Unterlippe nach. Seine Fürsorge und Sanftheit zähmten das Verlangen, das ihm wieder deutlich anzusehen war.
Dann gab er ihr einen derart leichten Kuss, dass es geradezu frustrierend war, doch obwohl sie sich begehrlich an ihn schmiegen wollte, behielt er auch weiter einen kleinen Abstand zu ihr bei, streichelte zärtlich ihren Hals, ihr Schlüsselbein und ihren Bauch und rief dadurch ein herrliches Gefühl sinnlicher Trägheit in ihr wach.
Egal, wie sehr sie sich bemühte, ebenfalls aktiv zu werden, glitt er weiter mit dem Mund und mit den Händen über ihren Leib, und auch, als sie sich bei ihm beschwerte, ließ er es nicht zu und hielt seinen Körper standhaft auf Distanz. Sie versuchte, ihn auf sich herabzuziehen, aber er stützte sich weiterhin auf einer seiner Hände ab und küsste ihre Brüste und ihren Bauch, während er mit seiner anderen Hand sanft über ihre Oberschenkel strich. Sie litt wunderbare Qualen, und der Druck in ihrem Inneren nahm immer weiter zu, bis sie ihm die Arme um den Rücken schlang und ihre Nägel tief in seiner Haut vergrub.
Und dann küsste er sie an einem Ort, an den niemals zuvor ein Mund gedrungen war.
Ihr wurde siedend heiß, und erst als die Wellen der Lust ein wenig verebbten, glitt er abermals an ihr herauf, drang wieder in sie ein und rief dadurch nichts als süße Freude in ihr wach.
»Callie?«, fragte er rau. »Bist du okay?«
Es klang, als spräche er mit zusammengebissenen Zähnen, und sie spürte über sich und in sich, dass er zitterte wie Espenlaub.
»Du fühlst dich einfach herrlich an«, murmelte sie an seinem Hals.
Er verharrte völlig reglos, und während sie mit ihren Händen über seine harten Rückenmuskeln strich, kam ihr plötzlich der erschreckende Gedanke, dass ihn ihr Zusammensein vielleicht nicht so befriedigte wie sie.
»Bist du … ist es für dich okay?«
Er ließ den Kopf auf ihre Schulter sinken. »Allmächtiger. Natürlich ist es das.«
Während sie sich leicht unter ihm bewegte, entlockte die Reibung ihrer Körper ihm ein lautes Stöhnen.
Und dann packte er sie endlich fester, begann, sich in ihr zu bewegen, und als seine Stöße an Kraft gewannen, wogte in ihnen beiden glühende Hitze auf. Sie schrie heiser auf, da sie abermals ein greller Blitz zu durchzucken schien, und hörte das dumpfe Stöhnen, das gleichzeitig aus seiner Kehle drang, als ein heftiger Schauder durch seinen Körper rann.
In der darauf folgenden Stille spürte sie, wie er sich schwer atmend entspannte.
»Alles in Ordnung?«
Callie nickte, denn sie traute ihrer Stimme nicht.
Sie war froh, dass sie auf ihn gewartet hatte, und als ihr eine Träne aus dem Augenwinkel rann, war sie dankbar, dass es dunkel war. Sie wollte ihm nichts erklären müssen, weil es ihr bestimmt nicht leichtfallen würde, ihm verständlich zu machen, wie herrlich ihr Zusammensein, wie gut er zu ihr gewesen war.
Jack verlagerte ein wenig sein Gewicht, bis er neben ihr lag, und sie wandte sich ab und nahm das helle Licht des Mondes hinter dem Buntglasfenster wahr. Er streichelte ihr sanft die Wange, hielt dann aber plötzlich inne, als er auf die Spur ihrer vergossenen Träne traf.
»Was ist los, Callie?«
Der erstickte Laut, der ihr entfuhr, hätte ein selbstbewusstes Nichts sein sollen.
Er drehte ihr Gesicht zu sich herum. »Sag mir, was los ist.«
Schniefend wischte sie die Träne fort. »Ich bin einfach ein bisschen rührselig, sonst nichts.«
»Habe ich dir weh getan?«, fragte er mit einer dunklen, maskulinen, samtig weichen Stimme, die verriet, dass er ehrlich in Sorge um sie war.
Noch nicht, ging es ihr durch den Kopf. Und, bei Gott, sie konnte nur hoffen, dass es auch in Zukunft dabei blieb.
»Callie?«
Er wischte ihr die zweite Träne fort, und sie gab zögernd zu: »Ich will mich nicht in dich verlieben.«
»Gütiger Himmel, ein solches Glück müsste ich haben …« Dann brach seine Stimme ab. »Du weißt, dass ich dir nie weh tun will, nicht wahr?«
Sie nickte stumm.
»Und dass ich mir alle Mühe geben werde, es auch nicht zu tun.«
Sie fing an, sich Sorgen darüber zu machen, was aus ihnen beiden würde, dann aber riss sie sich zusammen. Die Gegenwart. Sie hatte die Gegenwart. Er war jetzt mit ihr zusammen und hielt sie fest im Arm. Der Gedanke an die Zukunft würde nur das Glück zunichtemachen, das ihr momentan beschieden war.
Entschlossen machte sie die Augen zu, schob sich dicht an ihn heran und legte ihren Kopf auf seinen Arm.
Er streichelte sie sanft, und nach wenigen Minuten versank sie in einen glückseligen Schlaf.
Früh am nächsten Morgen spürte sie, wie er sich neben ihr erhob. Im grauen Dämmerlicht verfolgte sie, wie er in seine Hose stieg, den Reißverschluss zuzog und sie zuknöpfte. Als er sich zu ihr umdrehte und ihren Blick bemerkte, fragte er sie lächelnd: »Darf ich dir noch einen Guten-Morgen-Kuss geben, bevor ich gehen muss?« Wieder hatte seine Stimme diesen herrlich seidig-weichen Klang.
»Bitte.«
Er setzte sich neben ihr aufs Bett, beugte sich über sie, und sie reckte ihren Kopf, er aber griff nach ihrer Hand, drehte sie um und presste seine Lippen sanft auf ihre weiche Handfläche.
»Guten Morgen, Callie.« Vorsichtig klappte er ihre Finger wieder um, küsste sie zärtlich auf den Mund und verließ den Raum.
Als sie zum zweiten Mal erwachte und sich streckte, spürte sie eine ungewohnte, aber durchaus angenehme Anspannung. Sie rollte sich auf den Rücken, blickte unter den Baldachin des Bettes und dachte an Jack. Weil die Erinnerung an das, was letzte Nacht geschehen war, einfach unwiderstehlich war.
Sie hatte recht gehabt. Er war ein unglaublicher Liebhaber, wenn auch vielleicht nicht aus den anfangs angenommenen Gründen. Da die Art, wie er sie anschließend im Arm gehalten hatte, der beste Teil ihres Zusammenseins gewesen war.
Nachdem sie schließlich aufgestanden war, sah sie, dass sein Hemd noch auf dem Boden lag, und hob es auf. Sie hielt sich den feinen Baumwollstoff dicht vor das Gesicht und atmete den Duft nach Zedernseife und nach Jack so tief wie möglich ein.
Dann sah sie sich um und bemerkte die abgesprungenen Knöpfe seines Hemds auf dem teuren Teppich vor dem Bett. Fände eins der Mädchen sein kaputtes Hemd hier in ihrem Zimmer, spräche sich die Neuigkeit von ihnen beiden sicher wie ein Lauffeuer herum. Deshalb räumte Callie eilig auf, duschte, zog sich an, klemmte sich sein Hemd unter den Arm und ging über den Flur. Als auf ihr Klopfen keine Antwort kam, öffnete sie vorsichtig die Tür und sah sich um.
Die Antiquitäten und die Ölgemälde hatte sie erwartet, was sie jedoch überraschte, war die Anonymität des Raums. Nirgends gab es auch nur einen Schnappschuss von Jack in den Ferien, kein einziges Kleidungsstück hing über der Lehne eines Stuhles, kein Buch und keine Zeitschrift lag auf dem Tisch neben dem Bett. Der Raum sah aus wie ein luxuriöses Zimmer in einem Hotel, das nichts von dem Menschen offenbarte, der hier schlief.
Was hätte ihr das Farbschema des Raumes auch über ihn verraten sollen?, überlegte sie, während sie auf die dunkelgrünen Wände sah.
Das Einzige, was nicht in einem tadellosen Zustand war, war das breite Bett. Die Decke war zurückgeschlagen und die Kissen an dem samtbezogenen Kopfteil aufgestellt, als hätte Jack eine Zeitlang dort gesessen und nachgedacht.
»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte Mrs Walker laut.
Callie wirbelte herum, als die Frau den Flur herunterkam, als ob sie durch das Betreten von Jacks Zimmer die natürliche Ordnung der Dinge auf den Kopf gestellt hätte.
Dann sah die Frau das Hemd in Callies Hand und fragte mit zugekniffenen Augen: »Brauchen Sie etwas von meinem Sohn?«
Nein, dachte Callie, er hat mir letzte Nacht bereits alles gegeben, was ich von ihm will.
Sie straffte die Schultern und dachte an Regel Nummer vier im Umgang mit Tyrannen, nämlich, dass Unwissenheit manchmal ein Segen war. Wenn man ein Problem einfach nicht als solches anerkannte, existierte es auch nicht.
Deshalb trat sie seelenruhig neben das Bett und legte das Hemd auf dem zerwühlten Laken ab.
»Guten Tag, Mrs Walker«, murmelte sie, als sie den Raum wieder verließ.
Damit hatte sie die Frau zum ersten Mal sprachlos gemacht.
Trotzdem wünschte sie sich auf dem Weg zur Küche, Mrs Walker wäre nicht genau in dem Moment vor Jacks Zimmer aufgetaucht. Oder sie wäre nicht so gewissenhaft gewesen und hätte das Hemd einfach in einer ihrer Schubladen versteckt, bis sie es Jack hätte wiedergeben können.
Ach, verdammt. Es war, als ob man einen Autounfall hatte, nur weil man mit dem Anlegen des Gurts beschäftigt war.
Als sie in die Küche kam, musste sie lächeln, denn sie sah Jack mit einer Tasse Kaffee über seiner Zeitung sitzen. Mit dem Anzug und dem tadellos gebundenen blauen Seidenschlips wirkte er viel zu zivilisiert, um auch nur die Hälfte der Dinge von letzter Nacht zu tun.
Aber als er aufsah, loderte in seinen Augen noch immer dieselbe Glut.
»Guten Morgen.« Mit einem langsamen, verführerischen Lächeln legte er die Zeitung fort. »Wie hast du geschlafen?«
Callie hatte das Gefühl, als breite sich so etwas wie ein Buschfeuer aus ihrem Bauch bis in ihre Wangen aus. »Gut. Sehr gut«, gab sie krächzend zurück.
»Komm her«, bat er sie sanft.
Sie vergewisserte sich eilig, dass sie beide ganz alleine in der Küche waren, trat dann aber auf ihn zu. Sobald sie in Reichweite von seinen Armen war, streckte er sie nach ihr aus und zog sie an seine Brust. Instinktiv griff sie nach seinem Haar, hielt dann aber inne, denn sonst hätte sie ihm sicher die Frisur zerzaust.
»Nein, fass mich an«, bat er. »Wo du willst.«
Während sie mit den Fingern durch das dunkle Dickicht fuhr, sah er zu ihr auf. »Tut mir leid, dass wir heute Morgen nicht mehr Zeit miteinander hatten, doch ich dachte, es wäre dir lieber, wenn nicht gleich die ganze Welt etwas von uns beiden erfährt.«
»Stimmt.« Sie gab ihm einen leichten Kuss, so schnell aber ließ Jack sie nicht gehen. Als er jedoch seine Zunge zwischen ihre Zähne schieben wollte, trat sie einen Schritt zurück.
Darauf ließ er von ihr ab, und ihm war deutlich anzusehen, wie frustriert er war. »Am liebsten würde ich wieder nach oben gehen und den Tag richtig anfangen. Oder, was am allerbesten wäre, heute gar nicht aufstehen.«
Sie lächelte, als Thomas über die Hintertreppe in die Küche kam, und während er mit Jack sprach, machte sie sich eine Kleinigkeit zu essen und dachte an den vor ihr liegenden Tag. Dabei fiel ihr das Schreiben ein, auf das sie in der Dokumentenbox gestoßen war, und sie fragte Jack: »Hast du, bevor du gehst, noch eine Minute Zeit für mich? Oben in meinem Atelier ist etwas, was ich dir gerne zeigen würde.«
Er schnappte sich seine Aktentasche und marschierte Richtung Tür. »Das ist eine fantastische Idee.«
Lachend lief sie hinter ihm her, als er, dicht gefolgt von Artie, in Richtung Garage ging. Es war ein derart kalter Morgen, dass ihr Atem in Form kleiner weißer Wölkchen vor ihren Gesichtern hing.
»Übrigens, Jack, ich glaube, wir haben ein Problem.«
»Mit dem Gemälde?«
»Nein. Deine Mutter hat mich heute Morgen in deinem Zimmer überrascht.« Als sie seine hochgezogenen Augenbrauen sah, fügte sie schnell hinzu: »Ich habe dir dein Hemd zurückgebracht.«
»Ah.«
»Ich dachte, du solltest es vielleicht wissen. Sie sah nicht gerade glücklich aus.«
»Das kann ich mir denken.«
»Du klingst nicht sonderlich besorgt.« Sie öffnete die Garagentür.
Er setzte ein grimmiges Lächeln auf. »Denk dran, meine Mutter ist nicht dein Problem. Keine Sorge. Sie kann furchtbar bellen, aber beißen tut sie für gewöhnlich nicht.«
Callie dachte an den kalten, berechnenden Blick der Frau und war sich nicht ganz sicher, ob Jacks Einschätzung richtig war.
Auf der schmalen Treppe spürte sie ihn direkt hinter sich, und statt ihm den alten Brief zu zeigen, hätte sie viel lieber etwas völlig anderes getan.
Siehst du, deshalb sagen sie immer, dass man das Geschäftliche und das Private trennen soll, ging es ihr durch den Kopf. Sie war derart in die Erinnerung an ihr Zusammensein mit diesem Mann vertieft, dass sie von Glück reden könnte, wenn sie auch nur zwei halbwegs zusammenhängende Sätze hinbekäme.
Vor allem war sie fürchterlich enttäuscht, da er sofort vor das Gemälde trat.
Als er auf die Leinwand blickte, machte sie den Halogenscheinwerfer an, damit er besser sah. Die Arbeit, die sie in der unteren linken Ecke angefangen hatte, hatte sie am linken Rand des Bildes fortgesetzt.
»Du hast schon ganz schön was geschafft.«
»Es läuft auch wirklich gut. Ich glaube, ich habe genau das richtige Lösungsmittel erwischt. Es löst nur die alte Lackschicht ab, und ich habe zu meiner großen Freude festgestellt, dass die darunter liegende Farbe sehr solide ist. Ich freue mich wirklich schon darauf, wenn endlich sein Gesicht an der Reihe ist.«
Er richtete sich wieder auf. »Also, was wolltest du mir zeigen?«
Sein Blick fiel auf ihren Pulli und die abgewetzten Jeans, und sein erwartungsvoller Gesichtsausdruck verriet, dass er sie bereits entkleidet vor sich sah. Lächelnd trat sie vor den Tisch neben der Couch und nahm das Schreiben in die Hand.
»Ich will keine voreiligen Schlüsse ziehen, aber ich halte es für durchaus möglich, dass das hier Nathaniel geschrieben hat.«
Jack las das Brieffragment und legte es vorsichtig wieder auf den Tisch. »Ich hatte gehofft, dass du etwas in der Richtung finden würdest.«
Callie runzelte verwirrt die Stirn. Was sollte das heißen?
»Komm mit«, bat er sie und packte ihre Hand.