5
Am Dienstag nahm Callie einen Zug entlang der Küste von Connecticut bis zum Bahnhof im Bostoner Stadtteil Back Bay, fuhr von dort mit der S-Bahn weiter bis nach Wellesley und schleppte dann den alten Koffer und den prall gefüllten Werkzeugkasten eine steile Anhöhe hinauf.
Die Cliff Road hatte ihren Namen eindeutig zu Recht.
Als sie endlich vor den beiden Steinsäulen mit der richtigen Nummer stand, waren ihre Arme taub und ihre Schultern kribbelten, als ob eine ganze Ameisenarmee auf ihnen herumliefe. Sie ließ ihre Bürde einfach fallen und blickte in die Einfahrt, in der es nicht viel zu sehen gab, weil der Streifen Asphalt in einem Dickicht aus Bäumen und Büschen verschwand.
Sie hob ihre Sachen wieder auf, machte sich auf den letzten Teil der Reise und sagte sich wie seit ihrer Abfahrt aus New York bereits unzählige Male, dass es keinen Grund zur Sorge gab. Alles würde gut. Sie würde gute Arbeit leisten, und Jack Walker hätte viel zu viel mit der Leitung seines Imperiums zu tun, um sie zu belästigen.
Und selbst wenn es schrecklich würde, ginge es vorbei.
Als sie um eine Ecke bog, wogte neues Unbehagen in ihr auf.
Wie hieß dieses Monstrum? Glück?
Das dunkelgrau gestrichene Haus thronte wie ein Mausoleum auf dem steinernen Fundament. Es gab Veranden, Kuppeln, einen Turm, und aufgrund der vielen Schatten, die die diversen Dachvorsprünge, Ecken und Kanten warfen, sah das ganze Anwesen noch düsterer aus. Auch das Grundstück selbst trug nicht gerade zu einer Aufhellung ihrer Stimmung bei. Nur ein paar gestutzte Büsche und Beete mit grünen Bodendeckern lockerten die Strenge des Gebäudes etwas auf. Aber wenigstens waren diverse große Bäume um das Haus herum verteilt und streckten ihre Äste über einer sorgfältig gepflegten Rasenfläche aus.
Callie setzte sich wieder in Bewegung. Die Einfahrt war gute hundert Meter lang, teilte sich am Ende und führte zu beiden Seiten um das Haus. Linker Hand lag die Garage, die zwei Stockwerke hoch war und genügend Platz für einen kleinen Fuhrpark bot, und rechts gelangte man zu einer hohen Pforte, hinter der der Haupteingang des Hauses lag. Also ging sie nach rechts.
Vor der schweren Haustür stellte sie den Koffer und den Werkzeugkasten ab und erinnerte sich daran, dass sie ein geladener Gast und kein Eindringling war, als sie den Messingklopfer fallen ließ.
Die Frau von vielleicht Mitte vierzig, die ihr öffnete, unterzog sie einer eingehenden Musterung. Ihr Blick war weder unfreundlich noch wirklich warm.
»Ja?« Sie trug keine Uniform, aber ihr Auftreten verriet, dass sie eine Angestellte war.
»Ich bin Callie Burke.«
»Die Restauratorin?«, fragte die Frau sie überrascht.
Callie nickte stumm.
»Oh – natürlich, er hat uns gesagt, dass Sie heute kommen würden«, meinte sie, wobei ihr Blick auf Callies abgetragenen Mantel und den abgenutzten Koffer fiel. »Mrs Walker erwartet Sie bereits.«
Mrs Walker?
»Offen gestanden war ich mit Mr Walker verabredet.«
»Er ist noch nicht zuhause. Aber sie ist da.«
Überraschung, dachte Callie. Ihr war nichts von einer Ehefrau bekannt, allerdings hatte sie in letzter Zeit schließlich auch kaum noch Geld für Zeitungen gehabt. Doch es war irgendwie beruhigend, dass es eine Mrs Walker gab.
Außer, er hätte wirklich vorgehabt, sie vor ihrem Haus zu küssen, denn dann würde durch die Ehefrau alles noch verkompliziert.
Die andere Frau blickte sie unbehaglich an, deshalb wollte Callie von ihr wissen: »Ist etwas nicht in Ordnung?«
»Es tut mir leid, ich sollte … willkommen in Buona Fortuna«, antwortete sie und reichte ihr die Hand. Gleichzeitig wurde ihr Blick ein wenig freundlicher. »Ich bin Elsie, Mrs Walkers Privatsekretärin. Wir hatten jemanden erwartet, der ein bisschen …«
»Älter ist?«
Als Elsie nickte, ergriff Callie lächelnd ihre Hand und betrat das Haus. »Das verstehe ich.«
Im Halbdunkel der Eingangshalle machte sie mit wuchtigen Reliefs verzierte, mahagonivertäfelte Wände, einen raumhohen steinernen Kamin und jede Menge schwerer europäischer Möbel aus. Der Raum kam einem so belebt und so gemütlich wie die Renaissance-Ausstellung in einem Museum vor.
»Mrs Walker wird sofort herunterkommen. Warum warten Sie nicht im Wintergarten, und ich lasse Ihr Gepäck nach oben bringen?«
Callie nickte und zog ihren Mantel aus.
»Den können Sie mir geben. Brauchen Sie etwas?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, danke.«
»Der Wintergarten liegt dort hinten, neben der Bibliothek.«
Callie war erleichtert, als sie einen sonnenhellen Raum betrat. Mit seinen Glaswänden und dem hellen Schieferboden sah er aus, als hätte jemand völlig anderes ihn dekoriert.
Jemand, der nicht im fünfzehnten Jahrhundert als Medici geboren war.
Es gab chintzbezogene Sessel, ein bequemes Sofa sowie geflochtene weiße Beistelltische, auf denen aus orientalischen Vasen hergestellte hübsche Lampen standen, und die Blumen, die in tadellos gepflegten Beeten wuchsen, erfüllten die warme, feuchte Luft mit einem süßen Duft.
Callie blickte durch das Fenster auf die ausgedehnte Rasenfläche, als sie leise Schritte vernahm. Neugierig auf Jack Walkers Frau drehte sie sich um und starrte in die seelenvollen Augen eines irischen Wolfshunds, der die Größe eines kleinen Ponys hatte und mit seinem zotteligen grauen Fell nicht mehr der Jüngste war. Ein paar Meter vor ihr blieb er stehen und wedelte zögernd mit dem Schwanz.
»Aber hallo«, begrüßte sie ihn sanft, während sie vor ihm in die Hocke ging.
Während er langsam und ein bisschen schwankend näher kam, erkannte Callie, dass sein Schädel größer als ihr eigener war, aber trotz seiner beeindruckenden Größe machten seine Augen deutlich, dass der Kerl ein Schaf im Wolfspelz war. Er blickte freundlich drein.
Sie streichelte dem Tier den Kopf, als plötzlich jemand sagte: »Wie ich sehe, haben Sie Artie bereits kennengelernt.«
Callie blickte über ihre Schulter in ein makellos gealtertes Gesicht. Ihr erster Eindruck war, dass die Frau wahrscheinlich einmal wunderschön gewesen war. Der nächste, dass der Blick aus ihren braunen Augen ähnlich einladend wie ein auf sie gerichteter Elektroschocker war.
Mein Gott, ging es ihr durch den Kopf, dies ist nicht seine Frau.
Der große Jack Walker lebte mit seiner Mutter hier in diesem Haus.
Am liebsten hätte sie gelacht, aber ihr war klar, mit einem solchen Ausbruch hätte sie es sich vollends mit dieser Frau verscherzt. Schließlich sah die ehrenwerte Mrs Walker alles andere als humorvoll aus.
»Sie sind also die Restauratorin, für die sich mein Sohn entschieden hat«, meinte die Frau, während sie den Raum betrat. Durch ihr streng aus dem Gesicht gekämmtes, leuchtend weißes Haar wurden ihre spektakulären Wangenknochen vorteilhaft betont. Sie trug einen Hosenanzug aus Tweed, der die klaren Linien der Haute Couture aufwies, und hatte jede Menge schweren Goldschmuck um den Hals.
Sie wirkte wie die Idealbesetzung der Grande Dame in einem Theaterstück.
Eilig rappelte sich Callie auf. »Ja, ich bin Callie Burke.«
»Sie sind ein bisschen jung für einen solchen Auftrag, finden Sie nicht auch?« Ein kühles Lächeln folgte diesem Kommentar.
»Ich bin durchaus für diesen Job geeignet, Mrs Walker. Und auch Ihr Sohn ist offensichtlich davon überzeugt, denn sonst hätte er mich ganz bestimmt nicht engagiert.«
Das Lächeln schwand. »Ist Ihnen bewusst, dass dieses Porträt von Copley stammt?«
Als hätte Callie das Gemälde vielleicht aus Versehen als einen LeRoy Neiman klassifiziert.
»Selbstverständlich«, antwortete sie.
»Tja, falls Sie versagen, ist es Jack, der sein Geld verliert. Ganz zu schweigen natürlich von dem beachtlichen Verlust für die Kunstwelt, falls etwas danebengeht. Aber ich bin sicher, Sie werden Ihr Möglichstes tun.«
Callie zog die Augenbrauen hoch.
Nun, zumindest musste sie sich nicht extra bemühen, um die Verachtung herauszuhören, die in der Stimme dieser Hexe lag. Um noch offensichtlicher zu sein, hätte sie ihr ein Messer zwischen die Rippen rammen müssen oder so.
Obwohl ihr eine böse Antwort auf den Lippen lag, zwang sie sich, den Mund zu halten, und bemerkte überrascht, dass sich der Hund an ihre Beine schmiegte, wie um ihr zu zeigen, dass sie nicht alleine war.
Sie kraulte ihn zwischen den Ohren, und Mrs Walker runzelte die Stirn.
»Artie scheint Sie zu mögen.« Ihre zusammengepressten Lippen machten deutlich, dass sie nicht verstehen konnte, weshalb ihm die junge Frau sympathisch war. »Ich werde Elsie sagen, dass sie Ihnen ein Zimmer zuweisen soll. Jack hat eben angerufen und gebeten, Ihnen auszurichten, dass es heute Abend bei ihm später werden wird. Ich gehe ebenfalls noch aus, Sie werden also alleine sein.«
Was für eine wunderbare Neuigkeit.
Jacks Mutter wandte sich wieder zum Gehen, blieb aber noch einmal in der Tür des Wintergartens stehen und musterte den Gast von Kopf bis Fuß. »Wo in aller Welt hat Jack Sie aufgetrieben?«
Im Heim für notleidende Künstler, hätte Callie sie am liebsten angefaucht. Er hat mir das Leben gerettet, denn noch eine Woche ohne Arbeit und sie hätten mich vergast.
Doch sie hielt erneut den Mund. Am liebsten hätte sie der ehrenwerten Mrs Walker deutlich zu verstehen gegeben, wohin sie sich ihre arrogante Haltung schieben konnte, aber ihre Zeit in diesem Haus würde sicherlich auch so schon schwer genug. Und vor allem hatte sie schon Schlimmeres ertragen als die böse Zunge dieser Frau. Sie war mit einer dicken Brille, einer Zahnspange und abgetragenen Kleidern groß geworden, hatte einen Vater, der zu keiner Schulaufführung, keinem Elternabend oder Ähnlichem erschienen war, und Tyrannen waren immer gleich, ob man sie nun auf dem Pausenhof oder in dem eleganten Wintergarten eines Herrenhauses traf.
Vor allem sah es ganz so aus, als bräuchte sie sich gar nicht extra zu bemühen, Mrs Walker ihre Boshaftigkeit heimzuzahlen. Ihr Aufenthalt in diesem Haus war bereits Rache genug.
Elsie erschien in der Tür des Raums und bat mit angespannter Stimme: »Kommen Sie bitte mit!«
Artie folgte ihnen in den Flur, von dem aus es durch einen reich verzierten goldfarbenen Speisesaal in eine professionelle Küche ging.
Dort führte Elsie ihren Gast über eine enge Treppe zwei Stockwerke hinauf in einen kahlen, von sechs Türen gesäumten Flur. Anders als im Rest des Hauses, der vor Antiquitäten nur so überquoll, waren der Boden und die Wände dieses Traktes völlig kahl.
Elsie öffnete die Tür zu einem Raum, in dem es ein Bett, einen Tisch und eine Kommode gab. Die Wände waren weiß verputzt, der Boden aus blankem Holz, und unter dem Fenster stieß ein Heizlüfter ein lautes Zischen aus.
Dies war offenbar das Dienstbotenquartier.
Als Callie ihren Koffer in der Ecke stehen sah, blickte sie Elsie an. Eindeutig verlegen wies die andere Frau den Flur hinab.
»Das Bad ist hinter der dritten Tür rechts. Sie werden es mit Thomas teilen müssen, aber keine Angst. Er sieht auf den ersten Blick nicht reinlich aus, ist aber ein echter Sauberkeitsfanatiker.«
Callie zog die Augenbrauen hoch.
»Das klingt wirklich beruhigend«, murmelte sie, betrat den Raum und setzte sich aufs Bett. Dabei stieß der Rost ein derart lautes Quietschen aus, dass Elsie zusammenfuhr.
Callie sah sie lächelnd an. Was auch immer sie von ihrer Bleibe hielt, brächte sie ganz sicher nicht die Überbringerin der schlechten Nachricht um. »Kein Problem. Ich bin derart kaputt, ich könnte sogar auf dem Boden schlafen«, meinte sie.
Das Bett quietschte erneut, und mit dem Gedanken, dass sie vielleicht wirklich auf dem Boden landen würde, sah sie sich die nackten Pinienplanken an.
Elsie wandte sich zum Gehen.
»Der Rest des Personals hat heute seinen freien Tag. Ich werde jetzt auch nach Hause fahren, aber morgen bin ich wieder da«, erklärte sie, denn schließlich brauchte Callie eine Freundin in dem ungastlichen Haus. »Falls Sie irgendetwas brauchen oder möchten, kommen Sie einfach zu mir. Ich werde dafür sorgen, dass es Ihnen an nichts fehlt. Oh, der Kühlschrank unten in der Küche ist randvoll. Bedienen Sie sich einfach, ja?«
»Danke.«
Elsie starrte sie einen Moment lang an und machte ein Gesicht, als hätte jemand sie gezwungen, einen kleinen Welpen auszusetzen, bis sie schließlich verschwand.
Callie stand wieder auf, sah in den Flur hinaus und fragte sich, wer der geheimnisvolle Thomas war. Der Gedanke, sich im Bad mit jemand Fremdem abwechseln zu müssen, sagte ihr nicht wirklich zu. Aber war bezüglich dieses Jobs bisher überhaupt etwas nach Plan verlaufen? Nein. Weshalb also war sie derart überrascht?
Außerdem war sie nur eine Angestellte und kein Gast. Und einen eindeutigen Vorzug hatte ihre Unterkunft: Die Chance, dass sich Mrs Walker je in diesem Teil des Hauses blicken ließe, war gering.
Weshalb dieses Quartier vielleicht durchaus von Vorteil war.
Artie, der den Raum durchstreifte, unter dem Bett schnüffelte und die Ecken erforschte, hob den Kopf, als wolle er sie fragen, ob es vielleicht endlich in die Küche ging.
»Sorry, Artie, ich muss mich erst häuslich einrichten.«
Der Hund stieß einen Seufzer aus, ließ sich am Fuß des Bettes auf den Boden sinken, legte seinen Kopf auf seinen massiven Vorderpfoten ab und sah ihr beim Auspacken zu.
Callie verstaute ihre bescheidene Garderode in den Schubladen der Kommode und überlegte, wie lange Jacks Mutter wohl bräuchte, bis sie das Haus verließ.
Regel Nummer eins im Umgang mit Tyrannen: Eine gute Vermeidungsstrategie erstickt die meisten Konflikte schon im Keim. Am besten machte sie ganz einfach einen möglichst großen Bogen um die Frau.
Callie dachte an Mrs Walkers arrogantes, missbilligendes Gesicht und grinste.
Genauso machte man es schließlich auch mit jeder anderen Stechmücke.