19
Am nächsten Morgen leinte Callie Artie an, verließ, kaum dass es dämmerte, das Haus, und als sie wieder zurück nach Buona Fortuna kamen, war der Hund völlig erschöpft. Im Gegensatz zu ihr brauchte er keine Angst oder Enttäuschung abzubauen, zwei Gefühle, die den Menschen ebenso viel Energie spendeten wie Raketentreibstoff oder Koffein.
Sie waren kilometerweit am Straßenrand entlangmarschiert, hatten aber in Weston wieder kehrtgemacht, denn egal, wie aufgedreht sie war, könnte sie wahrscheinlich bis an die Grenze von New Hampshire laufen, ohne dass sie dadurch etwas anderes erreichte als diverse Löcher in den Sohlen ihrer Schuhe. Und vor allem hing dem armen Artie vor lauter Überanstrengung auch so bereits die Zunge aus dem Hals.
Als sie sich Buona Fortuna näherte, stand die Garagentür auf, und Mrs Walkers Jaguar war nirgendwo zu sehen. Das hieß, dass Jack schon losgefahren war. Er hatte es sich angewöhnt, Mercedes’ Jaguar zu fahren, weil der ein automatisches Getriebe hatte, das sich mit einem gebrochenen Arm problemloser bedienen ließ. Sie war enttäuscht, die Parkbucht leer zu sehen, da sie jetzt keine Gelegenheit mehr hätte, sich bei ihm zu entschuldigen.
Sie ließ Artie in die Küche, wünschte Thomas einen guten Morgen und ging in ihr Atelier.
Kaum hatte sie die große Lampe angemacht und sich vor ihren Tisch gesetzt, vernahm sie Schritte auf der engen Holztreppe. Sie drehte sich um und sah zu ihrer Überraschung, dass Jack heraufgekommen war.
Auch als sich ihre Blicke trafen, lächelte er nicht.
»Ich dachte, du wärst schon weg.« Sie legte den Holzstab, den sie mit Watte hatte umwickeln wollen, wieder weg.
»Ich arbeite heute von zuhause aus.« Die Hände in seine Jeanstaschen gesteckt trat er vor eins der Fenster und blickte hinaus. Der dicke Strickpullover, den er trug, brachte sein dunkles Haar besonders vorteilhaft zur Geltung, und sein Gesicht wurde vom winterlichen Sonnenlicht erhellt, als er in den Himmel sah.
»Wegen letzter Nacht«, setzte sie an. »Ich möchte mich bei dir entschuldigen. Ich war wütend und frustriert und …«
»Ehrlich?«, fragte er und sah sie über seine Schulter hinweg durchdringend an.
»Jack …«
»Ich möchte etwas klarstellen.«
»Okay.« Sie legte ihre Hände auf die Knie und beugte sich ein wenig vor, weil die Anspannung der Muskeln zwischen ihren Schultern unerträglich war.
»Ich habe dir gesagt, dass ich mehr von dieser Beziehung möchte als Sex und ein bisschen Zuneigung. Ich bin von Natur aus gierig und gebe mich niemals mit dem Zweitbesten zufrieden. Das habe ich noch nie getan. Ich will dich ganz, Callie. Nicht nur die hübschen Seiten, die du hast.« Er wandte sich ihr wieder zu. »Ich möchte über deine Vergangenheit Bescheid wissen, weil sie ein Teil von dir ist. Nicht, weil ich in Sorge bin, dass sie mir vielleicht irgendwann Probleme macht.«
»Das glaube ich dir.«
»Also sprich mit mir.«
Sie schüttelte den Kopf. »So einfach ist das nicht.«
»Du sagst, dass du mich liebst, aber wie kann das sein, wenn du mir nicht genug vertraust, um mir alles von dir zu erzählen? Hast du Angst, dass sich dann meine Meinung von dir ändert? Das wird sie niemals. Es gibt nichts, was du mir erzählen könntest, weshalb ich mich von dir abwenden würde.«
Sie blickte auf ihre Hände und fragte sich, ob sie sich vielleicht tatsächlich davor fürchtete, dass er sie dann verließ. Dachte sie allen Ernstes, dass er mit ihr brechen würde, nur weil ihre Eltern nicht verheiratet gewesen waren? Nein, natürlich nicht.
Jacks Stimme wurde rau. »Aber ich will dir etwas sagen. Dein anhaltendes Schweigen könnte mich vertreiben.«
Sie sah ihm ins Gesicht, als fände sie dort den Mut, den sie in sich selber finden musste, und atmete tief ein.
Dies war Jack, sagte sie sich. Dies war Jack. Dies war Jack. Dies war …
Mit dem Gefühl, als ob sie sich in ein schwarzes Loch stürzte, stieß sie mit sich überschlagender Stimme aus: »Ich bin ein uneheliches Kind.«
Sofort bekam er einen anderen Blick. Er drückte Erleichterung und gleichzeitig Trauer aus.
»Mein Vater war mit einer anderen Frau verheiratet. Er hatte eine Familie, ein komplettes Leben neben uns, weshalb meine Mutter und ich für ihn immer nur an zweiter Stelle gekommen sind. Er hat mich nie offiziell als seine Tochter anerkannt, und dort, wo sein Name stehen müsste, ist in meiner Geburtsurkunde nur ein Strich.«
Jack kam zu ihr zurück und legte seine starken Hände sanft auf ihren Schultern ab. »Das tut mir leid.«
»Ich – ich wuchs in dem Wissen auf, dass wir immer nur die zweite Wahl waren. Dass er meine Mutter nur genug geliebt hat, um sie niemals frei zu geben.« Sie schmiegte sich an ihn, lehnte ihren Kopf an seine Hüfte, und er machte ein Geräusch, das sie ermuntern sollte, ihm auch noch die letzten Einzelheiten zu erzählen, und das gleichzeitig sein Mitgefühl mit ihr verriet. »Während seiner Beerdigung stand ich in einem kleinen Birkenwäldchen fünfzig Meter von der Grabstätte entfernt. Ich wusste überhaupt nur, wo sie stattfand, weil ich meiner Halbschwester heimlich hinterhergefahren war.«
Er strich ihr das Haar aus dem Gesicht.
»Ich … es fällt mir schwer, darüber zu reden, weil ich bisher noch keinem Menschen davon erzählt habe. Ich wurde dazu erzogen, immer den Mund zu halten. Weil er nur so ein Teil von unserem Leben blieb.« Sie bemühte sich zu lächeln, doch es gelang ihr nicht. »Alte Gewohnheiten lassen sich eben schwer ablegen.«
»Ich bin froh, dass du es mir erzählt hast.«
Sie schlang ihm die Arme um die Taille und murmelte: »Ich auch.«
Er ließ seine Hand auf ihrem Rücken kreisen, und sie hob den Kopf, um ihm ins Gesicht zu sehen. »Ich weiß nicht, was ich dachte, was passieren würde, wenn ich es jemandem erzähle. Wenn ich es dir erzähle. Aber wider Erwarten ist weder mein Schädel explodiert noch sonst etwas Dramatisches geschehen.« Sie versuchte zu lachen, stieß allerdings eher ein halbes Schluchzen aus. »Meine Kindheit war nicht gerade leicht. Wenn andere Mädchen über ihre Väter sprachen, schwang immer ein solcher … Besitzerstolz dabei mit. Mein Vater hat dies getan, mein Vater hat das getan. Ich hatte einen Vater, meiner war er nicht. Nachdem ich jahrelang gehofft hatte, dass er doch noch einmal das würde, als was ich ihn gern gehabt hätte, musste ich irgendwann erkennen, dass ein besitzanzeigendes Fürwort einfach nicht zu unserer Beziehung gepasst hätte. Wenn ich von ihm als von meinem Vater gesprochen hätte, hätte ich damit etwas für mich reklamiert, was es einfach nicht gab.«
Jack nahm ihre Hand und zog sie von ihrem Stuhl. »Komm her, ich möchte dich im Arm halten.«
Das wollte sie auch.
Sie setzten sich aufs Sofa, und er zog sie sanft ganz nah zu sich heran. »Dir ist doch wohl klar, dass das der Fehler deines Vaters war, oder?«
»Ja.«
»Du hättest etwas wesentlich Besseres verdient.«
Darüber hatte sie bisher noch gar nicht richtig nachgedacht. Als Kind hatte sie immer viel zu viel damit zu tun gehabt, möglichst brav zu sein. Und als Erwachsene hatte sie versucht, endlich zu vergessen, was ihr alles vorenthalten worden war.
»Dann hast du mir also verziehen?«
»Vollkommen.«
»Weil ich dich nämlich nicht verlieren will.«
»Ich gehe nirgendwohin.« Er streichelte ihren Nacken.
»Ich wollte es dir wirklich sagen, aber …«
Er brachte sie mit einem Kuss zum Schweigen. »Keine Sorge. Das verstehe ich vollkommen. Und was die Wahl betrifft, möchte ich nicht, dass du dir Sorgen machst. Das wird sicher kein Problem.«
Sie machte sich erschrocken von ihm los. »Wie bitte?«
»Diese Geschichte würde die Medien nur interessieren, wenn dein Vater eine Person des öffentlichen Interesses gewesen wäre. Aber so können wir dich mühelos beschützen und erklären, dass deine Vergangenheit vollkommen uninteressant ist.«
»Ich glaube, ich höre nicht richtig«, murmelte sie ungläubig.
»Callie, ich will die Auswirkungen, die das alles auf dich hatte, nicht herunterspielen«, erklärte er. »Das will ich ganz sicher nicht.«
Sie fing an, den Kopf zu schütteln. Sie waren wieder genauso weit wie vorher, merkte sie. »Du verstehst nicht. Ich will keine Fragen beantworten, vor allem nicht die von irgendwelchen Journalisten.«
»Aber du brauchst keine Angst zu haben. Es wird alles gut. Nichts davon wird an die Medien durchsickern.«
Sie packte seine Schultern. »Doch, das wird es.«
Er sah sie aus zugekniffenen Augen an. »Wer war dein Vater?«
Sie ließ ihre Hände wieder sinken. So weit konnte sie nicht gehen. Nicht mal gegenüber Jack. »Ist es nicht genug zu wissen, was geschehen ist?«
»Offensichtlich nicht. Wer war er, Callie?«
Sie riss sich von ihm los und lief hektisch im Zimmer auf und ab.
»Du schließt mich schon wieder aus«, stellte er düster fest.
»Hör auf, mich zu bedrängen, ja?«
»Callie«, setzte er mit scharfer Stimme an. »Wenn ich dich unter Druck setze, dann weil ich nur die halbe Geschichte weiß. Weil du mir das Wichtigste auch weiterhin verschweigst.«
Sie fuhr zu ihm herum. »Ich hatte gehofft, ich wäre für dich das Wichtigste.«
»So habe ich es nicht gemeint.«
»Doch, Jack. Genau so hast du es gemeint. Du versuchst gewaltsam, jemanden aus mir zu machen, der in deine Pläne passt.«
»Weil ich will, dass du ein Teil von meinem Leben bist.« Er warf frustriert die Hände in die Luft.
»Zu deinen Bedingungen.«
»Das ist unfair, Callie. Ich versuche, dafür zu sorgen, dass es funktioniert, und du baust immer wieder neue Hindernisse auf. Was mir, falls mir die Bemerkung gestattet ist, wie ein reiner Willkürakt erscheint, solange du mir nicht die ganze Geschichte erzählst.«
»Kannst du mir nicht einfach vertrauen?«, wisperte sie.
Er wies auf seine Brust. »Und wie wäre es damit, dass du mir vertraust?«
Sie wandte sich ab, und fluchend fragte er: »Also, was willst du mir damit sagen? Dass du mich, wenn ich mich um das Amt des Gouverneurs bewerbe, sitzenlässt?«
Sie kniff die Augen zu. Oh Gott, in welche Richtung ging dieses Gespräch?
»Ich weiß nicht, Jack. Ich weiß es einfach nicht.«
Als Callie Jack im weiteren Tagesverlauf nicht noch einmal sah und er auch abends nicht wie bisher üblich in ihr Zimmer kam, ging sie davon aus, dass er sich erst einmal beruhigen musste und ihr die Gelegenheit gäbe, es ebenfalls zu tun. Aber nachdem zwei Tage vergangen waren, in denen sie ihm höchstens einmal flüchtig in der Küche oder im Flur begegnet war, wusste sie, dass er sie mied.
Sie legte den mit Watte umwickelten Holzstab fort und sah erneut auf ihre Uhr. Es war bereits sehr spät, und Jack war noch immer nicht aus dem Büro zurück. Er hatte es sich angewöhnt, spät heimzukommen, und verschwand sofort nach seiner Ankunft, selbst wenn es dann schon neun oder halb zehn war, umgehend in seinem Büro. Sie hoffte nach wie vor, dass er, wenn er mit seiner Arbeit fertig wäre, in ihr Zimmer käme, aber wenn sie morgens wach wurde, hatte sie wieder mal die Nacht allein verbracht.
Am Vorabend hatte Callie es nicht mehr ausgehalten. Sie hatte sich an den Küchentisch gesetzt, halbherzig ein Kreuzworträtsel gelöst und sich gesagt, sie würde auf ihn warten, ganz egal, wie spät er kam. Als er schließlich durch die Tür getreten war, war sie ihm durch den Flur gefolgt und hatte versucht, ihn dazu zu bewegen, irgendwas zu sagen. Er hatte geschwiegen, sie aber zumindest angesehen, während er vor die Bar in seinem Büro getreten war.
Sie hatte gerade die Sprache auf sie beide bringen wollen, da hatte er hinter seinem Schreibtisch Platz genommen und den Stapel Papiere zu sich herangezogen, der auf seinem Schreibtisch lag. Als sie hatte wissen wollen, was er machte, hatte er ihr knapp erklärt, es ginge um diesen Deal mit den Blutsbrüdern, der noch immer nicht abgeschlossen war.
Sie war weiter in der Tür stehen geblieben und hatte gehofft, er sähe sie erneut an, doch er hatte sich sofort in die Unterlagen vertieft. Seine gerunzelte Stirn und der konzentrierte Blick hatten ihr verraten, dass er nicht bereit war, sich durch irgendetwas oder irgendwen von der Arbeit abhalten zu lassen. Schon gar nicht von ihr.
Er hatte sie vollkommen ignoriert, und sie wäre am liebsten in Tränen ausgebrochen, als sie schließlich wieder gegangen war.
Callie schloss das Glas mit dem Lösungsmittel und löschte das Licht in ihrem Atelier. Sie wusste, ihr stünden ein weiteres einsames Abendessen und eine weitere schlaflose Nacht allein in ihrem Bett bevor. Und danach ein weiterer Tag, von dem sie nur hoffen konnte, dass er irgendwie vorüberging.
So konnte es nicht weitergehen. Heute Abend würde sie sich nicht noch mal einfach geschlagen geben. Heute Abend würde sie von ihm verlangen, dass er mit ihr sprach. Vielleicht war es ihr schwergefallen, sich ihm zu öffnen, er aber schloss sie komplett aus seinem Leben aus.
Sie ging zurück ins Haus und machte sich gerade was zu essen, als die Hintertür geöffnet wurde und ein großer Mann den Raum betrat.
Es war Jack. Sie blinzelte. Nein, nicht wirklich. Denn Jack hatte keine solche abgewetzte Lederjacke und auch kein so langes Haar.
»Aber hallo«, begrüßte der Doppelgänger sie in einem Ton, der ehrliche Bewunderung verriet. »Wer sind denn Sie?«
Sie blickte durch das Fenster hinter ihm auf einen alten Saab, der schräg zwischen den Lampen in der Einfahrt stand.
»Ich bin Callie Burke. Und Sie sind sicher …«
»Nate.« Er reichte ihr die Hand. »Jacks Bruder. Ist er da?«
Sie merkte, dass ihr dieser Mann sofort sympathisch war. Vielleicht wegen seines spitzbübischen Grinsens. Oder weil sie in seinem Gesicht ein Paar vertrauter brauner Augen sah, in denen keine kalte Reserviertheit lag.
»Er müsste jeden Augenblick nach Hause kommen.«
»Dann reißt er sich also wie gewöhnlich seinen Allerwertesten in seiner Firma auf. Ich muss den Jungen endlich dazu bringen, etwas lockerer zu werden.« Nate legte seinen Kopf ein wenig schräg und sah sie fragend an. »Sind Sie seine …«
Sie zwang sich zu lächeln, denn sie wollte sich nicht anmerken lassen, wie unglücklich sie war. »Nun, kommt ganz drauf an, wie Sie den Satz beenden wollten. Ich arbeite für ihn. Ich restauriere ein Porträt.«
»Richtig, den alten Copley.«
Sie nickte, und er lächelte.
»Und wie lange sind Sie schon mit ihm zusammen?«
Als sie anfing zu stammeln, schüttelte er den Kopf. »Versuchen Sie am besten gar nicht erst, es abzustreiten. Schließlich haben Sie unter Ihrem Pulli eins von seinen Hemden an. Das erkenne ich an dem Monogramm am Aufschlag.«
Sie sah an sich herab und merkte, dass sie aufgefallen war. Als sie das Hemd am Morgen angezogen hatte, hatte sie gedacht, dass niemand es bemerken würde, wenn sie eins von seinen Kleidungsstücken trug. Jack hatte das Hemd an dem Abend bei ihr vergessen, als er wütend in sein eigenes Schlafzimmer zurückgegangen war, und sie hatte es angezogen, weil sie sich ihm so näher fühlte.
»Ich möchte Ihnen nicht zu nahetreten«, meinte Nate, »aber Sie wirken gar nicht wie sein Typ. Was ein Kompliment ist.«
Callie schüttelte lächelnd den Kopf, und in dem Moment fuhr Mrs Walkers Jaguar in die Garage. Sofort spannte sie sich wieder an, versuchte allerdings möglichst gleichmütig zu wirken, als Jack über den Hof gelaufen kam. Beim Betreten des Hauses wirkte er erschöpft, doch sobald er seinen Bruder sah, setzte er ein breites Grinsen auf.
Die Männer umarmten sich, schlugen sich kraftvoll auf die Rücken, und nach einem kurzen Nicken in Callies Richtung wandte sich Jack sofort wieder dem Bruder zu.
»Gut, dich hier zu haben, Nate.«
»Finde ich auch. Da hast du aber ganz schön Mist gebaut«, stellte Nate mit einem Blick auf seinen Gipsarm fest.
»Gott sei Dank tut es kaum noch weh. Vor allem gibt das Ding eine hervorragende Waffe ab. Ich habe heute einen Wachmann und einen Anwalt damit bedroht. Hast du schon gegessen?«
»Zwei Hot Dogs und eine Tüte Lakritz.«
Jack rollte mit den Augen. »Und ich dachte, du wärst ein Feinschmecker.«
»Schließlich musste ich meinen Nitrat-Level oben halten, und Lakritz ist ein akzeptabler Ersatz für ein Sorbet, wenn man unterwegs ist und den Rachen reinigen muss. Ist Thomas da?«
Jack nickte in Richtung der Treppe, und Nate schrie gut gelaunt: »He, wo zum Teufel steckt der Koch?«
Als Thomas die Treppe heruntergestürzt kam, begegnete Callie Jacks kühlem Blick.
Oh ja, sie würde ihn noch heute Abend dazu zwingen, dass er mit ihr sprach. Denn von seinem andauernden Schweigen hatte sie inzwischen endgültig genug.
Während sich Nate und Thomas in der Küche unterhielten und Callie etwas aß, zog Jack eine kurze Jogginghose und ein ausgefranstes T-Shirt an und ging in den im Keller gelegenen Fitnessraum. Er hatte ihn bereits vor Jahren eingerichtet, als die Arbeit immer hektischer geworden war, und suchte ihn regelmäßig morgens nach dem Aufstehen und manchmal auch noch abends auf. Vor allem, wenn ihm vieles durch den Kopf ging wie im Augenblick.
Sowohl privat als auch geschäftlich standen die Dinge gerade nicht zum Besten, und die Katastrophen, die so plötzlich über ihn hereingebrochen waren, gaben ihm das Gefühl, nicht mehr alles unter Kontrolle zu haben. Was er, selbst wenn alles wie am Schnürchen lief, nur schwer ertrug.
Von den zahlreichen Problemen, die er hatte, war die Entfremdung von Callie am schmerzlichsten für ihn. Er hatte nicht erwartet, dass sie etwas vor ihm zu verbergen hatte und es Schwierigkeiten mit ihr geben könnte, wenn er sich um das Amt des Gouverneurs bewerben würde. Er war davon ausgegangen, dass der schwerste Teil vorüber war. Er liebte sie, sie liebte ihn, und obwohl er noch nicht so weit gegangen war, sie um ihre Hand zu bitten, hatte er sie in Gedanken längst in seine Pläne für die Zukunft integriert.
Nur, dass zwischenzeitlich das totale Chaos ausgebrochen war. Er wollte mit ihr reden, aber seine Gefühle waren einfach unberechenbar. In der einen Minute war er wütend genug, um einen Schlussstrich unter die Beziehung zu ziehen, und in der nächsten hätte er sie am liebsten auf Knien angefleht, dass sie ihn endlich wieder in die Arme nach. Er wusste, er wollte nicht wirklich Schluss machen. Der Wunsch war einzig eine Folge seiner Frustration und …
Gott, Verletztheit war das richtige Wort. Die Tatsache, dass sie ihm nicht genug vertraute, um ihm ihr Geheimnis zu enthüllen, tat entsetzlich weh.
Er musste davon ausgehen, dass die Sache zwischen ihm und ihr vorüber wäre, ehe er sich für das Amt des Gouverneurs bewarb. Weil es, wollte er nicht sie geheim halten – was nicht nur völlig unmöglich, sondern auch respektlos wäre –, keine andere Alternative gab. Dabei hatte er, weiß Gott, seit Tagen nach irgendeiner Lösung für dieses Dilemma gesucht.
Er stieg auf das Laufband, wählte ein Tempo, das die Gummisohlen seiner Schuhe zu verbrennen drohte, und lief los. Fünfundvierzig Minuten und neun Kilometer später war er schweißbedeckt, seine Schenkel brannten, und die Schulter schrie unter der Last des Gipsverbands. Trotzdem fuhr er die Geschwindigkeit noch ein wenig herauf und legte den letzten Kilometer praktisch in einem Sprint zurück.
Danach ließ er einen halben Liter Wasser durch seine ausgedörrte Kehle rinnen, setzte sich auf eine Bank und lehnte den Kopf gegen die Wand. Er spürte, wie der Schweiß von seinem Körper auf den Boden tropfte, und hoffte, durch die körperliche Erschöpfung bekäme er endlich wieder einen klaren Kopf.
Denn den hatte er bereits seit längerem nicht mehr. Der emotionale Aufruhr, in dem er sich seit ihrem Streit befand, hatte ihn dazu gebracht, viele Dinge aus einem für ihn ungewohnten Blickwinkel zu sehen. Es war, als hätte er seine Gefühle nirgends mehr unter Kontrolle und als schaffe er es nicht mal mehr, mit der Nüchternheit und der Objektivität, für die er berüchtigt war, an seine Geschäfte heranzugehen.
Noch vor ein paar Wochen hätte er in einem solchen Augenblick gedacht, er würde seinen Biss verlieren.
Verdammt, zum ersten Mal in seinem Leben als Geschäftsmann wusste er nicht, was er machen sollte, obwohl die Situation eindeutig war. Es ging um diese verdammten Blutsbrüder. Die Technologie, die sie sich hatten patentieren lassen, könnte die Lieferung von Blutprodukten weltweit erheblich verbessern und die Leben von Tausenden oder vielleicht Millionen Menschen retten. Aber die beiden Erfinder hatte ihre Firma hoffnungslos dadurch geschwächt, dass praktisch ihre gesamte Sippschaft anteilsmäßig von ihnen daran beteiligt worden war.
Für einen Erfolg des Unternehmens bräuchten die McKays eine große Summe Bargeld, doch wenn Jack sein Geld in eine Firma steckte, an der Dutzende von Menschen einen Anteil hatten, könnte er die Scheine ebenso gut auch einfach verbrennen, weil sich irgendwo, wo derart viele Leute ihre Finger im Spiel hatten, niemals wirklich was verdienen ließ.
Er wusste, deshalb würde auch kein anderer Kapitalgeber in diese Firma investieren, doch allein mit Spenden und mit Subventionen kämen die McKays nicht weit. Für einen wirklichen Erfolg bräuchten sie die Art von Geld, die es nur von wirklich großen Investoren gab.
Noch vor einem halben Jahr wäre ihm völlig klar gewesen, dass dieser Geschäftsvorschlag totaler Schwachsinn war. Er hätte sofort nein gesagt und sich etwas anderes gesucht, mit dem sich der erwartete Gewinn erzielen ließ.
Wohingegen er jetzt plötzlich hin und her gerissen war.
Verdammt, vielleicht hatte ja nicht nur Callie diesen Sinneswandel herbeigeführt. Der Zustand der Tochter seines Managers hatte sich verschlechtert. Das kleine Mädchen wurde jetzt wieder zuhause gepflegt, und Jack hatte es sich angewöhnt, abends auf dem Heimweg kurz bei ihr vorbeizuschauen.
Er hatte das Gefühl zu explodieren. Die Trauer der Familie, das Dilemma mit den Blutsbrüdern und die Überlegung, ob er sich selbst dann als Gouverneur bewerben sollte, wenn er dadurch Callie verlöre, waren einfach zu viel für ihn.
Verdammt, inzwischen knirschte er nachts sogar wieder mit den Zähnen.
Einer seiner Backenzähne hatte angefangen, weh zu tun, und er wusste, was das hieß. Zwei Jahre zuvor, als er in einem Kampf um eine Biotechnikfirma fast alles verloren hatte, hatte er so schlimm mit den Zähnen geknirscht, dass ihm auf der linken Seite sogar zwei Füllungen herausgefallen waren.
Er öffnete den Mund, befühlte seinen Zahn und spürte einen stechenden Schmerz, der bis in seinen Kiefer schoss.
Himmel. Ein Besuch beim Zahnarzt hatte ihm jetzt gerade noch gefehlt.
»He, Bruder«, sagte Nate und duckte sich durch die niedrige Tür. »Wie stehen die Aktien?«
Jack wischte sich das Gesicht mit einem Zipfel seines T-Shirts ab und log seinen Zwilling schulterzuckend an. »Ganz gut. Und bei dir? Welchem Umstand verdanken wir die Ehre deines Besuchs? Hat Thomas dich angerufen und als Verstärkung für die Party engagiert?«
»Er hat mich wirklich angerufen.« Nate setzte sich zu ihm auf die Bank. »Aber dabei ging es um dich.«
Jack runzelte die Stirn. »Ach, tatsächlich?«
»Er macht sich ein bisschen Sorgen.«
»Worüber?« Jack hob seine Wasserflasche an den Mund. Am liebsten hätte er den Bruder einfach sitzen lassen und wäre schnurstracks aus dem Fitnessraum marschiert.
»Er sagt, du arbeitest zu viel.«
Jack ließ die Flasche wieder sinken. »Das ist ja wohl nichts Neues.«
Nate zuckte gleichmütig mit den Schultern, wählte seine nächsten Worte aber offensichtlich mit Bedacht. »Er sagt, du hättest deine Verlobung gelöst, einen Autounfall gehabt und seit Tagen nicht mehr in deinem Bett geschlafen, weil du bis in die frühen Morgenstunden hinter deinem Schreibtisch sitzt. Also, was ist los?«
Jack starrte auf das Laufband und überlegte, ob sich seinen Beinen vielleicht noch genügend Kraft für eine paar weitere Kilometer entlocken ließ.
»Sprich mit mir, Jack. Sonst muss ich den großen Bruder rauskehren und es aus dir rausprügeln.«
Endlich sah Jack ihn wieder an. »Ich bin verliebt.«
Nate verzog den Mund zu einem Lächeln. »Echt? In den Rotschopf?«, fragte er.
Jack nickte stumm.
»Das ist doch super, Bruderherz.«
Jack streckte sich und warf die leere Flasche durch den Raum. Sie traf auf den Rand des Mülleimers, und während eines Augenblickes dachte er, sie fiele hinein. Als sie stattdessen auf den Boden krachte, blickte er auf die schimmernden Tropfen in der Flasche und schüttelte den Kopf.
»Ich weiß nicht, ob es funktionieren wird. Wir sind in einer Sackgasse gelandet.« Er räusperte sich. »Ich will sie. Aber vielleicht muss ich mein Leben völlig auf den Kopf stellen, damit ich sie behalten kann.«
»Das ist natürlich hart.«
»Und ob.«
Er stand auf, ging durch den Raum, hob die Flasche auf, warf sie in den Müll und drehte sich wieder zu seinem Bruder um.
»Ich habe die Absicht, für das Amt des Gouverneurs zu kandidieren.«
»Das habe ich bereits gehört. Und ich glaube, dass du dafür hervorragend geeignet wärst.«
»Das glaube ich auch.« Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar und spürte den darin klebenden Schweiß. »Als ich vor Jahren zum ersten Mal darüber nachgedacht habe, ging es mir vor allem darum, Dad eins auszuwischen. Ich dachte, es würde ihn furchtbar ärgern, weil er dann denken würde, dass mein Ehrgeiz keine Grenzen kennt und so. Aber als ich es ihm sagte, hat er sich im Gegenteil sogar gefreut.«
»Und trotzdem hast du das Interesse nicht verloren?«
»Nein. Und das hat mir gezeigt, dass mir wirklich etwas daran liegt. Ich plane meine Kandidatur bereits seit Jahren. Habe jede Menge Hände dafür geschüttelt, mir eine solide Basis aufgebaut, und jetzt will ich das Amt auch haben.«
»Aber sie will nicht die Frau eines hohen Staatsdieners sein?«
»So weit sind wir noch gar nicht gekommen. Weil sie gar nicht erst den Wahlkampf durchstehen will. Der wird nämlich sicher ziemlich hart.« Er kehrte zu der Bank zurück, griff nach der Schlinge, die er vor seinem Lauf dort abgelegt hatte, und hängte sie sich wieder um den Hals. Dann schob er seinen eingegipsten Arm hinein und wollte von seinem Bruder wissen: »Warst du je mit einer Frau zusammen, die dir das Gefühl gegeben hat, dass es, verdammt noch mal, den lieben Gott vielleicht tatsächlich gibt?«
»Nein.«
»Tja, ich auch nicht. Bevor ich ihr begegnet bin. Weshalb mir der Gedanke, die Beziehung zu ihr zu beenden, vollkommen verkehrt vorkommt.«
»Das klingt so, als hättest du dich schon entschieden.«
Gütiger Himmel, hatte er das tatsächlich getan?
Er dachte kurz darüber nach und erkannte, dass seine Entscheidung längst gefallen war.
Für Callie wäre er bereit, alles aufzugeben. Selbst das gottverdammte Amt des Gouverneurs.
Ihrer Liebe wegen würde er auf diesen Traum verzichten.
Weil dafür ein anderer in Erfüllung ging.
Er atmete erleichtert auf, denn zumindest von seiner Seite aus war das Problem gelöst.
Er würde seine politischen Ambitionen ihr zuliebe aufgeben. Wobei das nur die halbe Lösung war. Denn bevor er so weit ginge, müsste sie ihm gegenüber völlig ehrlich sein. Dann müsste er alles von ihr wissen, was es über sie zu wissen gab.
Er sah wieder seinen Bruder an. »Danke, Nate, du hast mir echt geholfen.«
Nate wirkte leicht verwirrt, schlug sich dann aber mit beiden Händen auf die Knie und stand wieder auf. »Ich bin immer froh, wenn ich dir helfen kann. Selbst wenn meine Hilfe nur in Zuhören besteht.«
Sie wandten sich zum Gehen.
»Also, wie lange wirst du bleiben?«, fragte Jack.
»Ich dachte, bis nach der Party, und dann fahre ich rauf zu Spike und Louie nach Montreal.«
Jack löschte das Licht, und sie gingen wieder hinauf. »Wie geht es den beiden Wahnsinnigen?«
»Sie sind noch immer so verrückt wie eh und je. Deshalb habe ich mir überlegt, mich geschäftlich mit ihnen zusammenzutun. Vielleicht kaufen wir ein Restaurant.«
»Dann willst du also endlich sesshaft werden?«
»Oh nein, ganz sicher nicht. Ich kaufe nur ein Unternehmen, Bruderherz.« Und schulterzuckend fügte er hinzu. »Ich habe nämlich ein bisschen Geld gespart.«
»Ach ja?«
»Tu doch nicht so überrascht. Nicht so viel wie du, aber es müsste reichen, bis der Laden läuft.«
Als sie in die Eingangshalle kamen, blieb Jack stehen. »Hör zu, gib mir Bescheid, wenn ihr etwas findet. Ich gebe euch gern …«
»Sprich am besten gar nicht weiter. Du hast schon genug Leute, die von dir abhängig sind, und ich brauche keine Almosen.«
Genau das hatte Callie in seinem New Yorker Hotel zu ihm gesagt. Er hatte das Gefühl, als läge ihr dortiges Gespräch bereits eine Ewigkeit zurück.
»Tja, falls du ein Darlehen haben möchtest, denk einfach an mich.«
»Okay.« Und grinsend fügte Nate hinzu: »Aber allzu große Hoffnungen machst du dir lieber nicht.«
Callie öffnete die Tür von ihrem Schlafzimmer und spähte in den Flur. Das einzige Geräusch, das sie vernahm, war das Zusammenklappen von Arties Kiefern, nachdem er gähnend neben ihrem Bett auf den Boden gesunken war.
Eilig ging sie über den Flur und klopfte an Jacks Tür. Er antwortete nicht.
»Suchen Sie meinen Bruder?«
Sie wirbelte herum. Nate kam, ein Buch in seiner Hand, den Flur herauf und sah sie grinsend an.
»Ah – ja.«
»Er ist unten in seinem Arbeitszimmer.« Er blieb stehen und flüsterte verschwörerisch: »Keine Sorge, ich kann schweigen wie ein Grab. Oh, und passen Sie auf die dritte Stufe von unten auf, die knirscht nämlich fürchterlich.«
Er zwinkerte ihr zu und schlenderte gemächlich weiter in Richtung seines eigenen Schlafzimmers.
Eilig lief Callie nach unten, mied dabei die Stufe, vor der Nate sie gewarnt hatte, und marschierte durch den Flur in Richtung von Jacks Arbeitszimmer, dessen Tür geöffnet war.
Er saß in einem Lichtkegel mit dem Rücken zu seinem Schreibtisch und hatte das Telefon noch in der Hand, als hätte er gerade erst aufgelegt.
Dann drehte er den Kopf, als ob er ihr Spiegelbild in der Fensterscheibe gesehen hätte, und als die Stille unerträglich wurde, meinte sie: »Wir müssen miteinander reden.«
»Jetzt?«, fragte er so leise, dass es fast nicht zu verstehen war.
Sie räusperte sich. »Ja.«
Wieder folgte eine lange Pause, dann aber nickte er mit dem Kopf. »Okay.«
Callie runzelte die Stirn, denn irgendetwas stimmte ganz eindeutig nicht mit ihm.
»Was ist passiert, Jack?«
Langsam drehte er sich mit seinem Stuhl zu ihr herum. Sein Gesicht war starr, und seine Lippen bildeten einen grimmigen Strich.
»Sie ist heute Nachmittag gestorben.«
Wer?, fragte sich Callie.
Oh nein, die kleine Tochter seines Managers.
»Oh Jack …«
Seine Stimme klang so hohl, als verhindere er nur durch seine eiserne Willenskraft den völligen Zusammenbruch. »Sie wird morgen Nachmittag entsprechend der jüdischen Tradition beerdigt. Natürlich gehe ich hin. Die Firma mache ich zu, weil nämlich auch alle anderen gehen. Und dann wird ihre Familie nächste Woche Schiwa sitzen, das heißt, zuhause um sie trauern, wie es bei den Juden üblich ist.«
In der Hoffnung, dass er sich von ihr umarmen lassen würde, trat sie zu ihm hinter den breiten Tisch, und als er sich an sie lehnte, spürte sie das Zittern, das dabei durch seinen Körper rann.
Er atmete tief ein. »Ich habe sie jeden Abend auf dem Rückweg aus der Firma zuhause besucht. Deshalb kam ich immer so spät. Sie hatten diese wunderbare Schwester aus dem Hospiz, die sich rührend um sie gekümmert hat.« Wieder spürte sie das Heben und Senken seiner Brust. »Ich werde dem Hospiz-Zentrum eine Spende in ihrem Namen machen. Das wird« – er räusperte sich leicht – »die allererste freiwillige Spende sein, die jemals eine Einrichtung von mir bekommen hat.«
Callie hielt ihn fest im Arm und wünschte sich, ihr fiele irgendetwas ein, womit er sich trösten ließ.
Schließlich hob er den Kopf und sah sie an. »Ich weiß, dass wir noch viele Dinge klären müssen. Aber bleibst du trotzdem heute Nacht bei mir?«
Als sie nickte, nahm er ihre Hand und stand langsam auf.