24

Es war zwei Uhr nachts, bis Jack endlich aus seinem Arbeitszimmer kam. Mitglieder des Sondierungskomitees und Gray hatten eine Kommandozentrale aus dem Raum gemacht und Stunden an den dortigen Telefonen zugebracht. Journalisten, Senatoren und Geschäftspartner von Jack – sie alle hatten angerufen, um zu fragen, ob er sich tatsächlich um das Amt des Gouverneurs bewerben würde, und er hatte schon vor Mitternacht acht Interviews gegeben.

Auch wenn es bisher kaum etwas zu sagen gab.

Entgegen den Wünschen aller anderen im Raum hatte er weiterhin darauf bestanden, keine konkrete Erklärung abzugeben. Sogar Gray hatte ihm hitzig widersprochen und erklärt, sie nutzten die Gelegenheit besser nach Kräften aus.

Doch er hatte sich geweigert, die Ankündigung seiner Mutter zu bestätigen, solange er nicht mit Callie gesprochen hätte. Denn selbst wenn es nicht einfach würde, wäre es für einen Rückzieher noch nicht zu spät, und schließlich hoffte er noch immer, sie würde sich ihm morgen anvertrauen. Auch wenn diese Chance durch das Verhalten seiner Mutter nicht wirklich vergrößert worden war.

Er bedankte sich bei Gray und den beiden Beratern, die noch nicht heimgefahren waren, und ging in den ersten Stock.

Auf dem Weg den Flur hinab dachte er, er hätte wissen müssen, dass Mercedes ein solches Manöver zuzutrauen war. Weil eine Frau, die es geschafft hatte, ihre gesamte Identität zu wechseln und ihre Familie – Mutter, Vater, Schwestern, Brüder – zu verlassen, ohne sich auch nur noch einmal umzudrehen, einfach zu allem fähig war.

Und sie hatte ihm deutlich zu verstehen gegeben, wie viel ihr an einem Sohn im höchsten Amt des Staates lag.

Nun, gleich morgen früh würde er ihr die Quittung für ihr selbstherrliches Vorgehen präsentieren, dachte er erbost.

Vor der Tür von Callies Zimmer blieb er stehen und bereitete sich innerlich darauf vor, was möglicherweise gleich geschah. Er klopfte leise an, und als sie keine Antwort gab, versuchte er, den Knauf zu drehen. Doch der gab nicht nach.

Unfähig zu verstehen, was das bedeutete, zerrte er fluchend an dem Messingknopf.

Zog dann aber langsam seine Hand zurück.

Er konnte es nicht glauben. Callie hatte ihn tatsächlich ausgesperrt.

Er ballte die Faust, um gegen das dicke Holz zu hämmern, ließ dann aber den Arm kraftlos wieder sinken, hockte sich auf die Fersen und starrte auf die Tür.

Nicht nur, dass sie ihm nicht vertraute, glaubte sie offenbar auch nicht an ihn. Sie hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, sich von ihm erklären zu lassen, dass die Ankündigung seiner Mutter völlig unerwartet, übereilt und vor allem falsch gewesen war.

Plötzlich kam es ihm so vor, als bekäme er nur noch mit Mühe Luft. Mit fahrigen Bewegungen riss er an seiner Fliege, knöpfte den Kragen seines Hemdes auf, öffnete den Mund und atmete keuchend ein.

Das war also das Ende, dachte er.

Wie passend, dass er von ihr ausgeschlossen worden war.

Er legte seine Handfläche gegen die Tür und hatte keine Ahnung, wie lange er in dieser Position verharrte, aber schließlich stand er wieder auf und sagte sich, er müsste sich der Wahrheit stellen.

Ganz egal, was sie behauptet hatte, reichte das, was sie für ihn empfand, eindeutig nicht aus. Sie hatte sich entschieden. Wollte nicht, dass er ein Teil von ihrem Leben war.

Na gut.

Er zog die Hand zurück und wandte sich zum Gehen.

Er hatte keine Ahnung, wo er hinwollte oder warum er ging. Doch er brächte sicher nicht die ganze Nacht vor der abgeschlossenen Tür von ihrem Zimmer zu.

Als er wieder nach unten kam, räumten dort noch ein paar Leute auf. Die Männer und die Frauen trugen Tabletts mit schmutzigem Geschirr und die Reste des Büfetts aus dem Salon und dem Esszimmer, und ihm kam der Gedanke, dass er nicht einmal dazu gekommen war, seine Gäste zu verabschieden.

Was wahrscheinlich besser war, sagte er sich auf dem Weg zurück in sein Büro. Denn er hätte es ganz einfach nicht ertragen, hätten sie ihm nochmals alle gratuliert.

Gray war ganz allein in seinem Arbeitszimmer und sammelte ein paar Papiere ein.

»Was für eine Nacht«, murmelte der Freund.

Du hast ja eine Ahnung, dachte Jack.

Er starrte seinen Freund eine Minute an und erklärte dann in scharfem Ton: »Bestell bitte die Komiteemitglieder morgen so früh wie möglich in mein Büro.«

»In Ordnung, aber es dürfte nicht mehr als ein, zwei Stunden dauern, um die Berichte durchzugehen.«

»Sag ihnen, dass die Besprechung bis zum Abend dauern wird. Schließlich müssen wir eine Wahlkampagne aufziehen.«

Gray blickte von dem Ordner auf, den er in den Händen hielt. »Wovon zum Teufel redest du? Ich dachte, du wärst dir noch nicht sicher. Wir haben allen erzählt, dass du dir noch nicht sicher bist.«

»Das hat sich geändert.«

»Meine Güte, Jack.« Gray knallte den Ordner auf den Tisch. »Dann haben wir heute Abend eine Supergelegenheit verpasst.«

Jack marschierte hinter seinen Schreibtisch. »Mach mir jetzt bitte keine Vorhaltungen, okay? Mach einfach deine Arbeit, ruf die gottverdammten Leute an und bring den Wahlkampf auf den Weg.«

Er setzte sich und sah, dass sich der Freund zusammenriss.

»Macht es dir etwas aus, mir zu erzählen, was dich zu diesem abrupten Sinneswandel veranlasst hat?«, fragte er in ruhigem Ton.

Doch Jack hatte nicht die Absicht, irgendeinem Menschen zu erklären, wie dreckig es ihm ging.

Denn das ging keinen Menschen etwas an.

»Ich habe nichts zu verlieren. Nicht mehr.«

Als die ersten Sonnenstrahlen auf den Rasen fielen, saß Jack noch immer an seinem Schreibtisch, veränderte ein wenig seine Position und legte seinen Gipsarm anders auf der Platte ab. Die Schulter tat ihm weh, aber er konzentrierte sich vor allem auf den Schmerz in seiner Brust. Wahrscheinlich war es entweder eine Angina oder ein gebrochenes Herz, und er konnte nicht sagen, welche Diagnose schlimmer war.

Obwohl das wahrscheinlich einfach daran lag, dass er ganz alleine war, einen wunderschönen Sonnenaufgang betrachtete und auf melodramatische Weise unglücklich war.

»He, Gouverneur.«

Jack hob den Kopf, sah, dass sein Bruder durch die Tür getreten war, und obwohl er sich erbärmlich fühlte, setzte er ein Lächeln auf. »Sprich mich lieber nicht zu früh mit diesem Titel an. Bis zum Ziel ist es schließlich noch ein langer Weg.«

»Das stimmt, aber wann hast du jemals etwas nicht geschafft?«

Jack hätte es einfach nicht ertragen, auf den Scherz des Bruders einzugehen. »Warum bist du überhaupt schon auf, nachdem du dich gestern zusammen mit Thomas derart abgeschuftet hast? Das Essen war übrigens fantastisch.« Als er die Tasche in Nates Hand bemerkte, fragte er: »Willst du wieder los?«

»Ja, ich will noch heute rauf nach Kanada. Spike, Louie und ich haben einen Termin für die Besichtigung eines zum Verkauf stehenden Restaurants.«

»Es war ernst gemeint, als ich dir meine Unterstützung angeboten habe. Selbst wenn du dir das Geld nur leihen willst.«

»Danke.«

Jack stand auf und ließ die steifen Schultern kreisen. »Wann sieht man sich das nächste Mal?«

»Ich schätze, an Weihnachten.«

»Gut.« Sie gingen gemeinsam Richtung Küche, wobei Jack einen kurzen Umweg machte und die Morgenzeitung von der Treppe nahm. Als er sie ausrollte, entdeckte er gleich auf der Titelseite eine Aufnahme von sich. In dem Artikel stand, dass er noch unentschlossen wäre, aber der Reporter führte weiter aus, sicher wäre es nur eine Frage der Zeit, wann er offiziell seine Kandidatur bekannt gäbe.

Sein Redakteur würde sich freuen, überlegte Jack. Denn bis Ende der Woche brächten seine Leute ganz bestimmt ein entsprechendes Statement heraus.

»Dann wirst du also wirklich kandidieren«, meinte Nate.

»Ja.«

Während sie in die Küche gingen, las er eilig weiter. Butch Callahan hatte wie erwartet reagiert. Hart an der Grenze der Unhöflichkeit.

Jack warf die Zeitung auf den Tisch und dachte, jetzt beginnt der Kampf.

»Frühstück?«, fragte er Nate.

»Nein, danke. Ich hole mir einfach unterwegs etwas.«

Jack brachte seinen Bruder zu dem alten Saab, den Nate seit Ende seines Studiums fuhr.

»Ich hoffe, dass die Kiste nicht irgendwo stehen bleibt.«

»Ich auch.« Nate warf seine Tasche in den Kofferraum, schwang sich hinter das Lenkrad, lehnte sich noch einmal aus dem Fenster und sagte über das Brüllen des Motors hinweg: »Pass auf dich auf, und denk dran, mein Handy hat eine Mailbox, du kannst mich also jederzeit erreichen. Lass mich einfach wissen, wenn du jemanden zum Reden brauchst.«

»Das mache ich, Bruderherz.«

Jack winkte, als Nate die Einfahrt Richtung Straße hinunterschoss, doch ehe er wieder ins Haus ging, blickte er auf die Garage und fragte sich, ob er dieses verdammte Ding wohl jemals wieder ansehen könnte, ohne dass es ihn an Callie erinnerte.

Er stellte sich kurz vor, was geworden wäre, hätte seine Mutter nicht seine Kandidatur bekannt gegeben, hätte Callie ihm die Möglichkeit gegeben, alles zu erklären, oder hätte sie ihm von Anfang an genug vertraut.

Dann riss er sich allerdings zusammen und kehrte, da er schließlich jede Menge Arbeit vor sich hatte, abermals zurück in sein Büro.

Er nahm wieder hinter seinem Schreibtisch Platz, rief einen ihm bekannten Immobilienmakler an und gab ihm den Auftrag, das freie Apartment im Vierjahreszeiten zu erstehen, das in der letzten Woche in der Zeitung zum Verkauf geboten worden war. Dann rief er bei einer Umzugsfirma an. Wenn sich seine Anwälte beeilten, könnte der Kauf in zwei Wochen abgeschlossen sein, und er wollte sichergehen, dass es dann keine Probleme mit dem Möbeltransport gab.

Kaum hatte er aufgelegt, erschien seine Mutter in der Tür. Sie trug einen bodenlangen hellen Seidenmorgenmantel, und mit ihrem locker aufgedrehten Haar wirkte sie für ihr Alter noch erstaunlich frisch.

»Wenn man vom Teufel spricht«, erklärte er.

Mercedes’ Lächeln war versöhnlich, doch ihr Blick verriet eine gewisse Selbstzufriedenheit. Sie wusste ganz genau, was sie getan hatte, erkannte er. Aber weshalb sollte ihn das überraschen? Schließlich war sie eine wirklich kluge Frau.

»Jack, Liebling, ich habe gestern die Gelegenheit verpasst, dir nach der Party noch gute Nacht zu sagen.« Sie betrat den Raum. »Ich wollte dir dafür danken, dass du dazu beigetragen hast, dass es ein derart erfolgreicher Abend war.«

»Sag mir, Mutter«, fragte er und befingerte ein paar Papiere auf dem Tisch, »für wann hast du deine Abreise nach Palm Beach geplant?«

»Für übermorgen.«

»Vielleicht solltest du sie um eine Woche verschieben.«

»Willst du mich noch ein wenig hierbehalten? Das ist mal eine nette Abwechslung«, schalt sie ihn scherzhaft und sah ihn mit einem ehrlicheren Lächeln an.

»Ich denke einfach, du hättest sicher gern ein wenig Zeit.«

Sie sah ihn fragend an. »Wofür?«

»Für deinen Auszug aus meinem Haus.«

Seine Mutter atmete hörbar ein. »Wovon zum Teufel redest du?«

»Ich kaufe dir gerade ein Apartment im Vier Jahreszeiten, und ich gehe davon aus, dass du den Möbelpackern sagen willst, wohin sie deine Sachen stellen sollen. Außer, du hättest es lieber, dass das eine Innendekorateurin für dich macht.«

Mercedes wurde kreidebleich. »Mein Gott, Jack, was hast du getan?«

»Ich durchtrenne die sprichwörtliche Nabelschnur.«

Er verfolgte, wie sich seine Mutter auf das Sofa sinken ließ. Sie schien regelrecht darauf zusammenzubrechen und sah, umgeben von der teuren Seide, plötzlich überraschend zart und zerbrechlich aus.

»Das kannst du doch nicht machen. Du kannst mich nicht einfach wegschicken. Ich lebe hier. Ich kann unmöglich von Buona Fortuna in ein Hotel umziehen.«

»Ich schicke dich in keine billige Absteige, Herrgott noch mal, sondern in eins der besten Häuser der Stadt.«

»Aber das hier ist unser Zuhause.«

Er stand auf. »Dass wir uns richtig verstehen. Das hier ist mein Zuhause. In dem du nicht mehr willkommen bist. Schluss, aus.«

Die Unterlippe seiner Mutter zitterte. »Jack, tu mir das nicht an.«

»Offen gestanden tut es mir nur leid, dass ich so lange mit diesem Schritt gewartet habe«, antwortete er. »Und jetzt fahre ich ins Büro und bin sicher erst nach dem Abendessen wieder da.«

Als er an ihr vorbeiging, nahm sie seine Hand, doch ohne jedes Mitgefühl nahm er die in ihren Augen aufsteigenden Tränen wahr.

»Aber warum?«, fragte sie ihn.

Er starrte sie durchdringend an. »Du weißt ganz genau, warum. Hast du eine Ahnung, was du mir gestern Abend angetan hast?«, fragte er zurück.

»Ich wollte doch nur helfen«, wisperte sie eindringlich. »Und du brauchst mich, Jack.«

»Vielleicht würde ich dich brauchen, wenn du dich nicht wie meine Feindin gebärden würdest. Aber so, wie du dich benimmst, brauche ich dich ganz sicher nicht.«

Als Callie in die Küche kam, wünschte sie sich sofort, sie wäre noch ein wenig länger oben in ihrem Schlafzimmer geblieben.

Jacks Mutter saß in Tränen aufgelöst am Tisch, und Thomas sah sie an, als müsse er sie auffangen, falls sie in Ohnmacht fiel.

»Das kann er einfach nicht machen«, heulte Mrs Walker. »Sie müssen mit ihm reden. Müssen ihm klarmachen, dass das nicht geht. Auf Sie wird er sicher hören.«

»Ich weiß nicht, ob …« Als Thomas merkte, dass noch jemand anderes in der Küche war, brach er wieder ab.

Mrs Walker fuhr herum. Und sobald sie Callie sah, riss sie sich zusammen, reckte stolz den Kopf und schnäuzte sich leise in ein Taschentuch. Dann betupfte sie mit einer eleganten Geste ihre Augen, und als sie wieder sprach, hatte sich das Zittern ihrer Stimme fast völlig gelegt.

»Ich würde mein Frühstück heute Morgen gern im Bett einnehmen, Thomas. Bitte sagen Sie Elsie, wenn sie kommt, dass Sie es mir nach oben bringen soll.«

Damit glitt sie aus dem Raum, als hätte sie nicht erst einen Augenblick zuvor hysterisch vor sich hingeschluchzt.

Callie blickte auf den Koch. Er lehnte am Herd und schüttelte den Kopf.

»Ich hätte es kommen sehen müssen«, murmelte er betrübt.

»Was ist passiert?«

Er hob den Kopf und sah sie an. »Jack hat seine Mutter rausgeschmissen.«

»Wie bitte?«

»Jagt seine eigene Mutter aus dem Haus. Obwohl ich ihm deutlich angesehen habe, dass er meint, sie hätte es verdient.«

»Aber warum?« Callie wich alles Blut aus dem Gesicht.

»Thomas, ich muss wissen, warum«, bedrängte sie den Mann, obwohl sie sicher war, dass sie die Antwort bereits wusste, und ihr die Bedeutung dieser Antwort den Boden unter den Füßen wegzuziehen schien.

»Wegen der kurzen Rede, die sie gestern Abend gehalten hat. Offenbar war Jack noch nicht bereit, irgendetwas in der Richtung zu verkünden.«

»Oh nein«, entfuhr es ihr.

»Mrs Walker meint, sie hätte versucht, sich bei ihm zu entschuldigen, aber er hätte ihr gar nicht zugehört. Ehrlich gesagt ist mir nicht klar, weshalb er ein solches Aufhebens um diese Sache macht. Dann hat sie ihm also ein wenig vorgegriffen. Und? Außer, wenn er doch nicht kandidieren will, ist das doch wohl nicht weiter schlimm.«

Callie wurde schlecht, als sie erkannte, was ihr für ein Fehler unterlaufen war. Ein fürchterlicher Fehler. Gott, sie musste umgehend zu Jack und ihm alles erklären – aber vielleicht war es ja schon zu spät? Schließlich war die Kandidatur jetzt offiziell. Weshalb ein Rückzieher inzwischen ausgeschlossen war. Oder könnte er vielleicht …

»Würden Sie mich bitte entschuldigen?« Ohne auch nur Thomas’ Antwort abzuwarten, stürzte sie schon aus dem Raum.

Sie rannte zu Jacks Arbeitszimmer, und als sie ihn dort nicht fand, hinauf zu seinem Schlafzimmer und trommelte mit aller Kraft gegen die Tür. Als keine Antwort kam, riss sie sie auf, wusste aber schon, dass er auch dort nicht war.

Sie sagte sich, dass das Sondierungskomitee erst am Nachmittag zusammentreten würde. Deshalb hätte sie bestimmt noch Zeit, um mit ihm zu sprechen, ehe er das Haus verließ. Aber wo zum Teufel steckte er?

Auf ihrem Weg zurück nach unten blieb sie stehen, als sie Grace und Ross mit gepackten Reisetaschen aus ihrem Zimmer kommen sah.

»Grace! Ich muss dich dringend sprechen.«

Ihre Halbschwester riss überrascht die Augen auf. »Sicher, wo möchtest du …«

Callie zog sie in ihr Schlafzimmer zurück und machte die Tür hinter sich zu.

»Ich habe nicht viel Zeit, aber ich muss – ich liebe Jack und habe einen schrecklichen Fehler gemacht. Einen fürchterlichen, grauenhaften …«

»Du liebst Jack!«

»Oh Gott, falls ich es nicht bereits total vermasselt habe, musst du etwas verstehen. Ich habe ihm etwas von meiner Vergangenheit erzählt, aber er kennt nur einen Teil der Geschichte, weil ich ihm gegenüber nicht völlig ehrlich sein konnte, ohne dich in die Sache mit hineinzuziehen. Deshalb hat er das Gefühl, dass ich ihn nicht liebe, da ich ihm nicht vertrauen kann.«

Ihre Schwester riss die Augen noch ein wenig weiter auf.

Callie atmete tief durch, damit ihre Stimme nicht versagte, und fuhr eilig fort: »Du musst verstehen. Ich muss ihm alles erklären, selbst wenn du das nicht willst. Weil es, wenn ich das nicht tue, keine Zukunft für uns beide gibt. Und das kann ich nicht zulassen.«

Sie wartete auf eine Antwort, die jedoch nicht kam. Grace wirkte wie erstarrt.

»Es tut mir leid«, erklärte Callie und streckte flehend ihre Arme aus. »Ich weiß, dass ich dir ein Versprechen gegeben habe. Aber ich kann mich nicht länger verstecken. Dafür steht inzwischen einfach zu viel für mich auf dem Spiel.«

Sie hörte ein klickendes Geräusch und senkte den Kopf. Grace hatte angefangen, mit ihrer Uhr zu spielen, und öffnete und schloss unruhig den Verschluss. Als sie auf dem Absatz kehrtmachte und den Raum durchquerte, hielt Callie furchtsam den Atem an. Sie war nicht bereit, länger den Mund zu halten, doch das hieß nicht, dass es ihr egal war, wenn die Halbschwester darunter litt.

»Ich – es tut mir leid, Grace. Wirklich. Ich hätte nie gedacht …«

Grace wirbelte zu ihr herum und bedachte sie mit einem durchdringenden Blick. »Du darfst dein Verhalten nicht bereuen. Niemals. Weil es schließlich die Schuld unseres Vaters ist. Weil all dieser Schlammassel ausschließlich die Schuld unseres Vater ist. Du kannst nichts dazu.«

Es folgte ein langer Augenblick vollkommener Stille, denn Callie war vom Zorn der Schwester völlig überrascht.

Und dann marschierte Grace entschlossen wieder auf sie zu, packte ihre Hände und erklärte: »Sag es Jack. Sag ihm alles, ja?«

Callie blinzelte. »Alles? Obwohl du dann …«

»Das ist für mich okay.«

Callie atmete erleichtert auf, dann aber verdüsterte sich ihre Miene wieder, als sie daran dachte, dass sie noch immer nicht wusste, wo Jack war.

Oder ob er mit sich reden lassen würde, falls sie ihn irgendwo fand. Sie konnte nur hoffen, dass er ihr – vielleicht – verzeihen würde, wenn sie ihn für ihr Verhalten um Verzeihung bat.

Aber wo steckte er?

Sie dachte an die Aufregung des Vorabends und ginge jede Wette ein, dass das Sondierungskomitee doch früher als geplant zusammentrat. Angesichts all der Dinge, die geschehen waren, hatte er den Termin für die Zusammenkunft wahrscheinlich vorverlegt. Weil es zwischen ihm und seinem Team schließlich jede Menge zu besprechen gab.

»Wahrscheinlich ist er schon weg!« Sie sah ihre Schwester an. »Fahrt ihr jetzt in die Stadt?«

Grace nickte mit dem Kopf.

»Würdet ihr mich wohl bis zu seinem Büro mitnehmen?«

»Sicher. Ich weiß, wo es ist.«

Eilig riss sie die Zimmertür wieder auf, Grace packte Ross am Arm, gemeinsam rannten sie ins Erdgeschoss, und nachdem Thomas ihnen bestätigt hatte, dass Jack schon in aller Herrgottsfrühe ins Büro gefahren war, stiegen sie in einen schwarzen Ford Explorer, und Ross trat das Gaspedal bis auf den Boden durch.

Während sie über die Schnellstraße in Richtung Boston rasten, runzelte Grace plötzlich die Stirn und drehte sich zu Callie um.

»Und wenn du es ihm gesagt hast, wie wird es dann weitergehen?«

»Ich habe keine Ahnung. Vielleicht ist es sowieso schon längst zu spät. Aber ich muss es auf jeden Fall versuchen.« Callie setzte ein schwaches Lächeln auf. »Und dann kann ich nur hoffen, dass er mir noch mal verzeiht.«

»Und wenn er das tut, was dann?«

Liebe, Familie, die ganze Geschichte, dachte sie, sprach den optimistischen Gedanken aber vorsichtshalber nicht laut aus. Vor allem, weil es Grace bei ihrer Frage sicher nicht um das private Glück der Schwester ging.

»Du meinst, ob er dann noch immer kandidieren wird?«, fragte sie deshalb. »Darüber brauchst du dir keine Gedanken zu machen. Er hat mir nämlich versprochen, dass er sich, wenn ich ihm die ganze Wahrheit sage, doch nicht um das Amt des Gouverneurs bewerben wird.«

Grace sah sie nachdenklich an. »Willst du wirklich, dass er diesen Traum begräbt? Du hast selbst gesagt, wie gern er kandidieren will.«

Solange Jack so wütend auf sie war, war es für eine Unterhaltung über ihrer beider Zukunft eindeutig zu früh. Trotzdem ging sie auf Graces Frage ein.

»Natürlich will ich nicht, dass er auf die Kandidatur verzichtet. Ich finde den Gedanken schrecklich, er würde das nur meinetwegen tun, und habe Angst, er könnte mir deswegen später irgendwann mal Vorhaltungen machen. Aber ich habe keine andere Wahl.«

»Doch, natürlich hast du die.«

Callie runzelte verwirrt die Stirn. Vielleicht verstand die Schwester das Ganze einfach nicht.

»Aber, Grace«, erklärte sie geduldig. »Wenn ich mit ihm zusammen bin und er sich für das Amt bewirbt, wird die ganze Welt von unserer Vergangenheit erfahren. Irgendein Reporter wird die Puzzleteile richtig zusammensetzen, und dann ist es heraus. Du findest das, was bisher über dich geschrieben wurde, schlimm? Verglichen mit den Schlagzeilen, die es dann geben würde, ist das alles der reinste Kinderkram.«

Grace bedachte sie mit einem ernsten Blick. Und sagte dann etwas völlig Überraschendes.

»Vielleicht. Aber ich habe einfach keine Lust mehr, das Geheimnis unseres Vaters zu bewahren. Du etwa?«

Callie rang nach Luft. Für das Zusammensein mit Jack nähme sie sogar die Enthüllungen der Medien in Kauf. Aber weshalb sollte Grace sich etwas Derartiges antun? Sie konnte dadurch nichts gewinnen, dagegen sehr viel von dem verlieren, was ihr bisher wichtig gewesen war.

Callie schüttelte den Kopf. »Aber die Konsequenzen für dich und deine Mutter wären … unabsehbar. Ich kann mir nicht vorstellen, dass du dir das antun willst.«

Grace blickte auf Ross.

Und drehte sich wieder zu Callie um. »Zu einem anderen Zeitpunkt wäre ich vielleicht nicht stark genug gewesen, um mit so was umzugehen. Allerdings hat sich mein Leben verändert, und ich selbst mich auch. Dank des Erfolgs der diesjährigen Gala ist meine Position in der Hall Foundation dauerhaft gesichert. Und vor allem gibt es einen Mann in meinem Leben, der sich vor nichts fürchtet und mich wirklich liebt.«

Ross streckte den rechten Arm aus und nahm ihre Hand.

»Und ich habe dich, Callie.« Grace legte eine kurze Pause ein. »Unser Vater hat uns beide hintergangen, und ich konnte ihn deshalb noch nicht einmal zur Rede stellen, weil er mich bis zu seinem Todestag belogen hat. Deshalb habe ich kein Interesse mehr daran, ihn zu beschützen, vor allem nicht, wenn ich bedenke, welchen Einfluss andauerndes Schweigen auf dein und auf Jacks Leben hat. Lass uns die Wahrheit sagen. Lass uns endlich die gottverdammte Wahrheit sagen. Wir werden diesen Sturm gemeinsam überstehen, und dann sind wir endlich frei.«

»Das würdest du wirklich für mich tun?«, wisperte Callie mit belegter Stimme.

Graces Augen blitzten auf. »Für dich auf jeden Fall. Ich habe nichts zu verbergen. Ich bin nämlich furchtbar stolz darauf, dass du meine Schwester bist.«

Callie warf sich die Hände vor den Mund und kniff die Augen zu. Dass die Halbschwester sie derart unterstützen und auf diese Weise zu ihr stehen würde, hätte sie nie auch nur zu hoffen gewagt.

Sie spürte, dass ihr Grace über die Haare strich, konnte ihr aber noch nicht wieder in die Augen sehen.

»Wir sind eine Familie, Callie. Was heißt, dass wir zusammenhalten, ganz egal, was auch geschieht.«

Familie.

Als Callie wieder sprach, hatte ihre Stimme einen rauen Klang. »Er hat sich so für mich geschämt. Meistens konnte er mich nicht mal ansehen, wenn er bei uns war. Als er noch am Leben war, habe ich ständig in der Angst gelebt, dass jemand die Wahrheit herausfände, denn dann hätte er sich wahrscheinlich noch mehr von uns entfernt. Und nachdem ich dir begegnet war, hatte ich Angst, auch dich irgendwann wieder zu verlieren.«

»Das wird ganz sicher nicht passieren. Ich lasse dich ganz sicher nicht im Stich«, erklärte Grace mit einem solchen Nachdruck, dass Callie die Augen wieder öffnete und sie durch einen dichten Tränenschleier hindurch anblickte.

»Hör mir zu, Callie. Wir werden nicht zulassen, dass uns unser Vater selbst aus dem Grab heraus auch weiterhin beherrscht. Die Zeit der Lügen und des Schweigens ist endgültig vorbei.«