20

Früh am nächsten Morgen saß Callie an ihrem Arbeitstisch, schnappte sich die Gläser mit den Lösungsmitteln und schraubte sie auf. Dann setzte sie ihre Atemschutzmaske auf, tauchte einen Wattebausch in das Isopropanol und strich vorsichtig mit der Lösung über die Oberfläche des Porträts. Inzwischen war sie in der Mitte des Gemäldes in Höhe des Spiegels angelangt, denn während ihres Streits mit Jack hatte sie kaum jemals eine Arbeitspause eingelegt. Weshalb die Reinigung fast abgeschlossen war.

Sie hob den Kopf. Draußen schien die Sonne, und der Himmel erstrahlte in einem wolkenlosen Blau.

Sie konnte einfach nicht aufhören, an die letzte Nacht zu denken. Sie hatten sich geliebt, und danach hatte Jack sie so lange im Arm gehalten, bis sie eingeschlafen war. Sie hatten nicht viel miteinander gesprochen, aber es hatte ihr genügt, mit ihm zusammen zu sein und wenigstens körperlich die Distanz zu überwinden, die zwischen ihnen entstanden war. Vor allem hatte es sie erleichtert, dass er in einem Moment größter Verletzlichkeit ihre Nähe zugelassen und ihr die Gelegenheit gegeben hatte, für ihn da zu sein.

Als er morgens gegangen war, hatte er ihr versprochen, sich abends mit ihr auszusprechen, und sie hoffte, er würde ihr erklären, dass er auf die Kandidatur verzichtete, damit zwischen ihnen wieder alles so würde, wie es gewesen war. In ihrem tiefsten Inneren war ihr klar, dass das höchst unwahrscheinlich war, und wieder einmal dachte sie darüber nach, was für Folgen es möglicherweise für sie beide hätte, wenn er sich um das höchste Amt im Staat bewerben würde.

Das Ergebnis ihrer Überlegung war genauso niederschmetternd wie die vielen anderen Male, wenn ihr das Szenario durch den Kopf gegangen war. Er hatte recht – wenn ihr Vater ein normaler Mensch gewesen wäre, hätten die Medien keinen Grund, der Sache weiter nachzugehen. Hingegen wäre das Doppelleben eines Mannes wie Cornelius Woodward Hall eine Riesensensation.

Deshalb müsste sie aus Jacks Leben verschwinden, wenn er sich tatsächlich für das Amt des Gouverneurs bewarb. Weil sich nur auf diese Art verhindern ließ, dass die Allgemeinheit von ihrer Vergangenheit erfuhr. Auch wenn der Gedanke, dass sie nicht an seiner Seite hier in Boston enden würde, unerträglich für sie war. Bei der Vorstellung, nach Fertigstellung des Porträts nach New York zurückzukehren und ihn nie wiederzusehen, brach ihr das Herz.

Callie atmete tief ein, blickte wieder auf das Bild – und sprang derart panisch auf, dass ihr Stuhl nach hinten fiel. Sie hörte kaum das krachende Geräusch, mit dem er auf den Boden traf, und war auch für Arties erschrockenes Jaulen taub.

»Oh nein, nein, nein …«

Sie warf den Holzstab auf den Tisch und schnappte sich einen Lappen, obwohl ihr das verdammte Ding ganz sicher keine Hilfe war.

Mit vor Entsetzen aufgerissenen Augen starrte sie ungläubig auf das Porträt. Das Lösungsmittel hatte durch den Lack hindurch ein Loch in die Farbschicht gebrannt.

Sie beugte sich noch weiter vor, denn sie hoffte, dass die nähere Betrachtung zeigen würde, dass der Schaden nur oberflächlich war. Aber das war er nicht. Auf der Spiegeloberfläche hatte sich die von Copley aufgetragene Farbe auf einer Fläche von der Größe einer Dollarmünze aufgelöst.

Fluchend blickte Callie auf das Glas, das sie geöffnet hatte. Sie hatte versehentlich das stärkste Lösungsmittel ausgewählt und das verdammte Zeug auch noch zu lange wirken lassen, während sie in Gedanken versunken gewesen war. Deshalb hatte die Chemikalie jede Menge Zeit gehabt, um in die Farbe einzudringen und sich dort in aller Ruhe auszubreiten, wodurch eine wesentlich größere Fläche als die, auf die sie sie aufgetragen hatte, in Mitleidenschaft gezogen worden war.

Auf ihren Handflächen, unter den Achseln und auf ihrer Stirn bildeten sich dicke Schweißperlen.

Sie hatte ein großes Kunstwerk ruiniert. Sie bekäme niemals wieder einen Job. Jack würde sie umbringen.

Und das alles, weil sie abgelenkt gewesen war.

So einen dämlichen Anfängerfehler durfte man ganz einfach nicht …

Aber dies war nicht der rechte Augenblick, um sich in Selbstvorwürfen zu ergehen. Dazu hätte sie, weiß Gott, noch jede Menge Zeit, wenn sie auf dem Sozialamt Schlange stand.

Sie musste sich jetzt konzentrieren. Konzentrieren und sich überlegen, wie der Schaden vielleicht doch noch zu beheben war. Und dann würde sie Gerard Beauvais im Museum anrufen.

Sie beugte sich erneut über das Bild und blickte verzweifelt zwischen dem beschädigten Spiegel und all den anderen, fantastisch restaurierten Stellen hin und her.

Verdammt. Sie brauchte Beauvais’ Hilfe jetzt sofort.

Sie zog seine Visitenkarte aus der Werkzeugkiste, wählte seine Nummer und betete, dass ihre Stimme nicht versagte, falls er gleich am Apparat wäre. Hauptsache, sie bräche nicht in Tränen aus. Denn wenn sie außer unfähig auch noch jämmerlich erschiene, wäre der Albtraum perfekt.

Sie erreichte seine Mailbox, hinterließ darauf die Bitte, sie so schnell es ging zurückzurufen, und legte mit einem leisen Schluchzen wieder auf.

Dann holte sie tief Luft, beschloss, sich nicht länger vorzustellen, dass sie sich in Zukunft ihren Lebensunterhalt als Pizzafahrerin verdienen müsste, und beugte sich noch einmal über das Porträt. Der Appetit des Lösungsmittels hatte noch immer nicht nachgelassen, und es fraß sich immer weiter in das Bild.

Wie eine zerstörerische Flut dehnte sich der Schaden immer weiter aus.

Und löschte nicht nur all die Farbe, sondern auch ihre berufliche Zukunft aus.

Sie stützte ihren Kopf auf ihren Händen ab und sagte sich, Beauvais bekäme dieses Bild sicher ebenso wie den berühmten Fra Filippo Lippi wieder hin. Er würde die Farbtöne und die Pinselstriche so gut an das Original anpassen, dass kein Mensch mehr sehen würde, was geschehen war.

Aber das war nur ein schwacher Trost. Denn selbst wenn der Schaden meisterhaft verborgen würde, wäre das Porträt in Zukunft sicher nicht mal mehr die Hälfte wert.

Plötzlich runzelte sie überrascht die Stirn. Sie blinzelte verwirrt und sagte sich, sie bilde sich wahrscheinlich etwas ein.

Weil es einfach unmöglich war.

Sie beugte sich so dicht über das Bild, dass ihr die Hitze der chemischen Reaktion die Tränen in die Augen trieb.

Inmitten der Blasen, die die sich auflösende Farbe warf, erschienen die Umrisse … eines Gesichts.

Sie rieb sich die Augen.

Doch, es war tatsächlich so. Hinter der blassen cremefarbenen Spiegeloberfläche sah sie … ein Gesicht.

Mit einem Mal dachte sie nicht mehr an das Ende ihrer Karriere, und ihr Herz klopfte aus einem völlig anderen Grund.

Als sie das Läuten des Telefons vernahm, riss sie es in der Hoffnung, dass nicht bereits jemand anderes aus dem Haus an den Apparat gegangen wäre, eilig an ihr Ohr.

Nie zuvor in ihrem Leben hatte sie etwas so Herrliches gehört wie die kultivierte Stimme Gerard Beauvais’.

»Oh Gott, ich habe es vermasselt«, platzte es aus ihr heraus. »Ich habe den Spiegel bearbeitet, dabei das falsche Lösungsmittel benutzt, dadurch einen Teil der Farbschicht aufgelöst und …«

»Okay, okay, chérie. Immer schön der Reihe nach.«

Irgendwie drang seine Stimme zu ihr durch, und sie atmete tief ein.

»Also«, meinte er, als sie sich wieder halbwegs unter Kontrolle zu haben schien, »erzählen Sie mir ganz genau der Reihe nach, was geschehen ist. Und welche Bestandteile Ihr Lösungsmittel hat.«

Sie erstattete Bericht und wartete mit angehaltenem Atem auf seine Reaktion.

»Ich muss wissen, was darunter war. Unter dem Spiegel«, bat er ruhig.

»Eine dunkle Gestalt«, flüsterte sie. »Die Konturen eines Kopfes, glaube ich.«

Der Restaurator lachte leise auf. »Nun, vielleicht stellt sich Ihr Fehler noch als Glückstreffer heraus. Hat die Farbschicht auf dem Spiegel anders auf das Lösungsmittel reagiert als an anderen Stellen des Porträts?«

»Das ist schwer zu sagen, denn zum Glück habe ich die anderen Stellen nicht ebenfalls verbrannt. Aber nein, ich glaube, nicht. Vielleicht ging die Lackschicht etwas leichter ab, doch das lag sicher einfach daran, dass das Lösungsmittel stärker war.«

Beauvais schwieg einen Moment. »Ich muss das Bild mit eigenen Augen sehen. Aber lassen Sie es, wo es ist. Ich komme morgen bei Ihnen vorbei. Ich habe gerade Verwandtschaft zu Besuch und kann deshalb nicht weg. Erzählen Sie weder Jack noch seiner Mutter, was geschehen ist. Ich glaube, die beiden sollten erst etwas davon erfahren, wenn wir wissen, wie der Schaden am besten behoben werden kann. Wir sollten versuchen, sie nicht unnötig zu beunruhigen.«

Callie atmete zitternd aus. »Gott, ich fühle mich entsetzlich. Jack wird mich hochkantig rauswerfen. Ich werde nie wieder …«

Wieder stieß Beauvais ein leises Lachen aus. »Jack wird Sie ganz bestimmt nicht rauswerfen. Und, glauben Sie mir, Sie werden auch weiter als Restauratorin arbeiten. Wir sind alle nur Menschen, und es gibt wahrscheinlich keinen Menschen, der nicht hin und wieder einen Fehler macht. Gemeinsam werden wir dieses Problem ganz sicher in den Griff bekommen, doch wir sollten dabei möglichst vorsichtig zu Werke gehen. Ich werde mich morgen bei Ihnen melden, und dann werden wir sehen, wie der Schaden am geschicktesten behoben werden kann.«

»Wie kann ich Ihnen jemals danken?«

»Ganz einfach«, meinte er.

Sie stieß ein ersticktes Lachen aus, denn sie konnte sich nicht vorstellen, dass sie irgendwas zu bieten hatte, was für diesen Mann auch nur ansatzweise von Interesse war.

»Wenn Sie beruflich erst mal fest im Sattel sitzen und ein jüngerer Kollege ein Problem mit seiner Arbeit hat, werden Sie für ihn einfach dasselbe tun wie ich heute für Sie. Ich selbst habe vor fünfundzwanzig Jahren einmal unverdünntes Terpentin auf einen Tizian gekippt.«

Sie rang hörbar nach Luft, doch er fuhr fröhlich fort: »Es war einfach entsetzlich. Nachdem ich mich in den salle de bains zurückgezogen hatte, wo mir mein kurz zuvor genossenes Mittagessen auf höchst unangenehme Art wieder abhandenkam, bin ich wieder zurück an meinen Arbeitsplatz gegangen, habe meinem Mentor gebeichtet, was geschehen war, und wir beide haben das Problem gelöst. Das Gemälde hängt noch heute in den Uffizien, und immer, wenn ich in Florenz bin, sehe ich es mir noch einmal aus der Nähe an. Natürlich sehen außer mir nur wenige den Streifen, den wir damals übermalen mussten, aber mich wird er für alle Zeit daran erinnern, wie ungeschickt ich damals war. Eins will ich Ihnen sagen: Übertriebene Egos sind viel schädlicher für unser Metier als jeder noch so große Fehler, den ein Restaurator machen kann. Deshalb denken Sie, wenn eines Tages jemand Ihre Hilfe braucht, an Ihr heutiges Erlebnis und stehen ihm mit Rat und Tat zur Seite, statt ihn einfach zu verurteilen.«

»Ich schäme mich entsetzlich, weil ich Sie um Hilfe bitten muss«, wisperte sie.

»Das ist gut. Weil nämlich die Vorwürfe, die Sie sich selber machen, viel lehrreicher und heilsamer als harsche Worte irgendwelcher anderer Menschen sind. So etwas wie Ihnen heute passiert jedem von uns irgendwann einmal, chérie. Nur achten Sie darauf, dass es bei diesem einen Fehler bleibt.«

Nach Ende des Gesprächs rieb Callie sich die Augen und blickte auf Artie, der zurückgekommen war und dessen dicker Kopf tröstend auf ihrem Oberschenkel lag.

Sie schwankte zwischen dem Gefühl, eine Versagerin zu sein, und der Erleichterung darüber, dass Beauvais ihr helfen wollte, hin und her, und musste ihren ganzen Mut zusammennehmen, um zurück ins Haus zu gehen. Der Gedanke, Jack nicht zu erzählen, was geschehen war, rief ein Gefühl des Unbehagens in ihr wach, aber sie hatte Vertrauen zu Beauvais und wusste, der Kollege hatte recht. Es wäre viel leichter, dem Besitzer eines Bildes ein Problem zu präsentieren, wenn man gleichzeitig schon eine Lösung bot.

Als Callie durch die Küchentür trat, wurde sie sofort in wunderbar tröstliche Düfte eingehüllt.

»So etwas nennst du Teig?«, fragte Thomas Nate und fuchtelte mit einem Holzlöffel vor seinem Gesicht herum. »Sieht aus wie etwas, womit man Tapeten an die Wände klebt.«

Nate knetete fröhlich grinsend weiter. »Warum rührst du nicht mal deine Zwiebeln um, Alter? Bevor du sie mit einem Presslufthammer aus der Pfanne lösen musst?«

»Hi, Callie!«, grüßte Thomas gut gelaunt. »Willkommen in meinem größten Albtraum. Zwei Köche, eine Küche – das geht niemals gut.«

Als ihr die unkomplizierte Freundschaft, die der Mann ihr bot, die Tränen in die Augen trieb, wurde ihr bewusst, dass sie noch immer sehr verletzlich war. Am klügsten wäre es, sie ginge direkt in ihr Zimmer und bliebe erst mal eine Zeitlang dort. Denn dies war nicht der beste Augenblick, um mit anderen – vor allem netten Kerlen wie den beiden hier – zusammen zu sein.

Deshalb bot sie eilig an, die Haustür aufzumachen, als dort jemand klopfte, und hätte vor Freude beinahe geschrien, als sie Grace und ihren Bodyguard auf der Schwelle stehen sah.

Sie umarmte ihre Halbschwester. »Ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr ich mich freue, dich zu sehen.«

Grace nahm sie genauso stürmisch in den Arm, und als sie sich wieder voneinander lösten, wies sie auf den muskulösen Kerl, der ein Stück hinter ihr stand. »Erinnerst du dich noch an Ross?«

Callie lächelte über den kräftigen Händedruck, den sie von ihm bekam.

»Schön, auch Sie wiederzusehen«, erklärte sie und blickte in sein kantiges Gesicht. Trotz der schwarzen Lederjacke und des durchdringenden Blickes, mit dem er sie bedachte, sah er, als er lächelte, plötzlich richtiggehend freundlich aus.

Sie winkte das Paar an sich vorbei ins Haus. »Kommt rein, draußen ist es kalt.«

Ross bückte sich nach dem Gepäck und trug die beiden schweren Ledertaschen, als hätten sie keinerlei Gewicht.

»Wo ist Jack?« Grace zog ihren Mantel aus und blickte Callie fragend an.

»Ich glaube, er ist noch unterwegs. Aber Nate ist da.«

»Du machst Witze.«

Noch während sie durch Kopfschütteln verneinte, kam der Mann, von dem die Rede war, aus der Küche ins Foyer und wischte sich die Hände an einem Geschirrtuch ab. »Gracie!«

Lachend lief Grace auf ihn zu und fiel ihm um den Hals. »Schön, dich zu sehen, Fremder.«

»Die Freude ist ganz meinerseits. Und wer ist das?« Nate blickte über ihre Schulter auf den anderen Mann.

»Das ist mein Verlobter, Ross Smith.«

Callie rang nach Luft. »Gratuliere!«

»Danke. Es ist erst gestern Abend passiert. Aber ich kann dir gar nicht sagen, wie glücklich wir beide sind.«

Grace und Ross setzten sich in die Küche, um etwas zu trinken und Thomas und Nate beim Kochen zuzusehen, und Callie – die das fröhliche Gelächter und die Scherze momentan nur schwer ertrug – zog sich mit dem Versprechen, pünktlich zum Beginn des Abendessens wieder da zu sein, in ihr Schlafzimmer zurück.

Jack stellte den Jaguar seiner Mutter ab, schaltete den Motor aus und starrte die Rückwand der Garage an. Plötzlich war er hundemüde, wollte aber nicht die Augen schließen, denn dann tauchten nur Szenen aus der Synagoge und vom Friedhof in seinen Gedanken auf. Er konnte sich noch so sehr bemühen, trotzdem bekam er das Bild des kleinen Sargs einfach nicht mehr aus dem Kopf.

Als er schließlich ausstieg und über den Hof zur Hintertür des Hauses ging, sah er durch das Küchenfenster Grace und Nate. Lachend kippte sein Bruder das Dressing an den Salat, und die Freundin rührte um. Während er im Dunkeln stand und zwei der Menschen sah, die er auf der Welt am meisten liebte, war er dankbar, dass er endlich zuhause war. Dankbar, dass seine Lieben nicht so hatten leiden müssen wie die Familie des kleinen Mädchens. Und die Kleine selbst. Er öffnete die Tür und runzelte die Stirn, weil er Callie nirgends sah.

»Da ist er ja!«, rief Grace, lief auf ihn zu, blieb aber plötzlich wieder stehen, als sie seinen Gipsarm sah. »Ich habe von deinem Autounfall gehört und bin nur froh, dass du in Ordnung bist.«

»Und jetzt, wo ich dich sehe, geht es mir noch besser«, gab er charmant zurück, nahm sie eilig in den Arm und gab ihr einen Kuss. Er wollte wieder einen Schritt nach hinten machen, doch sie hielt ihn an seinem gesunden Arm zurück.

»Und wie geht es dir wirklich?«, fragte sie im Flüsterton und sah ihn forschend an. »Ich habe auch von Blair und dir gehört. Es tut mir leid.«

»Danke.« Lächelnd nickte Jack in Richtung des schweigsamen Hünen, der in einer Ecke saß. »John Smith, richtig?«

»Mein Verlobter heißt Ross«, verbesserte ihn Grace.

Jack zog die Augenbrauen hoch, denn er war sowohl von dem plötzlichen Namenswechsel als auch von der Bezeichnung Verlobter überrascht.

»Aber hallo, gratuliere.« Er schüttelte dem Mann die Hand und freute sich über die Art, wie Smith den Arm um seine Freundin legte und sie an sich zog.

»He, Bruderherz, geh bitte Callie holen, ja?«, bat Nate vom Herd her. »Sie ist in ihrem Zimmer, aber in zehn Minuten steht das Essen auf dem Tisch.«

Jack stellte seine Aktentasche ab, ging in den ersten Stock, und als er bei ihr klopfte, bat sie ihn leise herein, und er betrat den Raum.

Callie saß, ein Kissen vor dem Bauch, auf ihrem großen Bett und sah ihn lächelnd an. »Ich hatte gehofft, dass du es bist.«

Während fröhliches Gelächter aus der Küche drang, machte er die Tür hinter sich zu. »Ich kann es dir nicht verdenken, dass du ein bisschen Ruhe haben wolltest. Unten ist ganz schön was los.«

Er setzte sich neben sie, und es war Balsam für seine Seele, als sie seine Hand ergriff.

»Wie war es?«, fragte sie.

»Der Gottesdienst war wunderbar, aber zugleich unglaublich traurig. Danach bin ich in das Hospiz-Zentrum gefahren und habe ihnen einen Scheck überreicht.«

»Wofür sie sicher wirklich dankbar waren.«

»Ja, das waren sie.« Er legte ihre Hand auf seinem Oberschenkel ab und strich zärtlich über ihre Haut.

Sie öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch er schüttelte den Kopf.

»Ich habe mit Gray gesprochen.« Er spürte die plötzliche Anspannung in ihren Fingern und fuhr fort: »Langsam muss ich mich entscheiden, ob ich kandidieren will.«

»Und was wirst du tun?«

Er sah ihr in die Augen, als ob ihr das helfen würde, seine nächsten Worte besser zu verstehen.

»Weißt du, als ich heute durch das Hospiz gelaufen bin, wurde mir klar, weshalb ich kandidieren will. Ich will damit nicht sagen, dass ich eine mystische Erfahrung hatte oder so. Tatsächlich war alles furchtbar nüchtern. Am Ende habe ich mir im Büro der Leiterin die Bilanzen angesehen, und während ich die Zahlen durchgegangen bin, konnte ich deutlich sehen, was sie alles verbessern könnten, um besser dazustehen. Mir war einfach klar, was alles verändert werden müsste. Ich wusste ganz genau, wie ich ihnen helfen könnte, hätte ich die Macht dazu.«

Sie hörte ihm ruhig zu, doch ihr war deutlich anzusehen, dass ihr Herz bei seinen Worten brach.

»Meine Vision für diesen Staat nimmt allmählich Gestalt an, Callie. Von all den Möglichkeiten, die Ausgaben zu reduzieren und die Einnahmen zu erhöhen, schwirrt mir regelrecht der Kopf. Ich weiß, was verändert werden muss. Natürlich ist mir klar, dass ich nicht jedes Ziel erreichen kann. Dass nicht jedes Hilfsprogramm, jedes Gesundheitszentrum, jedes Obdachlosenheim zu finanzieren ist. Aber ich kann auf jeden Fall versuchen, einige von diesen Einrichtungen aktiv zu unterstützen. Und es wäre mir sehr wichtig, das zu tun.« Er blickte auf ihre Hand, die in seiner lag. »Ich würde gerne kandidieren, denn das ist der einzige Weg, um dorthin zu gelangen, wo ich gerne wäre. Weil ich dort etwas bewegen kann.«

»Das freut mich für dich«, erklärte sie, obwohl sie todunglücklich aussah. »Wirklich.«

»Und ich habe mit Gray über deine Situation gesprochen.«

»Du hast ihm alles erzählt?«, fragte sie entsetzt.

»Ich musste einfach wissen, wie er die Sache sieht.«

»Aber, was ich dir erzählt habe, geht keinen Menschen etwas an. Das war nur für dich bestimmt.« Ungeduldig strich sie sich die Haare aus der Stirn, und er fand, sie wirke fürchterlich nervös.

»Er wird mit niemandem darüber reden.«

»Darum geht es nicht. Ich hätte nie gedacht, dass du ihm oder irgendeinem anderen Menschen etwas davon erzählst.«

Er runzelte die Stirn.

»Wen versuchst du zu beschützen?«

Als sie keine Antwort gab, drückte er ihr aufmunternd die Hand. »Wen? Sag es mir.«

»Die einzige Familie, die ich noch habe«, stieß sie aus. »Und es ist mir alles andere als angenehm, wenn du unsere Privatgespräche in die ganze Welt hinausposaunst.«

»Gray ist ein guter Freund.«

»Vielleicht für dich, aber für mich ganz sicher nicht.«

Er atmete tief durch, und in dem Bemühen, ihre innere Barriere zu durchbrechen, wählte er die nächsten Worte mit Bedacht. »Außerdem habe ich ihm erklärt, dass ich vielleicht nicht kandidieren werde.«

Sie riss schockiert die Augen auf. »Wirklich?«

Er nickte langsam mit dem Kopf. »Obwohl ich diesen Staat gern regieren würde, könnte ich mir vorstellen, darauf zu verzichten. Wenn ich dich nur auf diese Weise halten kann.«

Callie zögerte, als könne sie einfach nicht glauben, dass er wirklich meinte, was er sagte, dann aber schlang sie ihm die Arme um den Hals. »Oh, Jack …«

Er schob sie ein Stückchen von sich fort.

»Ich würde alles für dich aufgeben, sogar die Kandidatur für dieses Amt. Aber das werde ich erst tun, wenn ich die ganze Wahrheit weiß. Ich werde nicht auf etwas verzichten, auf das ich mich jahrelang vorbereitet habe, ohne dass du mir gegenüber völlig ehrlich bist. Eine Beziehung mit nur einem Teil von dir wäre mir dieses Opfer nämlich nicht wert.«

Sie ließ die Hände sinken und schlug die Augen nieder. »Das verstehe ich. Das verstehe ich vollkommen. Ich brauche nur ein bisschen Zeit, nur noch ein bisschen Zeit. Weil ich vorher noch … mit jemandem sprechen muss.«

»Das Sondierungskomitee trifft sich an diesem Wochenende in meinem Büro. Spätestens am Samstagnachmittag möchte ich den Leuten sagen können, ob ich kandidiere oder nicht.« Alles andere als ermutigt von der Tatsache, dass es ihr nicht gelang, ihm ins Gesicht zu sehen, stand er wieder auf. »Sprich mit wem auch immer du sprechen willst, und dann gib mir Bescheid, wie du dich entschieden hast. Aber eins muss ich dir sagen. Wenn du mir nicht vertrauen kannst, kann ich nicht mit dir zusammen sein. Egal, wie sehr ich dich liebe.«

Sie nickte, sah ihn aber noch immer nicht an.

Er blieb stehen. »Ich soll dir von Nate ausrichten, dass das Essen fertig ist. Willst du mit runterkommen?«

»Sag ihnen, ich hätte schon geschlafen.«

Als er die Tür hinter sich schloss, fühlte er sich leer und völlig ausgelaugt, und da er es nicht ertragen hätte, sich mit anderen zu unterhalten, stieg er in seine Joggingshorts, entschuldigte sich bei den Leuten in der Küche und ging hinunter in den Fitnessraum.