23
Als Jack eine halbe Stunde später aus seinem Arbeitszimmer trat, war er überrascht von dem guten Gefühl, das ihm die Vorstellung vermittelte, hundert Millionen Dollar in ein Unternehmen zu investieren, mit dem sich garantiert kein großer Gewinn erzielen ließ. Aber das lag zum Teil an der Reaktion von Bryan McKay. Vor lauter Glück hatte der Arzt bis zum Ende des Gesprächs kaum einen zusammenhängenden Satz herausgebracht.
Verdammt, sagte sich Jack, wenn es ihm schon nicht gelang, seine eigenen Probleme in den Griff zu kriegen, könnte er wenigstens die gute Fee für ein paar andere Menschen spielen. Dazu bräuchte er nur ein Tutu und einen Zauberstab.
Na, wenn das kein gelungenes Motiv für seine Werbekampagne wäre, dachte er.
»Jack! Wie geht es Ihnen?«, grüßte ihn der Vorstandsvorsitzende eines des größten Versicherungsunternehmen des Staats, als er wieder in die Eingangshalle kam. »Hören Sie, ich würde gern mit Ihnen über Arbeitsunfallversicherungen sprechen.«
»Ich bin ganz Ohr.«
Der Mann und er unterhielten sich eine Weile, bis Jacks Mutter im Foyer erschien. Neben ihr ging Nate. Er trug die weiße Jacke eines Kochs und sah aus, als wäre er am liebsten auf der Stelle wieder in der Küche abgetaucht.
»Es ist Zeit«, erklärte sie, nahm ihre beiden Söhne an den Händen, führte sie in den Salon und brachte die Prozession direkt vor dem Kamin, unter dem Porträt von Nathaniel dem Sechsten, zum Stehen. Sofort senkte sich Stille über den Raum, und die Leute schoben sich, um besser hören zu können, was sie sagen würde, dichter an sie heran.
Jack blickte sich im Zimmer um und merkte, dass Gray im Hintergrund mit vor der Brust verschränkten Armen an einer Säule lehnte und mit zugekniffenen Augen in Richtung seiner Mutter sah.
»Falls ich einen Augenblick um Ihre Aufmerksamkeit bitten dürfte«, fing Mercedes an.
Jack hoffte, sie fasste sich bei ihrer diesjährigen Rede möglichst kurz. Auf jeder ihrer Partys zollte Mercedes seinem Vater in einer Litanei aus Lobhudeleien, die beinahe schon peinlich war, Tribut. Sie war offenbar entschlossen, die Legende von Nathaniel dem Sechsten aufrechtzuerhalten, solange sie am Leben war. Wenn Jack ihr wohlgesonnen war, versuchte er, diese Geste als ein Zeichen der Zuneigung zu sehen, auch wenn er den Verdacht hegte, dass sie auch noch aus einem anderen Grund so liebevoll von ihrem toten Gatten sprach. Wahrscheinlich wollte sie ganz einfach alle anderen daran erinnern, mit wem sie verheiratet gewesen war.
Aber was machte das schon aus, fragte er sich und blickte über ihren schneeweißen Knoten hinweg seinen Bruder an. Nate war sein Unbehagen überdeutlich anzusehen.
»Mein Mann …«
Jack blendete die nächsten Worte aus, sah sich nochmals gleichmütig im Zimmer um und erwachte erst aus seinem Halbschlaf, als er Grace und Callie aus der Eingangshalle kommen sah. Sie gingen die Treppe halb hinauf, blieben etwas oberhalb der anderen Leute stehen und hörten seiner Mutter zu.
Wie gebannt starrte er Callie an.
In dem schlichten schwarz-weißen Outfit, das er bereits kannte, hob sie sich von all den anderen Frauen in den eleganten Abendroben und den Männern in den Smokings überdeutlich ab. Ihr prachtvolles rotes Haar ergoss sich über ihre schmalen Schultern, und im Gegensatz zu dem Make-up der meisten anderen Frauen sah ihres vollkommen natürlich aus.
Für ihn war sie die schönste Frau auf diesem Fest.
Zwei Männer, die am Fuß der Treppe standen, nahmen sie in Augenschein, wechselten ein paar kurze Worte, zuckten mit den Schultern, da sie keine Ahnung hatten, wer sie war, starrten sie dann aber weiter über ihre Schultern hinweg an.
Jack ballte die Fäuste, als er ihre lüsternen Blicke sah. Am liebsten hätte er die beiden hochkantig rausgeworfen, obwohl er mit dem einen schon seit Jahren Squash spielte und mit dem anderen seit der Grundschule befreundet war.
Callie allerdings schien ihre Blicke gar nicht zu bemerken. Sie schaute auf einen Gegenstand in ihrer Hand, und als sie endlich wieder aufsah und sich ihre Blicke begegneten, wogte ein derartiges Verlangen in ihm auf, dass er sich zwingen musste, weiter neben seiner Mutter stehen zu bleiben, die noch immer sprach.
Sie setzte ein leichtes Lächeln auf und winkte vorsichtig mit einem halb zerrissenen Stück Papier.
Hatte sie das Rätsel um Nathaniel den Ersten etwa tatsächlich gelöst?
Dann drang Mercedes’ Stimme wieder zu ihm durch. »Und jetzt zu meinem Sohn Jackson«, meinte sie. »Wie Sie alle wissen, hat er seinen Vater und mich mit alldem, was er erreicht hat, furchtbar stolz gemacht, und jetzt steht er im Begriff, sich einer neuen Herausforderung zu stellen. Es ist mir eine große Freude, Ihnen mitteilen zu können, dass er sich im nächsten November um das Amt des Gouverneurs unseres wunderbaren Staats bewerben wird!«
Jack riss den Kopf herum, und während die Gäste begeistert applaudierten, starrte er seine Mutter ungläubig an.
»Wie zum Teufel konntest du das tun?«, stieß er zwischen zusammengebissenen Zähnen aus.
Aber sie war zu sehr damit beschäftigt, den Beifall der Menschen zu genießen, um zu hören, dass er mit ihr sprach.
Verzweifelt blickte er in Richtung Treppe, konnte aber über all die erhobenen Hände hinweg nichts mehr sehen. Verflucht. Er konnte sich lebhaft vorstellen, was Callie bei den Sätzen seiner Mutter durch den Kopf gegangen war.
»Rede! Rede! Rede!«
Da er wusste, dass man ihn erst gehen lassen würde, wenn er selbst etwas gesagt hätte, hob er die Hände in Siegerpose über den Kopf, bis der allgemeine Lärm erstarb.
»Zum jetzigen Zeitpunkt kann ich die Behauptung meiner Mutter weder bestätigen noch zurückweisen.« Anfeuernde Rufe wurden laut. »Aber danke für Ihr Vertrauen.«
Als die Leute wieder klatschten, suchten seine Augen Gray. Der Freund schüttelte unglücklich den Kopf, denn er wusste genau, wie es jetzt weitergehen würde. Seine Mutter hatte dreihundert der einflussreichsten Bürger ihres Staates gegenüber seine Kandidatur erklärt. Und da kaum einer dieser Menschen ohne Handy aus dem Haus gegangen war, würde die Nachricht morgen früh in allen Zeitungen des Landes stehen.
Nachdem der Lärm verebbt war, drehte sich Mercedes lächelnd zu ihm um. »Ist das nicht fantastisch? Die Leute lieben dich.«
Jack schob sich so dicht an sie heran, dass ihn niemand außer ihr verstand. »Das wirst du noch bereuen.«
Sie rang erschreckt nach Luft, doch er wandte sich bereits zum Gehen. Er musste Callie einfach finden, um ihr zu erklären, dass er keine Schuld an diesem Manöver hatte.
Sie war nirgends mehr zu sehen, war also wahrscheinlich in ihr Schlafzimmer zurückgekehrt.
Jack wehrte die ausgetreckten Hände seiner Gäste ab und war bereits auf dem Weg zur Treppe, als plötzlich Gray wie aus dem Nichts vor ihm erschien.
»Wir müssen uns um diese Sache kümmern. Jetzt sofort.« Und bevor er etwas sagen konnte, fragte ihn der Freund: »Wusstest du, dass sie das machen würde?«
»Nein, verdammt, natürlich nicht.«
In diesem Augenblick klingelte Grays Handy, und er zog es aus der Tasche und blickte stirnrunzelnd auf das Display. »Wir müssen eine Presseerklärung vorbereiten, und dann müssen wir sämtliche Mitglieder des Sondierungskomitees – auch die, die heute Abend nicht hier sind – zusammenrufen. Denn die Leute, die dir geholfen haben, vor den Kopf zu stoßen ist das Letzte, was du brauchst. Keiner von ihnen hat mit dieser Ankündigung gerechnet.«
Dann ging es den Leuten wie ihm selbst.
Jack war außer sich vor Zorn. Einzig, weil seine Mutter einen übertriebenen Geltungsdrang besaß, hatte er auf einmal diesen Mist am Hals. Aber er wollte sich nicht um diese Sache kümmern, sondern musste Callie finden, die ihm wichtiger als alles andere war.
Als die Menge nach den Worten von Jacks Mutter in Begeisterungsstürme ausgebrochen war, hatte Callie unglücklich die Augen zugeklappt.
»Ich kann es einfach nicht glauben«, hatte Grace gerufen. »Wie aufregend!«
Callie hatte ein gezwungenes Lächeln aufgesetzt. »Er will tatsächlich kandidieren.«
Und zwar so sehr, dass er noch nicht mal ihre Antwort abgewartet hatte, hatte sie gedacht.
Sie hatte Gray in einer Ecke stehen sehen. Er hatte sein Handy aus der Tasche seines Jacketts gezogen und eilig eine Nummer eingetippt.
Eins hatte sie Jack und seinem Kumpel lassen müssen. Es war ein brillanter Schachzug der beiden gewesen, Mrs Walker die Kandidatur ankündigen zu lassen, während sie unter einem Porträt ihres verstorbenen Mannes stand. Perfekt kalkulierte Spontaneität, durch die den Leuten seine Herkunft und die Dienste, die seine Familie dem Staat und dem gesamten Land bereits erwiesen hatte, in Erinnerung gerufen worden waren. Und die Erklärung auf einer privaten Party ohne Journalisten abzugeben war ebenfalls ideal. Denn auch wenn keine Reporter in der Nähe waren, würde sich die Nachricht dank der vielen Handys umgehend herumsprechen, und dann wären die Reporter gezwungen, sich an Jack zu wenden, um Einzelheiten zu erfahren, und böten ihm auf diese Weise die Gelegenheit, großmütig Interviews zu gewähren und wie der große Gönner dazustehen. Eine wirklich perfekte Strategie.
Ein wirklich gelungener Coup.
Als Jack lächelnd die Hände über seinen Kopf gehoben hatte, hatte sie sich abgewandt. Sie hatte kein Interesse mehr daran gehabt, ihm zuzuhören.
Sie konnte einfach nicht glauben, dass er nicht bis zum nächsten Tag gewartet hatte. Er hatte es ihr versprochen, aber jetzt war es vorbei. Er würde kandidieren. Und hatte sie dadurch aus seinem Leben verbannt.
Sie hatte mit halbem Ohr gehört, wie die Leute gehorsam verstummt waren, wie Jack mit tiefer Stimme zu ihnen gesprochen hatte und erneut tosender Applaus ausgebrochen war.
»Callie?«, hatte Grace über den Lärm hinweg geschrien.
Sie war aus ihrer Trance erwacht. »Ja?«
»Wollen wir jetzt nach oben gehen und miteinander reden?«
Das war nicht mehr nötig, hatte sie gedacht. Oder zumindest hatte sich das Thema erledigt, um das es ihr ursprünglich gegangen war.
»Ich wollte dir nur zeigen, was ich gefunden habe«, hatte sie deshalb gesagt.
»Etwa noch einen Brief?«
»Den Brief, der das Rätsel löst.«
Dann war sie der Halbschwester in deren Schlafzimmer gefolgt, und jetzt saß sie auf einer chintzbezogenen Chaiselongue, streifte ihre Schuhe ab, zog ihre Beine unter sich und reichte Grace den Brief.
Sie war bereit gewesen, es zu wagen, dachte sie. Jack alles zu erzählen und ihn dann zu bitten, einen Weg zu finden, damit sie zusammenbleiben könnten. Und obwohl es Grace nicht recht gewesen wäre, wenn Jack von ihrer Vergangenheit erführe, hätte das keine Rolle mehr für sie gespielt. Sie hatte ihm auf jeden Fall die Wahrheit sagen wollen, denn er war ihr wichtiger als die fortgesetzte Wahrung des Geheimnisses, das ihre Abstammung umgab. Und auch wichtiger als die kleine Familie, die ihr nach dem Tod der Eltern noch geblieben war.
Nur war es jetzt zu spät. Oder vielleicht hatte er es auch nie wirklich ernst damit gemeint, nicht zu kandidieren, wenn ihm Callie gegenüber völlig ehrlich war.
»Das ist einfach unglaublich.« Grace hatte den Brief studiert und sah sie wieder an. »Wir haben tatsächlich recht gehabt.«
Callie blickte auf das Blatt. »Du hast recht gehabt.«
»Hast du den Brief schon Jack gezeigt?«
Sie schüttelte den Kopf. »Damit werde ich bis morgen warten. Er hat jetzt auch so schon alle Hände voll zu tun.«
»Das hat er auf jeden Fall.« Grace legte das Schreiben auf den Tisch neben dem Bett. »Wie viel Arbeit hast du noch mit dem Porträt?«
»Die Reinigung habe ich heute Nachmittag abgeschlossen. Jetzt brauche ich nur noch eine frische Lackschicht aufzutragen, und dann ist mein Werk vollbracht.«
Grace setzte sich ans Fußende der Chaiselongue und betastete die schweren Diamantohrringe, die sie trug. »Und wie wird es dann für dich weitergehen?«
Callie lachte leise auf. »Dann kehre ich wieder nach New York zurück.«
In diesem Augenblick wurde die Tür geöffnet, Ross betrat den Raum und riss sich die Krawatte ab, als wäre ihm das Ding verhasst. Dann blieb er plötzlich wieder stehen, als er Callie sah.
»Störe ich?«
Callie stand auf und nahm den Brief vom Tisch. »Ganz im Gegenteil. Ich sollte langsam gehen, schließlich ist es schon ganz schön spät. Wann reist ihr beide morgen ab?«
Grace brachte sie noch bis zur Tür. »Gleich nach dem Frühstück.«
»Dann sehen wir uns morgen früh. Gute Nacht, Grace. Nacht, Ross.«
Morgen würde sie Jack das Schreiben zeigen, das Porträt lackieren und dann wäre es vorbei, ging es ihr auf dem Weg in Richtung ihres eigenen Zimmers durch den Kopf.
Doch zu ihrer Überraschung freute sie sich richtiggehend darauf, bald wieder in New York zu sein. Obwohl sie dort bescheiden hauste, gehörten in der kleinen Wohnung dort sämtliche Dinge ihr. Und auch wenn sie keine Ahnung hatte, wie es in New York für sie beruflich weitergehen sollte, täten sich ihr sicher irgendwelche Möglichkeiten auf.
Sie zog die Tür hinter sich zu und drehte nach kurzem Zögern den Schlüssel im Schloss herum.
Denn sie hatte das Gefühl, dass Jack noch zu ihr käme, aber sie hatte einfach nicht die Energie für ein Gespräch mit ihm. Sie wollte nur noch ihre Ruhe haben.
Und die fände sie ganz sicher nicht, solange er ein Teil von ihrem Leben war.