17
Callie blickte zwischen den beiden hin und her, und plötzlich war ihr alles klar. Es war die Blondine aus dem Flur im Plaza. Der Schal und die Ohrringe in seiner Suite hatten ihr gehört.
Plötzlich kämpfte Callie mit einem Gefühl der Übelkeit.
»Ich bin Blair Stanford«, stellte sich die andere vor, reichte ihr die Hand und sah sie aus zugekniffenen Augen an.
Wahrscheinlich, weil auch ihr die flüchtige Begegnung eingefallen war.
Verlegen ergriff Callie die ihr angebotene Hand und warf dabei einen Blick auf Jack. Er sah ihr ins Gesicht und schüttelte den Kopf, als täte es ihm leid, dass sie in diese Situation geraten war.
»Ich wünschte, ich könnte behaupten, dass es mich freut, Ihre Bekanntschaft zu machen«, erklärte Blair weniger feindselig als ehrlich. »Aber wie Sie sich sicher denken können, bin ich ziemlich enttäuscht.«
Callie hatte keine Ahnung, was sie darauf erwidern sollte. Deshalb sah sie eilig wieder fort, wobei ihr Blick erneut auf den Diamantring fiel. Der Edelstein hatte die Größe eines Zehn-Cent-Stücks, wie sie merkte.
»Vielleicht sollte ich erst mal nach oben gehen«, murmelte sie.
»Das ist nicht nötig«, widersprach ihr Blair. »Jack und ich haben nur gerade unsere Trennung voneinander offiziell gemacht.«
Sie nahm ihre Vuitton-Handtasche vom Tisch, nickte Callie förmlich zu und wandte sich wieder an Jack. »Pass gut auf dich auf. Obwohl ich weiß, dass du das immer tust.«
»Ich bringe dich noch an die Tür.«
»Das ist nicht nötig, und es ist mir sogar lieber, wenn du’s lässt.« Auf dem Weg in Richtung Flur blieb sie noch einmal stehen und gab Callie den gut gemeinten Rat: »Seien Sei vorsichtig, meine Liebe. Er ist in vielerlei Hinsicht ein wunderbarer Mann, deshalb hinterlässt er eine große Lücke, wenn er geht.«
Callie wandte sich verlegen ab und dachte, die Frau hätte ohne jeden Zweifel recht.
Sie hörten, wie die Haustür erst geöffnet und danach wieder geschlossen wurde, und dann senkte sich völlige Stille über den Raum.
Callie wandte sich an Jack. Er hatte den Kopf gesenkt und klammerte sich an der Arbeitsplatte fest.
»Alles in Ordnung?«, fragte sie.
Er atmete stoßweise ein und aus. »Ja.«
Sie wartete darauf, dass er noch etwas sagte, aber als er weiterschwieg, murmelte sie: »Willst du das Abendessen verschieben?«
Er sah wieder auf. »Vielleicht. Denn ich glaube nicht, dass ich augenblicklich ein guter Gesellschafter bin.«
Ihr Herzschlag setzte aus, und sie fragte sich, ob er vielleicht bereute, dass er derart weit gegangen war. Aber vielleicht setzte ihm auch einfach Blairs unangemeldetes Erscheinen derart zu. »Verstehe.«
Er trat auf sie zu und küsste sie flüchtig auf den Mund. »Danke.«
Dann trat er in den Flur hinaus, und sie blickte auf den Ring und versuchte, sich vorzustellen, wie es wäre, ihn zu tragen. Was ihr jedoch nicht gelang.
Doch das war bestimmt nicht weiter schlimm. Weil er sie schließlich nicht gebeten hatte, ihn zu heiraten.
Sie stöhnte leise auf. Ihn zu heiraten? Sie hatten bisher dreimal miteinander geschlafen, und sie dachte bereits über eine Hochzeit nach? Sie musste vollkommen verrückt geworden sein. Ein lockeres Verhältnis war etwas völlig anderes. Und sie konnte bisher nicht mal mit Gewissheit sagen, dass das, was sie beide hatten, ein Verhältnis war.
Sie zwang sich, darüber nachzudenken, wie lange sie einander kannten, und schüttelte unglücklich den Kopf. Ihr erstes Treffen war nicht einmal einen Monat her. Bevor sie also auch nur an die nächste Woche mit ihm denken könnte, wäre es ein weiter, weiter Weg.
Jack ging in sein Arbeitszimmer und versuchte, so zu tun, als würde es für ihn nicht allmählich zur Routine, dass er nach der Arbeit trank. Nach zwei Schlucken stellte er das Glas und die Karaffe wieder fort, weil er, wenn er trank, seinem Vater einfach allzu ähnlich war. Er wollte nur ein bisschen Frieden und bräuchte dazu sicher keinen Mechanismus, der so grauenhafte Konsequenzen hatte wie der übertriebene Alkoholkonsum.
Als dann aber plötzlich seine Mutter in der Tür erschien, griff er erneut nach seinen Glas. Ihre dicke Perlenkette und das elegante Kleid nahm er als positives Zeichen dafür, dass sie im Begriff stand auszugehen.
Doch sie ging nicht schnell genug, als dass er nicht noch ihre unzufriedene Miene sah.
»Wohin ist denn Blair so schnell verschwunden? Und warum lag der hier« – sie hielt ihm den Diamantring hin – »auf dem Küchentisch?«
Verdammt, er hätte den Ring einstecken sollen, als er gegangen war.
»Wir haben unsere Verlobung gelöst.«
»Warum in aller Welt?«
»Das geht dich nichts an.«
Mercedes schüttelte den Kopf. »Nein, Jack. Tu das nicht. Verlieb dich nicht in irgendein dahergelaufenes Mädchen, vor allem, wenn du jemanden wie Blair bekommen kannst. Das Opfer wäre einfach zu groß.«
Er schenkte sich etwas Bourbon nach. »Ich kann dir versichern, das Zusammensein mit Callie ist für mich kein Opfer. Ganz im Gegenteil.«
Seine Mutter machte ein verkniffenes Gesicht. »Vielleicht in der Ungestörtheit deines eigenen Heims. Aber was ist mit der Welt da draußen? Dort brauchst du jemanden, der die Art von Leben, die du lebst, versteht. Blair kann dich unterstützen …«
»Und du denkst, das könnte Callie nicht? Mein Lebensstil ist nicht so kompliziert. Ich sehe Jahr für Jahr immer dieselben fünfhundert Personen auf immer denselben Partys. Das bekäme ich wahrscheinlich sogar mit geschlossenen Augen hin, und das könnte auch jeder andere, der nicht völlig auf den Kopf gefallen ist.«
»Das ist eine grobe Vereinfachung, das weißt du selber ganz genau. Hör zu, Jack, du weißt genauso gut wie ich, wie schwer es für mich und deinen Vater war.«
Jack gab sich keine Mühe, sich nicht anmerken zu lassen, wie gelangweilt er von ihrer Rede war. »Mein Vater hat dich angebetet, und du hast dich die letzten vierzig Jahre prächtig damit amüsiert, die Grand Dame zu spielen, oder etwa nicht? Also hör auf, so zu tun, als ob das alles eine fürchterliche Last gewesen wäre, ja?«
Sie atmete tief ein. »Es gibt keinen Grund, so mit mir zu reden.«
»Wolltest du sonst noch etwas sagen, Mutter?« Sobald er diese Frage ausgesprochen hatte, tat es ihm schon wieder leid. Denn natürlich käme jetzt noch mehr.
»Das kannst du einfach nicht machen, Jack. Vor allem nicht, wenn du dich für das Amt des Gouverneurs bewerben willst.« Als er die Augenbrauen hochzog, meinte sie: »Gray Bennetts Mutter hat mich angerufen und mir erzählt, dass er in Boston ist und sich mit dir getroffen hat. Es ist ja wohl offensichtlich, was ihr beide plant.«
»Ah, das Ehemaligen-Netzwerk vom Smith College hat also wieder einmal funktioniert.«
Mit der für sie typischen Dringlichkeit baute sie sich vor seinem Schreibtisch auf. Sie gäbe ganz bestimmt nicht einfach kampflos auf, denn obwohl es ihr bisher noch nie gelungen war, ihm ihren Willen aufzuzwingen, versuchte sie es ein ums andere Mal.
Mann, sein Vater hatte keine Chance gehabt, nachdem sie ein Auge auf ihn geworfen hatte, dachte Jack.
»Weißt du, ich hatte schon die ganze Zeit gehofft, dass du dich für ein politisches Amt bewerben würdest«, sagte sie. »Und zwar nicht nur hier in unserem Staat. Kannst du denn nicht sehen, was ein gewähltes Amt für dich bedeuten, was für eine Macht es dir verleihen, mit welchem Respekt man dir begegnen würde? Legst du auf all das etwa keinen Wert?«
»Ich habe bereits jede Menge Macht und genieße deshalb auch einigen Respekt«, gab er trocken zurück. »Und ich habe das Gefühl, dass es dir vor allem darum geht, Mutter des Gouverneurs zu werden, stimmt’s? Aber du beeindruckst mich nicht mit deiner Logik. Denn ich kann mir weder vorstellen, dass meine Chance auf diesen Posten durch eine Hochzeit mit Blair, die ich nicht liebe, größer noch durch mein Zusammensein mit Callie kleiner wird.«
Die Stimme seiner Mutter wurde hart. »Denk ja nicht, dass dein Liebesleben bei der Wahl keine Rolle spielen wird. Es wird, weiß Gott, schon schwer genug, deine Vergangenheit herunterzuspielen, und du solltest das Problem nicht dadurch noch vergrößern, dass du jemanden wie Blair verlierst, nur weil du plötzlich scharf auf ein Mädchen bist, das dir gesellschaftlich eindeutig nicht das Wasser reichen kann.«
»Es reicht«, erklärte er ihr scharf und stellte sein Glas krachend auf seinem Schreibtisch ab.
Aber so leicht ließ sich seine Mutter nicht abschrecken.
»Jackson, ich kann einfach nicht zulassen, dass du einen solchen Fehler machst. Es gibt Mittel und Wege, diese Dinge zu regeln, ohne dass es nach außen dringt.«
Er sah sie mit zugekniffenen Augen an. »Es ist wirklich nobel von dir, dass du mich vor mir selbst beschützen willst, lass mich dir allerdings eins sagen. Wenn du weiter hier leben willst, halt dich zukünftig aus meinem Leben raus. Hast du mich verstanden?«
Ihre schmal gezupften Augenbrauen schossen in die Höhe.
»Aber dir muss doch klar sein, dass es zwischen dir und dieser … Callie niemals funktionieren kann.« Sie fuhr ziellos mit ihren Händen durch die Luft, was den Blick auf die dicken Klunker lenkte, die sie an den Fingern trug.
»Sind wir nicht eben darin übereingekommen, dass du dich nicht mehr in meine Angelegenheiten mischst? Oder hast du die Absicht umzuziehen?«
Mercedes starrte ihn an und sah beinahe hilflos aus. Er konnte sich vorstellen, wie sehr es sie frustrierte, so dicht vor der Erfüllung ihres größten Traums zu stehen und nicht mehr den geringsten Einfluss darauf nehmen zu können, ob er sich realisieren ließ.
»Jack, ich bin deine Mutter …«
»Aber das heißt nicht, dass du hier das Sagen hast. Mach, wenn du gehst, bitte die Tür hinter dir zu.« Als sie ihn weiter ansah, zog er spöttisch die Augenbrauen hoch. »Auf Wiedersehen.«
Nachdem er endlich allein war, leerte er sein Glas und marschierte in den ersten Stock hinauf.
Denn obwohl er noch immer schlechte Laune hatte, wollte er nirgendwo anders als bei Callie sein.
Eine Woche später kehrte Callie am Ende eines produktiven Nachmittags in ihrem Atelier ins Haus zurück. Inzwischen hatte sie die Lackschicht von den Außenrändern des Gemäldes abgelöst und säuberte jetzt vorsichtig Nathaniels Gesicht. Es hatte bereits unter dem Staub und Schmutz wenn auch etwas griesgrämig, so durchaus attraktiv gewirkt, jetzt, in seiner ursprünglichen Pracht, hingegen sah es einfach herrlich aus. Die Augen hatten einen dunklen Mahagoniton, auf den Wangen lag ein leicht rosiger Hauch, und das dichte Haar wies eine Vielzahl unterschiedlicher Brauntöne auf. Copley hatte eindeutig das Beste aus dem – sicher bereits von Natur aus mehr als ansehnlichen – Motiv herausgeholt. Und ohne die alte Lackschicht wirkte das Gesicht auch nicht mehr ganz so grüblerisch.
Callie öffnete die Hintertür, und die Stille in der Küche rief ihr in Erinnerung, dass der Koch heute frei hatte. Also würde Mrs Walker außer Haus essen.
Grinsend überlegte Callie, ob sie Jack nicht einfach bitten sollte hierzubleiben, statt ins Kino und danach noch in ein Restaurant zu gehen. Denn es wäre eine Schande, es nicht schamlos auszunutzen, wenn sie endlich mal alleine wären.
Sie sah auf ihre neue Uhr. Allmählich hatte sie sich an das teure Stück gewöhnt. Es erfüllte seinen Zweck, sie daran zu erinnern, wann es Zeit fürs Mittagessen war, und vor allem dachte sie bei jedem Blick darauf an Jack.
Sie setzte sich an den Tisch, blätterte die Zeitung durch und strich mit ihrer freien Hand über Arties Kopf.
Eine Stunde später sah sie wieder auf die Uhr, stand auf und stapfte unruhig auf und ab. Jack kam nie zu spät. Er hatte ihr erklärt, er wäre gegen sechs zurück, und jetzt war es schon fast halb acht. Während sie noch überlegte, ob er vielleicht in der Firma aufgehalten worden war, klingelte das Telefon.
Obwohl sie für gewöhnlich keine Anrufe im Haus entgegennahm, ging sie in der Hoffnung, dass es Jack war, an den Apparat.
»Hallo?«
»Callie, ich bin’s, Jack. Ich brauche deine Hilfe.«
Im Hintergrund hörte sie gedämpfte Stimmen sowie irgendeinen schrillen Laut. War das etwa eine Sirene? Wo zum Teufel steckte er?
»Was ist passiert?«, wollte sie von ihm wissen und hob eine Hand an ihre Stirn.
»Ich habe meinen Wagen zu Schrott gefahren.«
Sofort setzte ihre Atmung aus.
Ruhig, bleib ruhig, sagte sie sich. Wenigstens kann er noch telefonieren.
»Oh Gott. Bist du …«
»Mir geht’s gut, nur habe ich mir den verdammten Arm gebrochen. Kannst du mich vielleicht abholen? Ich bin im Beth Israel.«
»Wo? Und wie soll ich dorthin kommen?«
»Nimm einfach den anderen Jaguar.«
Er sagte ihr, wo die Schlüssel waren, erklärte ihr den Weg zum Krankenhaus, und als sie über den Hof in Richtung Garage flog, gingen ihr alle möglichen furchtbaren Szenarien durch den Kopf. So, wie er fuhr, hätte ihm viel mehr passieren können als ein gebrochener Arm.
Was hatte sie doch für ein Glück. Der ›andere Jaguar‹ war ein Cabrio mit manueller Schaltung, und während sie die Einfahrt hinab in Richtung Straße ruckelte, konnte sie nur hoffen, dass das Schaltgetriebe lange genug hielt, damit sie in die Stadt und dann wieder nach Hause kam.
Die Fahrt erschien ihr endlos. Selbst unter günstigsten Bedingungen fuhr sie nicht wirklich gerne Auto, und der Stress trug nicht gerade zu einer Verbesserung ihrer begrenzten Fähigkeiten bei. Sie saß in dem PS-starken Gefährt, kämpfte mit dem Feingefühl des Menschen, der so gut wie nie hinter dem Lenkrad saß, mit Bremse, Kupplung, Gaspedal, und musste erkennen, dass sie ganz eindeutig nicht zur Rallyefahrerin geboren war.
Nach einer gefühlten Ewigkeit erreichte sie die Ambulanz des riesigen Hospitals. Doch noch während sie sich fragte, wo in aller Welt sie den Wagen parken sollte, bevor sie sich auf die Suche nach ihrem verletzten Liebsten machen könnte, kam Jack bereits – den Arm in einer Schlinge – durch die Eingangstür gehinkt. Mit quietschenden Bremsen hielt sie an, sprang aus dem Wagen und lief auf ihn zu.
»Du bist nicht nur am Arm verletzt«, stellte sie mit einem Blick auf seine bandagierte Schläfe fest.
»Du solltest erst den Aston Martin sehen.« Er schüttelte den Kopf und zuckte schmerzlich zusammen. »Er sieht aus, als käme er direkt aus der Schrottpresse. Heute Morgen war es noch ein Sportwagen. Jetzt ist es ein Akkordeon.«
Callie öffnete die Beifahrertür, und mit schmerzverzogenem Gesicht glitt er vorsichtig auf den Sitz. Dann rannte sie um die Kühlerhaube herum, stieg ein, sah ihn sich aber, bevor sie losfuhr, erst mal gründlich an. Seine Jacke hing um seine Schultern, der Schlips lugte aus einer Tasche, der Kragen seines aufgeknöpften Hemds wies ein paar Blutflecke auf, und sie fragte sich, was für Blessuren er wohl unter seinen Kleidern vor ihrem Blick verbarg.
»Können wir jetzt vielleicht fahren?« Er lehnte seinen Kopf gegen die Kopfstütze von seinem Sitz und machte die Augen zu. Er sah müde aus und fühlte sich anscheinend alles andere als wohl, wirkte aber nicht, als fiele er im nächsten Augenblick tot um.
Nachdem sie sich davon überzeugt hatte, dass er halbwegs in Ordnung war, stieg heißer Zorn in ihrem Inneren auf.
»Wie zum Teufel hast du das gemacht?«, fragte sie derart barsch, dass er zusammenfuhr.
»Woher weißt du, dass es meine Schuld gewesen ist?«, fragte er leise zurück.
»Weil ich schon mit dir mitgefahren bin. Verdammt, du hättest bei dem Unfall sterben können.«
»Erstens bin ich noch am Leben. Das weiß ich ganz genau, denn mir tun sämtliche Knochen weh. Und zweitens hatte der Fahrer, der plötzlich vor mit die Spur gewechselt hat, durchaus auch etwas mit dem Zusammenstoß zu tun. Also, fährst du jetzt wohl bitte endlich los?«
Sie unterdrückte einen Fluch, umklammerte das Lenkrad und fädelte sich in den Verkehr in der Brooklyn Avenue ein.
»Wie ist es passiert?«, stieß sie knurrend aus.
»Ich war auf dem Storrow Drive. Irgend so ein Idiot in einem Geländewagen hat plötzlich direkt vor mir die Spur gewechselt, und als ich versucht habe, an ihm vorbeizukommen, bin ich gegen die Leitplanke geprallt und habe mich, wenn ich mich recht entsinne, einmal um mich selbst gedreht, bevor ich auf der Esplanade gelandet bin.« Er drehte den Kopf und sah sie an. »Das ist der Grünstreifen zwischen dem Storrow und dem Fluss. Normalerweise ist er nur für Fußgänger gedacht, deshalb kannst du dir sicher vorstellen, dass außer mir noch andere überrascht waren, als mit einem Mal ein Wagen mitten auf dem Fußweg stand. Gott sei Dank ist außer mir niemandem etwas passiert.«
Sie schüttelte den Kopf. »Du fährst einfach immer viel zu schnell.«
»Ich weiß.«
»Du bist zu aggressiv.«
»Ich weiß.«
»Du hättest sterben können«, wiederholte sie, denn seine lakonischen Antworten reizten sie bis aufs Blut. »Und jetzt sag nicht wieder ›ich weiß‹.«
»Okay.«
Sie bedachte ihn mit einem bösen Blick, doch im Licht des Armaturenbretts sah er mit den abermals geschlossenen Augen so zerschlagen aus, dass ihr Wunsch, ihn anzuschreien, verflog. Also konzentrierte sie sich wieder auf die Straße und beschloss, ihn erst mal sicher heim und dann gleich ins Bett zu schaffen.
Hauptsache, er schlief nicht bereits vorher ein.
Als sie in die Einfahrt seines Hauses bog, dachte sie, er schliefe wirklich tief und fest, dann aber hob er den Kopf und stieß einen langgezogenen Seufzer aus. Sie stellte den Jaguar vorsichtig in der Garage ab und überlegte, wie sie ihm am besten aus dem Wagen helfen könnte, dann aber stieg er alleine aus und hinkte langsam durch die kalte abendliche Luft in Richtung Haus.
Beim Schließen der Garagentür fiel ihr Blick auf Mrs Walkers Wagen, und sie fragte sich, wie sie wohl reagieren würde, wenn sie ihren ach-so-perfekten Sohn in diesem Zustand sah. Wahrscheinlich bekäme sie einen Tobsuchtsanfall.
Sie lief über den Hof, trat neben Jack und legte die gesunde Hand unter seinen gebrochenen Arm und starrte nachdenklich die Sterne am Abendhimmel an.
Sie legte sanft die Hand auf seine Schulter. Sie musste ihn einfach berühren, aber nicht durch den dicken Kleiderstoff hindurch. Brauchte die Wärme seiner Haut, seinen Körper dicht an ihrem, musste einfach spüren, dass er in Ordnung war.
»Danke fürs Abholen«, murmelte er leise.
»Gütiger Himmel, das war doch wohl selbstverständlich«, gab sie rau zurück.
Er setzte sich wieder in Bewegung, und während sie ihm folgte, nahm sie seinen vorsichtigen Gang und die starre Körperhaltung wahr. Dann hielt sie ihm die Haustür auf und fand, dass er sichtlich erleichtert wirkte, weil er jetzt endlich zuhause war.
»Möchtest du was essen?«, fragte sie.
»Kannst du mir was raufbringen? Ich würde mich gerne umziehen und dann hinlegen.«
Als sie sein Schlafzimmer betrat, stand der selbstbewusste, elegante Mann, der er für gewöhnlich war, hilflos neben seinem Bett. Die Schlinge hing schief von seiner Schulter, sein Hemd lag wirr um seinen Hals, und sein Gürtel war halb auf.
»Brauchst du Hilfe?« Sie unterdrückte ein Lächeln und stellte den Teller und das Glas auf seinem Nachttisch ab.
Ein Auge blitzte böse aus dem Stoff. »Ja, bitte.«
Eilig löste sie das Hemd von seinem Hals, zog die Schlinge über seinen Kopf und hielt den Atem an, als sie das Hämatom an seiner Schulter sah.
»Das hat sicher ziemlich weh getan«, stellte sie fest, während sie sanft mit ihren Fingerspitzen über die Schwellung strich.
Er gab ihr keine Antwort, und so blickte sie auf. Er hatte die Augen zugemacht und konzentrierte sich voll und ganz auf die zärtliche Berührung ihrer Hand.
Dann erklärte er mit rauer Stimme: »Als der Wagen endlich stand, war mir derart schwindlig und ich fühlte mich so zerschlagen, dass ich keine Ahnung hatte, in was für einem Zustand ich überhaupt war.«
Sie zuckte zusammen und versuchte, sich nicht vorzustellen, wie sein zerschundener Leib von den Sanitätern aus dem Wrack gezogen worden war.
Dann machte er die Augen langsam wieder auf. »Das Erste, woran ich gedacht habe, warst du. Der Gedanke, dich nie wiederzusehen, war … unerträglich.«
Callie legte eine Hand an seine Wange, spürte den leichten Bartwuchs, die kleine Vertiefung oberhalb des Kiefers, den Puls an seinem Hals.
Dann zog sie die Hand zurück, aber er nahm sie und legte sie erneut an sein Gesicht.
»Berühr mich«, bat er sie. »Wenn du mich berührst, geht das Taubheitsgefühl weg.«
Sie glitt mit den Fingern über seine Schulter bis hinab auf seinen Oberarm, über seine Brust bis zu seinem Herzen und von dort hinab zu seinem straffen Bauch. Unter der Berührung spannte er sich spürbar an und atmete geräuschvoll aus. Als sie mit den Knöcheln über seinen Nabel strich, zog er seine Unterlippe zwischen seine scharfen Zähne und atmete zischend wieder ein.
Aus Angst, ihm weh zu tun, zog sie erneut die Hand zurück.
»Hör nicht auf«, bat er sie mit belegter Stimme und sah sie mit beinahe gefährlich blitzenden Augen an. »Bitte hör nicht auf.«
Sie machte seinen weichen Ledergürtel auf, und als seine Hose auf den Boden fiel, blickte sie wieder auf.
Ein dünner Schweißfilm glitzerte auf seiner nackten Haut.
Er packte sie mit seinem gesunden Arm, zog sie an seine Brust und vergrub den Kopf in ihrem Haar. Sein muskulöser Körper und das gleichmäßige Schlagen seines Herzens ließen sie erschaudern, und sie öffnete den Mund.
Es war das größte Risiko, das sie in ihrem Leben jemals eingegangen war, es war noch viel zu früh und ganz eindeutig nicht der rechte Augenblick, denn wahrscheinlich war es nur die Mischung aus Erleichterung und aufkommender Leidenschaft, die sie dazu bewog, aber trotzdem wisperte sie sanft: »Ich liebe dich.«
Jack erstarrte, und am liebsten hätte sie den Satz sofort zurückgenommen.
Was zum Teufel hatte sie sich nur dabei gedacht?
Sicher, er hatte sie gern. Und er begehrte sie. Doch darüber hinaus?
Eilig trat sie einen Schritt zurück, aber er bedachte sie mit einem durchdringenden Blick, der sie erneut zum Stehenbleiben zwang, und zog sie zurück in seinen Arm.
»Ich kann es selbst kaum glauben. Ich hätte nicht gedacht, dass mir das je passieren würde. Aber … ich liebe dich auch.«
Am liebsten wäre sie in Tränen ausgebrochen.
Nicht nur, weil er halbwegs unbeschadet wieder heimgekommen war.
Sondern auch oder vor allem, weil er dasselbe zu empfinden schien wie sie. Weil seine Worte nicht wie ein leeres Versprechen geklungen hatten, sondern wie die Feststellung einer Tatsache. Weil die Welt möglicherweise doch nicht ganz so hart und kalt wie bisher angenommen war.
Weil sie nach den Jahren des Alleinseins endlich jemanden gefunden hatte, der zu niemand anderem mehr gehören würde als zu ihr allein.