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Callie Burke trat in den beißenden Oktoberwind hinaus, klappte ihren Kragen hoch und spürte das Kratzen des rauen Stoffs an ihrem Hals. Der alte Wollmantel schützte sie seit Jahren vor den windigen und kalten Wintern in New York, und sie müsste ihn wie viele andere Dinge schon seit längerem ersetzen, aber leider fehlte ihr dafür das Geld.

Sie warf noch einen letzten Blick auf die Kunstgalerie, in der sie in den letzten achtzehn Monaten tätig gewesen war, schob die Hände in die Taschen und spürte durch ihre Fäustlinge hindurch den letzten Scheck, der ihr soeben ausgehändigt worden war. Stanley, ihr Boss – oder ihr Ex-boss –, hatte sie nicht gehen lassen wollen, doch aufgrund der allgemeinen Rezession gingen die Geschäfte einfach schlecht, und er hatte keine andere Wahl gehabt. Die Leute kauften eben weniger als während der Zeit des Aufschwungs, und der Erhalt der Galerie war nun mal wichtiger als der persönliche Bezug zum Personal.

Trotzdem hätte er es ihr ein bisschen früher sagen können, dachte sie. Schließlich hatte sie am Vormittag das Haus in der Annahme verlassen, dass ihr Job bei Stanley sicher war.

Sie machte einen Schritt nach vorne und reihte sich in den nicht abreißenden Strom der Fußgänger, der sich über die Bürgersteige schob.

Die Arbeit in der Galerie hatte ihr Spaß gemacht. Sie hatte davon ein wenn auch eher bescheidenes Dach über ihrem Kopf bezahlen können, war im Kunstbetrieb geblieben, auch wenn es in dem Laden nichts zu restaurieren oder konservieren gab, und hatte es von ihrer Wohnung aus nicht weit zu ihrem ebenfalls in Chelsea gelegenen Arbeitsplatz gehabt.

Außerdem hatte sie Stanley wirklich gern gehabt, trotz seines ausgemachten Hangs zur Theatralik und seiner innigen Beziehung zu seinem Teacup-Pudel Ralph. Ralphie hatte sie nicht ganz so sehr gemocht. Vier Pfund geballte Gehässigkeit sowie ein derart schrilles Kläffen, dass Gläser davon zerbarsten, nahmen andere nicht unbedingt für einen ein – egal, wie sehr der gute Stanley an dem blöden Köter hing.

Callie zog eine Grimasse, als sie daran dachte, dass die Galerie ihr fehlen würde, kämpfte dann aber entschlossen gegen das Verlangen, sich in Selbstmitleid zu aalen, an. Damit löste sie ihre Probleme schließlich nicht. Selbst mit dem Scheck besaß sie nur knapp siebenhundert Dollar, und in einer Woche müsste sie die Miete zahlen. Es würde also wieder einmal knapp.

Sie überlegte, ob sie irgendwas besaß, was sich verkaufen ließ. Ihr Apartment war so gut wie leer. Den Schmuck von ihrer Mutter hatte sie bereits vor langer Zeit versetzt, um die Arztrechnungen zu bezahlen, ihre Möbel, die aus Haushaltsauflösungen und vom Flohmarkt stammten, brächten kaum mehr als zwei Cent, und den alten Fernseher hatten sie ihr bereits vor Monaten bei einem Einbruch in ihr Heim geklaut.

Dass die Diebe sonst nichts mitgenommen hatten, zeigte, wie viel wert ihr anderer Plunder war.

Callie dachte über ihre Möglichkeiten nach. Was sie sicher wusste, war, dass sie keine Lust hatte, sofort in das deprimierend kleine Loch zurückzukehren, das ihr Zuhause war. Dort fände sie ganz sicher keine neue Kraft.

Am besten ginge sie erst mal spazieren. Dann bekäme sie ja vielleicht wieder einen klaren Kopf.

Sie marschierte durch die Kälte, dachte über ihre Chance auf eine neue Stelle nach und bereute, nicht etwas gelernt zu haben, was ein wenig lukrativer war. Egal, wie gern sie Kunstrestauratorin war, und egal, wie gut sie ihre Sache machte, war dies kaum ein Job, mit dem sich auch nur annähernd genug verdienen ließ. Jura, Medizin, Betriebswirtschaft – damit bekäme man zumindest immer einen Job und wurde obendrein noch anständig bezahlt.

Hingegen war die Chance auf einen Job als Kunstrestauratorin ähnlich groß wie die Gefahr, vom Blitz getroffen zu werden, weshalb sie in Stanleys Galerie gelandet war. Während ihres Studiums hatte sie ein Praktikum am MoMA absolviert und unter der Anleitung der dortigen Expertin wirklich viel gelernt, doch mit ihrer kranken Mutter hatte sie sich nicht in irgendeiner anderen Stadt bewerben wollen, als sie mit dem Studium fertig gewesen war. Die Konkurrenz war allerorten groß, aber dass sie hatte bleiben müssen, wo sie war, hatte ihre Chancen noch mehr eingeschränkt.

Vor einer der angeseheneren Galerien blieb sie stehen und dachte, dass es dort ja vielleicht irgendeine Arbeit für sie gab. Vielleicht als Empfangsdame. Oder als Putzfrau. Ganz egal. Abgesehen von ihrem finanziellen Engpass wollte sie ganz einfach weiter in der Nähe von Skulpturen und Gemälden sein. Sie ging hinein, bekam aber zu hören, dass aufgrund der Rezession die bisherige Empfangsdame vor zwei Wochen entlassen worden war, und als sie halbherzig fragte, ob man wüsste, wo es eine Arbeit für sie geben könnte, schüttelten die Leute unglücklich die Köpfe und erklärten mit gesenkten Stimmen, dass es beinahe allen Galerien so wie der von Stanley ging.

Geh einfach weiter, dachte sie, während sie wieder in die Kälte trat. Wenn sie immer weiterliefe, bis sie vollkommen erledigt wäre, würde sie wenigstens gut schlafen.

Sie passierte einen Zeitungskiosk, und ihr Blick fiel auf ein Bild, das sie zum Stehenbleiben zwang. Sie schnappte sich die Zeitung und sah in das Gesicht von Grace Woodward Hall.

Ihrer Halbschwester.

Die umwerfende Blondine stand in einem eleganten langen Kleid auf einem Podium und hielt eine Rede vor den einflussreichsten Einwohnern der Stadt. Der Fotograf hatte das Bild auf der jährlichen Gala der Hall Foundation gemacht, doch Callie riss schockiert die Augen auf, als sie den Artikel überflog. Jemand hatte in Graces Büro einen Mordanschlag auf sie verübt, und sie war nur dadurch gerettet worden, dass der Kerl von ihrem Bodyguard überwältigt worden war. Außerdem schien ihre Ehe mit dem Grafen von Sharone endgültig vorbei zu sein, und ihr zukünftiger Exmann bot ein Buch mit hässlichen Interna ihrer Ehe feil.

Callie sah noch einmal auf das Bild. Sie war froh, dass Grace und sie einander endlich kannten, und zugleich tat es ihr leid, dass das Leben dieser Frau derart aus dem Gleichgewicht geraten war. Nachdem sie jahrelang nur in den Klatschspalten von ihrer Halbschwester gelesen hatte, hätte sie niemals gedacht, dass sie ihr je begegnen würde, aber nach dem Tod des Vaters hatte sie es sich noch einmal überlegt. Sie hatte den Entschluss gefasst, sich ihre einzige noch lebende Verwandte endlich einmal aus der Nähe anzusehen.

Grace war das eheliche Kind von Cornelius Woodward Hall, während Callie selbst sein kleines schmutziges Geheimnis war. Bei ihrer Geburt hatte sie den Namen ihrer Mutter, Burke, erhalten, und all die Lügen, die mit ihrem ersten Atemzug begonnen hatten, hatten sie bis ins Erwachsensein verfolgt und eine enorme Ungleichheit zwischen dem Leben, das ihre Schwester lebte, und dem, durch das sich Callie kämpfen musste, erzeugt. Obwohl Cornelius Milliardär gewesen war, hatte er sich immer gegen eine großzügige Unterstützung seines unehelichen Kindes gewehrt. Zu seinen Lebzeiten hatte er es kaum ertragen, im selben Raum wie sie zu sein, als würde er durch ihren Anblick allzu sehr an das Doppelleben erinnert, dessen Resultat sie war. Und alles, wodurch sie hätte auch nur einen gewissen Bekanntheitsgrad erlangen können, hatte strikt vermieden werden müssen. Weswegen sie zum Beispiel nie auf eine renommierte Hochschule wie Grace gegangen war.

Obwohl, selbst wenn er sich hätte als großzügig erweisen wollen, hätte ihre Mutter das wahrscheinlich niemals akzeptiert. Ihr Stolz hatte sie daran gehindert, einen Großteil dessen anzunehmen, was ihr im Verlauf der Jahre von Cornelius angeboten worden war. Extravagante Geschenke hatte sie ungeöffnet an ihn zurückgeschickt. Das schicke Apartment hatte sie nicht einen Tag bewohnt. Das Einzige, was sie jemals von dem Geliebten angenommen hatte, war das Geld für Callies Ausbildung.

Und ein paar Schmuckstücke, die ihr Leiden erleichterten, auch wenn sie dennoch viel zu früh sterben musste.

Callie las eilig weiter. In dem Artikel stand, dass auf der Auktion im Rahmen der exklusiven Gala das Porträt Nathaniel Walkers, eines Helden des Unabhängigkeitskriegs, von Jackson Walker, einem seiner Nachfahren, ersteigert worden war

Jackson Walker.

Als Callie den Namen las, kam es ihr vor, als ob ihr ein heißer Windhauch ins Genick bliese.

»He! Wollen Sie die Zeitung kaufen, oder soll ich Ihnen einen Stuhl hinstellen?«, bellte der Kioskbetreiber Callie an.

Also legte sie die Zeitung wieder weg und setzte ihren Spaziergang fort.

Der Name Jackson Walker tauchte schon seit Jahren immer wieder in den Klatschspalten der Zeitungen und Magazine auf. Er stammte aus einer der berühmtesten Familien Amerikas und hatte mehr Geld als die meisten kleinen Länder. Außerdem war er so attraktiv, dass es schon fast unverschämt zu nennen war, und ein derart berüchtigter Playboy, dass es in den Zeitungen fast jede Woche Aufnahmen von ihm und irgendwelchen Debütantinnen, Schauspielerinnen oder Models gab. Häufig hatte er zur gleichen Zeit Verhältnisse mit mehr als einer Frau, und die daraus folgenden Zickenkriege und die Arroganz, mit der er Eifersuchtsanfälle ignorierte, füllten mehr Spalten in den Blättern als die zusammengenommenen Eroberungen von Bill Clinton und J. Lo.

Unnötig zu sagen, dass sie äußerst überrascht gewesen war, ihm vor ein paar Tagen direkt gegenüberzustehen.

Offenbar war er ein Freund von Grace. Er sah aus wie die Art Mann, die ihre Schwester kannte; schließlich stank er regelrecht vor Geld. Von seinem gut sitzenden Maßanzug über die blank polierten Schuhe bis hin zu dem ledernen Aktenkoffer, den er trug, und dem goldenen Siegelring, der an seinem Finger blitzte, zeugte alles an dem Kerl von der privilegierten Welt, in der er aufgewachsen war.

Und genau deshalb war er die Art von Mann, die Callie mied.

Okay, vielleicht war meiden das verkehrte Wort, denn schließlich liefen ihr nicht gerade oft Milliardäre über den Weg. Aber all das Geld, die Geschmeidigkeit und die Souveränität, die diese Sorte Mann ausstrahlte, waren für sie ein rotes Tuch. Ihr Vater hatte sie alles gelehrt, was sie über reiche Männer wissen musste, und das wenigste davon war positiv.

Doch sie musste zugeben, dass Walker wirklich gut aussah. Und abgesehen von seinem attraktiven Äußeren sprach er mit der Autorität des Menschen, der gewohnt war, dass die anderen ihm folgten, und selbst wenn er von ganz banalen Dingen sprach, hatte seine Stimme einen ausnehmend verführerischen Klang. Sie hätte ihm stundenlang zuhören können, denn seine weiche Aristokratenstimme schmeichelte dem Ohr.

Und dann war da noch die Art, wie er sie angesehen hatte. Er hatte ihr direkt ins Gesicht gesehen, und sie hatte das Gefühl gehabt, er würde sie wirklich wahrnehmen. Für eine Frau, die es gewohnt war, stets am Rand zu stehen, war es wirklich nett gewesen, dass sie endlich einmal einem Menschen aufgefallen war. Vor allem neben einer Frau wie Grace.

Eine weitere Überraschung war es für sie gewesen, als der Mann ihr angeboten hatte, das Porträt seines berühmten Vorfahren zu konservieren. Er hatte ihr den Vorschlag unterbreitet, obwohl die Auktion noch gar nicht stattgefunden hatte, denn er hatte es als selbstverständlich angesehen, dass er das Bild bekam. Aber angesichts des Geldes, über das der Mann verfügte, hätte er wahrscheinlich jeden Preis dafür bezahlt.

Doch obwohl ein solcher Job phänomenal gewesen wäre, hatte Callie nein gesagt. Nicht, weil das Projekt zu groß für sie gewesen wäre. Schließlich hatte sie im Rahmen ihres Studiums unter einer Reihe angesehener Restauratoren ein paar wirklich schwierige Arbeiten durchgeführt. Und der Copley mochte ziemlich schmutzig sein, stellte aber keine allzu große technische Herausforderung dar.

Sie war einfach nicht wild darauf, für diesen Mann zu arbeiten. Sie wusste, wie Männer wie Jack Walker tickten, denn nicht nur ihr eigener Vater war ein solcher Mann gewesen, sondern auch in Stanleys Galerie hatte sie gelegentlich mit diesem Typ zu tun gehabt. Diese Männer dachten stets zuallererst an sich, und das hieß, dass es immer irgendwelche Ansprüche und Forderungen gab. Wahrscheinlich sprang der Kerl mit seinen Angestellten um, als wären sie problemlos austauschbar, und übte auch noch an den besten Arbeiten Kritik.

Vielleicht irrte sie sich auch. Vielleicht war dieser Walker ein vollkommen netter Mensch, dem nebenher der Aufbau eines der größten Wirtschaftsimperien Amerikas gelungen war. Vielleicht war er offen und ehrlich, ein Ausbund menschlicher Tugend in einem Maßanzug. Vielleicht war er Nelson Mandela ähnlicher als Donald Trump.

Doch sie hielt es für wahrscheinlicher, dass er ein zäher Brocken in den Kleidern eines Ehrenmannes war und sie besser auf Abstand zu ihm blieb. Obwohl sie das Geld hätte gebrauchen können, ließe sie sich besser nicht mit diesem Walker ein.

Plötzlich machte Callie auf dem Absatz kehrt, um heimzugehen. Wenn sie weiter ganz allein an einem kalten Abend durch die Gegend liefe, brächte ihr das höchstens zwei nicht unbedingt willkommene Dinge ein: eine Lungenentzündung oder einen Überfall.

Außerdem hatte sie größere Probleme als die tatsächlichen oder imaginären charakterlichen Defizite eines Mannes, den sie niemals wiedersehen würde.

Sie bräuchte auch weiterhin ein Dach über dem Kopf, etwas zu essen …

Sie stopfte die Hände in die Taschen ihres Mantels und spürte, wie das Innenfutter riss.

… und etwas zum Anziehen.