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Die Frau kam aus der Dunkelheit, aber er erkannte sie an ihrem rotbraunen Haar. Sie bewegte sich langsam und zielstrebig auf ihn zu, und er atmete befriedigt auf. Er wollte sie fragen, wo zum Teufel sie gewesen war, denn er hatte sie vermisst.

Doch je näher sie ihm kam, umso weniger wollte er reden.

Als sie direkt vor ihm stehen blieb, streckte er die Hand aus und strich vorsichtig mit einem Finger über ihre Wange. Sie war beinahe schmerzlich schön, vor allem ihre Augen. Sie waren von einem geradezu spektakulären Blau, das perfekt mit der rotbraunen Haarpracht harmonierte, die ihr bis über die Schultern fiel. Er wollte, nein, er brauchte sie.

Ihr Lächeln wurde breiter, als könnte sie seine Gedanken lesen, und sie warf den Kopf zurück. Er starrte auf ihren nach oben gewandten Mund, die geöffneten Lippen, und glühendes Verlangen wogte in ihm auf. Er gab dem Drängen nach, legte ihr die Hände auf die Schultern und zog sie zu sich herab, um sich schnell zu nehmen, was sie ihm anbot, ehe sie abermals verschwand.

Er verspürte freudige Erwartung und noch etwas anderes, was sein Herz nicht nur aus reiner Lust gegen seine Rippen schlagen ließ.

Jack Walkers Augen flogen auf. Gefangen im tosenden Verlangen seines Körpers konnte er nicht sicher sagen, ob er wach war oder schlief. Oder wo in aller Welt er war. Er lag nicht in seinem eigenen Bett, mehr wusste er nicht.

Er sah sich in dem dunklen Zimmer um, und nach einer Reihe tiefer Atemzüge ergaben die Konturen einen Sinn. Er war im Plaza Hotel in New York, in der Suite, in der er immer wohnte, wenn er hierherkam.

Und die Frau, die er so sehr begehrte, dass es weh tat, war verschwunden. Wieder mal.

Er starrte frustriert unter die reich verzierte Decke. Er hatte in den letzten beiden Nächten kaum ein Auge zugetan. Er war sowieso nicht unbedingt für seine Geduld berühmt und wurde Mutter Teresa nicht gerade ähnlicher, wenn er nicht genügend Schlaf bekam.

Allmählich machte ihn der Traum verrückt.

Es war jedes Mal dasselbe. Genau in dem Moment, in dem er sie küssen wollte, kurz bevor er seinen Mund auf ihre Lippen drücken konnte, um herauszufinden, wie sie schmeckte, fuhr er schweißgebadet und vor allem übellaunig aus dem Schlaf auf.

Er raufte sich das Haar. Da er seinen Frust an niemand anderem als an sich selbst auslassen konnte, lag er kochend in der Dunkelheit.

Er hatte diese Frau nur einmal kurz getroffen, und sie hatte noch nicht einmal einen besonderen Eindruck auf ihn gemacht.

Rastlos kämpfte er sich aus der Decke, die um seinen nackten Leib geschlungen war. Als er sich endlich davon befreit hatte, stand er auf, trat vor die breite Fensterfront und blickte hinaus. Die Aussicht war typisch für New York. Wolkenkratzer ragten in den Himmel auf, und die Rücklichter von unzähligen Wagen funkelten im Labyrinth der Straßen, auf das er hinuntersah. Es war mitten in der Nacht, doch noch immer herrschte reges Treiben in der Stadt.

Vor ein paar Tagen war er aus Boston hergekommen, um sich mit seinem Zimmergenossen vom College zu treffen, der inzwischen als politischer Berater tätig war, und um ein Gemälde wiederzuersteigern, das schon immer im Besitz seiner Familie gewesen war. Einer unbewussten sexuellen Obsession anheimzufallen hatte er bestimmt nicht vorgehabt.

Wenigstens war das Gespräch mit seinem alten Freund positiv verlaufen. Und auch das Gemälde hatte er zurückerlangt.

Der Kauf war ihm am Vorabend auf der eleganten Gala der Hall Foundation geglückt. Er hatte fast fünf Millionen Dollar für den John Singleton Copley hingelegt, auf dem Nathaniel Walker, Held des amerikanischen Unabhängigkeitskriegs und einer seiner berühmtesten Vorfahren, abgebildet war, hätte aber auch noch mehr bezahlt. Die Familie hätte das Gemälde nie verkaufen dürfen, und er hatte als Einziger genügend Geld für seinen Rückerwerb.

Auch wenn das ein gut gehütetes Familiengeheimnis war.

Seit sein Vater – immerhin diskret – Bankrott gemacht hatte, hatte Jack sein hart verdientes Geld dazu benutzt, um das Ansehen seiner Familie zu bewahren. Wobei für den Erhalt des stolzen Erbes und des luxuriösen Lebensstils der Walkers ein enormer, unendlicher Geldstrom nötig war. Allerdings enthielt der Genpool ihres Clans nur eine Handvoll von Verdienern sowie eine Unzahl von Verschwendern. Wobei Jack zuoberst auf der kurzen Liste der Verdiener stand.

Die schlechte Vermögensverwaltung durch den Vater und die finanzielle Anstrengung, die nötig war, um den Walker’schen Themenpark zu unterhalten, hatten dafür gesorgt, dass aus ihm nicht ebenfalls ein blaublütiger Nichtstuer geworden war. Stattdessen war aus ihm ein hartherziger, wettkampforientierter Hurensohn geworden, der den Ruf hatte, dass er immer um jeden Preis gewann. Sein Vater, Nathaniel James Walker VI., hatte diese Entwicklung nie gebilligt, aber Jack hatte immer schon gedacht, dass die Meinungen und die Entscheidungen des Mannes alles andere als glücklich waren. Der Sechste, wie er genannt worden war, war der Inbegriff des altmodischen Menschenfreunds gewesen. Seiner Überzeugung nach hatte man nur eins mit seinem Vermögen tun können: Man gab es einfach weg. Weil sich ein Gentleman nicht die Hände dadurch schmutzig machte, dass er es zusammentrug.

Diese durchaus ehrenwerte Einstellung hatte dazu geführt, dass sein Vater in den Universitäten, Bibliotheken und Museen, die die glücklichen Empfänger seiner Wohltaten gewesen waren, äußerst angesehen gewesen war. Unglücklicherweise aber hatte seine Menschenliebe auch dazu geführt, dass er bereits vor dem fünfundzwanzigsten Geburtstag seines Sohns in Konkurs gegangen war. Und um die Mär vom grenzenlosen Reichtum aufrechtzuerhalten, hatte er auch das Gemälde seines Vorfahren diskret zu Geld gemacht.

Obwohl der Sechste seit beinahe fünf Jahren nicht mehr lebte, konnte Jack sich deutlich vorstellen, in welchen seelischen Konflikt es seinen alten Herrn gestürzt hätte, dass das Bild Nathaniels des Ersten wieder im Besitz ihrer Familie war. Endlich war es in den Schoß des Clans zurückgekehrt, aber einzig und allein, da sich Jack seit Jahren schon die Hände schmutzig machte und das Geld zurückverdiente, das von anderen großzügig ausgegeben worden war.

Was für ein Dilemma, dachte Jack und machte ein grimmiges Gesicht.

Vielleicht sollte er sich gar nicht derart freuen, weil ihm der Kauf gelungen war. Okay, er hatte das Gemälde. Allerdings auch den gottverdammten Traum.

Er hatte sich das Bild vor der Auktion in der Hall Foundation angesehen, um sich zu vergewissern, dass es in einem halbwegs passablen Zustand war. Das war es durchaus, doch während der Begutachtung hatte er eine Frau kennengelernt, derentwegen er des Nachts kaum noch ein Auge zubekam.

Er hatte sie zum ersten Mal gesehen, als sie rückwärts aus einem Büro gekommen war. Sie hatte sich umgedreht, wobei ihre rotbraunen Haare weich schwangen, und ihre Blicke hatten sich gekreuzt. Er war fasziniert gewesen, wie wahrscheinlich jeder Mann von einer hübschen Frau, aber es war nicht so gewesen, als ob sie ihn mit ihrem Charme becirct hätte.

Grace Woodward Hall, die Stiftungspräsidentin und gleichzeitig eine alte Freundin, hatte sie einander vorgestellt. Callie Burke war Kunstrestauratorin, und er hatte sie spontan gebeten, mitzukommen und sich das Gemälde anzusehen. Sie hatte sich über die Leinwand gebeugt und mit ihrem klugen Kommentar über die Beschaffenheit des Bildes und mit ihrer Einschätzung der Arbeiten, die für die Wiederherstellung des ursprünglichen Zustands nötig wären, Eindruck auf ihn gemacht. Außerdem hatte ihm gut gefallen, wie fasziniert sie von dem Bild gewesen war. Ihr Blick hatte am Gesicht seines Vorfahren geklebt, als wäre sie von seinem Anblick vollkommen gebannt. Doch auf seine Frage hin, ob sie Interesse daran hätte, das Porträt zu konservieren, hatte sie abgelehnt, und er hatte das Thema abgehakt. Zumindest, bis er abends eingeschlafen war.

Über den ersten Traum hatte er noch gelacht, denn es hatte ihn gefreut, dass er mit seinen achtunddreißig Jahren noch immer so leidenschaftlich war. Inzwischen war ihm allerdings das Lachen vergangen, da ihn die Träume um den Schlaf brachten. Doch zum Glück würden sie sich wahrscheinlich nie wiederbegegnen, und auf Dauer würde er bestimmt vergessen, dass es Callie Burke überhaupt gab.

Dann aber, nachdem er das Gemälde gestern Abend tatsächlich ersteigert hatte, hatte seine Freundin Grace das Gespräch erneut auf diese Frau gebracht. Sie hatte ihn gedrängt, Callie Burke noch einmal anzusprechen, und es hätte sicherlich nicht viel gefehlt und sie hätte ihn gebeten, es zu machen, um ihr einen Gefallen zu tun. Offenbar war Grace der festen Überzeugung, dass Ms Burke genau die Richtige für die Konservierung des Gemäldes war, und deshalb hatte sie gesagt, er solle sich doch einfach mal mit ihrem Hintergrund befassen, um zu sehen, wie talentiert sie war. Schließlich hatte er ihr zugesagt, es sich zu überlegen, auch wenn er noch immer keine Ahnung hatte, weshalb seiner alten Freundin so viel daran lag.

Also gut, er würde morgen kurz den Werdegang der jungen Dame überprüfen und, wenn er zufrieden wäre, ihr diesen Job noch einmal anbieten. Er hielt nicht viel davon, Leuten eine zweite Chance zu geben, aber vielleicht wäre dies der richtige Moment, um es einmal zu versuchen. Denn die vehemente Unterstützung dieser Frau durch seine Freundin Grace hatte ihn aus irgendeinem Grund gerührt.

Und die Träume? Über seine Träume dächte er am besten einfach nicht mehr nach. Verdammt, schließlich fand er rothaarige Frauen noch nicht mal attraktiv.

»Jack?«

Er blickte auf das Bett, in dem Blair Stanford lag.

»Tut mir leid, dass ich dich geweckt habe«, entschuldigte er sich, als sie sich auf ihren Ellbogen abstützte und zu ihm herübersah.

»Alles in Ordnung?«

»Ja. Alles okay.«

Sie streckte eine Hand in seine Richtung aus. »Komm wieder ins Bett.«

Er glitt unter die Decke und spürte, wie Blair die Arme um ihn schlang.

»Du bist total verspannt«, erklärte sie mit leiser Stimme und streichelte zärtlich seine Brust.

Er nahm ihre Hand. »Schlaf weiter, ja?«

»Ist etwas nicht in Ordnung?«, murmelte sie. »Du hast dich in den letzten beiden Nächten ständig hin und her gewälzt.«

»Nichts, worüber du dir Sorgen machen musst.«

Er streichelte ihren Unterarm, damit sie sich entspannte, aber sie stützte ihren Kopf auf einer ihrer Hände ab.

»Jack, wir kennen uns zu gut, um Geheimnisse voreinander zu haben.«

»Stimmt. Aber wer sagt, dass ich ein Geheimnis habe?« Lächelnd sah er auf ihr kurzes blondes, wirr um ihren Kopf stehendes Haar und strich es glatt, während er bei sich dachte, dass sie eine solche Unordnung, wenn sie sie sähe, niemals dulden würde.

Blair starrte ihn reglos an. »Bereust du unsere Verlobung?«

»Wie kommst du denn darauf?«

Nach kurzem Zögern meinte sie: »Ich war sehr überrascht, als du mich gebeten hast, deine Frau zu werden, und seither haben wir nicht mehr darüber gesprochen.«

»Wir hatten einfach beide viel zu tun. Aber das heißt nicht, dass ich es bereue oder dass ich nicht mehr will.«

In Wirklichkeit wollte er sagen, dass er nichts von Reue hielt und sie das eigentlich wissen müsste. Nachdem er beschlossen hatte, dass es an der Zeit war, über eine Heirat nachzudenken, und er eine Frau gefunden hatte, die zu ihm zu passen schien, hatte er alles arrangiert.

»Es ist nur so …« Blair zuckte mit den Schultern. »Ich hätte nicht gedacht, dass wir diesen Schritt je gehen würden, und ich frage mich die ganze Zeit, wann ich aufwachen und erkennen werde, dass alles nur ein Traum gewesen ist.«

Er berührte ihre Schulter und spürte, wie angespannt sie war. »Und warum fragst du dich das?«

»Ich hätte nie gedacht, dass du die Art von Mann bist, die jemals zur Ruhe kommt. Weil es vor mir in deinem Leben schließlich jede Menge anderer Frauen gab.«

»Also bitte, du weißt, dass die Geschichten über mich maßlos übertrieben sind.«

»Vielleicht, aber trotzdem war in deinem Leben bisher immer jede Menge los. Und nicht nur in Bezug auf Frauen. Du bist einfach ein Abenteurer.«

Jack dachte an seinen Zwillingsbruder und erklärte lachend: »Das ist ja wohl Nate. Wie oft ist er bisher um die Welt gereist? Viermal?«

»Du weißt, dass ich das nicht meine. Du bist einfach immer furchtbar ruhelos.«

Er dachte an die seltsame Mischung Blut, die durch seine Adern floss – es wies die DNA der weißen amerikanischen Oberschicht und portugiesischer Fischer auf. Bestimmt hatte sie recht, nur hatte er bisher noch nie darüber nachgedacht. Genau wie sein Bruder hatte er das Bedürfnis der Seeleute nach Freiheit, doch er hatte das Verlangen mit seinem starken Willen und einer gesunden Dosis Gier gezähmt.

»Nun, allerdings bleibe ich trotz meiner angeblichen Ruhelosigkeit bei dir.«

Blair stieß einen Seufzer aus. »Ich wollte nur ganz sichergehen.«

»Du weißt, was ich für dich empfinde«, meinte er.

»Ja, aber du liebst mich nicht.«

Diese Worte taten weh. Obwohl er nicht sicher wusste, was er sagen sollte, öffnete er seinen Mund, aber sie legte ihren schlanken Zeigefinger über seine Lippen und wisperte ihm zu: »Schon gut. Das war mir schließlich schon immer klar.«

Er packte ihre Hand, küsste sie und wünschte sich, er könnte ihr versichern, dass es anders war. Sie hatte so vieles an sich, was er respektierte und was ihm gefiel. Sie hatte sich aus eigener Kraft ein Unternehmen aufgebaut und verdiente mit der Dekoration von Häusern und Geschäften einen Haufen Geld. Sie verfügte über jede Menge Stil und Eleganz. Und sie war fürsorglich, verständnisvoll und warmherzig, was für ihn im nächsten Jahr besonders wichtig war. Denn wahrscheinlich würde er für das Amt des Gouverneurs von Massachusetts kandidieren, und sie würde in dieser turbulenten Zeit einen ebenso kühlen Kopf bewahren wie in allen anderen Situationen, in denen sie mit Stress klarkommen musste.

Er schätzte sie und fand es schön, dass sie ein Teil von seinem Leben war. Liebe war das Einzige, was in der Gleichung fehlte, aber das war kein Problem. Zu dieser ganz besonderen Art der Leidenschaft war er einfach nicht fähig. Gegenüber keiner Frau.

»Dann sollte die Frage wohl eher lauten, weshalb du mich heiraten willst?«

»Weil ich dich liebe und der Ansicht bin, dass wir ein gutes Team wären.«

»Wir sind ein gutes Team.«

»Also erzähl mir – was ist los?«

Er schüttelte den Kopf, denn er würde ihr ganz sicher nicht erzählen, dass ihm in den letzten Nächten immer wieder eine andere Frau im Traum erschienen war. »Glaub mir, Blair. Es gibt nichts, worüber du dir Sorgen machen musst.«

»Okay, okay.« Sie streichelte ihm sanft die Schulter und beruhigte ihn dadurch, wie sie es häufig tat. Sie ging einfach auf eine Weise mit ihm um, die ihm ausnehmend gut gefiel. Beruhigend, aber nie bevormundend. »Trotzdem hoffe ich, dass du mir irgendwann noch sagst, was dich bedrückt. Ich höre schlechte Nachrichten am liebsten immer gleich.«

Damit legte sie sich wieder hin und schmiegte sich an seinen Bauch, bis ihr Atem wieder ruhig und ebenmäßig ging.

Jack starrte abermals die Decke an, während sie in seinen Armen schlief. Doch kaum machte er selbst wieder die Augen zu, tauchte erneut das Bild der rothaarigen Frau in seinen Gedanken auf.

Es war nur ein Traum, sagte er sich. Die Bilder, die Gefühle hatten mehr mit seiner eigenen Libido als mit der Frau zu tun, der er nur einmal kurz begegnet war.

Außerdem waren ihm blonde Frauen lieber, und er hielt eine liebevolle, wundervolle blonde Frau im Arm. Er war ein Mann mit einem Plan und würde von dem eingeschlagenen Kurs ganz sicher nicht mehr abweichen.