6

Jack fuhr mit seinem Aston Martin in die heimische Garage und stieg aus. Er hatte viel früher zuhause sein wollen, aber die Verhandlungen mit den beiden Blutsbrüdern liefen weniger erfolgreich als erhofft. Es gab ein paar Probleme mit ihrer Kreditstruktur, aufgrund derer der Erwerb eines möglichst großen, unbeschränkten Anteils an dem Unternehmen so gut wie ausgeschlossen war. Die McKays hatten sich während der Forschungs- und Entwicklungsphase Geld von zahllosen Familienmitgliedern geborgt und im Gegenzug einen beachtlichen Anteil ihrer Aktien an sie verteilt.

Verdammt, er könnte von Glück reden, wenn er ein Viertel der Anteile an dem Laden bekäme, aber der war die Investition in neunstelliger Höhe, die die beiden für den Ausbau ihres Unternehmens brauchten, sicherlich nicht wert.

Er hatte schon vor langer Zeit gelernt, sein Geld nirgendwo zu investieren, wo er es nicht garantiert zurückbekam. Das hatte das negative Beispiel seines Vaters ihn gelehrt. Die ersten Hunderttausend, die sich der Mann von ihm »geliehen« hatte, hatten sich in Wohlgefallen aufgelöst. Danach hatte Jack vor dem Ausstellen jedes Schecks von ihm verlangt, dass er ihm irgendein Grundstück, Haus, Schmuckstück oder Kunstwerk überschrieb.

Gott, sein Vater hatte ihn dafür gehasst. Aber Nathaniel der Sechste hatte den Gedanken noch schrecklicher gefunden, zu irgendeiner Bank zu fahren und dort Leute, die er nie in seinem Haus geduldet hätte, um ein Darlehen anzugehen. Bis zu Nathaniels Tod hatten Jack die Häuser in Wellesley, Palm Beach und den Adirondacks, die Kunstsammlung und die größten Juwelen seiner Mutter gehört. Sein Vater hatte in den Fünfzigern als Millionär begonnen, bei seinem Ableben jedoch nicht mal mehr hunderttausend Dollar auf dem Konto gehabt.

Jack aktivierte die automatische Garagentür und hörte, wie sie sich mit einem leisen Knirschen schloss, während er in Richtung Haustür ging.

Es bedeutete ihm alles, dass das Copley-Porträt endlich wieder in seinen Besitz übergegangen war. Sobald das Gemälde konserviert wäre, würde es an seinen Platz über dem Kamin im Wohnzimmer zurückkehren, wo es bereits gehangen hatte, als sein Bruder und er klein gewesen waren. Mit dem Rückkauf von Nathaniel dem Ersten hatte er den Kreis geschlossen und Ordnung in das finanzielle Chaos, das sein Vater verursacht hatte, gebracht. Endlich, ein für alle Mal.

Er betrat das Haus und rief: »Callie? Hallo?«

Es kam keine Antwort, woraufhin er seine Aktentasche auf den Boden stellte und sich auf die Suche nach der jungen Frau machte. Im Wohnzimmer, in der Bibliothek und auch im Wintergarten brannte Licht, aber sie hielt sich in keinem dieser Räume auf. Also ging er zurück in die Eingangshalle, blickte über die Treppe in den ersten Stock und fragte sich, ob sie in einem der Gästezimmer war.

Die Vorstellung von ihr in einem seiner Betten rief Bilder vor seinem geistigen Auge auf, die er lieber sofort wieder unterdrückte, und noch während er sich fragte, ob es ratsam wäre, seine Suche fortzusetzen, fiel ihm auf, dass etwas fehlte.

Wo steckte der Hund? Artie nahm ihn für gewöhnlich jeden Abend an der Haustür in Empfang.

Jack ging in die Küche, und das sorgsam abgewaschene Geschirr, das neben der Spüle lag, verriet, dass sie anwesend war. Niemand anderes hätte diese Schale, diesen Teller und die Gabel sorgfältig gereinigt und zum Trocknen hingestellt. Seine Mutter setzte kaum je einen Fuß in diesen Raum und spülte ganz bestimmt nicht selber ab, die Angestellten hatten heute frei, und auch Elsie war inzwischen sicher nach Hause zurückgekehrt, wo sie mit ihrer eigenen Familie zu Abend aß.

Gerade als er Callie in den Gästezimmern suchen wollte, kam der treue Artie über die Hintertreppe aus dem Angestelltentrakt.

»Was machst du denn da hinten?« Er streichelte den Hund, der behäbig angetrottet kam.

»Er war bei mir.«

Jack riss den Kopf herum.

Callie stand am Fuß der Treppe. Ihre Haare fielen auf den dunkelblauen Fleecepullover, den sie trug, und er starrte ihr in die Augen, um zu sehen, ob sie wirklich so leuchtend blau waren wie in seiner Erinnerung.

Oh ja.

Um die Stille zu unterbrechen, sagte er: »Tut mir leid, dass es so furchtbar spät geworden ist.«

Sie zuckte mit den Schultern. »Artie und ich hatten einen durchaus netten Abend, obwohl es ihm wahrscheinlich lieber gewesen wäre, wenn mein Abendessen aus weniger Grünzeug bestanden hätte. Weil er anscheinend kein großer Salatfan ist.«

Jack sah sie aus zugekniffenen Augen an. Ihre Gelassenheit war offenkundig nicht gespielt. Sie hatte sich anscheinend wirklich wohl gefühlt, nur mit seinem Hund allein in einem völlig fremden Haus.

Dann war also ihre Unabhängigkeit tatsächlich echt.

»Richten Sie schon Ihre Arbeitsstätte ein?«, fragte er und nickte Richtung Treppe. »Ich dachte, der Raum über der Garage wäre am geeignetsten, aber wenn Sie lieber hier im Haus arbeiten, ist das auch okay.«

Sie zog die Augenbrauen hoch. »Ich habe in einem Buch über Copley gelesen und versucht, nicht einzuschlafen, bevor Sie nach Hause kommen.«

Er tätschelte den Hund ein letztes Mal und richtete sich wieder auf.

»Und was wollten Sie in den Dienstbotenquartieren?«

»Da wohne ich.«

Er runzelte die Stirn – »Was zum Teufel …« –, brach dann aber wieder ab. Denn er brauchte nicht zu fragen, von wem ihr dieses Zimmer zugewiesen worden war. »Oh nein, auf keinen Fall.«

Seine Mutter und er würden morgen früh ein kurzes Gespräch über den Umgang mit seinen Gästen führen, dachte er.

Callie stopfte ihre Hände in die Taschen ihrer Jeans. »Ich fühle mich dort durchaus wohl.«

»Reden Sie doch keinen Unsinn.« Er wandte sich der Treppe zu. »Los, lassen Sie uns Ihre Sachen holen.«

Sie zog ihre Hände wieder aus den Hosentaschen und hob sie abwehrend in die Luft. »Hören Sie, es macht mir wirklich nichts aus. Alles, was ich brauche, ist ein Bett zum Schlafen.«

»Wie können Sie so was sagen? Ich wette, zum letzten Mal haben Sie in einem solchen Raum geschlafen, als Sie auf dem Internat waren.«

»Ich war auf keinem Internat«, gab sie ruhig zurück.

Wieder legte er die Stirn in Falten, setzte sich dann aber wieder in Bewegung, meinte: »Wie auch immer. Kommen Sie, wir holen Ihr Gepäck«, marschierte entschlossen an ihr vorbei und kam zu dem Ergebnis, dass die Gabe seiner Mutter, andere Menschen zu brüskieren, einfach einzigartig war.

Im Personaltrakt angekommen trat er durch die einzig offene Tür. »Wo sind Ihre Kleider?«

Callie ging an ihm vorbei und sah ihn reglos an. »In der Kommode.«

Er blickte auf das kleine Möbelstück. »Und wo sonst noch?«

Sie zog eine der Laden auf und wies auf die sorgsam gefalteten Blusen und Pullover. »Nirgendwo. Nur hier.«

Nun, das war mal etwas völlig Neues, dachte Jack.

Er war Frauen gewohnt, die für ihre Sachen einen Möbelwagen brauchten, wenn sie übers Wochenende eingeladen waren. Sie hingegen bliebe über einen Monat hier und hatte ihre Kleider in drei Schubladen verstaut.

»Sie reisen anscheinend mit leichtem Gepäck.«

Sie zuckte mit den Schultern. »Ich brauche nicht viel.«

»Und was ist mit Ihrem Arbeitsmaterial?«

»Im Schrank.«

»Also, packen wir die Sachen wieder ein«, wies er sie ungeduldig an.

Sie sah ihn reglos an, als würde sie den Aufwand, noch mal umzuziehen, gegen die Mühe einer Auseinandersetzung mit ihm abwägen, trat dann aber vor den Schrank und zog einen verbeulten Samsonite-Koffer daraus hervor, dessen Anblick eine neuerliche Überraschung für ihn war. Er hatte ein Kofferset von Louis Vuitton oder sogar etwas von Coach erwartet. Stattdessen war die Frau mit einem uralten orangefarbenen Monstrum angereist, das aussah, als hätte es schon viele Wochen in irgendwelchen Frachträumen verbracht.

Und während er ihr beim Packen zusah, wurde ihm noch etwas anderes klar.

Was auch immer sie mit Grace verband und woher auch immer der Hosenanzug von Chanel gekommen war – sie hatte eindeutig nicht viel Geld. Die Dinge, die sie aus den Schubladen nahm, sahen sauber und praktisch, aber billig aus. Nirgends gab es auch nur einen Hauch von Haute Couture.

Nachdem sie fertig gepackt hatte, fragte er sie überraschend sanft: »Haben Sie alles?«

Sie bedachte ihn mit einem argwöhnischen Blick, als wäre es ihr lieber gewesen, wenn seine Stimme weiter einen ungeduldigen Klang gehabt hätte. Dann nickte sie allerdings, hob ihren Koffer und eine mit Farbklecksen übersäte Holzkiste vom Boden auf und marschierte Richtung Tür.

»Geben Sie mir die Sachen«, bot er ihr an, denn auf der schmalen Treppe krachte ihr Gepäck mehrmals gegen die Wand,

»Ich komme schon zurecht.«

»Lassen Sie mich wenigstens den Koffer tragen.«

»Wenn ich es geschafft habe, mit diesem Zeug vom Bahnhof bis zu Ihrem Haus zu kommen, kriege ich den Umzug in ein anderes Zimmer sicher auch noch hin.«

Vom Bahnhof? Stirnrunzelnd stellte Jack sich vor, wie sie mit ihrer schweren Last aus dem Zug gestiegen und durch den Bahnhof gelaufen war. Wahrscheinlich hatte sie auch noch die Kosten für ein Taxi bis zu seinem Haus gespart, stattdessen die S-Bahn bis nach Wellesley genommen und dann ihr Gepäck den steilen Weg heraufgeschleppt.

Verdammt. Er war einfach davon ausgegangen, dass sie fliegen und sich dann in einer Limousine bis vor seine Haustür chauffieren lassen würde.

Warum hatte er nicht den Transport für sie organisiert?

Er ging vor ihr durch die Küche und dann weiter in den ersten Stock »Sie hätten mir sagen sollen, dass Sie ein Transportmittel benötigen. Dann hätte ich Ihnen mein Flugzeug geschickt.«

Er hörte, dass sie stehen blieb, und blickte über seine Schulter.

»Ich brauche keine Almosen«, erklärte sie. »Ich habe es auch so geschafft.«

»Darum geht es nicht. Ich hätte es Ihnen leichter machen können.«

»Ich habe kein Interesse daran, dass man es mir leicht macht«, gab sie nachdrücklich zurück.

Was, da sie auch ihren Koffer selber schleppte, offensichtlich war. Sie starrte ihn schweigend an, und ihre Entschlossenheit, sich ja nicht von ihm helfen zu lassen, rief heißen Zorn in seinem Inneren wach.

»Sich unnötigerweise abzuplagen ist nicht die einzige Möglichkeit, ein Märtyrer zu werden«, stellte er trocken fest. »Sie könnten sich auch ein Büßerhemd anziehen und sich ein, zwei Monate auf einen Holzpfahl setzen.«

Sie nahm ihren Koffer in die andere Hand, was ihn daran erinnerte, wie schwer er war. »Wissen Sie was? Wenn ich gerettet werden muss, sage ich Ihnen einfach Bescheid.«

Stirnrunzelnd ging er weiter, denn er wusste, eher würde die Hölle gefrieren, als dass sie ihn um irgendetwas bat. Wobei er keine Ahnung hatte, weshalb Callies Trotz ihn derart aufregte. Vielleicht einfach, weil er sich so vollkommen von der Erwartungshaltung anderer Frauen ihm gegenüber unterschied.

Himmel, sogar Blair, die problemlos für sich selber sorgen konnte, verließ sich auf seinen Jet, seine Kontakte bei den größten Firmen und seine Beziehungen in der Welt der Kunst. Was ihn nicht nur nicht störte, sondern ihm sogar gefiel.

Oben angekommen bog er nach rechts ab, führte sie zum schönsten Gästezimmer im gesamten Haus, öffnete die Tür und machte Licht.

Sie schrie leise auf.

Das Rote Zimmer war ein echter Hingucker, ging es ihm durch den Kopf. Deshalb hatte er es für sie ausgewählt. Wenn sie sich nicht offen von ihm helfen lassen wollte, täte er es eben einfach durch die Hintertür.

Sie betrat den Raum und stellte ihren Koffer und die Kiste langsam ab. Angesichts der Freude in ihrem Gesicht schwoll ihm vor lauter Glück die Brust, weil es ihm endlich gelungen war, etwas zu tun, damit sie glücklich war.

Der Raum war dunkelrot und goldfarben dekoriert. In der Mitte stand ein riesengroßes Himmelbett im Jakobinischen Stil, das von seiner Ururgroßmutter auf einer englischen Burg erstanden worden war. Der aus rötlichem Marmor gehauene Kamin war mit frischem Feuerholz bestückt, und über seinem Sims hatte man ein Gemälde der Madonna mit dem Jesuskind aus dem sechzehnten Jahrhundert aufgehängt. Das prachtvollste Detail jedoch war das wunderbare Buntglasfenster, durch das man hinunter in den Garten sah. Auf der von dicken roten Seidenvorhängen gerahmten eingebauten Bank unter dem Fenster luden weiche Kissen in allen Größen und Formen zum gemütlichen Verweilen ein.

»Meine Güte«, hauchte sie, ging vom Kamin zum Fenster und von dort weiter zum Bett, wo sie ehrfürchtig mit ihren Fingern über die Teaksäulen und die dicken samtenen Quasten strich. »Was für ein prachtvoller Raum.«

Während ihre Hände den kostbaren Stoff liebkosten, prägte Jack sich ihr Gesicht beim Anblick seines Lieblingsraumes ein.

»Rot steht Ihnen«, murmelte er.

Sie trat wieder vor den Kamin, betrachtete das Bild und riss die Augen auf. »Ist das etwa ein Caravaggio?«

Er nickte. »Wie finden Sie ihn?«

Sie schwieg einen Moment, aber als sie etwas sagte, dachte Jack mit einem vergnügten Lächeln, dass sie mit derselben Souveränität über Gemälde sprach wie er selber über Mezzanine-Kapital und Zinssätze.

»Es ist einfach wunderbar, eindeutig aus seiner besten Phase. Aber wie konnten Sie ihn nur an diese Wand hängen? Wird der Kamin jemals benutzt?«

»Nein. Ich habe ihn versiegeln lassen.«

»Gut. Weil nämlich wiederholte radikale Temperaturveränderungen der Tod jedes Ölgemäldes sind.« Sie lenkte ihren Blick von dem Bild auf ihn. »Sie sollten es konservieren lassen. Wann wurde es zum letzten Mal gereinigt?«

»Meine Urgroßmutter hat das Bild in den Neunzehnhundertzwanzigern in Italien gekauft. Ich wüsste nicht, dass seither etwas daran gemacht worden wäre.«

Sie stieß ein missbilligendes Knurren aus und sah sich das Werk genauer an. Sie war total darin versunken und hielt praktisch den Atem an. Wahrscheinlich könnte in diesem Augenblick sogar eine Stinkbombe im Raum gezündet werden, und sie nähme es gar nicht wahr.

Die Frau war regelrecht fantastisch, dachte er.

»Also, Callie, vielleicht sollten wir zusammen durch das ganze Haus gehen, damit Sie mir sagen können, was noch alles auf Vordermann gebracht werden muss.«

»Gern.« Als sie zum Fenster ging, um durch die kleinen durchsichtigen Scheiben links und rechts des Buntglases zu sehen, lief ihr Artie wie ein Bewacher hinterher, stellte seine beiden Vorderpfoten auf den Kissen ab, reckte seinen Kopf und war, als er auf den Hinterbeinen stand, fast so groß wie sie. Geistesabwesend schlang sie den Arm um seinen Hals und tätschelte sein zotteliges Fell.

Jack starrte die beiden an und wusste, er sollte gehen. Weil der Anblick, den die beiden boten, viel zu reizvoll war.

»Die Ankunft des Porträts hat sich verzögert«, meinte er. »Aber bevor es morgen kommt, kann ich Ihnen das Atelier über der Garage zeigen, wenn Sie wollen«, schlug er vor.

Sie blickte über ihre Schulter. »Gern.«

»Das Badezimmer ist gleich nebenan.« Er wies auf eine holzverkleidete Tür. »Und ich bin direkt gegenüber, falls Sie irgendetwas wollen.«

Sie blickte eilig fort und richtete sich auf. Wieder einmal hatte er den Eindruck, als würde sie warten, bis das Haus in Flammen stand und sie kein Wasser mehr hätte, bevor sie zu ihm kam.

Was müsste er tun, um sie zu öffnen?, überlegte er.

»Brauchen Sie jetzt noch irgendwas?« Als sie mit einem Kopfschütteln verneinte, knöpfte er seine Jacke auf und lockerte seinen Schlips. »Hören Sie, es tut mir leid, dass ich nicht hier war, als Sie angekommen sind.«

Sie zuckte mit den Schultern. »Kein Problem.«

»Meine Mutter …«

»Ist eine reizende Person.« Bei diesem Satz zog sie herausfordernd die Augenbrauen hoch. Es war offensichtlich, dass sie sich jede Beschwerde verkneifen würde, und dafür bewunderte er sie.

Aber solange sie sein Gast war, ginge niemand respektlos mit ihr um.

»Falls Sie Probleme mit ihr haben, geben Sie mir einfach Bescheid.«

»Weshalb sollte das nötig sein?«, fragte sie in ruhigem Ton.

Ob sie über das schlechte Benehmen seiner Mutter oder darüber, sich an ihn zu wenden, sprach, war nicht ganz klar. Wahrscheinlich sowohl als auch.

Es folgte eine lange Pause, doch als Callie ihren Blick in Richtung des Bettes wandern ließ, war ihr die Freude wieder überdeutlich anzusehen. Offenkundig lebte sie tatsächlich in der Bruchbude in Chelsea, überlegte er.

An dem Ort, von dem er ihr erklärt hatte, dass er aus seiner Sicht nicht mal als Atelier geeignet war.

Himmel, er wünschte sich, er könnte diesen Satz zurücknehmen.

»Komm, Artie«, rief er den Hund und ging zur Tür.

Der Hund blickte mit sorgenvoller Miene zwischen Callie und ihm hin und her.

»Nun komm schon, alter Junge«, forderte Jack ihn nochmals auf und klopfte sich auf den Oberschenkel.

Der Hund setzte sich auf den Boden, und sein Herrchen stellte grinsend fest: »Er mag Sie.«

»Ich ihn auch.«

Und tatsächlich drückte ihr Gesicht, als sie das Tier mit einem liebevollen Blick bedachte, keinerlei Verschlossenheit und auch nicht den geringsten Argwohn aus.

Kein Wunder, dass das Biest ihr hoffnungslos verfallen war. Mit einem derartigen Blick zog sie schließlich Mann und Hund in ihren Bann.

»Dann also gute Nacht.«

»Gute Nacht.« Sie lächelte Artie weiter an, und Jack zog die Tür hinter sich ins Schloss.

Dann stand er im Flur, senkte den Kopf und starrte auf seine Schuhspitzen. Das Lächeln einer anderen Frau sollte ihn nicht interessieren.

Verflucht, es sollte ihm gar nicht auffallen.

Er schüttelte den Kopf. Wenigstens hatte er keine erotischen Träume mehr. Seit sich Callie bereit erklärt hatte, nach Boston zu kommen, hatte sein Unterbewusstsein den Playboy-Kanal nicht mehr eingeschaltet.

Nur hatte sich die Erinnerung an diese Träume dummerweise unauslöschlich in sein Gedächtnis eingebrannt.

Das Geräusch der ins Schloss fallenden Haustür riss ihn aus seinen Überlegungen. Das musste seine Mutter sein, die bei einem Symphoniekonzert gewesen war. Grimmig marschierte er die Treppe hinunter ins Foyer.

Als sie ihn entdeckte, zog sie gerade ihren Mantel aus.

»Jackson, Liebling, wie war dein Tag? Ich habe die Carradines getroffen …«

»Warum zum Teufel hast du sie in einem der Dienstbotenzimmer untergebracht?«

Mercedes riss überrascht die Augen auf. »Du meinst, die Restauratorin? Liebling, sie ist hier, um zu arbeiten, nicht wahr? Sie ist kein Gast.«

»Ich habe sie hierher eingeladen und im Roten Zimmer untergebracht.«

Sie sah ihn nachdenklich an, hängte dann aber ihren Mantel fort. »Wie du willst. Ich wollte dich ganz sicher nicht verärgern.«

»Du hast mich nicht verärgert. Du hast meinen Gast beleidigt und mich verdammt wütend gemacht.«

Er wandte sich wieder zum Gehen, da es für sie beide besser wäre, wenn er einen gewissen Abstand zwischen sie bringen würde. Er schätzte die Spielchen seiner Mutter nicht und hatte das Bedürfnis, Callie zu beschützen.

Wahrscheinlich gerade, weil sie so gelassen mit diesem Affront durch seine Mutter umgegangen war.

»Sei mir bitte nicht böse, Jackson«, rief ihm Mercedes hinterher »Woher hätte ich das wissen sollen? Ich meine, sie sieht schließlich nicht wie unsere anderen Gäste aus, nicht wahr?«

Er blieb noch einmal stehen und sah über seine Schulter. »Sie ist mein Gast und wohnt in meinem Haus. Weshalb sie gefälligst mit gebührender Höflichkeit behandelt wird.«

Mercedes verließ der Mut. »Jack, ich hatte keine Ahnung, dass sie derart wichtig ist.«

Er drehte sich wieder um und ging entschlossen weiter, denn wenn er ihr eine Antwort gegeben hätte, hätte er für nichts mehr garantiert.

Nach dem Tod seines Vaters hätte er es als etwas krass empfunden, sie aus dem Haus zu werfen, das fast vierzig Jahre lang ihr Heim gewesen war, und hatte außerdem gedacht, wenn sie weiter in Buona Fortuna lebte, blieben ihm die Kosten der Finanzierung eines zusätzlichen Haushaltes erspart. Ohne eigenes Geld und ohne irgendwelche Fähigkeiten, die sie auf dem Arbeitsmarkt hätte anbieten können, konnte sie sich nicht selber unterhalten, und ihr anderer Sohn verdiente einfach nicht genug, um ihr den Standard zu bieten, den sie zu Lebzeiten ihres Mannes gewohnt gewesen war. Deshalb war es Jack, auf dessen Kosten sie seit Jahren lebte, und das wussten alle Beteiligten.

Er schüttelte den Kopf. Sie war das Paradebeispiel dafür, wohin man es mit Schönheit und mit Köpfchen bringen konnte, dachte er. Anders als Nathaniel der Sechste stammte sie aus keiner wohlhabenden Familie. Trotz ihres hochherrschaftlichen Gebarens hatte sie als viertes von sechs Kindern einer Familie portugiesischer Fischer in einer kleinen Hafenstadt in Gloucester das Licht der Welt erblickt. Einziges Ziel in ihrem Leben war gewesen, dort herauszukommen, und so hatte sie mit fünfzehn ihren Namen Myrna gegen Mercedes eingetauscht, sich geschworen, alles hinter sich zu lassen, womit sie aufgewachsen war, und als sie mit einem Stipendium am Smith College gelandet war, war sie bereit gewesen, der Welt ihren Stempel aufzudrücken.

Oder wenn schon nicht der Welt, so dem passenden Mann.

Jacks Vater hatte ihrer Vorstellung genau entsprochen, denn er war nicht nur ein reicher junger Mann gewesen, sondern obendrein ein Spross der angesehenen Walker-Dynastie. Sie hatten sich über gemeinsame Freunde kennengelernt, als Nathaniel der Sechste eines schönen Frühlingswochenendes während seines letzten Jahrs aus Harvard herübergekommen war. Ihre Schönheit hatte ihn geblendet, und mit ihrem aggressiven Wesen hatte sie verhindert, dass er die Gelegenheit bekam, sich weiter umzusehen. Drei Monate später hatte sie das College abgebrochen, und die beiden hatten diskret in der Episkopalischen Kirche in Osterville am Cape Cod geheiratet.

Es hatte sich als gute Verbindung herausgestellt. Ihre Herkunft hatte seinen Vater nie auch nur im Mindesten gestört. Tatsächlich hatte es ihm Spaß gemacht, ihr alles beizubringen, was sie nicht gewusst hatte, und Mercedes hatte sich als ausnehmend gelehrige und eifrige Schülerin herausgestellt. Bis zu ihrem dreißigsten Geburtstag hatte sie sich ein für alle Mal in der High Society von Boston etabliert, in ihren Vierzigern und Fünfzigern war sie Mitglied der richtigen Komitees geworden, um allseits für ihre wohltätige Arbeit respektiert zu werden, und jetzt, mit Anfang siebzig, wurde sie vom weißen, angelsächsisch-protestantischen Establishment und von diversen Aufsteigern hofiert und galt, wenn es um Fragen wie den Besuch der richtigen Partys und Bälle ging, als Ikone sicheren Geschmacks.

Sie war ohne Zweifel stolz auf ihren gesellschaftlichen Aufstieg, obwohl es nur ein Sieg der äußeren Erscheinung war. Obwohl ihre Entschlossenheit ihr größten Reichtum und gesellschaftliches Ansehen eingetragen hatte, blieb die Tatsache bestehen, dass sie in die Arbeiterklasse hineingeboren war. Jack hatte immer schon gedacht, dass dies für seine Mutter ein Grund zur Verzweiflung war, obwohl sich niemand anderes, am wenigsten die eigene Familie, daran zu stören schien. Tatsächlich hatte Nathaniel der Sechste die Verwandlung seiner Ehefrau in eine Stütze der Bostoner Gesellschaft stets mit Stolz erfüllt.

Wobei Jack keine Ahnung hatte, wie sie mit der leicht herablassenden Zuneigung des Ehemanns zurechtgekommen war.

Vielleicht, weil das, was sie im Gegenzug von ihm dafür erhalten hatte, ein verdammt bequemer Lebensstil gewesen war.

Während er in Richtung seines eigenen Zimmers ging, überlegte Jack, dass Callies Herkunft ebenso bescheiden wie die seiner Mutter war. Weshalb also hatte sie, obwohl sie doch das Geld eindeutig brauchen konnte, sein großzügiges Angebot zweimal abgelehnt?

Vor der Tür des Roten Zimmers blieb er stehen. Während er versuchte, durch das dicke Holz zu sehen, drang die Stimme seiner Mutter an sein Ohr.

»Was machst du da?«

Am liebsten hätte er sie angefahren, dass sie ihn, verdammt noch mal, in Ruhe lassen sollte. Stattdessen ging er weiter bis zu seiner eigenen Tür und stellte mit ruhiger Stimme fest: »Ich dachte, wir hätten uns schon gute Nacht gesagt.«

»Jackson.«

»Was?«

»Sie ist nicht wie du.«

Er starrte seine Mutter wütend an. Das Licht am Kopf der Treppe tauchte ihre hohen Wangenknochen in dramatische Schatten und betonte noch den roten Lippenstift, den sie immer trug.

Als er nichts erwiderte, fuhr sie mit eindringlicher Stimme fort: »Du darfst nie vergessen, dass du das Erbe der Walkers in dir trägst.«

»Daran brauchst du mich ganz bestimmt nicht zu erinnern. Schließlich stelle ich sämtliche Schecks für den Erhalt von diesem Erbe aus.«

Er öffnete die Tür, als sie eilig den Flur herabgelaufen kam. »Ich habe heute Abend das von Blair und dir gehört. Warum hast du es mir nicht selbst erzählt?«

Jack kreuzte die Arme vor der Brust. Woher zum Teufel wusste sie davon? Sie hatten kein Geheimnis aus der Verlobung machen wollen, von einer öffentlichen Bekanntgabe bisher aber noch abgesehen.

»Weil es nicht wirklich wichtig ist.«

»Du wirst heiraten. Natürlich ist das wichtig.« Ihre Augen fingen an zu blitzen, als sie von ihm wissen wollte: »Wann ist der Termin?«

Genau die Frage hatte er vermeiden wollen. Er sagte sich, er wolle nicht darüber reden, weil sich seine Mutter nicht in seine Angelegenheiten mischen sollte, gleichzeitig jedoch tauchte vor seinem geistigen Auge das Bild von Callie auf und wollte einfach nicht mehr gehen.

»Das haben wir noch nicht entschieden.«

Mercedes runzelte die Stirn. »Und wann wollt ihr die Verlobung offiziell bekannt geben? Habt ihr schon eine Anzeige in den Zeitungen geschaltet?«

»Bisher noch nicht.«

Seine Mutter sah ihn lächelnd an. »Keine Angst. Ich werde gleich morgen …«

»Nein, das wirst du nicht.«

»Jackson, das ist …«

»… etwas, das dich nichts angeht, Mutter«, herrschte er sie an.

Sie straffte die Schultern und zog ihre elegant gezupften Augenbrauen hoch. »Wie du meinst.«

Jack sah sie mit einem grimmigen Lächeln an, und die Stille zwischen ihnen dehnte sich beinahe hörbar aus.

Wenn sie drauf warten wollte, dass er ihr erlaubte, bei der Planung dieser Hochzeit nach Gutdünken zu verfahren, schliefe sie am besten gleich hier draußen auf dem Flur.

Schließlich reckte sie den Kopf. »Dann wollt ihr also die Verlobung nicht offiziell bekannt geben und habt auch noch kein Datum für die Hochzeit festgelegt. Warum hast du sie dann überhaupt gebeten, dich zu heiraten?«

Als er sich weigerte, auf diese Frage einzugehen, nahm er das triumphierende Blitzen in den Augen seiner Mutter wahr und sagte sich, dass das Gespür, mit dem sie die wunden Punkte anderer Menschen fand, eine ganz besondere Gabe war. Zumindest für sie. Aber wahrscheinlich brauchte jeder Mensch ein Hobby, und die Lieblingsbeschäftigung von seiner Mutter war nun mal das Aufdecken der Schwächen anderer.

Obwohl es einfach eine Schande war, dass sie nicht anfing zu stricken wie die meisten anderen Frauen in den Siebzigern. Schließlich kamen auch dabei Nadeln zur Anwendung.

»Schlaf gut, Mutter«, sagte er, bevor er über die Schwelle seines Zimmers trat.

»Bitte, Jack.« Der Ausdruck der Aggression in ihrem Gesicht wurde durch einen der Ohnmacht ersetzt, was ihr ganz sicher nicht gefiel. »Ich möchte doch nur helfen.«

»Dann überlass die Sache einfach uns. Wir sagen dir Bescheid, wenn wir dich brauchen.« Damit machte er die Tür geräuschvoll hinter sich zu.