11
Jack knüllte auch seine Serviette zusammen, warf sie in den Wäschekorb und löschte das Licht. Statt jedoch hinaufzugehen, verließ er das Haus durch eine Seitentür. Das Letzte, was er wollte, war, sich in ein Bett zu legen, zwischen dem und ihrem Bett nur die Breite eines Flures lag.
Durch seine Kleider drang der kalte Wind, aber die Kälte tat ihm gut, während er ziellos durch den Garten lief. Aus der Ferne drangen die Geräusche des Verkehrs auf der Route 9 wie ein leises, beständiges Summen an sein Ohr.
Er sollte es vergessen? Eher würde er es schaffen, die Uhr zurückzudrehen.
Als in Callies Schlafzimmer ein Licht anging, blieb er stehen und beobachtete ihre Silhouette, während sie durch das Zimmer lief. Dann blieb sie am Fenster stehen, und er trat einen Schritt zurück, bis er mit der Dunkelheit verschmolz, denn es wirkte, als sähe sie sich suchend um.
Sie zu vergessen war eindeutig keine Alternative, das wusste er.
Genauso wie er wusste, dass er, wenn er weiterhin den Spanner spielte, ganz bestimmt kein Auge zubekommen würde, weshalb er weiter zur Garage ging. Er machte Licht, erklomm die schmale Treppe und blickte auf ihren ordentlich eingerichteten Arbeitsplatz.
Braune, mit Flüssigkeit gefüllte Gläser waren genauso ordentlich wie eine Reihe Pinsel, Holzstäbe und Wattebäusche links des Gemäldes aufgereiht. Das Mikroskop, durch das sie das Porträt betrachtet hatte, hatte sie fortgestellt und gegen eine Atemmaske und ein paar Gummihandschuhe getauscht. Er nahm das Notizbuch, das neben den Handschuhen lag, und schlug es auf. Sie hatte sich mit ordentlicher Handschrift jede Menge Notizen zum Zustand des Porträts gemacht, und ihre Aussagen hatten die Präzision der Ausführungen eines Rechtsanwalts. Die Gliederung der Dokumentation war nach Themen wie »Oberfläche«, »Ränder«, »Durchweichung« und »Oxidation« erfolgt. Als er sich mit ihr über ihre Arbeit unterhalten hatte, hatte es ihn überrascht, wie wissenschaftlich die Terminologie der Restauratoren war. Zum Beispiel hatte sie verdammt viel Ahnung von Chemie und ihm genau beschreiben können, was passieren würde, wenn das Lösungsmittel auf die alte Lackschicht traf.
Sie war wirklich unglaublich klug.
Und verdammt verführerisch.
Er klappte das Notizbuch wieder zu und legte es zurück an seinen Platz.
Verflucht. Wenn seine Mutter nicht hereingekommen wäre, hätte er sich in der Küche über Callie hergemacht. Mitten auf dem Küchentisch. Auf den verdammten Tellern. Er war so heiß auf sie gewesen, dass es ihm egal gewesen wäre, wo sie gerade waren.
Er schüttelte den Kopf. Er musste mit Blair sprechen. Einen Ausrutscher mit Callie hätte er ihr noch verschweigen können. Zwei hingegen waren eindeutig zu viel.
Es würde ganz bestimmt nicht leicht. Egal, wie vorsichtig er seine Sätze formulieren würde, würde er eine Frau verletzen, die ihn liebte, und er kam sich deswegen einfach erbärmlich vor. Außerdem war ihm bewusst, dass die Möglichkeit bestand, sie würde die Verlobung lösen, und das wäre ihr gutes Recht.
Als das dumpfe Grollen eines Motors durch die Dunkelheit an seine Ohren drang, sah er auf seine Uhr und war überrascht, dass Thomas schon so früh nach Hause kam.
Bevor er die Lichter löschte, blickte er noch einmal auf den Tisch und stellte sich vor, wie Callie vollkommen in ihre Aufgabe versunken über dem Gemälde stand. Als er daran dachte, dass sie dabei jedes Zeitgefühl verlor und nicht mal daran dachte, irgendwas zu essen, wurde ihm bewusst, dass nirgends in dem Raum, ja nicht einmal auf dem Display der Stereoanlage, eine Uhr zu sehen war.
Er löste die Patek Philippe von seinem Arm. Er hatte sie gekauft, als er nach dem Börsengang des ersten Unternehmens, das er übernommen hatte, über Nacht zum Multimillionär geworden war. Sie war aus Gold mit einem Band aus schwarzem Krokodilleder, und er nahm sie nur unter der Dusche ab, obwohl ihr auch das Wasser nicht geschadet hätte, denn das Ding war bis in geradezu absurde Tiefen wasserdicht.
Er legte die Uhr neben den Becher mit den Pinseln und hoffte, sie würde sie benutzen, bis er wüsste, welche Uhr für diesen Raum am besten war. Das Teil ging auf die Sekunde genau, und mit ein bisschen Glück bekäme sie auf diese Weise mit, wann es Zeit zum Mittagessen war.
Er trat in dem Moment wieder vor die Garage, als Thomas aus seinem Wagen stieg. Der Pontiac GTO war der ganze Stolz des Kochs. Dunkelviolett mit jeder Menge Chrom war er der Inbegriff der protzigen Muscle-Car.
»Du bist aber ganz schön früh zuhause.«
Thomas stieß ein zynisches Lachen aus. »Sie nennen sie die schöne, nicht die treue Angelina. Inzwischen hat sie einen anderen Rücksitz gefunden, den sie ausprobieren will.«
»Tut mir leid.«
Grinsend kam Thomas über den Hof geschlendert. »Kein Problem. Schließlich gibt es auch noch andere schöne Frauen.«
Sie gingen gemeinsam in die Küche, und Thomas zog die Kühlschranktür auf. »Willst du auch ein Bier?«
Als Jack nickte, kam die Flasche durch die Luft geflogen, er fing sie mit beiden Händen auf, öffnete sie und schob sie Thomas wieder hin, bevor der die zweite Flasche warf.
»Diese Restauratorin ist ein echter Hingucker«, stellte der Koch nach einem großen Schluck aus seiner Flasche anerkennend fest.
Jack runzelte die Stirn und machte seine eigene Flasche auf. »Ja.«
»Und wie kommt ihr beide miteinander aus?«
»Ist das eine ehrliche Frage oder die Einleitung zu einer Rede?« Jack setzte seine Flasche an den Mund und trank. Weil das besser als Fluchen war.
»Ein bisschen von beidem. Du benimmst dich wie ein Kampfhund an der kurzen Leine, der seinen vollen Futternapf zwar sieht, ihn aber nicht erreichen kann. Und ich frage mich, ob das vielleicht mit dieser Frau zusammenhängt.«
»Du interpretierst da etwas hinein.«
»Das glaube ich nicht.«
Jack war ernsthaft versucht, Thomas zu belügen, doch ihm war klar, dass er damit nicht durchkommen würde. Dafür kannte ihn der andere einfach viel zu gut.
»Es ist völlig sinnlos«, erklärte er deshalb und schüttelte den Kopf. »Und das Timing ist total verkehrt. Genau in dem Moment, in dem ich beschlossen habe, seriös zu werden. Ich dachte, die Jagd nach Frauen läge ein für alle Male hinter mir.«
»Du kannst von Glück reden, dass dir das jetzt passiert. Bevor du dich dauerhaft an eine andere gebunden hast.«
»Ist das der Grund, warum du nie geheiratet hast?«
Thomas grinste. »Keineswegs. Ich habe nie geheiratet, weil die Frau, die ich geliebt habe, kein Interesse an mir hatte.«
»Echt?«
»Ich weiß, bei meinem Charme ist das schwer vorstellbar.« Thomas legte den Kopf in den Nacken, trank den Rest von seinem Bier, und als er wieder nach vorne sah, lag in seinen Augen ein wehmütiger Blick. »Sie wollte mich nicht haben. Dachte, sie wäre zu gut für mich, und damit hatte sie wahrscheinlich recht.«
»Was ist aus ihr geworden?« Jack leerte seine Flasche ebenfalls und stellte sie auf der Arbeitsplatte ab.
Thomas zuckte mit den Schultern. »Was spielt das für eine Rolle?«
»Vielleicht gibt sie dir ja eine zweite Chance.«
»So etwas wie eine zweite Chance gibt es nicht, Jacko«, nannte er ihn bei seinem alten Spitznamen, während er die Flasche in den Mülleimer fallen ließ. »Ich gehe schlafen. Nacht.«
»He, Thomas.«
»Ja?«
»Falls Callie morgen Mittag nicht in der Küche auftaucht, bring ihr bitte was zu essen rauf, ja?«
Thomas verzog den Mund zu einem breiten Lächeln. »Sicher.«
Als der Koch nach oben ging, marschierte Jack in sein Büro und wählte die Nummer von Blairs Handy, doch nach dreimaligem Klingen sprang die Mailbox an. Also versuchte er sein Glück im Waldorf, in dem sie ein Zimmer genommen hatte, ehe er sich daran erinnerte, dass sie ins Cosgrove umgezogen war. Er fragte den Empfangschef nach ihr, der ihn sofort mit ihrem Raum verband, aber auch dort ging seine Verlobte nicht an den Apparat.
Er sah auf seine Uhr. 22 Uhr 30. Wahrscheinlich hatte sie noch immer keinen Feierabend gemacht.
Er fuhr sich mit der Hand über die müden Augen. Er hatte es eilig, das schwierige Gespräch hinter sich zu bringen, und wäre vielleicht rücksichtslos genug gewesen, um es am Telefon zu tun.
Obwohl er im Augenblick keinen klaren Gedanken fassen konnte.
Weshalb es sicher besser war, dass sie nicht drangegangen war.
Am nächsten Morgen verließ Callie eilig ihr Schlafzimmer. Nach dem, was gestern Abend vorgefallen war, wäre es ihr lieber, sie würde weder Jack noch seiner Mutter über den Weg laufen.
Sie war überrascht, als sie Thomas in der Küche traf, aber er erklärte ihr, er wäre früh zu Bett gegangen, deshalb auch früh aufgestanden und hätte einfach Lust zum Brotbacken gehabt.
Sie schnappte sich ein Stück Obst, weil er sie nur so ohne Frühstück ziehen ließ, und ging weiter in ihr Atelier. Artie fand ihre ungewohnte Eile aufregend, und er tänzelte fröhlich neben ihr her.
Als sie nach oben kam und sich vor das Gemälde setzte, fiel ihr Blick auf eine schwere goldene Uhr, die neben ihrem Werkzeug lag.
Sie nahm sie in die Hand und erkannte sofort, wessen Uhr das war.
»Oh Jack.«
Sie hatte den größten Teil der Nacht, ein Kissen vor dem Bauch, den schlafenden Hund zu ihren Füßen, auf der Bank am Fenster zugebracht und nach einem Kompromiss zwischen dem, was sie sich wünschte, und dem, was richtig war, gesucht. Mit ähnlichem Erfolg, als hätte sie Friedensverhandlungen zwischen zwei verfeindeten Volksstämmen geführt.
Das hatte sie überrascht, denn die Situation war schließlich völlig klar. Sie wusste, es wäre vollkommen verrückt zu hoffen, dass Jack seine Verlobung ihretwegen lösen würde. Deshalb würde sie, wenn sie sich mit ihm einließ, denselben Weg wie ihre Mutter einschlagen. Und wäre verglichen mit der besseren Hälfte eines reichen Mannes immer nur die zweite Wahl.
Deshalb müsste sie vermeiden, dass sie noch einmal mit ihm allein zusammentraf.
Weil sie sich offenbar nicht trauen konnte. Und weil, wenn sie sich noch mal von ihm küssen, sanft berühren oder – Gott bewahre – tatsächlich entjungfern ließe, die Gefahr bestand, dass sie ihre intensiven körperlichen Reaktionen aufeinander für den Ausdruck ehrlicher Gefühle hielt. Denn das passierte unerfahrenen Menschen schließlich immer, weshalb täte sonst die erste Liebe derart weh? Falls sie ihr Herz an diesen Mann verlöre, wäre das viel schlimmer als jede sexuelle Frustration.
Falls? Haha.
Sie hatte das Gefühl, als wäre es bereits zu spät. Der Mann zog sie mit allen seinen Widersprüchen, seiner harten Schale und dem weichen Kern, in seinen Bann. Er war anders als alle anderen, denen sie bisher begegnet war, und zwar nicht, weil er reich und mächtig war.
Doch er würde ihr niemals gehören, rief sie sich in Erinnerung.
Sie atmete tief durch und legte die Uhr in dem verzweifelten Bemühen, nicht allzu viel in diese fürsorgliche Geste hineinzuinterpretieren, wieder zurück auf den Tisch.
Dann starrte sie auf das Bild und versuchte, die entsprechende Begeisterung für das gleich beginnende Abenteuer zu entwickeln, aber es dauerte noch eine ganze Weile, bis sie schließlich begann.
Nachdem die Dokumentation erfolgreich abgeschlossen war, wäre der nächste Schritt die Entfernung des Schmutzes und des alten Lacks. Als Erstes müsste sie bestimmen, was für eine Art von Lack auf das Gemälde aufgetragen worden war, und ein Lösungsmittel wählen, das stark genug wäre, um die Schutzschicht zu entfernen, aber gleichzeitig nicht intensiv genug, um auch die Farbschicht anzugehen. Sie würde die linke untere Ecke für die Proben nehmen, denn sie war hinter dem Rahmen versteckt.
Als sie gestern Nacht schließlich ins Bett gegangen war, hatte sie sich die Aufzeichnungen zu dem Bild noch einmal angesehen. Der Lack war Anfang der 1930er-Jahre im Rahmen der letzten Säuberung aufgetragen worden, das hieß, dass er aus natürlichen Stoffen bestand. Damals waren noch keine synthetischen Mittel verwendet worden, und sie hatte Chemikalien mitgebracht, mit denen sich ein auf Baumharz basierender Lack auflösen ließ.
Sie hatte sechs Lösungsmittel in verschiedenen Stärken, und jetzt wählte sie das schwächste aus und schraubte den Deckel auf, woraufhin ihr der vertraute süßliche Geruch der Chemikalie entgegenschlug. Bevor sie sich an die Arbeit machte, machte sie zwei Fenster jeweils einen Spaltbreit auf, damit Artie auch weiterhin genügend frische Luft bekam. Dann setzte sie zum Schutz vor den aufsteigenden Dämpfen ihre Atemmaske auf, nahm einen Holzstab in die Hand, wickelte einen kleinen Wattebausch um seine Spitze, tauchte ihn in das Lösungsmittel ein und strich damit vorsichtig über das Bild.
Sie war nicht überrascht, weil die Wirkung unbeachtlich war, kehrte zurück zu ihren Gläsern und wählte das zweitschwächste Lösungsmittel aus. Gleichzeitig führte sie Buch über die benutzten Chemikalien und notierte sorgfältig, welches die richtige Mischung war.
Nachdem sie sie gefunden hatte, wagte sie sich an das Gemälde selbst. Wann immer der Wattebausch zu schmutzig wurde, entsorgte sie ihn in einem verschließbaren Glas, wickelte frische Watte um den Stab und fuhr mit ihrer Arbeit fort. Dieser Teil der Arbeit machte ihr immer am meisten Spaß. Die ruhige, intensive Konzentration auf einen winzigen Bereich, die Vorsicht, die sie walten lassen musste, das Alleinsein mit dem Werk. Es vermittelte ihr ein Gefühl des Friedens, sich völlig auf das zu konzentrieren, was sie mit ihren Händen tat. Dann traten die Welt und ihre Probleme vorübergehend in den Hintergrund, und es gab nur noch sie und dieses Bild.
Während ihrer Arbeit wanderte ihr Blick immer wieder einmal über das Porträt. Dabei lernte sie die Landschaft dieses Meisterwerkes kennen, die tiefe Dunkelheit, von der Nathaniels Kopf umgeben war, die dichten Grau- und Schwarztöne des Rocks, das duftige Weiß und Cremefarben des Hemds. Am liebsten mochte sie sein hübsches gequältes Gesicht. Sie war wie verzaubert von dem leicht rosigen Hauch, der auf seinen Wangenknochen lag, dem dunklen Samt seiner Pupillen, dem undurchdringlichen Braun und Schwarz des Haars.
Wahrscheinlich wäre sie am Ende des Projekts in diesen Mann verliebt, ging es ihr durch den Kopf, als sie ihm nochmals in die Augen blickte.
Denn sie sahen aus wie die von Jack.
Ein paar Stunden später wurde die Stille in dem Atelier gestört.
»Hallo?«, drang Thomas’ Stimme an ihr Ohr. »Macht es Ihnen etwas aus, wenn ich kurz raufkomme?«
»Hi! Sie sind jederzeit willkommen.«
Artie, der ihr stundenlang geduldig bei der Arbeit zugesehen hatte, und sie standen auf. Der Hund streckte sich genüsslich und sah aus, als ob er große Hoffnungen mit der Ankunft des Kochs verband.
»Ich bringe Ihnen Ihr Mittagessen«, meinte Thomas, während er, mit einem Picknickkorb und einer Telefondose bewaffnet, die Treppe heraufgepoltert kam.
Artie trottete auf ihn zu, schnupperte vorsichtig an dem Korb, und sein Schwanzwedeln verriet, dass er von den aufsteigenden Düften ganz begeistert war.
»Das ist wirklich nett von Ihnen.« Callie lugte in den Korb, runzelte dann aber verwirrt die Stirn, als sie Thomas unter den Tisch krabbeln sah. »Obwohl es ganz bestimmt nicht nötig war. Äh – ist etwas nicht in Ordnung?«
»Ich habe ein Telefon für Sie dabei, und jetzt suche ich den Anschluss.« Er streckte den Kopf unter dem Tisch hervor und nickte in Richtung des Korbs. »Könnten Sie mir das Ding wohl geben? Es ist da drin.«
Lachend zog sie ein kleines schnurloses Telefon hervor. »Aber ich brauche kein Telefon.«
»Jack hat heute Morgen angerufen und gesagt, dass ich eins installieren soll.«
»Oh.«
Nachdem Thomas den Anschluss gefunden hatte, drückte er auf den grünen Knopf des Apparats und lauschte auf das Freizeichen. »So, geschafft. Außerdem habe ich noch eine Nachricht von Jack für Sie. Er wollte wissen, ob Sie ihn heute Abend in Little Italy zum Essen treffen wollen. Um sieben, bei Nico’s.«
Um sieben. Bei Nico’s. Ihr Herzschlag setzte aus.
Aber wenigstens würden sie nicht alleine sein. In Restaurants waren auch immer andere Leute. Jede Menge anderer Leute.
»Gut.«
»Und machen Sie sich keine Gedanken darüber, wie Sie hinkommen. Ich fahre Sie. He, kann ich mal gucken, was Sie überhaupt hier treiben?«
»Klar.«
Während Thomas das Porträt studierte, stellte Callie den Picknickkorb auf einen der Beistelltische neben der Couch. Sofort schob Artie seine Nase neben den Korb, damit sie ihn um Himmels willen nicht vergessen würde, wenn es gleich ans Essen ging.
Sie streichelte eins seiner Ohren, als Thomas von ihr wissen wollte: »Und wie lange haben Sie für diese zehn Quadratzentimeter gebraucht?«
»Zwei Stunden.«
»Dann sollte ich Sie wohl besser wieder in Ruhe lassen. Denn schließlich haben Sie noch ganz schön was vor sich«, stellte er grinsend fest.
»Danke für das Essen. Und das Telefon.«
»Gern geschehen.«
Er ging zur Treppe, blieb dann aber noch mal stehen, und als er sie ansah, wirkte es, als überlege er, ob er etwas sagen sollte oder nicht. Schließlich kam er offensichtlich zu dem Schluss, dass er besser schwieg, denn er hob nur kurz die Hand zu einem Winken und verschwand.
Callie starrte in Arties braune Augen und sagte sich, sie sollte sich nicht aufregen.
Schließlich ging es nur um ein Abendessen. An einem öffentlichen Ort. Weshalb Komplikationen ausgeschlossen waren.
Sie versuchte, nicht darüber nachzudenken, wie es wäre, wenn Jack nicht gebunden wäre und sie zusammen ausgingen.
Es wäre nett, einmal ein echtes Date mit jemandem zu haben, dachte sie. Es würde ihr Spaß machen, sich für einen Geliebten herzurichten und dann in ein volles Restaurant zu kommen, in dem ein Mann aufsehen und sie mit den Augen umarmen würde, wenn sie ihm entgegenging. Sie hätte gern gewusst, was für ein Gefühl es war, in den Augen eines Mannes schön zu sein und zu wissen, dass sie sehnsüchtig erwartet worden war.
Callie fluchte. Natürlich hatte in ihrer Fantasie Jack an dem Tisch gesessen, aber dieses Bild rief die Erinnerung an ihre Eltern in ihr wach.
Und an all die Abende, an denen sich ihre Mutter für den Ehemann von einer anderen schön gemacht hatte.
Die Vorbereitung für die Ankunft ihres Vaters hatte für gewöhnlich schon am späten Nachmittag begonnen, und wenn ihre Mutter sich vor dem Spiegel geschminkt hatte, hatten ihre üblicherweise trüben Augen vor Aufregung geglänzt. Callie hatte ihr immer bei der Auswahl der Garderobe und Frisur geholfen, aber egal, wie viel Mühe sie sich auch dabei gegeben hatte, hatte ihre Mutter in letzter Minute noch immer was anderes gewählt. Ein anderes Kleid, ein anderes Paar Schuhe, hochgestecktes statt offenes Haar.
Unglücklicherweise hatten die meisten dieser Abende damit geendet, dass ihr Vater viel zu spät oder gar nicht erschienen war. Und es war fürchterlich gewesen, das desillusionierte Ablegen der hübschen Garderobe mit anzusehen.
Trotzdem hatte ihre Mutter Jahrzehnte ihres Lebens mit dem Warten auf diesen Mann verbracht.
Callie hatte sich oft gefragt, warum, bis sie Jack begegnet war.
Inzwischen war ihr klar, dass die Antwort glühendes Verlangen war. Wenn ihre Eltern zusammen gewesen waren, hatten zwischen ihnen trotz des ständigen Konflikts Magie, Leidenschaft und Zärtlichkeit geherrscht. Ihr Vater war sehr groß und breitschultrig gewesen, ein einflussreicher Mann mit einer breiten Brust und einer dunklen Stimme, die wie Donnergrollen klang. Für gewöhnlich war er immer furchtbar ernst gewesen, aber unter den richtigen Umständen hatte ihre Mutter es geschafft, ihn von seiner düsteren Stimmung zu befreien. Das hatte wahrscheinlich einen Teil des Reizes der Beziehung ausgemacht. Es zu schaffen, einen so großen, einflussreichen Mann, wenn auch nur für kurze Zeit, von Grund auf zu ändern, hatte ihr wahrscheinlich das Gefühl gegeben, dass sie wichtig war.
Und vielleicht hatte ihr Vater in dem winzigen Apartment das Gelächter, die Gefühle und die Leidenschaft gefunden, die ihm in dem Herrenhaus, in dem er offiziell daheim gewesen war, nicht vergönnt gewesen waren.
Callie schüttelte den Kopf. Sie würde es nie erfahren. Vielleicht hatte er all diese Dinge auch in Graces Haus gehabt.
Artie stieß sie mit dem Kopf an, aber als sie anfing, ihn zu kraulen, sah er bedeutsam in Richtung des Picknickkorbs.
»Genau.« Sie richtete sich wieder auf, öffnete den Korb, warf dem treuen Vierbeiner ein Stück gebratenes Hähnchen hin und begann selbst mit dem Salat. Vielleicht sollte sie erst mal eine Pause machen, überlegte sie. Vielleicht sollte sie etwas spazieren gehen.
Dann aber fielen ihr die Dokumente in der Abstellkammer ein, und als sie mit dem Essen fertig war, zerrte sie die oberste Kiste aus dem Regal, schleppte sie zur Couch und klappte den Deckel auf. Es hätte keinen Sinn zu leugnen, dass sie in Gedanken bei dem Abendessen war, aber das Sortieren von Papieren bekäme sie wahrscheinlich trotzdem hin.
Mit dem kostbaren Gemälde und mit Chemikalien hingegen hantierte sie am besten erst mal nicht.