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Sie liefen durch ein von deckenhohen, mit einer farbenfrohen Sammlung zerfledderter Bücher bestückten Sammlung von Regalen durchbrochenes Labyrinth aus Arbeitsräumen und Büros bis zu einer Flügeltür, Jack drückte auf einen Knopf, und als die Metalltür geöffnet wurde, tauchte dahinter ein kleiner älterer Herr mit schütterem, ergrautem Haar und – vor allem dank seiner blitzenden Augen – überraschend jungen Zügen auf.

»Jackson, wie geht es Ihnen?« Der Mann sprach mit einer hellen, melodiösen Stimme und einem fast unmerklichen französischen Akzent. Die Hände, mit denen er die Schildpattbrille von seiner Nase nahm, waren so schön und so gepflegt wie die von einer Frau.

Das also war Gerard Beauvais, dachte Callie, als sie eine dieser Hände nahm, und versuchte, nicht vor Ehrfurcht zu erstarren, weil sie plötzlich diesem Meister ihres Berufsstandes persönlich gegenüberstand.

»Bitte, kommen Sie herein.« Lächelnd bat Beauvais sie in den Raum, in dem es sechs Arbeitsplätze gab, an denen sechs kitteltragende Personen mit atemberaubenden Kunstwerken beschäftigt waren. Callie sah einen Pissarro und einen David, die in Schraubstöcken klemmten, sowie mehrere liegende Gemälde, und der Geruch der Chemikalien, der ihre Nase kribbeln ließ, erinnerte sie an ihre Zeit an der New Yorker Universität.

Nur, dass dies kein Seminarraum war.

Dies hier war der Ort, an dem Beauvais den mit Säure bespritzten Fra Filippo Lippi sorgfältig restauriert hatte. Er hatte zwei Jahre gebraucht, um einen Weg zu finden, auf dem sich der Schaden so gut es ging beheben und das, was von dem Bild übrig gewesen war, konservieren ließ, aber die Mühe hatte sich gelohnt. Außerdem hatte er in diesem Labor eins von da Vincis seltenen Selbstporträts stabilisiert. Da Vincis Experimente mit Farben bedeuteten, dass seine wunderbaren Werke gelegentlich abblätterten oder verblassten, Beauvais Beschäftigung mit der chemischen Zusammensetzung der Ölbilder des Meisters dagegen hatte die Arbeit der Restauratoren revolutioniert.

»Ihre Mutter hat sich wieder einmal als ungeheuer großzügig erwiesen«, sagte Gerard zu Jack.

Jack setzte ein schmales Lächeln auf. »Das kann ich mir vorstellen.«

»Ich meine, es ist wirklich edel, dass sie uns das Walker-Porträt nach der Konservierung als Leihgabe überlassen will. Neben Copleys Paul Revere wird es sich hervorragend machen, glauben Sie nicht auch? Die beiden ergänzen sich auf eine geradezu ideale Art.« Lächelnd fragte Beauvais: »Wenn es so weit ist, werden wir eine Party organisieren, ja? Weil Nathaniels Rückkehr nach Boston schließlich gebührend gefeiert werden muss.«

Anders als Beauvais bemerkte Callie Jacks mit einem Mal verschlossenen Blick.

»Und Sie«, wandte sich Beauvais an sie. »Ich bin ein guter Freund von Professor Melzer. Obwohl er mit Lob sehr sparsam ist, hat er von Ihnen regelrecht geschwärmt. Sie können es sicher kaum erwarten, endlich mit der Arbeit zu beginnen, stimmt’s?«

Sie spürte, dass sie errötete. Oder vielleicht bedeutete das Kribbeln auch, dass alles Blut aus ihrem Gesicht gewichen war. »Ich werde mir alle Mühe geben, aber offen gestanden bin ich ein bisschen nervös.«

»Gut. Gut, gut! Das sollten Sie auch sein.« Er fuchtelte mit seiner Brille vor ihrem Gesicht herum. »Wir alle sollten uns der Leinwand mit ruhigen Händen, einem wachen Geist und klopfendem Herzen nähern. Denn das ist ein Zeichen dafür, dass einem bewusst ist, was man für ein Gemälde tun oder in welchem Ausmaß man ein Meisterwerk zerstören kann, wenn man nicht vorsichtig und voller Ehrfurcht damit umgeht. C’est bon!«

Als er sie strahlend ansah, war sie sich nicht sicher, ob sie ihre Angst genauso optimistisch sah wie er, doch wenigstens ließ ihre Aufregung ein wenig nach.

»Und jetzt erzählen Sie mir von dem Bild. Haben Sie es schon untersucht?«, fragte er gespannt.

Sie räusperte sich leise, denn sie kam sich wie bei einer mündlichen Prüfung vor.

»Die Leinwand ist in einem guten Zustand, und die Farbe hält sich an den meisten Stellen noch sehr gut, allerdings ist der Lack schmutzig und vergilbt. Technisch wird die Konservierung sicher nicht besonders kompliziert, aber die Bedeutung des Porträts macht die Arbeit trotzdem zu einer großen Herausforderung.« Der Enthusiasmus verlieh ihrer Stimme einen warmen Klang. »Das Werk stammt offensichtlich aus der Zeit, bevor Copley nach London ging, denn der Stil ist noch nicht ganz ausgereift. Trotzdem sind die Pinselführung und die Farbzusammenstellung geradezu unglaublich. Ich kann es kaum noch erwarten zu entdecken, wie Nathaniels Gesicht unter dem alten Lack aussieht.«

»Sonst noch was?«

Sie starrte Beauvais an. Sein Lächeln war noch immer freundlich, gleichzeitig jedoch sah er sie forschend und neugierig an.

»Bisher noch nicht.« Sie zögerte. »Gibt es etwas, worauf ich besonders achten sollte?«

Er zuckte mit den Schultern, sprach aber mit leiser Stimme und einem Seitenblick auf Jack, der in die Betrachtung des David versunken war. »Ich habe mir das Bild selbst mal angesehen. In den späten Neunzigern. Nachdem die Blankenbakers das Porträt von Jacks Vater gekauft hatten, hatten sie es in ihrem Haus in Newport über einen Kamin gehängt. Sie kamen zu mir, weil sie in Sorge wegen der wechselnden Temperaturen und Feuchtigkeit waren, denen es ausgesetzt gewesen war. Allerdings haben wir das Gemälde nicht gereinigt, deshalb weiß ich weniger darüber, als wenn wir damit gearbeitet hätten. Jedenfalls wäre es klug, der Oberflächenstruktur besondere Aufmerksamkeit zu widmen«, riet er ihr.

Sie öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, aber er blickte vielsagend auf Jack, der wieder in ihre Richtung kam.

»Es ist immer ratsam, möglichst diskret zu sein. Vor allem, wenn die Dinge unklar sind«, fügte er beinahe im Flüsterton hinzu, schrieb etwas auf die Rückseite einer Visitenkarte und drückte sie ihr in die Hand. »Hier sind meine Privatnummer und die hier im Labor. Falls Sie Probleme haben oder zwei Augen mehr brauchen, rufen Sie mich an. Vor allem, wenn Sie versucht sind, in die Farbschicht hineinzugehen. Was man, wie Ihnen bewusst sein dürfte, nicht leichtfertig tun sollte.«

Lächelnd gesellte sich Jack wieder zu ihnen und wandte sich an Beauvais. »Also, wir hatten uns gefragt, ob Sie eine – was wollen Sie für eine Lampe haben?«

»Eine Halogendampflampe«, erklärte Callie. »Und wenn Sie nichts dagegen haben, vielleicht auch noch ein Mikroskop.«

Gerard lächelte, nickte und wirkte Wunder, weshalb Jack bereits zwanzig Minuten später den Aston Martin vor dem Hintereingang des Museums parkte und ein Mikroskop in den Kofferraum gelegt bekam. Die Lampe und der Ständer allerdings waren zu groß für seinen Wagen und würden ihnen am Nachmittag gebracht.

Beim Abschied nahm Gerard die Hände der Kollegin und hob sie vor sein Gesicht. »Neben Ihren Augen sind sie das wichtigste Werkzeug, das Sie haben. Rufen Sie mich an, wenn Sie Hilfe brauchen. Haben Sie keine Angst.«

Als er ihre Hände drückte, wurde ihr bewusst, welche Verantwortung sie mit dem Auftrag übernommen hatte, und sie fragte sich, ob sie der Aufgabe gewachsen war.

»Ah, es wird alles gut werden, chérie«, raunte er ihr zu, als wäre ihm klar, dass sie nicht wollte, Jack könnte mitbekommen, wie er ihr Mut zusprach. Abermals zog seine melodiöse Stimme sie in ihren Bann. »Sie haben schon vorher Bilder konserviert und werden Ihre Sache ausgezeichnet machen. Ihr Blick ist voller Liebe, wenn Sie von dem Gemälde sprechen, und mit etwas, das Sie lieben, gehen Sie bestimmt sorgfältig um.«

Sie nickte ruckartig. Himmel, wenn dieser Mann auch nur noch etwas netter zu ihr wäre, bräche sie bestimmt in Tränen aus.

Er drückte ihr noch mal die Hände und hüpfte fröhlich wie ein Kind zurück ins Haus.

Später, als sie an einer Kreuzung standen, meinte Jack: »Sie strahlen wie ein Honigkuchenpferd.«

Sie drehte überrascht den Kopf. »Was? Oh – wegen Gerard. Er ist einfach erstaunlich. Und überraschend bescheiden für einen Mann mit seinem Ruf.«

»Das sind alle wirklich großen Menschen«, murmelte Jack, während er über die Kreuzung fuhr. »Worüber haben Sie beide sich so leise unterhalten, als ich ein bisschen abseits stand?«

»Er hat mir nur ein paar Ratschläge gegeben.«

»Er ist bestimmt ein guter Ratgeber.«

Sie nickte und wies mit dem Kopf in Richtung Kofferraum. »Und wirklich großzügig.«

Er runzelte die Stirn. »Unglücklicherweise werde ich den Mann enttäuschen müssen. Weil mein Bild nämlich ganz sicher nicht in seinem Museum landen wird. Verdammt, das Talent meiner Mutter, über das Eigentum anderer Leute zu verfügen, sucht wirklich seinesgleichen. Ich glaube, dass sie darin nur von meinem Vater übertroffen worden ist.«

Callie hoffte, dass er weitersprechen würde, und verspürte ehrliche Enttäuschung, als er wieder schwieg. Sie sah auf seine Hände, die das Steuer fest umklammert hielten, und hätte ihn gern gebeten zu erklären, was er damit meinte, er aber fing ein völlig anderes Thema an.

»Übrigens habe ich mich gefragt, ob ich Sie vielleicht einem meiner Freunde vorstellen darf.«

Sie bedachte ihn mit einem überraschten Blick. Ein weiterer privater Kunde nach der Konservierung des Copley wäre natürlich wunderbar. »Natürlich. Aber sind Sie sicher, dass Sie nicht lieber damit warten wollen, bis Sie gesehen haben, wie ich arbeite?«

»Es geht nicht um die Arbeit.«

Als der Aston Martin einen Laster überholte, klammerte sich Callie verzweifelt am Türgriff fest.

»Gray und ich waren Zimmergenossen am College. Er ist wirklich nett. Er lebt in New York, doch in den nächsten Wochen wird er hier in Boston sein, und ich könnte mir vorstellen, dass Sie sich gut mit ihm verstehen.«

Jack wollte sie mit einem anderen verkuppeln?

»Natürlich möchte ich Sie nicht unter Druck setzen«, erklärte er und sah sie von der Seite an. »Ich dachte nur, wir könnten ihn mal nach Buona Fortuna einladen. Dann könnten Sie ihn kennenlernen und sehen, ob er Ihnen sympathisch ist.«

Callie sagte sich, das wäre vollkommen normal. So lernten Menschen sich nun einmal kennen. Über gemeinsame Freunde. Kontakte. Geschäftspartner.

Und gleichzeitig bewies sein Vorschlag ihr, dass der Vorfall in der Abstellkammer wirklich nur ein einmaliger Ausrutscher gewesen war.

»Ähm, okay.«

»Gut. Das ist wirklich super.« Damit blickte Jack wieder nach vorne und konzentrierte sich voll und ganz auf den Verkehr.

Am nächsten Morgen hatte Callie ihren Platz vor dem Gemälde eingenommen, als die Garagentür geöffnet wurde und sie gerade rechtzeitig, um den Aston Martin die Einfahrt hinabschießen zu sehen, noch einmal ans Fenster trat. Während sie den Rücklichtern des Wagens hinterherblickte, kam Artie angetrottet und stupste sie mit seinem dicken Schädel an.

An die Arbeit, dachte sie. Schließlich hatte sie alle Hände voll zu tun.

Auch wenn es ihr schwerfiel, sich auf ihren Job zu konzentrieren.

Nachdem Jack und sie am Vortag aus dem Museum zurückgekommen waren, hatte er das Mikroskop in ihr Atelier getragen, später auch die schwere Halogenlampe die Treppe heraufgeschleppt, ihren Arbeitsplatz mit ihr zusammen eingerichtet, das Porträt aus dem schweren Goldrahmen gelöst und ihr unzählige Fragen zu dem Projekt gestellt. Er hatte genau wissen wollen, wie man bei der Reinigung von einem solchen Bild zu Werke ging. Was für Lösungsmittel man verwenden musste, um den Schmutz und die alte Lackschicht zu entfernen. Welcher neue Lack der beste Schutz für die empfindlichen Ölfarben war.

Angesichts der Dinge, die am Morgen vorgefallen waren, hatte es sie überrascht, wie angenehm ihr das Zusammensein mit ihm gewesen war. Er war witzig und charmant gewesen, und sein Lächeln hatte ehrlichen Respekt verraten, als sie auf all seine Fragen eingegangen war. Und am allerbesten war gewesen, dass sie das Gefühl gehabt hatte, er stellte diese Fragen nicht, weil er ihr nicht traute, sondern weil er wirklich wissbegierig war.

Als er sich hatte zum Gehen wenden wollen, hatte sie ihn gefragt, wie die komplizierte Stereoanlage zu bedienen war. Er hatte es ihr zeigen wollen und dabei bemerkt, dass die Anlage nicht funktionierte, woraufhin er auf den Kriechspeicher über dem Atelier gekrabbelt war. Sie hatte ihm beflissen assistiert, während er in dem Bemühen, die Lautsprecher dazu zu bringen, endlich ein Signal von der Anlage zu empfangen, ein ums andere Mal mit seinem Kopf gegen die Dachlatten gestoßen war.

Die Flüche, die durch die Decke gedrungen waren, hatten sie in höchstem Maße amüsiert, und als er, Spinnweben im Haar und den teuren Anzug voller Staub, wieder bei ihr unten erschienen war, hatte sie laut lachen müssen, auch wenn das bestimmt nicht nett gewesen war.

Doch zumindest hatte die verdammte Stereoanlage wieder funktioniert.

Bis sie schließlich ins Haus zurückgegangen waren, hatte der Koch das Abendessen bereits wieder fortgeräumt, und Jack hatte ein paar Reste aus dem Kühlschrank genommen, zu lange in die Mikrowelle gestellt, und lachend hatten sie auf dem gummiartigen Hühnchen herumgekaut. Die hoffnungslos verkochten, schlabberigen grünen Bohnen allerdings hatten sie gar nicht erst probiert.

Sosehr sich Callie auch dagegen sträubte, genoss sie das Zusammensein mit ihm.

Sie schüttelte den Kopf und kehrte zurück zu dem Porträt. Sie musste wirklich anfangen.

Sie schob das Mikroskop über die obere rechte Ecke des Porträts und drehte an den Knöpfen, bis sie die Struktur nicht mehr verschwommen sah. Dann überprüfte sie die Risse in der Farbe und prägte sich das Muster, die Richtung und die Tiefe ein. Zentimeterweise suchte sie die Oberfläche des Gemäldes ab und notierte den Zustand des Lacks, der Farbe und der Leinwand in einem kleinen Buch. Diese Dokumentation war der erste Schritt bei jeder Konservierung, hatte sie Jack erklärt.

Als sie zu dem Spiegel kam, den Nathaniel hielt, schob sie das Mikroskop verwundert noch ein wenig näher an das Bild heran. Die Farbschicht war ein bisschen dicker, das Rissmuster war dichter, und die Pinselführung wich ein wenig von der Pinselführung auf dem übrigen Gemälde ab. Sie sagte sich, sie bildete sich diese Unterschiede ganz bestimmt nur ein, doch eine neuerliche Inspektion bestätigte ihren Verdacht, dass etwas mit der Farbschicht auf dem gläsernen Teil des Spiegels nicht in Ordnung war.

Callie richtete sich auf, blickte ohne Mikroskop auf das Porträt und sagte sich, sie sollte keine voreiligen Schlüsse ziehen. Denn der Unterschied war beinahe nicht zu sehen und ließ sich wahrscheinlich bereits durch die Farbe selbst erklären. Weil der Spiegel eine der wenigen hellen Partien neben Nathaniels Gesicht und Händen war. Vielleicht hatte Copley für die helleren Töne ja ganz einfach eine andere Ölfarbe benutzt.

Sie beugte sich wieder über das Bild und sah sich die Stirn, die Wangen und das Kinn des Mannes an. Die Risse dort stimmten eindeutig mit den Rissen auf dem übrigen Gemälde überein, und dadurch wurde ihr Verdacht, dass mit dem Spiegel irgendwas nicht stimmte, noch verstärkt.

Abermals zog sie das Mikroskop über den Spiegel und sah ihn sich gründlich an.

Die Veränderung war so unmerklich, dass sie entweder bereits vor langer Zeit oder von einem Experten vorgenommen worden war. Und der Lack an dieser Stelle des Porträts stimmte mit dem Lack auf den übrigen Partien überein. Sie hatte gerade in einem Buch über Copleys Werk gelesen, dass das Walker-Porträt zum letzten Mal vor circa fünfundsiebzig Jahren konserviert und mit frischem Lack versehen worden war. Die Veränderung, die sie entdeckt hatte, musste also noch älter sein.

Sie lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück, starrte vor sich hin und fragte sich, weshalb diese Unstimmigkeit nicht während der letzten Konservierung aufgefallen war. In dem Buch waren Details über den damaligen Zustand des Porträts genannt worden, doch nirgendwo hatte der Autor irgendeine Diskrepanz in der Oberflächenstruktur erwähnt.

Gerard Beauvais hingegen hatte bei der Begutachtung des Bildes irgendwas gesehen.

Er hatte erzählt, die Blankenbakers hätten das Porträt über einen Kamin gehängt. Vielleicht hatten die Temperaturschwankungen, denen es dort ausgesetzt gewesen war, ja die Retouchierung erst enthüllt. Das wäre eine Erklärung dafür, dass sie den Restauratoren vor fünfundsiebzig Jahren nicht aufgefallen war.

Vielleicht hatte ja einfach Copley selbst die Stelle übermalt. Das taten Maler, sogar große Meister, schließlich oft. Wenn ihnen eine Form oder eine Farbe nicht gefiel, wurde sie einfach übertüncht. Und im Verlauf der Zeit, wenn die Farbschicht alterte, wurden diese Veränderungen sichtbar und tauchten als Schatten vor hellem Hintergrund oder als Veränderungen in der Rissstruktur wie auf der Spiegeloberfläche wieder auf.

Vielleicht gab es ja wirklich eine ganz einfache Erklärung, dachte sie und erinnerte sich daran, was Professor Melzer ihnen eingetrichtert hatte: nämlich, dass man nicht sofort an Zebras denken sollte, wenn man irgendwo Hufspuren sah.

Was ein durchaus kluger Ratschlag war. Trotzdem wollte sie verdammt sein, wenn sie nicht skeptisch war.

Sie brachte den gesamten Tag mit der Begutachtung des Bildes zu, ging jeden Quadratzentimeter des Gemäldes durch, suchte nach Stellen, an denen die Farbe flockte oder blätterte, verfärbt oder verblichen war oder sich die Pinselführung änderte, und schrieb sich alles so genau und objektiv wie möglich auf.

Schließlich richtete sie sich, obwohl ihr Rücken von der über das Porträt gebeugten Haltung schmerzte, durch und durch zufrieden auf. Das Gemälde war in einem guten Zustand, und die Überprüfung hatte ihr gezeigt, dass keine aufwendige Restaurierung nötig war. Eine Entfernung des alten Lacks mit anschließender Säuberung und ein Auftrag einer neuen Lackschicht, um die Oberfläche des Gemäldes dauerhaft zu schützen – mehr bräuchte Nathaniel nicht.

Jetzt fühlte sie sich eher in der Lage, diese Arbeit zu bewältigen, und wenn die Dokumentation in ein, zwei Tagen abgeschlossen wäre, finge der Spaß erst richtig an.

Und ihre Vermutung hinsichtlich des Spiegels behielte sie am besten erst einmal für sich. Schließlich war die Chance groß, dass ihr ein Riesenfehler unterlaufen war. Und um einem Menschen zu erklären, dass das Bild, für das er fünf Millionen Dollar ausgegeben hatte, möglicherweise einen Makel hatte, brauchte man auf alle Fälle mehr als einen nur in einer kurzen Inspektion noch vor der Reinigung begründeten Verdacht. Damit wartete man, bis man hundertprozentig sicher und dazu noch mindestens ein halbes Dutzend anderer Fachleute derselben Ansicht war.

Außerdem wäre es sicher klug, vor dem Gespräch möglichst dicke Hockey-Schoner anzuziehen.

Am Samstag drückte Jack den roten Knopf des Telefons und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. Er schloss gerade einen Deal mit Nick Farrell, einem der größten Firmenjäger, ab. Der Typ wollte seinen Anteil an einem internationalen Mischkonzern loswerden, und Jack nähme ihm diesen Anteil gerne ab. Der Konzern besaß verschiedene europäische Funk- und Fiberglasnetzwerke und fügte sich deshalb hervorragend in Jacks private Anteile an internationalen Rundfunk- und Fernsehsendern ein. Farrell würde bei dem Verkauf einen beachtlichen Gewinn erzielen, und er selbst würde zu einem der größten Anbieter von elektronischen Medien und Internet auf dem europäischen Kontinent. Es wäre also für sie beide ein ausgezeichnetes Geschäft.

Nur dass er im Augenblick nichts von dem Triumphgefühl verspürte, das er sonst bei einem guten Kauf empfand. Er lauschte dem Schlagen der Standuhr, die in der Ecke seines Arbeitszimmers stand.

Siebzehn Uhr. Was hieß, dass es nicht zu früh für einen Bourbon war.

Er trat vor die Bar, schenkte sich großzügig von Brandfords Bestem ein und nahm wieder hinter seinem Schreibtisch Platz. Auf dem Weg in seinen Magen brannte ihm der Alkohol im Hals.

Trotz seines Erfolgs war er nervös und auf unbestimmte Weise aggressiv und wusste auch genau, aus welchem Grund.

Als sein Telefon eine Stunde zuvor geklingelt hatte und auf dem Display Blairs Handynummer erschienen war, hatte er gewartet, bis die Mailbox angesprungen war. Das hatte er in letzter Zeit bereits des Öfteren getan und hatte es sich angewöhnt, sie in ihrem Hotel anzurufen, wenn er sicher davon ausgehen konnte, dass sie nicht in ihrem Zimmer war. Der Entschluss, seiner Verlobten zu verschweigen, was zwischen Callie und ihm vorgefallen war, machte ihm mehr zu schaffen als erwartet, doch er wusste, er könnte nicht endlos warten, bis er endlich wieder mit ihr sprach.

Jack hob abermals das Glas an seinen Mund, griff nach seinem Telefon und gab die vertraute Nummer ein.

Blairs Stimme klang ein wenig unterkühlt. »Hallo?«

»Tut mir leid, dass ich deinen Anruf verpasst habe.«

»Endlich. Ich habe ja schon eine halbe Ewigkeit nichts mehr von dir gehört. Warte – hören Sie, Joey, ich brauche diese Lampenfassungen jetzt sofort. Karl will, dass ich ihm diese Suite Ende der Woche zeige. Es ist mir egal, ob Sie die Dinger selbst vergolden müssen. Es kann nicht länger warten.« Sie lachte leise auf. »Tut mir leid, Jack. Hier herrscht augenblicklich das totale Chaos.«

»Dann ist Graves also so fordernd, wie ich gehört habe.« Wiederum hob er sein Glas an seinen Mund.

»Aber nicht unmöglich. Er hat hohe Ansprüche, lässt es einen allerdings auch wissen, wenn man sie erfüllt.«

Jack drehte sich mit seinem Stuhl und blickte aus dem Fenster in den Himmel, aus dem langsam die Farbe wich. »Also, wie stehen die Aktien?«

»Abgesehen davon, dass ich kaum jemals ein Auge zubekomme? Irgendwie werde ich es überstehen – warte eine Sekunde. Nein! Nein, ich will den Samt in Dunkelgrün. Der Brokat ist goldfarben«, rief sie jemandem zu.

»Klingt, als ob du ziemlich beschäftigt wärst.«

»Das bin ich auch«, gab sie mit müder Stimme zu. »Ich wusste von Anfang an, dass die Renovierung des Cosgrove Hotel ein riesiges Projekt würde, aber Graves hat das Datum der geplanten Neueröffnung vorverlegt und deshalb habe ich nur zwei Monate für ein Werk, für das man normalerweise ein Jahr oder länger braucht.«

»Gib mir einfach Bescheid, wenn er dich zu sehr antreibt, dann mache ich ihn platt. Dann starten ein paar Freunde und ich einfach eine feindliche Übernahme seines Unternehmens und setzen ihn auf die Straße, wenn du willst.«

Sie lachte. »Vielen Dank.«

»Wann kommst du nach Hause?«

Nach kurzem Zögern meinte sie: »Ich hatte eigentlich geplant, die nächsten Wochen hierzubleiben. Wir wählen nämlich gerade die Farben und die Stoffe, und ich muss froh sein, wenn ich Karl erwische, damit ich ihm alles zeigen kann. Er hat einen geradezu lächerlich vollen Terminkalender, besteht aber trotzdem darauf, an sämtlichen Entscheidungen beteiligt zu sein. Weshalb er mir eine alte Suite in dem Hotel angeboten hat.«

Jack sagte sich, das Flattern seines Magens rühre von der großen Menge genossenen Bourbons her und nicht von der Erleichterung darüber, dass Blair erst einmal nicht nach Hause kam.

»Klingt vernünftig.«

Aus dem Augenwinkel nahm er eine Bewegung wahr. Artie rannte hinter irgendetwas her, und er fragte sich, wie der Hund aus dem Haus gekommen war.

Als einen Moment später Callie ebenfalls über den Rasen kam, richtete sich Jack in seinem Sessel auf und beugte sich gespannt nach vorn.

»Bist du sicher, dass du nichts dagegen hast?«, fragte Blair. »Schließlich wird es eine Weile dauern, bis wir uns wiedersehen.«

»Nein, das ist okay. Wirklich.«

Artie rannte zurück zu Callie, legte einen Stock zu ihren Füßen ab und drehte sich schwanzwedelnd wieder um. Sie hob den Stock vom Boden auf, streckte ihren Arm nach hinten aus und schleuderte das Holz mit einer kraftvollen, geschmeidigen Bewegung über eine unglaubliche Distanz.

Sofort stürzte Artie wieder los, und während Callie ihm hinterhersah, blies ihr eine Windbö eine Strähne ihrer langen Haare ins Gesicht, und sie stopfte sie lachend in den Kragen des Fleecepullovers, den sie trug. Dann ging sie in die Hocke, und der Hund kam fröhlich wieder auf sie zugerannt.

»Jack?«

Mühsam konzentrierte er sich wieder auf das Telefongespräch. »Ja?«

»Aber zu eurer jährlichen Thanksgiving-Party bin ich auf alle Fälle da. Sie findet doch wohl statt?«

»Natürlich.« Er drückte den Hörer an sein anderes Ohr und durchforstete sein Hirn nach einem Gesprächsthema. Normalerweise fiel ihm, wenn sie miteinander sprachen, immer etwas ein.

»Jack? Bist du sicher, dass es für dich in Ordnung ist, wenn ich hier unten bleibe? Ich könnte auch einfach pendeln, wenn es dich stört.«

Als er versuchte, sie zu beruhigen, schien ihn seine Stimme zu verraten, denn sie wollte von ihm wissen: »Ist bei dir alles in Ordnung, Jack? Ist das Gemälde sicher angekommen?«

»Nathaniel ist wieder in Boston, und zwar in einem Stück.«

»Und ist die Restauratorin auch schon da?«

»Ja.«

»Ich kann es kaum erwarten, sie kennenzulernen. Ich habe Grace gestern gesehen, und sie hat mir erzählt, Callie wäre supernett. He, wusstest du schon, dass Grace einen neuen Lover hat? Sie hatte keine Zeit, um mir Einzelheiten zu erzählen, aber sie sah wirklich glücklich aus. Wir sind ihm schon mal begegnet. In Newport.«

Jack runzelte die Stirn. »Etwa ihr Bodyguard? Mein Gott. Sah nach einem wirklich zähen Burschen aus.«

»Nun, Grace ist auf jeden Fall total in ihn verliebt. Sie hat die ganze Zeit gestrahlt, und ich habe mich unglaublich für sie gefreut.« Dann hielt Blair den Hörer zu und schrie ihren Leuten erneut ein paar Anweisungen zu. »Hör zu, ich muss jetzt Schluss machen. Warum telefonieren wir nicht einfach heute Abend noch einmal?«

»Das wäre wunderbar.«

»Ich liebe dich«, erklärte sie und legte auf.

Auch Jack legte den Hörer fort und starrte ihn reglos an. Das Gespräch war typisch für ihre Unterhaltungen gewesen. Locker, warm.

Unaufgeregt.

Er wandte sich erneut dem Fenster zu und beobachtete Callie und den Hund bei ihrem Spiel.

Im Zusammensein mit Callie war niemals irgendetwas einfach oder ruhig. Er hatte das Gefühl, als müsse er sich ihr Lächeln, ihr Gelächter, ihren Respekt verdienen. Aber wenn die Frau ihm eins ihrer seltenen, breiten Grinsen schenkte, kam er sich gesegnet vor.

Er trank seinen Bourbon aus und trat nochmals vor die Bar.

Es war falsch, sagte er sich. Es war total verkehrt. Er sollte nicht an eine andere denken und zu dem Ergebnis kommen, dass Blair im Vergleich zu ihr furchtbar unaufregend war.

Er füllte sein Glas erneut, kehrte zurück hinter seinen Schreibtisch und verfolgte, wie Callie den Stock aufhob und in Richtung des Hauses schleuderte. Während Artie gut gelaunt über den Rasen sprintete, begegneten sich ihrer beider Blicke durch das Fenster, und als sie erstarrte, hob er kurz die Hand.

Sie winkte zurück, bevor sie weiterging und aus seinem Blickfeld verschwand.

Jack gab sich die größte Mühe, all das in Gedanken aufzuzählen, was ihm an Blair gefiel: die Form ihrer Augen, die Art, wie sie sich kleidete, ihr Stilgefühl, ihre melodiöse Stimme und das leichte Lispeln, das so reizend war.

Er konnte sich nicht daran erinnern, dass je einer von ihnen dem anderen gegenüber laut geworden wäre, was nach all den Spannungen in seiner Familie und all den Konflikten in seinem Berufsleben eine willkommene Abwechslung für ihn gewesen war. Im Zusammensein mit Blair lief immer alles glatt.

Und vielleicht ein bisschen langweilig.

»Jackson«, ertönte die ein wenig barsche Stimme seiner Mutter aus Richtung der Tür. Er drehte sich um und sah, dass sie ihren Nerz und ein Paar eleganter Lederhandschuhe trug. »Ich gehe heute Abend aus. Thomas hat etwas zu essen für dich gemacht.«

»Callie und ich werden es uns schmecken lassen«, antwortete er und schwenkte den Bourbon in seinem Glas.

Seine Mutter presste missbilligend die Lippen aufeinander. »Ich habe Elsie heute die Einladungen für die Thanksgiving-Party verschicken lassen. Ich habe dieselbe Gästeliste wie im letzten Jahr benutzt.«

Obwohl sie beide wussten, dass ihm diese Feier vollkommen egal war, nickte er zustimmend.

»Weißt du, ich würde mir wirklich wünschen, dass du dich ein bisschen mehr für diese Dinge interessieren würdest«, meinte sie und strich über einen ihrer Handschuhe. »Dein Vater war in diesen Angelegenheiten immer äußerst hilfsbereit. Egal, ob es um die Auswahl der Gäste oder des Essens ging. Diese Dinge hat er meisterhaft gemacht.«

Jack sah sie mit einem ironischen Lächeln an. »Dann reicht es also nicht, für das alles zu bezahlen?«

Sie sah von ihrem Handschuh auf. »Also bitte, Jackson, das war wirklich nicht erforderlich.«

»Tut mir leid.« Er rieb sich die Nase und nahm wieder Platz. »Ich hatte einfach einen anstrengenden Tag.«

Er hörte das Klappern ihrer hochhackigen Schuhe auf dem Marmorboden, bis sie auf dem Teppich hinter seinem Schreibtisch stand, doch erst, als er ihre Hand auf seiner Schulter spürte, sah er auf.

»Weißt du, Jack, ich weiß durchaus zu schätzen, wie hart du arbeitest.« Ihr Blick wurde so sanft, wie es ihr möglich war. »Vielleicht war dein Vater blind für all die Dinge, die dir die Familie zu verdanken hat, aber er wusste eben einfach nicht, was es bedeutet, mittellos zu sein. Ich hingegen weiß es ganz genau.«

Dann hatte sie es also nicht vergessen, dachte er. Dann hatte sich seine Mutter, die stets gefasste Illusionistin, also die Erinnerung an einen kleinen Teil ihrer Vergangenheit bewahrt.

Jack griff nach ihrer Hand. Das beständige Bestreben, alle Grenzen, gegen die man stieß, immer weiter auszudehnen, war ihre einzige Gemeinsamkeit. Er hatte seinen Biss und seinen Ehrgeiz eindeutig von ihr geerbt, und dieses Erbe hatte ihm erheblich mehr genützt als das, was ihm von seinem Vater hinterlassen worden war.

Aus Richtung der Tür drang ein leises Räuspern an sein Ohr. »Bitte entschuldigen Sie die Störung, aber ich werde jetzt nach Hause fahren«, meldete sich Elsie ab, schränkte allerdings höflich ein: »Falls Sie nicht noch irgendetwas brauchen.«

Mercedes riss die Hand zurück, machte das gewohnte elegante, undurchdringliche Gesicht und drehte sich zu ihrer Sekretärin um. »Nein, danke. Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend.«

Mit einer leichten Verbeugung zog die Angestellte sich zurück, und auch Jacks Mutter wandte sich zum Gehen.

»Übrigens, du wirst nicht glauben, mit wem ich zu Abend essen werde«, meinte sie auf ihrem Weg zur Tür. »Mit Senator McBride.«

Sie winkte ihrem Sohn zum Abschied zu und verschwand im Flur.

Jack verzog grimmig das Gesicht. Warum traf sich seine Mutter ausgerechnet mit Jim McBride? Er stand auf der Liste der Personen, die sie für das Sondierungskomitee gewinnen wollten, und wenn sich Jack nicht irrte, hatte Grayson deshalb in den letzten Tagen mit ihm telefoniert.

Und wenn seine Mutter die richtigen Fragen stellte, würde Jim bestimmt über seine geplante Kandidatur sprechen.

Wahrscheinlich wäre sie nicht wirklich überrascht. Denn dass er auch einmal in der Politik sein Glück versuchen wollte, hatte sie sich sicher längst gedacht. Schließlich pflegte er seit Jahren den Kontakt zu zahlreichen Abgeordneten des Landesparlaments und hatte diverse einflussreiche Politiker und Lobbyisten hier in seinem Haus zu Gast gehabt. Trotzdem wäre es ihm lieber, wenn seine Mutter nicht schon jetzt Bescheid wüsste.

Denn vor einer offiziellen Bekanntgabe seiner Kandidatur müsste er wissen, wie groß seine Chancen auf das Amt des Gouverneurs von Massachusetts waren. Das fände das Sondierungskomitee heraus, und zwar auf eine vertrauliche, möglichst diskrete Art.

Das Fundament für diesen Wahlkampf müsste er in aller Ruhe legen, und Mercedes war nicht gerade für ihre Zurückhaltung berühmt. Deshalb wollte Jack ihr erst von seinen Absichten erzählen, kurz bevor er die Kandidatur öffentlich bekannt gäbe. Hoffentlich ließe also McBride nicht schon jetzt die Katze aus dem Sack.

Jack lauschte, bis die Haustür hinter seiner Mutter zugefallen war, griff nach seinem Telefon, wählte die Nummer von Gray und legte nach einer kurzen Unterhaltung erleichtert wieder auf.

McBride konnte sich nicht verplappern, weil er noch gar nicht angesprochen worden war.

Gut gelaunt verließ Jack sein Büro und freute sich auf ein Abendessen in Gesellschaft einer attraktiven rothaarigen Frau.