22
Ab achtzehn Uhr traf ein unablässiger Strom von Gästen auf Buona Fortuna ein. Durch das Fenster ihres Schlafzimmers verfolgte Callie, wie die Wagen die Einfahrt heraufgefahren kamen, vor der Haustür hielten und dann von uniformierten Angestellten auf dem Rasen geparkt wurden. Es kam ihr vor wie eine regelrechte Luxusflotte, denn jedes einzelne Gefährt war ein Vermögen wert. Wenn sie sich nicht irrte, tauchten sogar ein, zwei Bentleys in der Menge auf.
All die eleganten Wagen luden sie nicht unbedingt zu einer Teilnahme an dieser Party ein. Wahrscheinlich waren die Leute mindestens so glamourös wie die von ihnen gewählten Transportmittel, und da für sie als geborene Einzelgängerin der Gedanke, sich unter einen Haufen Heuschrecken und Schönheitsköniginnen zu mischen, ebenso erschreckend wie die Vorstellung vom Fegefeuer war, überlegte sie, ob es nicht klüger wäre, wenn sie einfach oben in ihrem Zimmer blieb. Natürlich hätte sie dann wie ein Riesenfeigling dagestanden, aber sie hätte unter Garantie einen deutlich angenehmeren Abend als in Gesellschaft der Bostoner Hautevolee.
Vor allem, da sie alles andere als in Feierlaune war.
Nachdem sie aus ihrem Atelier zurückgekommen war, hatte sie nach Grace gesucht. Doch die Tür des Zimmers ihrer Halbschwester war zu gewesen, und das sinnliche, maskuline Lachen, das durch das dicke Holz gedrungen war, hatte sie abgeschreckt. Also war sie weiter in ihr eigenes Schlafzimmer gegangen, um sich umzuziehen, und hatte sich vorgenommen, das Gespräch mit Grace zu führen, sobald das Fest vorüber war.
Sie blickte auf den schwarzen Rock, in dem sie schon zweimal mit Gray ausgegangen war.
Den Rock, den Jack ihr ausgezogen hatte, als er zum ersten Mal mit ihr im Bett gewesen war.
Noch während sie erwog, ihn zu verbrennen, weil er allzu viele Erinnerungen barg, klopfte es an ihrer Tür, und Grace streckte den Kopf herein. »Bist du fertig? Ross und ich wollen jetzt runtergehen.«
Callie strich die Falten ihres Rockes glatt und quetschte ihre Füße in die einzigen hochhackigen Pumps, die sie besaß.
»Du siehst fantastisch aus«, erklärte sie Grace lächelnd.
Ihre Schwester trug ein trägerloses dunkelrotes Etuikleid und war mit dem dichten blonden Haar, das über ihren Rücken fiel, beinahe zu schön, um wahr zu sein.
»Vielen Dank. Aber du siehst bestimmt nicht schlechter aus als ich. Diese klaren Linien stehen dir einfach gut.« Grace trat ans Fenster, beugte sich ein wenig vor und blickte auf die Wagen vor der Tür. »Früher bin ich mit geradezu religiösem Eifer zu Jacks Thanksgiving-Partys gepilgert, aber in den letzten Jahren hatte ich leider keine Zeit. Es sind jede Menge Leute da, die ich schon seit einer halben Ewigkeit nicht mehr gesehen habe, weshalb es sicher jede Menge zu erzählen geben wird. Außerdem würde ich dich gern mit ein paar durchaus ansprechenden Junggesellen bekannt machen, wenn du nichts dagegen hast.«
Oh nein. Bloß nicht.
Grace drehte sich lächelnd zu ihr um, dann wurde ihre Miene jedoch ernst. »Alles in Ordnung, Callie?«, fragte sie. »Du siehst plötzlich total elend aus.«
Was ja wohl nicht weiter überraschend war.
»Es geht mir gut«, log sie. »Aber ich muss mir dir reden.«
Grace zog ihre perfekt gezupften Augenbrauen hoch und bedachte sie mit einem sorgenvollen Blick. »Ist wirklich alles okay?«
»Nein. Können wir deshalb vielleicht irgendwo ein ruhiges Plätzchen finden, wenn der Abend überstanden ist?«
»Natürlich.« Grace blickte auf Ross, der nicht mit hereingekommen war. »Sollen wir vielleicht jetzt reden?«
»Ich glaube, wir warten besser bis nach dem Fest.« Sie wollte Grace nicht von der Party abhalten und hatte keine Ahnung, wie lange die Unterhaltung dauern würde, deshalb meinte sie nur: »Versprich mir einfach, dass du nach der Feier mit mir sprichst.«
Als sie hinter Grace und Ross ins Erdgeschoss hinunterging, hatte sie das Gefühl, als wären die Sohlen ihrer Schuhe aus Beton. Oder als hätte sie bleierne Unterwäsche an. Ihr Körper war entsetzlich schwer, und je näher sie den vielen Menschen in der Eingangshalle kam, umso stärker klammerte sie sich am Geländer fest. Es gab einen kleinen Stau, während die Gäste ihre Mäntel uniformierten Angestellten überließen, und Callie zuckte zusammen, als sie die Geräusche der Party, das Gelächter und die fröhlichen Gespräche um sich herum vernahm. Es war einfach zu viel Lärm, zu viel Licht, zu viel Parfüm in der bereits stickigen Luft.
Grace wurde von einer Frau in den Arm genommen, woraufhin Callie weiter bis in den Salon lief, und sofort wurde ihr klar, dass ihr ein Fehler unterlaufen war. Weil sie in dem Meer aus Menschen regelrecht versank. Es waren sicher bereits an die hundert Leute in dem Raum, und es drängten noch mehr Gäste aus Richtung der Eingangshalle nach. Sie schob sich durch das Gedränge bis zu einer der entlang den Wänden aufgestellten Theken und bestellte ein Glas Wein. Nicht, weil sie durstig gewesen wäre, sondern weil sie das Bedürfnis hatte, irgendwas zu tun.
Kaum aber hatte man ihr ihren Chardonnay gereicht, als eine Frau in einem auffälligen goldfarbenen Kleid vor ihr erschien und in herablassendem Ton erklärte: »Vielen Dank. Und mein Mann hätte gern einen Martini.«
Die Frau riss Callie das Weinglas aus der Hand, wandte sich wieder an den Mann, mit dem sie sich unterhalten hatte, und Callie rang erbost nach Luft.
Das war’s, sagte sie sich.
Doch bevor sie wieder ging, tippte sie die Frau noch an.
Die drehte sich zu ihr herum und sah dann ihren Begleiter lächelnd an. »Oh, Liebling, da kommt dein Drink.«
»Nein«, erklärte Callie höflich und nahm ihr das Weinglas wieder ab. »Das gehört mir. Falls Sie bedient werden möchten, fragen Sie doch einfach einen der Männer in den Smokings, die mit Tabletts herumlaufen. Sonst stellen Sie sich bitte wie die anderen an der Theke an.«
Als die Frau Luft holte, um etwas zu erwidern, ging Callie einfach davon und stellte in dem Bemühen, wieder zur Treppe zu gelangen, ihr Glas auf einem Tischchen ab. Doch das Gedränge in der Halle hatte tatsächlich noch zugenommen, deshalb zöge sie sich vielleicht besser in den hinteren Teil des Anwesens zurück.
Sie lief an dem fantastischen Büfett im Esszimmer vorbei und entdeckte plötzlich Jack, der in einer Ecke stand. Er war in ein Gespräch vertieft und hatte ihr den Rücken zugewandt.
Plötzlich taub für all den Lärm um sie herum blieb Callie stehen.
Jack trug einen Smoking, der ihm ausgezeichnet stand. Die Jacke brachte seine breiten Schultern vorteilhaft zur Geltung, und sein dunkles Haar hob sich verführerisch vom leuchtenden Weiß des frisch gestärkten Hemdes ab.
Er drehte sich um, um einem Mann die Hand zu schütteln, und sie sah, dass er mit einer Frau mit langem blondem Haar gesprochen hatte, die wie viele andere ein Kleid direkt vom Laufsteg sowie jede Menge kostbaren Geschmeides trug. Jack wandte sich ihr wieder zu, nachdem er mit dem Mann gesprochen hatte, und sie flüsterte ihm irgendwas ins Ohr und strich lächelnd mit der Hand über seinen eingegipsten Arm. Jack lachte, machte jedoch einen Schritt zurück.
Wahrscheinlich war dieses Gespräch, zumindest von Jacks Seite aus, völlig harmlos und bedeutungslos gewesen, aber trotzdem hatte Callie keine Lust, noch länger im Esszimmer zu bleiben und ihm aus der Distanz beim Smalltalk zuzusehen. Von all dem Lärm, den Leuten und noch vielem anderen schwirrte ihr der Kopf. Wenn sie nicht gleich von diesem Fest verschwand, täte sie wahrscheinlich irgendwas Absurdes, wie zum Beispiel dieses Weib am Ellbogen zu packen und entschlossen vor die Tür zu setzen oder so. Weshalb sie so schnell wie möglich in die Küche floh und durch die Hintertür verschwand.
Dankbar für die kalte Luft draußen im Hof, die das Blut nicht mehr so laut in ihren Ohren rauschen ließ, schlang sie sich die Arme um den Bauch und ging in ihr Atelier. Sie hielte es einfach nicht aus, während der Party im Haus zu sein. Sie war einfach kein Teil von dieser Welt und konnte nicht einmal so tun, als gehöre sie hierher. Zumindest heute Abend nicht.
Sie setzte sich müde auf die Couch und nahm auf der Suche nach Nathaniels Geschichte die letzten bisher nicht gelesenen Dokumente aus der Box.
Jack entdeckte Gray im Gedränge des Esszimmers und bat die Leute, mit denen er sich gerade über die Finanzierung von Autobahnen unterhalten hatte, um Entschuldigung. Es waren jede Menge Menschen da, die mit ihm über politische Themen sprechen wollten, denn eindeutig hatte das Gerücht um seine Kandidatur inzwischen die Runde gemacht.
Er hob den Arm über den Kopf, um Grays Aufmerksamkeit zu wecken, und winkte ihn dann zu sich heran.
»Ich bin froh, dass du gekommen bist«, sagte er zu seinem Freund, mit dem er vor einer Platte mit pochiertem Lachs zusammentraf.
»Ich habe gerade mit Senator McBride gesprochen und glaube, dass du dich freuen wirst.« Gray hob sein Glas zu einem Gruß, als ein Kongressabgeordneter den Raum betrat. »Die vorläufigen Berichte des Sondierungskomitees sind durchweg positiv. Du wirst morgen Einzelheiten hören, aber ich kann dir jetzt schon sagen, dass du ein paar wirklich einflussreiche Unterstützer hast und dass schon ganz Massachusetts deinen Namen kennt. Es geht los, Jack. Jetzt geht’s wirklich los.«
»Gut«, meinte er, weil Gray das sicherlich erwartete.
»Das ist mehr als gut. Außerdem habe ich ein paar wirklich interessante Neuigkeiten für dich. Hast du zum Beispiel gewusst, dass Butch Callahan auf seine Vizegouverneurin losgegangen ist, als die Frau ihm letztes Jahr bei den Bauausschreibungen in die Parade gefahren ist? Du weißt schon, die, bei denen die Hälfte der Verträge an seine Familie gegangen ist.«
»Meine Güte. Nein, das ist mir neu.«
»Tja, auch sonst hat bisher niemand was davon gewusst.«
»Und wie hast du es rausgefunden, Gray?«
»Das willst du gar nicht wissen. Aber wie dem auch sei, bedeutet das, dass wir etwas zum Verhandeln haben, wenn …«
»Später.« Jack nickte in Richtung seiner Mutter, die gerade den Raum betreten hatte und entschlossen auf sie zugelaufen kam.
Mit weit ausgestreckten Armen trat Mercedes auf sie zu. »Gray, mein Lieber, wie geht es Ihnen?«
»Mrs Walker, Sie sehen wieder mal bezaubernd aus.«
Als sie sich von seinem Freund auf die Wange küssen ließ, unterzog Jack sie einer objektiven Musterung. Sie sah wirklich gut aus in dem dunkelblauen Kleid und mit dem Saphir- und Diamantcollier um ihren Hals, das ein Hochzeitsgeschenk seiner Großeltern an sie und somit eins der wenigen teuren Stücke war, die sie noch selbst besaß.
»Nun, Gray, wenn ich mich nicht irre, haben Sie und Jack in den letzten Wochen eifrig Pläne geschmiedet und hart gearbeitet. Ich möchte, dass Sie wissen, wie froh ich darüber bin.« Gray machte ein nichtssagendes Geräusch, doch sie hakte sich entschlossen bei ihm ein. »Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie viele Leute hier bereit sind, für meinen Sohn zu stimmen. Am Tag der Entscheidung werden die Wahllokale sicher richtiggehend überrannt.«
Während Gray den gesellschaftlichen Tanz mit seiner Mutter tanzte, sah Jack sich suchend um. Er hatte schon den ganzen Abend Ausschau nach Callie gehalten, sie aber bisher nirgendwo entdeckt. Verdammt, ging sie ihm eventuell absichtlich aus dem Weg? Schließlich hatte er ihr eine Frist gesetzt, und vielleicht spielte sie auf Zeit.
»Jack?«, fragte seine Mutter.
»Was?«
Mercedes stieß ihr öffentliches Lachen aus, das wie ein Windspiel durch die kleine Gruppe wehte, von der sie umgeben war. »Ist das nicht einfach typisch für meinen Sohn? Immer in Gedanken versunken. Aber ihm gehen auch einfach furchtbar viele Dinge durch den Kopf. Wenn Sie uns jetzt bitte entschuldigen würden, bräuchten wir beide einen Augenblick für uns.«
»Ach ja?«
Während sie lächelnd nickte, packte sie ihn schon an seinem gesunden Arm, zog ihn in Richtung Vorratskammer, machte die Tür hinter sich zu und funkelte ihn zornig an.
»Was ist mit dem Bild passiert?«
Obwohl er genau wusste, wovon seine Mutter sprach, sah er sie fragend an. »Was soll damit sein?«
»Sie hat es ruiniert.«
»Und von wem hast du das gehört?«
»Gerard hat mir alles erzählt.«
»Aber so hat er es ganz bestimmt nicht formuliert.«
Mercedes straffte ihre Schultern und nahm ihre königliche Haltung ein. »Jackson, ich verstehe einfach nicht, was diese Frau aus dir gemacht hat. Sie ist in dieses Haus gekommen, hat deine Beziehung zu Blair unterminiert, einem unbezahlbaren Kunstwerk unermesslichen Schaden zugefügt, und trotzdem verteidigst du sie noch?«
»Reg dich ab, Mutter. Grace und ich haben uns das Gemälde heute Nachmittag zusammen mit Callie angesehen. Es ist vollkommen in Ordnung.«
Mercedes wurde starr vor Schreck. »Grace hat die Zerstörung gesehen?«
Er presste die Lippen aufeinander. »Ich möchte eines klarstellen. Das Gemälde ist nicht ruiniert.«
»Aber was ist mit diesem Gesicht? Wem gehört es?«
»Wir haben eine Theorie, und wenn sich herausstellt, dass sie richtig ist, wird dadurch der Wert des Bildes wahrscheinlich sogar noch erhöht.«
Seine Mutter sah ihn aus zugekniffenen Augen an. »Nun …«
Sicher fände sie noch einen anderen Weg, um ihm zu verdeutlichen, dass Callie nicht die Richtige für diesen Job gewesen war, und so zog er abwartend die Augenbrauen hoch.
Stattdessen ging sie das Gespräch plötzlich aus einer völlig anderen Richtung an.
»Und was ist mit der Party im MFA?«, wollte sie von ihm wissen. »Ich dachte, wir würden einen Empfang ausrichten, wenn das Bild seinen Ehrenplatz neben dem Paul Revere bekommt. Ich habe bereits angefangen, Leute einzuladen, aber Gerard behauptet, dass du ihm auf seine Frage nach der Übergabe ausgewichen bist.«
»Falls es einen Empfang zu Ehren des Bildes gibt, dann hier. Denn egal, wie gut mein Vorfahr neben dem Revere aussehen würde, kehrt das Porträt an seinen angestammten Platz über den Kamin zurück.«
»Aber da ist doch schon dein Vater!«
Als hätten sie den Mann und nicht ein Porträt von ihm dort aufgehängt.
»Das Bild hänge ich woanders hin.«
Seine Mutter starrte ihn entgeistert an, doch er warf einen Blick auf seine Uhr. Die perfekte Zeit für das von ihm geplante Telefongespräch.
»Wenn du mich jetzt bitte entschuldigen würdest«, sagte er. »Ich habe noch geschäftlich zu tun.«
Ihm war klar, dass seine Mutter ihn nur gehen ließ, wenn es um seine Arbeit ging. Denn sie hatte ihm schon immer alles, was damit zusammenhing, verziehen. Mercedes dachte beinahe immer nur an eines, wusste er. An Geld.
Aber sie packte seinen Arm und hielt ihn fest. »Ich mache mir große Sorgen um dich.«
»Ich verstehe nicht, warum. Der Gips kommt in ein, zwei Wochen ab.«
»Also bitte.« Sie sah ihn mit vor Zorn funkelnden Augen an. »Ich weiß einfach nicht mehr, was du denkst, Jackson. Doch ich weigere mich, tatenlos mit anzusehen, wie du dein großes Ziel aus den Augen verlierst.«
»Da habe ich aber wirklich Glück«, antwortete er, öffnete die Tür, schob sich eilig durch das Gedränge am Büffet, schloss sich in seinem Arbeitszimmer ein, griff nach einem Zettel, der auf seinem Schreibtisch lag, und schnappte sich das Telefon.
Die Stimme am anderen Ende der Leitung klang etwas gequält.
»Hallo?« Es folgte ein gedämpftes Geräusch und dann: »Nein, nein, Schätzchen, Daddy ist am Telefon.«
Es folgten lautes Heulen und das Knallen einer Tür.
»Bryan McKay?«
»Ja.« Der Mann stieß einen abgrundtiefen Seufzer aus. »Hören Sie, ich möchte weder etwas kaufen noch …«
»Hier spricht Jack Walker.«
Stille und nach einem Augenblick: »Oh mein Gott. Ah … hallo, woher haben Sie meine Privatnummer? Egal, Sie haben sicher Leute, die – oh mein Gott. Was kann ich für Sie tun?«
»Holen Sie erst mal Luft«, riet Jack und lachte, als der Arzt das wirklich tat.
»Dr. McKay, ich werde in Ihr Unternehmen investieren. Ich werde sämtliche in den nächsten drei Jahren anfallenden Kosten, bis hin zu denen für Glühbirnen und Wischmopps, übernehmen.«
Wieder folgte Stille und danach: »Oh mein Gott – oh mein Gott »
Jack lächelte und fühlte sich plötzlich pudelwohl.
»Hören Sie, natürlich müssen wir noch ein paar Einzelheiten klären«, sagte er in geschäftsmäßigem Ton. »Aber ich werde nicht nur in Ihr Unternehmen investieren, sondern Ihnen helfen, den großen Durchbruch zu erzielen. Ihre Familie und ich werden in Zukunft Geschäftspartner sein.«
Als Callie das nächste Blatt Papier aus dem Container zog, fiel es ihr aus der Hand, segelte unter die Couch, und fluchend rutschte sie auf Händen und auf Knien auf dem Fußboden herum und schob ihren Arm in die Dunkelheit.
Schließlich fühlte sie das Papier unter ihren Fingerspitzen, zog es unter der Couch hervor, setzte sich wieder auf und strich das vergilbte, halb zerrissene Blatt vorsichtig glatt.
Dann stockte ihr der Atem, als sie sah, wie alt der Zettel war. Vorsichtig hielt sie die beiden Seiten aneinander, auf denen die verblichene Tinte kaum noch zu erkennen war, beugte sich ins Licht und versuchte zu entziffern, was dort stand.
Lieber
Nathaniel,
erfüllt von größter Trauer muss ich Sie davon in Kenntnis setzen,
dass meine geliebte Tochter Anne das Zeitliche gesegnet hat. Der
Herr hat sie in seiner großen Güte am fünfzehnten September zu sich
heimgeholt. Mein Leid ist grenzenlos und befällt mich sowohl des
Nachts als auch im hellsten Sonnenschein. Unter ihren Dingen habe
ich Ihre Briefe an sie gefunden und sende Sie Ihnen hiermit zurück.
Hätte ich gewusst, was Sie beide füreinander empfinden, hätte mich
der Gedanke an eine Heirat überglücklich gemacht. Ich habe sie mehr
geliebt als alles andere auf Erden, hätte ihr aber gestattet, sich
in Ihre Obhut zu begeben, weil ich weiß, was für ein Ehrenmann Sie
sind. Dass ich Sie beinahe als Sohn hätte bezeichnen dürfen,
verdoppelt meinen Verlust.
Unser Engel ist jetzt bei den anderen.
Ich verbleibe in geteiltem Leid,
Ihr J.J. Rowe
Callie blickte über den Rand des Blatts hinweg auf das Porträt, strich vorsichtig mit den Fingerspitzen über Nathaniels Gesicht und starrte auf das Spiegelbild der jungen Frau, die von ihm geliebt und allzu früh verloren worden war.
Am fünfzehnten September.
Die Schlacht von Concord hatte Anfang September stattgefunden, also hatte Anne ihren Geliebten nur wenige Wochen zuvor gegen Mitternacht versetzt. Aus Angst vor der Reaktion des Vaters hatte sie die letzte Chance, den von ihr geliebten Mann zu sehen, vertan. Und das völlig ohne Grund. Denn wenn stimmte, was der General Nathaniel geschrieben hatte, hätte er nichts gegen die Verbindung der beiden gehabt.
Callie blickte in Nathaniels Augen und schüttelte mitleidig den Kopf.
Großer Gott, was hatte er verloren aus einer Angst heraus, die völlig unnötig gewesen war.
Wahrscheinlich wäre Anne trotzdem kurz darauf gestorben, aber vielleicht hätte er ihr auch bei ihrem Treffen einen Heiratsantrag gemacht, sie irgendwohin mitgenommen, und sie hätte sich nicht mit Typhus angesteckt.
Und wie bitter hatte wohl Anne selber die verpasste Chance bereut? Als sie krank geworden war, war es zu spät gewesen, um Nathaniel zu informieren, weshalb ihr noch nicht einmal ein allerletztes Lebewohl vergönnt gewesen war. Ihr Vater und ihr Liebster hatten fern von ihr gekämpft, und selbst wenn sie nach Nathaniel hätte schicken lassen, hätte ihn die Nachricht aufgrund der erschwerten Kommunikationsbedingungen und der Wirren des Krieges sicher nicht mehr rechtzeitig erreicht. Bestimmt hatte sich die kranke junge Frau schmerzlich nach dem innig geliebten Mann gesehnt.
Callie legte den Brief zur Seite und wanderte an eins der Fenster, von denen aus das Anwesen zu überblicken war. In seiner erleuchteten Pracht sah Buona Fortuna einfach atemberaubend aus. Das Haus, das bei Tageslicht so düster war, wirkte abends, wenn in allen Räumen Lichter funkelten, einfach wunderschön.
Und die Party war in vollem Gang. Durch das Fenster sah sie die Konturen elegant verhüllter Menschen, die durch die Räume schlenderten.
Irgendwo in dieser Menge war auch Jack. Und sie stand wieder mal am Rand und sah von außen zu.
Sie erinnerte sich an den Abend, an dem sie mit ihrer Mutter vor dem großen Haus gestanden hatte, während ihr Vater mit Leuten gefeiert hatte, die für ihn Freunde, für sie aber Fremde gewesen waren, und ihr wurde bewusst, dass sich der Kreislauf ihres Lebens heute Abend schloss.
Nur war es diesmal so, dass sie aus freien Stücken abseits stand. Nichts und niemand hielt sie fern von dem geliebten Mann. Niemand außer ihr selbst.
Wieder dachte sie an Anne auf ihrem Totenbett.
Und an das letzte Mal, als ihr Vater bei der kranken Mutter zu Besuch gewesen war. Sie sah ihre Mutter vor sich, schwach und unfähig zu sprechen, die nur noch ihre Augen hatte bewegen können, als ihr Vater mit vor Gram verzerrter Miene an ihr Bett getreten war. Das, was er gesagt hatte, rief einen harschen Schmerz in Callie wach.
Als sie seine Sätze wieder hörte, wurde ihr bewusst, dass sie nicht nur Grace beschützte, wenn sie ihre Herkunft weiterhin vor aller Welt verbarg. Auch sie selbst versteckte sich vor der grauenhaften Wahrheit, so als ob es sie nicht gäbe, spräche sie den Namen ihres Vaters und die Dinge, die geschehen waren, niemals aus.
Doch sie waren nun einmal geschehen. Es war wirklich so passiert.
Und plötzlich wurde ihr bewusst, dass sie, wenn sie sich ihrer Vergangenheit nicht endlich stellte, ihre Chance vertäte, all das zu bekommen, was sie sich bereits gewünscht hatte, als sie ein Kind gewesen war. Einen Menschen, der sie liebte. Eine eigene richtige Familie. Einen Ort, an dem sie tatsächlich zuhause war.
Sie wusste, was sie tun musste. Es gab nur eine Möglichkeit.
Sie nahm den Brief vom Tisch, steckte ihn vorsichtig ein und ging zurück zum Haus.