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Jack stand vor dem heruntergekommenen sechsstöckigen fahrstuhllosen Gebäude und runzelte die Stirn. Die Eingangstür hing schief im Rahmen, auf der Treppe lagen Flyer eines Chinarestaurants herum, und das ganze Haus sah irgendwie zusammengefallen aus. Er erklomm die fünf steinernen Stufen, beugte sich ein wenig vor und blickte durch das schmutzige Glas der Tür. Eine nackte Glühbirne hing über einer abgetretenen Treppe und dem abgenutzten Fliesenboden des Foyers.

Er trat vor eine Gegensprechanlage mit einer Reihe Knöpfe. Wie nicht anders zu erwarten waren dort keine Namen angebracht, und so betätigte er willkürlich ein paar der Klingeln, war jedoch nicht im Geringsten überrascht, als keine Antwort kam. Schließlich hatte er auch nicht erwartet, dass das Ding tatsächlich ging.

Fluchend trat er wieder einen Schritt zurück und sah noch einmal an dem Haus herauf. Es fiel ihm schwer zu glauben, dass die Frau in einer derart armseligen Bude hausen sollte, deshalb zog er noch einmal den Zettel aus der Tasche, auf dem ihre Adresse stand. Er verglich den Straßennamen und die Hausnummer, die er von Grace bekommen hatte, mit der des Gebäudes, vor dem er gelandet war.

Vielleicht hatte sie hier ja nur ihr Atelier.

Ein kalter Windstoß fegte durch die Straße, und er drehte sich um. Er hatte wiederholt versucht, Ms Burke per Telefon zu kontaktieren, aber nicht mal einen Anrufbeantworter erreicht. Und da er morgen zurück nach Boston fliegen würde, hatte er gedacht, am besten führe er einfach kurz bei ihr vorbei, nur dass er bei dem Versuch anscheinend abermals in einer Sackgasse gelandet war.

Für den Fall, dass wie so vieles andere an dem Haus auch das Schloss am Eingang nicht mehr funktionierte, drückte er gegen die Tür, doch als sie sich nicht öffnen ließ, hatte er endgültig genug.

Er hatte schon genügend Zeit mit dieser Frau vergeudet. Wenn sie derart schwer zu finden war, hatte sie eben Pech. Er zerknüllte das Papier in seiner Hand und wollte kehrtmachen.

In dem Moment bog eine Frau um eine Ecke am Ende des Häuserblocks, und gerade, als er achtlos weitergehen wollte, blitzten ihre roten Haare auf, und er stieß eine weiße Atemwolke aus. Ein Bild aus seinem Traum ließ ihn erstarren. Blasse Hände strichen sanft über seinen Bauch …

Mein Gott, sagte er sich, denk nicht darüber nach.

Er beobachtete, wie sie mit gesenktem Kopf, als wäre sie in Gedanken versunken, zwischen zwei geparkten Wagen auf die Straße trat. Erst als sie mitten auf der Straße war, blickte sie wieder auf, entdeckte seine Limousine und blieb wie vom Donner gerührt stehen.

»Hallo«, rief er und hob die Hand. »Sie sind ganz schön schwer zu finden.«

Sie runzelte die Stirn und sah nach links und rechts.

»Ja, Sie«, erklärte er und sah sie lächelnd an.

Langsam setzte sie sich wieder in Bewegung.

»Was machen Sie hier?«, fragte sie.

Er kniff die Augen zu und unterzog sie einer eingehenden Musterung. Ihre Wangen und ihre Nasenspitze waren von der Kälte leuchtend rot. Ihr Haar, das locker über ihre Schultern fiel, war windzerzaust. Ihre blauen Augen sahen ihn mit unverhohlenem Argwohn an.

Sie war genauso wunderschön wie in seiner Erinnerung, und er fragte sich, ob auch ihr Körper dem entsprach, der ihm im Traum erschienen war. Der unförmige Mantel, den sie trug, verbarg ihre Figur, und Jack war ehrlich überrascht, dass sie ein solches Monstrum trug. Das Ding war alt und schäbig, wie ein abgenutztes, braunes Zelt, und betonte weder die phänomenale Farbe ihres Haars noch ihre hübschen Rundungen.

»Also?«, fragte sie noch einmal. »Warum sind Sie hier?«

Er zog die Augenbrauen hoch. Für gewöhnlich sprachen Leute nicht in einem derart genervten Ton mit ihm.

»Wie ich bereits sagte, hätte ich es gern, dass Sie mein Gemälde konservieren.«

Der kühle Blick, mit dem sie ihn bedachte, war nicht gerade ermutigend, und er machte sich auf lebhafte Verhandlungen gefasst. Was für ihn in Ordnung war. Er liebte einen guten Handel, ganz egal, ob es um ein Geschäft, Aktien oder ein Kunstwerk ging. Je zäher der Kampf, umso süßer die Belohnung, wenn er am Schluss gewann.

Ohne ihn auch nur anzusehen, ging sie an ihm vorbei die Steintreppe hinauf. »Und wie ich bereits sagte, bin ich nicht interessiert.«

»Das zu glauben fällt mir schwer«, erwiderte er scharf. »Schließlich haben Sie das Bild praktisch mit den Augen verschlungen, als Sie es sahen.«

Sie fuhr zu ihm herum, und als er erkannte, dass sie es anscheinend kaum erwarten konnte, bis er endlich wieder ging, hätte er sich beinahe gemütlich auf die Steintreppe gesetzt, um ihr noch eine Weile auf die Nerven zu gehen.

»Ich bin nicht die Richtige für diesen Job.«

»Dann schätzen Sie Ihre Fähigkeiten offenkundig nicht hoch ein.«

»Meine Entscheidung hat nichts mit meinen Fähigkeiten zu tun.« Sie strich sich eine Strähne ihres rotbraunen Haars aus dem Gesicht.

»Sie können es doch kaum erwarten, sich auf dieses Bild zu stürzen. Und ich biete Ihnen die Gelegenheit dazu.«

Sie zog ihre Schlüssel aus der Tasche und wandte sich entschieden von ihm ab. »Ich bin nicht bereit, diesen Auftrag anzunehmen. Vielen Dank.«

Als sie nach der Tür griff, nahm er zwei Stufen auf einmal, legte eine Hand auf ihren Arm, und in dem Augenblick, in dem er sie berührte, wurde Callie starr vor Schreck.

»Lassen Sie mich los. Bitte.«

Da sie ihm nicht in die Augen sah, wurde er neugierig.

»Sagen Sie, was habe ich getan, dass Sie mir so feindlich gesonnen sind?« Er zog seine Hand zurück und sah sie mit einem Lächeln an.

»Sie sind einfach unaufgefordert bei mir aufgetaucht«, gab sie zurück. »Ich habe bereits nein gesagt, und trotzdem sind Sie hier. Aus mir unbekannten Gründen sind Sie offenbar bereit, mich unter Druck zu setzen, damit ich für Sie arbeite. Weshalb sollte ich mich also über Ihr Erscheinen freuen?«

»Sind Sie immer so argwöhnisch?«

»Wenn die Dinge keinen Sinn für mich ergeben, ja.«

»Und weshalb ergibt es für Sie keinen Sinn, dass jemand auf Ihrer Schwelle steht und Ihnen den Auftrag Ihres Lebens anbietet?«

»Weil ich nicht an Wunder glaube.«

»Sind Sie Atheistin?«

»Realistin.«

Jack verzog den Mund zu einem breiten Grinsen. Ihm gefiel ihr Widerstand, vor allem, da er merkte, dass sie nicht mal annähernd so zäh war, wie sie tat. Vielleicht war ihr Gesicht gefasst, doch ihr Blick wanderte unruhig zwischen seinen Augen, seinem Schlips und seinen breiten Schultern hin und her.

»Ich glaube, dass Sie die Arbeit hinbekommen«, meinte er.

»Und warum? Sie müssen wirklich eine gute Menschenkenntnis haben, denn schließlich haben Sie mich bisher nur einmal kurz gesehen.«

»Ich gelte als ziemlich aufgeweckter Kerl.«

Sie legte ihren Kopf ein wenig schräg, als warte sie auf einen Beweis.

»Ich weiß, dass Sie Ihre Ausbildung zur Restauratorin an der New Yorker Uni als Klassenbeste und mit Auszeichnung abgeschlossen haben. Das zeigt, dass Sie an dem Job ehrlich interessiert sind und auch das Zeug dazu haben. Ich weiß, dass Sie Ihren Professoren nicht nur ausnehmend sympathisch waren, sondern dass Sie ihrer Meinung nach auch wirklich talentiert und fleißig sind. Außerdem weiß ich, dass Sie unter Micheline Talbot und Peter Falcheck an einigen ausnehmend komplizierten renommierten Projekten beteiligt gewesen sind.«

Sie blickte wieder Richtung Tür. Ohne Zweifel konnte sie es kaum erwarten, endlich die Schlüssel zu benutzen, die sie in den Händen hielt. »Wie haben Sie all das herausgefunden?«

»Der Leiter Ihrer Abteilung an der Uni hat den Walker-Lehrstuhl in Kunstgeschichte inne und mich deswegen bereitwillig über Sie aufgeklärt.« Er spitzte die Lippen. »Aber wie dem auch sei, habe ich mich mit Ihrem Werdegang befasst, darüber nachgedacht, wie Sie das Gemälde angesehen haben, und bin zu dem Schluss gekommen, dass Ihnen, da Sie noch am Anfang Ihrer Karriere stehen, die Gelegenheit, einmal bei den Großen mitzuspielen, durchaus willkommen ist. Das klingt doch vernünftig, finden Sie nicht auch?«

Abermals fiel ihr die Strähne ins Gesicht, und verärgert schob sie sie zurück.

»Hören Sie, Mr Walker, Ihr Neuerwerb ist ein Werk von großem historischem Wert. Eine falsche Entscheidung oder ein schlecht ausgeführter Arbeitsschritt, und Sie erleiden einen monumentalen Verlust.«

»Angst?«, spottete er milde und lächelte, als er Callie erstarren sah. Er war mehr als bereit, sie bei ihrem Stolz zu packen, falls das für ihn von Vorteil war.

»Natürlich nicht. Aber Sie brauchen jemanden …«

»Wenn Sie qualifiziert, interessiert und fähig sind, kann das nur eines heißen.«

»Was?«

»Dass Sie einen anderen Grund haben, warum Sie mein Angebot ausschlagen. Und ich frage mich, was für ein Grund das ist.«

»Ich mag Sie nicht«, entfuhr es ihr, doch kaum hatte sie die Worte ausgesprochen, wurden ihre Wangen noch röter als zuvor. »Was ich meine, ist …«

Er lachte unbekümmert auf. »Sie kennen mich gar nicht gut genug, um mich nicht zu mögen.«

»Da bin ich mir nicht so sicher«, murmelte sie. »Ich kann Playboys einfach nicht ausstehen.«

Sein Lächeln verflog. »Weshalb glauben Sie, dass ich ein Playboy bin?«

»Ich gelte ebenfalls als ziemlich aufgeweckt«, erklärte sie und reckte herausfordernd das Kinn. »Und lesen kann ich auch.«

Er fand das alles andere als lustig. In letzter Zeit ging es ihm ziemlich auf die Nerven, dass alle Welt auf seiner Vergangenheit herumzureiten schien.

»Aber ich habe nichts getan, um Sie persönlich zu beleidigen, oder?«, fragte er gedehnt. »Ich habe Sie nicht gefragt, ob Sie mit mir schlafen wollen. Habe Sie nicht unzüchtig berührt.«

Sicher, er hatte sich im Traum mit ihr vergnügt. Doch das zählte ja wohl nicht.

Als sie nichts erwiderte, sah er sie mit einem grimmigen Lächeln an. »Vielleicht ist das Problem, dass Sie sich zu mir hingezogen fühlen.«

Sie öffnete empört den Mund. »Das glaube ich eher nicht.«

»Sie meinen, ich soll nicht davon ausgehen, dass Ihre latente Feindseligkeit nur geheuchelt ist?«

Sie schüttelte ungläubig den Kopf. »Wahrscheinlich gehen Sie davon aus, dass sich einfach jede Frau zu Ihnen hingezogen fühlt. Was, wie ich vielleicht hinzufügen darf, eine der typischen Eigenschaften eines Playboys ist.«

Er sah sie durchdringend an. »Nun, da ich weiß, was Sie von mir halten, werde ich Ihnen etwas sagen, worüber Sie ein bisschen nachdenken können, wenn Sie wollen. Ich glaube, Sie suchen nur nach einer Ausrede, um diesen Job nicht anzunehmen, aber es wäre schade, sich aus lauter Angst eine solche Chance entgehen zu lassen, meinen Sie nicht auch?« Er zog eine Visitenkarte aus der Tasche und drückte sie ihr in die Hand. »Das könnte der Anfang einer großen Karriere sein, das ist Ihnen klar. Rufen Sie mich morgen an und geben Sie mir Bescheid, wie Sie sich entschieden haben, ja?«

»Sie kennen meine Antwort schon.«

»Denken Sie noch mal darüber nach.«

»Das habe ich bereits getan.«

»Tja, dann denken Sie eben noch einmal nach«, gab er zurück.

Sie funkelte ihn zornig an und wollte sich eine scharfe Antwort überlegen. Nun, sagte sich Jack, wenn sie noch ein bisschen weiterstreiten wollte, gern.

Aus irgendeinem Grund kam ihm bei ihrem Wortgefecht mit einem Mal Blair in den Sinn. Wenn er sich aufregte, wurde sie immer völlig ruhig und besänftigte ihn mit ihrer Ausgeglichenheit. Diese Frau hingegen setzte sich mit aller Kraft zur Wehr, und ihre Stärke und Entschlossenheit gaben ihm das Gefühl, dass er lebendig war.

Plötzlich fing er an zu grinsen. »Wissen Sie was? Ich mag Sie.«

»Nein, das tun Sie nicht«, erwiderte sie schnell und sah ihn aus vor Schreck geweiteten Augen an.

»Doch, das tue ich.«

Abermals fegte ein Windstoß durch die Straße und wehte ihr die Haare wieder ins Gesicht. Ohne nachzudenken, streckte er die Hand nach der rotbraunen Strähne aus und schob sie sanft hinter ihr Ohr.

Plötzlich verstummte ihr Wortgefecht.

Sie riss den Kopf zurück, allerdings folgte seine Hand der seidig weichen Strähne bis zu ihrer Schulter, und als er ihr in die Augen sah, nahm er darin Angst, doch zugleich noch etwas anderes war. Eine ungeahnte Glut.

Ihm kam der flüchtige Gedanke, dass er größte Vorsicht walten lassen sollte, dann aber öffnete Callie leicht den Mund, und er spürte nur noch das Verlangen, mit dem Daumen oder seinen eigenen Lippen zu ergründen, ob die Unterlippe dieser Frau, die ein wenig voller als die Oberlippe wirkte, tatsächlich so weich wie in seinen Träumen war.

Er hatte sich unbewusst ein wenig vorgebeugt, als wollte er sie küssen.

Eilig trat er wieder einen Schritt zurück, raufte sich das Haar und dachte, dass sie ebenso benommen wirkte, wie er selbst es gerade war.

Er wies erneut auf die Visitenkarte, die sie fest umklammert hielt, und bat sie noch einmal: »Rufen Sie mich morgen an.«

Dann ließ er sie stehen, bevor sie ihm die Karte wiedergeben konnte, und marschierte schnellen Schrittes auf seine Limousine zu.

Sobald er im Fond des Wagens saß, warf er einen letzten Blick auf das halb verfallene Haus. Die Tür fiel gerade hinter ihr ins Schloss, und ihm entfuhr ein lauter Fluch.

Himmel, er hätte sie beinahe geküsst.

Wenn er so weitermachte, käme er in echte Schwierigkeiten. Dabei war er hergekommen, um ihr eine Arbeit anzubieten. Nicht, um seine Verlobte zu hintergehen.

»Los, Franky, wir sind bereits spät dran.«

»Sicher, Mr Walker.«

Lautlos fuhr die Limousine an.

In nur zwanzig Minuten müsste er Blair und ihren neuen Kunden im Theater treffen, und jetzt hatte er noch weniger eine Veranlassung, sich auf den Ballettabend zu freuen. Er saß nicht gern so lange still und hatte kein echtes Interesse an der Tanzerei. Also bliebe ihm in den nächsten beiden Stunden nichts anderes zu tun, als darüber nachzugrübeln, was vor wenigen Minuten vor der Haustür dieser Frau geschehen war.

Er schüttelte den Kopf und sagte sich, er sollte die Geschichte nicht so aufbauschen.

Vor allem, da er das Gefühl hatte, dass er als Sieger aus diesem Gefecht hervorgegangen war. Ganz sicher nähme sie am Schluss den Auftrag an. Denn ihr Ehrgeiz und die Liebe zu dem Bild würden stärker als ihr Argwohn sein. Dann hätte er die Bitte seiner Freundin Grace erfüllt und würde dieser jungen Frau auch noch beruflich auf die Sprünge helfen, auch wenn er nach Ansicht seines Vaters nie ein allzu großer Menschenfreund gewesen war.

Trotz des kurzen Aussetzers eben vor Callies Tür täte er also genau das Richtige.

Jack atmete erleichtert auf, ließ sich entspannt gegen die Lederpolster sinken und sagte sich, sein einziges Problem an diesem Abend wäre, so zu tun, als fände er es interessant, eine Horde Männer in ausgestopften Strumpfhosen über eine Bühne hüpfen zu sehen.

Während Jack Walkers Limousine die Straße hinunterfuhr, stand Callie in der Eingangshalle ihres Hauses und merkte, dass sie zitterte. Sie sagte sich, es würde bestimmt nicht daran liegen, dass ihr der Mann gefiel. Weil das völlig ausgeschlossen war. Menschen zitterten vor Kälte, dachte sie. Genau, das war’s.

Oh, verdammt, wem wollte sie was vormachen?

Sie warf einen Blick auf die Visitenkarte, die ihr von ihm überlassen worden war. Jackson W. Walker, Hauptgeschäftsführer, The Walker Fund. Und unter dem Namen und dem Titel waren eine Bostoner Adresse sowie eine Telefonnummer notiert.

Sogar das Papier war teuer, dachte sie und drehte die steife cremefarbene Pappe hin und her.

Obwohl ihr der Geruch seines Rasierwassers noch in der Nase hing, konnte sie kaum glauben, dass Jack Walker wirklich hier gewesen war. Ebenso wahrscheinlich wäre es gewesen, dass plötzlich Bill Gates vor ihrer Haustür stünde, überlegte sie.

Sie hatte ihren ganzen Mut gebraucht, um auf ihn zuzugehen, weil sie dieser Walker einfach nervös machte. Aber das war sicher vollkommen normal. Denn schließlich bot er ihr die Chance ihres Lebens an. Er war reich und deshalb mächtig, und sie spürte, dass er alles, was er haben wollte, früher oder später auch bekam – selbst wenn er dafür jemand anderen zahlen ließ. Weshalb er das genaue Abbild ihres Vaters war.

Vor allem aber brachte er sie dadurch aus dem Gleichgewicht, dass sie sich in seiner Nähe fühlte, als hätte jemand ein paar Überbrückungskabel an ihren Zehen festgemacht.

Er hatte recht. Sie wollte das Gemälde konservieren. Unbedingt.

Trotzdem war es richtig, wenn sie standhaft blieb. Ihre finanziellen Nöte machten sie verletzlich, und da ihr nur noch ein Wunder helfen konnte, hätte sie gerne geglaubt, dass ihr eines widerfahren war. Nur war der Gedanke, dass der Mann vor ihrer Tür auf sie gewartet und ihr einen derartigen Traumjob angeboten hatte, ganz einfach zu schön, um wirklich wahr zu sein.

Aber vielleicht suchte sie auch nur nach einer Ausrede, um ihn ablehnen zu können. Vielleicht hatte sie tatsächlich etwas Angst davor, allein an einem solchen Bild zu arbeiten. Und vielleicht war die Tatsache, dass ihr der Mann gefiel, nur eine weitere Gefahr.

Mit der Annahme des Auftrags fingen die Probleme wahrscheinlich erst richtig an. Kopfschüttelnd steckte Callie die Visitenkarte in ihre Manteltasche, nahm zwei Mahnungen aus ihrem Briefkasten und ging die sechs Treppen zu ihrem Apartment hinauf. Im Treppenhaus roch es nach dem indischen Essen der Familie im ersten und dem Terpentin des Malers aus dem zweiten Stock, und als sie vor ihrer Wohnung stand, fing der kleine Hund von gegenüber an zu jaulen, und seine Besitzerin, eine zerbrechliche ältere Dame, brachte ihn mit ihrer überraschend harten, durchdringenden Stimme zur Räson.

Callie schloss die Tür, lehnte sich gegen das Holz und hörte das Tropfen der Dusche in ihrem kleinen Bad.

Dann zog sie den Mantel aus, trat vor ihr Bett und blickte auf den Fünfzig-Dollar-Schreibtisch, den sie selbst gestrichen hatte, den bescheidenen Teppichrest, der von der Renovierung von Stanleys Büro übrig geblieben war, und den aus Zementblöcken und einer Holzplatte gebauten kleinen Tisch.

Auf dem seit dem Einbruch nicht mal mehr die altersschwache Glotze stand.

Dann blickte sie auf ihren Schrank und den Hosenanzug von Chanel, der an einer der Türen hing. Die goldenen Knöpfe mit den verschlungenen Cs schimmerten im Licht, und der gesamte Anzug wirkte hier in diesem Loch genauso deplatziert wie Walkers Limousine vor dem Haus.

Der Anzug gehörte Grace. Callie war klitschnass gewesen, als sie ihrer Halbschwester zum ersten Mal begegnet war, und deshalb hatte Grace ihr etwas zum Anziehen geliehen. Sie warf sich rücklings auf ihr Bett und überlegte, dass sich durch einen Verkauf von diesem Ding wahrscheinlich nicht nur ihre bisherigen Mietschulden begleichen ließen, sondern obendrein genügend Kohle übrig bliebe, damit sie auch die nächsten beiden Monate nicht auf der Straße saß.

Schließlich wurde ihr kalt, und sie rollte sich zusammen, zog sich die Decke bis zum Bauch, sah sich noch einmal in ihrer schäbigen Behausung um und hoffte, dass es für ihre Probleme eine Lösung gab.

An der Jack Walker nicht beteiligt war.

Gegen vier Uhr in der Früh entschied sie sich dafür, den Auftrag anzunehmen. Nicht des Geldes wegen, obwohl das natürlich ebenfalls nicht zu verachten war. Das Porträt war einfach wunderbar, und wenn sie die Chance, damit zu arbeiten, aufgrund von Selbstzweifeln oder der übertriebenen Reaktion auf einen Mann ungenutzt verstreichen ließe, würde sie sich das nie verzeihen.

Nachdem sie sich entschlossen hatte zuzusagen, fing sie mit der Planung ihrer Arbeit an. Alleine schaffte sie es sicher nicht, aber glücklicherweise hatte sie noch gute Beziehungen zu ihren Professoren von der Uni, und falls sie Probleme mit der Konservierung hätte, könnte sie zu ihnen gehen. Außerdem ginge sie jede Wette ein, dass sie ihr einen Arbeitsplatz anbieten und sie eins der Mikroskope nutzen lassen würden, wenn sie höflich darum bat. Die Kosten für das Arbeitsmaterial würden von Jack Walker übernommen, das war also kein Problem, denn die Schecks des Mannes waren ganz bestimmt gedeckt.

Was ihn selbst anging, so würde sie ihn hoffentlich nur sehen, wenn er das Gemälde brachte, und dann noch einmal, wenn es fertig war. Vielleicht käme er auch zwischendurch einmal vorbei, um zu sehen, wie es lief. Aber mit so wenigen Begegnungen käme sie sicherlich zurecht.

Plötzlich dachte sie an den verrückten Augenblick zurück, in dem er sich vorgebeugt hatte, als wollte er sie küssen.

Vielleicht wären bereits seltene Begegnungen mit diesem Mann zu viel …

Sie blieb bis zum Sonnenaufgang wach, dachte über all die Dinge, die sie kaufen oder borgen müsste, nach, und nachdem sie endlich einen Weg gefunden hatte, diese Arbeit durchzuführen, wählte sie die Nummer, die auf der Visitenkarte stand, und war überrascht, als sich eine Sekretärin meldete, obwohl Wochenende war.

Sie nannte ihren Namen, woraufhin sie ein freundliches »Oh, gut. Er erwartet Ihren Anruf nämlich schon« hörte.

Dann ertönte klassische, ziemlich bombastische Musik, und Callie schaffte es zu schlucken, auch wenn ihr Mund vollkommen ausgetrocknet war.

»Guten Morgen, Ms Burke.« Walkers weiche, leicht spöttische Stimme rief ein Kribbeln in ihr wach.

»Ich werde es tun.«

Er stieß ein zufriedenes Lachen aus, meinte dann aber in geschäftsmäßigem Ton: »Gut. Dann kommen Sie um zehn ins Plaza, ja?«

Sie runzelte verwirrt die Stirn. »Ich dachte, Sie wären in Boston.«

»Nein, ich bin noch hier. Also, zehn Uhr in meiner Suite?« Als sie zögerte, fügte er trocken hinzu: »Wenn es Sie beruhigt, besorge ich gerne eine Anstandsdame. Und packe vorher auch die Handschellen und die Bondage-Masken weg.«

Sie umklammerte den Hörer etwas fester – »hahaha« –, notierte sich den Namen seiner Suite, legte mit wild klopfendem Herzen wieder auf, griff sich an die Brust, ertastete dort ein paar Knöpfe und blickte an sich herab.

Sie hatte sich gar nicht zum Schlafen umgezogen.

Aber schließlich hatte sie in der vergangenen Nacht auch kaum ein Auge zugetan.

Während sie noch überlegte, ob es wirklich klug gewesen war, den Auftrag anzunehmen, tappte sie ins Bad, drehte die Dusche an und zog sich aus. Die schwarze Hose, die weiße Bluse und der schwarze Pulli, die sie unbeabsichtigt als Schlafanzug verwendet hatte, wirkten ebenso bescheiden wie das andere Zeug in ihrem Schrank.

Sie wünschte sich, sie hätte irgendetwas Schickes, das sie anziehen könnte, wenn sie zu ihm ging. Ein Outfit, das ihr etwas von dem Selbstbewusstsein gäbe, das sie bräuchte, wenn sie diesem Menschen gegenübersäße und so täte, als wäre sie genauso weltgewandt wie er.

Ihr Blick fiel auf den Hosenanzug von Chanel, und lächelnd dachte sie, dass Grace wahrscheinlich nichts dagegen hätte, wenn sie das gute Stück noch einmal anziehen würde.