Epilog
Mon Dieu! Callie, sehen Sie mal auf die Uhr«, durchbrach die Stimme von Gerard Beauvais die Stille in der Werkstatt. »Wenn Sie sich nicht beeilen, kommen Sie zu spät!«
Callie tat wie ihr geheißen und sprang eilig auf. »Oh, nicht schon wieder. Ich habe völlig die Zeit vergessen.«
Panisch fing sie an, diverse Gläser zuzuschrauben und Pinsel fortzuräumen, aber der Kollege bot ihr an: »Lassen Sie mich das machen, ja? Sie müssen wirklich los.«
Sie schnappte sich ihren Mantel und den Rucksack, rannte los und rief Gerard über die Schulter zu: »Wegen des Tintoretto. Wir müssen …«
»Darüber werden wir morgen reden! Gehen Sie!«
Sie rannte zur Treppe, stürzte durch die Hintertür des MFA, joggte über den Parkplatz, zerrte unterwegs die Schlüssel eines silberfarbenen Volvo-Kombi aus der Tasche, schloss den Wagen eilig auf, schwang sich hinter das Lenkrad, bog in die Huntington Avenue und schaltete das Autoradio ein.
»Die Wahllokale haben inzwischen geschlossen, und es wird nur noch ein paar Minuten dauern, bis uns die Ergebnisse der diesjährigen Gouverneurswahl vorliegen. Das heiße Rennen, das sich Amtsinhaber Butch Callahan und Jack Walker geliefert haben …«
Da sie die Spannung nicht ertrug, machte sie das Radio wieder aus. Sie hatte auf dem Weg in Richtung Stadt bereits ein paar gelbe Ampeln überfahren und versuchte, sich ein wenig mehr auf den Verkehr zu konzentrieren. Schließlich wäre es ein Jammer, wenn sie den ersten Wagen, den sie sich je hatte leisten können, an einem Abend wie diesem zu Schrott fahren würde.
Acht Minuten suchte sie nach einem Parkplatz in der Nähe des Bürogebäudes am Rande von Chinatown, kurvte einmal um den Block und stellte ihr Gefährt dann in der Hoffnung, dass sie keinen Strafzettel bekäme, direkt neben einem Müllcontainer ab.
Sie rannte in das Haus, hörte bereits in der Eingangshalle das Geschrei der aufgeregten Menge und marschierte direkt unter einem Schild mit der Aufschrift Jack Walker for Governor hindurch in einen bis zum Rand mit Leuten angefüllten großen Saal.
Am hinteren Ende sah sie eine Bühne, auf der neben einem riesengroßen Fernseher, in dem die Lokalnachrichten liefen, ein Rednerpult mit einem Mikro stand. Auf einer Seite des Podests liefen ein paar Leute hektisch hinter einer Reihe Tische auf und ab. Gray hatte seine Jacke ausgezogen, seine Ärmel hochgerollt und einen seiner Finger in das linke Ohr gestopft, während er abwechselnd in ein Handy und mit Wahlkampfleiter Cookie Sanchez sprach.
Thomas, Nate und Mrs Walker standen etwas abseits des Gedränges, und der arme Thomas sah ein wenig überwältigt aus, während Mrs Walker aufgeregt die Hände rang.
Einzig Nate schien nicht daran zu zweifeln, wie das Rennen ausgehen würde, denn er blickte sich mit einem gut gelaunten Lächeln um.
Und dann sah sie endlich Jack. Wie immer, wenn sie einen Raum betrat und ihn erblickte, stockte ihr der Atem, und vor lauter Stolz auf alles, was er im vergangenen Jahr geleistet hatte, auf die Art, wie er sich präsentiert hatte, auf all das, woran er glaubte, und auch auf die Art, wie er ihr beigestanden hatte, als ihre Vergangenheit bekannt geworden war, schwoll ihr regelrecht die Brust. Es war eine furchtbar anstrengende Zeit für ihn gewesen, angefüllt mit Reisen quer durch Massachusetts, Treffen mit Tausenden von Leuten, der Verfeinerung und der Erläuterung seiner Vision für diesen Staat. Und während des gesamten Jahres hatte er sie grenzenlos geliebt und nach Kräften unterstützt. Noch fünf Minuten vor Beginn der abschließenden Debatte letzte Woche hatte er ihre Hand gehalten und sie angesehen, als gäbe es für ihn nichts anderes auf der Welt.
Und auch jetzt schaute er sich suchend um, als Gray ihn bei der Schulter packte, ihn durchdringend ansah und ihm dann etwas zuraunte, was ihn vollkommen zu verblüffen schien.
Und dann hieß es plötzlich in den Nachrichten: »Jetzt haben wir es offiziell. Jack Walker hat die Wahl zum Gouverneur gewonnen. Der Vorsprung bei der Stimmenauszählung beträgt …«
Callie schrie vor lauter Freude auf, während der Raum zu explodieren schien. Jubelnd fielen sich die Leute in die Arme, und obwohl sie Jack im allgemeinen Durcheinander plötzlich nicht mehr sah, konnte sie sich vorstellen, was für ein Triumph der Wahlsieg für ihn war.
Er hatte gewonnen. Er hatte es tatsächlich geschafft.
Blaue und weiße Luftballons fielen von der Decke, als sie sich mit einem derart breiten Grinsen, dass es beinahe schmerzte, gegen eine Tafel sinken ließ. Aus den Lautsprechern erklang Musik, und dann schoben Gray und Cookie Jack auf das Podest. Er schien sich dagegen zu wehren und sah sich inmitten des losbrechenden Blitzlichtgewitters suchend um.
Doch sobald er oben auf der Bühne stand, senkte sich Stille über den Raum. Alle wollten seine ersten Worte nach dem Wahlsieg hören. Er trat vor das Mikro, aber bevor er zu Wort kam, rief jemand: »Also, Gouverneur, was sagen Sie?«
Lächelnd fragte Jack zurück: »Hat jemand meine Frau gesehen?«, und grinsend sahen sich die Leute um.
»Hier«, rief ein Mann neben ihr und zeigte von oben mit dem Finger auf den wohlbekannten Rotschopf.
Die Menge teilte sich, und als sich Callie in Bewegung setzte, sprang Jack von dem Podest, trat die Luftballons zur Seite und marschierte auf sie zu.
Sie trafen sich mitten im Raum. Er schlang die Arme um sie, woraufhin das Publikum in lauten Beifall ausbrach.
»Ohne dich wäre ich nie so weit gekommen«, raunte er ihr zu.
»Ich bin furchtbar stolz auf dich. Ich wusste die ganze Zeit, dass du es schaffen kannst. Und es tut mir leid, dass ich so spät gekommen bin. Ich …«
»… habe vergessen, auf die Uhr zu sehen?«, beendete er nachsichtig ihren Satz.
Sie nickte und versuchte, nicht zu weinen, weil sie sich derart für ihn freute.
Während die Leute noch immer applaudierten, zog er sie an seine Brust und küsste sie geräuschvoll auf den Mund.
Der Rest der Nacht verging dann wie in einem Rausch. Es gab eine riesengroße Party, von der Jack und Gray jedoch nur wenig hatten, weil es jede Menge Interviewanfragen an sie beide gab, und bis Callie und er endlich durch die Haustür traten, war es schon nach zwei.
Auf dem Weg ins Rote Zimmer schüttelte er ungläubig den Kopf. »Ich schätze, jetzt müssen alle anfangen, mich Gouverneur zu nennen«, meinte er in einem Ton, als wäre er noch immer überrascht.
Callie trat vor ihn, und er sah sie mit dem leicht schiefen Lächeln an, das ihr alleine vorbehalten war.
»Nun, Gouverneur Walker, mir fällt da noch ein anderer Titel für Sie ein«, erklärte sie und legte seine Hand auf ihren Bauch. »Glaubst du, dass du dich auch an die Bezeichnung Dad gewöhnen kannst?«
Er erstarrte, wippte dann aber auf seinen Füßen hin und her. »Callie?«
»Ja?« Sie lachte leise auf, denn er schien vor Rührung dahinzuschmelzen. Verblüffen, Liebe, Freude zeichneten sich gleichzeitig auf seinen für gewöhnlich eher harten Zügen ab.
Als er ihr Gesicht zärtlich umfasste, um ihr einen Kuss zu geben, fragte sie: »Falls es ein Mädchen wird, was hältst du dann von einer kleinen Anne?«