Die Kathedrale von Noyon

Noyon liegt ungefähr eine Meile vom Fluss entfernt auf einer kleinen Ebene, umgeben von bewaldeten Hügeln, und bedeckt eine große Fläche mit seinen Ziegeldächern, die von einer langen rechteckigen Kathedrale mit zwei spitzen Türmen überragt werden. Als wir die Stadt erreichten, schienen die Dächer übereinander den Hügel hinaufzupurzeln, in einer überaus merkwürdigen Unordnung; doch sosehr sie sich auch abmühten, reichten sie doch nicht höher als bis an die Knie der Kathedrale, die aufrecht und feierlich über allem stand. Als die Straßen über dem Marktplatz unterhalb des Hôtel de Ville diesem präsidierenden Genius näher kamen, wurden sie verlassener und ruhiger. Leere Fassaden und geschlossene Fensterläden wandten sich dem großen Gebäude zu, und auf dem weißen Fußweg wuchs Gras. »Ziehe deine Schuhe von deinen Füßen, denn der Ort, auf dem du stehst, ist heiliger Boden.« Das Hôtel du Nord zündet dennoch seine weltlichen Kerzen keinen Steinwurf von der Kirche entfernt an, und wir hatten deren prächtigen Ostflügel jeden Morgen vom Fenster unseres Zimmers aus vor Augen. Selten habe ich den Ostflügel einer Kirche mit größerem Mitgefühl betrachtet. Indem seine drei breiten Terrassen weitflächig auf den Boden stoßen, sieht er aus wie das Achterdeck eines großen alten Kriegsschiffes. Die hohlen Strebepfeiler tragen Vasen, die man für Hecklaternen halten könnte. Die Wölbung im Boden und die Türme, die genau über der Dachspitze erscheinen, lassen das gute Schiff träge über eine atlantische Dünung sich neigen. Jeden Augenblick könnte es sich hundert Fuß weit entfernen, um den nächsten Wellenkamm zu erklimmen. Jeden Moment könnte sich ein Fenster öffnen, ein alter Admiral seinen Dreispitz herausstrecken und seine Beobachtungen machen. Die alten Admirale befahren nicht mehr die Meere; die alten Kriegsschiffe sind allesamt abgewrackt und existieren nur noch auf Gemälden; lange bevor man an jene auch nur dachte, war das hier bereits eine Kirche, ist immer noch eine Kirche und eine wackere Erscheinung an der Oise. Die Kathedrale und der Fluss sind wohl die beiden ältesten Dinge im Umkreis von Meilen, und gewiss haben beide ein eindrucksvolles Alter erreicht.

Der Mesmer führte uns hinauf in die Spitze eines der Türme zu den fünf Glocken, die dort hingen. Von oben bildete die Stadt ein Mosaik aus Dächern und Gärten; der frühere Verlauf der Stadtmauer war deutlich zu erkennen, und der Mesmer zeigte uns weit jenseits der Ebene, in einem Stück leuchtend blauem Himmel zwischen zwei Wolken, die Türme von Château de Coucy.

Ich glaube, große Kirchen werden mir nie langweilig. Sie sind meine bevorzugte Art von Berglandschaft. Die Menschheit erhielt nie eine glücklichere Inspiration als zum Bau einer Kathedrale: Auf den ersten Blick scheint sie aus einem Stück zu bestehen und ist trügerisch wie eine Statue, doch wenn man genauer hinsieht, sind ihre Details so lebendig und interessant wie die eines Waldes. Die Höhe der Türme ist durch Trigonometrie nicht zu fassen; ihr Maß ist lächerlich klein, doch wie groß erscheinen sie dem bewundernden Blick! Und wo es so viele elegante Proportionen gibt, die auseinander hervorgehen und zu einem Ganzen verschmelzen, scheint sich das Ebenmaß selbst zu übertreffen und zu etwas anderem und noch Eindrucksvollerem zu werden. Ich konnte nie ergründen, wie ein Mann den Mut aufbringt, seine Stimme in einer Kathedrale zu erheben und zu predigen. Was könnte er schon sagen, was hier keine Enttäuschung wäre? Obwohl ich eine unendliche Anzahl unterschiedlicher Kanzelreden gehört habe, ist mir noch keine untergekommen, die so ausdrucksvoll wie eine Kathedrale gewesen wäre. Sie selbst ist der beste Prediger und predigt Tag und Nacht; sie kündet nicht nur von der Kunstfertigkeit und dem Menschenstreben vergangener Zeiten, sondern führt eine jede Seele zu inbrünstiger Anteilnahme oder eher dazu, wie alle guten Prediger, selbst zu predigen – letztendlich ist jeder Mensch sein eigener Theologe.

Als ich im Laufe des Nachmittags vor dem Hotel saß, strömte der lieblich grollende Donner der Orgel wie eine Aufforderung aus der Kirche. Da ich das Theater so schätzte, beschloss ich, ein oder zwei Akte des Stückes auszusitzen, doch konnte ich das Wesen der Messe, deren Zeuge ich wurde, nicht ganz begreifen. Als ich eintrat, sangen vier oder fünf Priester und ebenso viele Chorknaben vor dem Hochaltar das Miserere. Da war keine Gemeinde, lediglich ein paar alte Frauen auf Stühlen und alte Männer, die auf dem Steinboden knieten. Nach einer Weile kam in Zweierreihen ein langer Zug junger Mädchen hinter dem Altar hervor, jedes mit einer brennenden Kerze in der Hand, jedes in Schwarz gekleidet, mit weißem Schleier, und begann das Mittelschiff hinunterzugehen; die ersten vier trugen auf einem Tisch die Statue der Jungfrau mit dem Kind. Die Priester und Chorknaben erhoben sich von den Knien und folgten, wobei sie »Ave Maria« sangen. In dieser Aufstellung gingen sie in der Kathedrale im Kreis und kamen zweimal an der Stelle vorbei, wo ich an einer Säule lehnte. Der Priester, der sehr bedeutend schien, war ein seltsamer alter Mann, der seinen Blick gesenkt hielt. Mit bewegten Lippen murmelte er unablässig Gebete; doch als er mich finster ansah, schien es nicht so, als stünde das Gebet an oberster Stelle in seinem Herzen. Zwei andere, die die Bürde des Gesangs auf sich genommen hatten, waren stämmige, grobschlächtige, militärisch aussehende Männer um die vierzig, mit verwegenen, übersättigten Augen; sie sangen recht schwungvoll und trällerten das »Ave Maria« wie ein Kasernenlied. Die kleinen Mädchen waren schüchtern und ernst. Als sie langsam das Seitenschiff hinaufschritten, warfen sie dem Engländer einen kurzen Blick zu; und eine dicke Nonne, die die Aufseherin spielte, brachte ihn durch ihren starren Ausdruck beinahe aus der Fassung. Was die Chorknaben anging, so waren sie von Anfang bis Ende so ungezogen, wie nur Knaben sein können, und störten die Darbietung erbarmungslos mit ihren Mätzchen.

Mir leuchtete der Sinn eines Großteils der Vorgänge durchaus ein. Es wäre auch wirklich schwierig, das Miserere nicht zu verstehen, das ich für die Komposition eines Atheisten halte. Wenn es überhaupt etwas Gutes an sich hat, sich eine Verzagtheit so zu Herzen zu nehmen, dann ist das Miserere die richtige Musik und eine Kathedrale der passende Ort dafür. So weit bin ich einer Meinung mit den Katholiken – ist das nicht eine merkwürdige Bezeichnung für sie? Aber warum in Gottes Namen diese Feiertagschorknaben? Warum diese Priester, die der Gemeinde heimliche Blicke zuwerfen, während sie so tun, als würden sie beten? Warum diese dicke Nonne, die mit ihrer Prozession so grob verfährt und ungehorsame Jungfrauen am Ellbogen schüttelt? Warum dieses Spucken und Schniefen und Vergessen von Noten und die tausendundein Missgeschicke, die die mühsam mit Gesang und Orgelklängen aufgebaute Stimmung stören? In jedem Theater könnten die ehrwürdigen Väter lernen, was man mit ein wenig Kunstfertigkeit zustande bringt und wie notwendig es ist, die Statisten anzuweisen und jeden Stuhl an den rechten Platz zu rücken, um erhabene Gefühle zu erzeugen.

Noch ein weiterer Umstand machte mir zu schaffen. Ich persönlich konnte ein Miserere gut verkraften, da ich in letzter Zeit ausreichend Freiluftübungen absolviert hatte, doch ich wünschte, die alten Leute wären anderswo gewesen. Es war weder die richtige Musik noch die richtige Theologie für Männer und Frauen, die mittlerweile die meisten Übel hinter sich gebracht und sich eine eigene Meinung zum tragischen Teil des Lebens gebildet hatten. Jemand, der reich an Jahren ist, kann für gewöhnlich sein eigenes Miserere fabrizieren, obwohl ich festgestellt habe, dass diese Leute oft Jubilate Deo für ihren alltäglichen Gesang bevorzugen. Im Großen und Ganzen besteht die frommste Übung für Ältere darin, sich ihrer persönlichen Erfahrungen zu erinnern: so viele Freunde gestorben, so viele Hoffnungen enttäuscht, so viele Ausrutscher und Stolperer und trotz allem so viele heitere Tage und so freundliche Vorsehung; aus alldem könnte man sicher eine überaus eloquente Predigt machen.

Letztlich überkam mich eine außerordentlich feierliche Stimmung. Auf der kleinen malerischen Karte unserer langen Flussfahrt, die ich immer noch in meiner Erinnerung bewahre und manchmal entfalte, um mich über ungewöhnliche Eindrücke zu amüsieren, nimmt die Kathedrale von Noyon einen absurd großen Platz ein, fast so groß wie ein Landkreis. Ich sehe dann die Gesichter der Priester vor mir, als stünden sie an meiner Seite, und höre das Ave Maria, ora pro nobis durch die Kirche hallen. Ganz Noyon wird von diesen überragenden Erinnerungen dominiert, und es liegt mir nichts daran, anderes über diesen Ort zu erzählen. Er war bestenfalls eine Ansammlung brauner Dächer, unter denen die Leute überaus anständig und friedlich lebten; doch wenn die Sonne sinkt, fällt der Schatten der Kirche auf sie, und die fünf Glocken, die vom Beginn des Orgelspiels künden, werden in allen Stadtteilen vernommen. Falls ich mich je der Kirche von Rom anschließe, dann nur unter der Bedingung, dass man mich zum Bischof von Noyon an der Oise ernennt.