Origny-Sainte-Benoîte: Ein freier Tag

Der nächste Tag war ein Sonntag, und die Kirchenglocken kamen kaum zur Ruhe; ich kann mich beim besten Willen keines anderen Ortes entsinnen, wo den Gläubigen eine so große Auswahl an Gottesdiensten geboten wurde. Und während die Glocken lustig im Sonnenschein läuteten, war alle Welt mit ihren Hunden zwischen den Rüben- und Rapsfeldern auf der Jagd.

Morgens zogen ein Hausierer und seine Frau im Schritttempo die Straße hinunter und sangen in sehr langsamer, trauriger Melodie »O France, mes amours«. Das lockte jedermann an die Tür, und als unsere Gastwirtin den Mann hereinrief, um ihm den Text abzukaufen, hatte er keine Kopie mehr übrig. Sie war nicht die Erste und auch nicht die Zweite, die von dem Lied ergriffen wurde. Die Liebe der Franzosen zu traurigen patriotischen Liedern seit dem Krieg hat etwas Mitleiderregendes. Ich habe in der Gegend um Fontainebleau einen Förster aus dem Elsass beobachtet, während jemand bei einer Tauffeier »Les malheurs de la France« sang. Er stand vom Tisch auf und zog seinen Sohn mit sich. »Hör hin, hör hin«, sagte er ganz in meiner Nähe und umklammerte die Schultern des Knaben, »und vergiss es nicht mehr, mein Sohn.« Kurz darauf ging er plötzlich hinaus in den Garten, und ich konnte ihn in der Dunkelheit schluchzen hören.

Die Demütigung ihrer Armee und der Verlust von Elsass und Lothringen war für die Duldsamkeit dieses empfindsamen Volks ein herber Schlag, sie sind immer noch wütend, weniger auf Deutschland als auf das Kaiserreich. In welchem anderen Land würde ein patriotisches Lied alle Welt auf die Straße locken? Doch Leid vergrößert die Liebe, und wir werden erst wissen, dass wir Engländer sind, wenn wir Indien verloren haben. Das unabhängige Amerika ist mir noch immer ein Dorn im Auge; ich kann nicht ohne Abscheu an Farmer George denken, und ich habe stärkere Gefühle für mein eigenes Land, wenn ich das Sternenbanner sehe und mich daran erinnere, was aus unserem Empire hätte werden können.

Das kleine Buch des Hausierers, das ich kaufte, war eine eigenartige Sammlung. Seite an Seite mit dem frivolen, derben Unsinn der Pariser Varietés enthielt es viele volkstümliche Stücke, meiner Meinung nach nicht ohne eine gewisse Poesie und erfüllt von der tapferen Unabhängigkeit der ärmeren Klassen Frankreichs. Da konnte man lesen, wie der Holzfäller seine Axt rühmte und der Gärtner sich weigerte, sich seines Spatens zu schämen. Diese Arbeiterpoesie war nicht sehr gut geschrieben, doch die Kraft der Gefühle glich aus, was an Ausdrucksweise schwach und geschwätzig war. Die kriegerischen und patriotischen Stücke hingegen waren allesamt weinerliche, weibische Fabrikate. Der Dichter war durch die Kaudinischen Pässe gegangen; er sang für eine Armee, die mit gesenkten Waffen die Stätte ihres einstigen Ruhms besucht; er sang nicht über den Sieg, sondern über den Tod. In der Sammlung des Hausierers gab es eine Nummer namens »Conscrits Français«, die man zu den wirkungsvollsten Texten gegen den Krieg zählen kann. In der Stimmung, die er erzeugt, wäre es völlig unmöglich, zu kämpfen. Der tapferste Rekrut würde erbleichen, wenn solch ein Liedchen neben ihm am Morgen vor der Schlacht angestimmt würde, ganze Armeen würden bei seiner Melodie ihre Waffen wegwerfen.

Falls Fletcher von Saltoun hinsichtlich des Einflusses von Nationalliedern recht hat, könnte man sagen, Frankreich hat einen schlechten Stand. Doch die Sache wird sich von allein einrenken, ein tüchtiges und tapferes Volk wird es schließlich überdrüssig, über seine Katastrophen Trübsal zu blasen. Paul Déroulède hat bereits ein paar mannhafte Kriegsgedichte geschrieben. Vielleicht rühren sie noch nicht genug die Kriegstrommel, um das Herz eines Mannes höherschlagen zu lassen; ihnen fehlt die lyrische Begeisterung, und das Tempo ist zu langsam, doch sind sie in einem ernsten, ehrenwerten, stoischen Geist geschrieben, was Soldaten in guter Mission mitreißt. Man bekommt das Gefühl, dass Déroulède einiges zuzutrauen ist. Es wäre schön, wenn er seine Landsleute so weit anspornen würde, dass sie ihre Zukunft wieder selbst in die Hand nehmen. Und bis es so weit ist, ist er ein Gegengift für »Französische Rekruten« und andere trübsinnige Verskunst.

Wir hatten die Boote über Nacht in der Obhut eines Mannes gelassen, den wir Carnival nennen wollen. Ich habe seinen Namen nicht richtig verstanden, was für ihn vielleicht gar nicht so schlecht war, weil ich nicht in der Lage bin, ihn der Nachwelt ehrenvoll zu überliefern. Im Laufe des Tages erreichten wir das Grundstück dieses Menschen und trafen eine kleine Abordnung an, die unsere Kanus inspizierte. Da war ein stämmiger Herr, der einiges über den Fluss wusste und sehr erpicht schien, dieses Wissen weiterzugeben. Da war ein sehr eleganter junger Herr in einem schwarzen Rock, der ein paar Brocken Englisch verstand und das Gespräch sogleich auf das Bootsrennen von Oxford und Cambridge lenkte. Und dann waren da noch drei hübsche Mädchen im Alter von fünfzehn bis zwanzig und ein alter Gentleman in Hemdsärmeln, weitgehend zahnlos und mit starkem ländlichem Akzent. Das war wohl die Prominenz von Origny.

Da der Kapitän der Cigarette im Wagenschuppen einige geheimnisvolle Verrichtungen an seiner Takelage vornehmen musste, wurde ich mit dem Aufmarsch allein gelassen. Ich kam mir ganz wie ein Held vor, ob ich nun einer war oder nicht. Die Mädchen erschauderten jedes Mal, wenn von den Gefahren unserer Reise die Rede war. Und ich hielt es für unhöflich, mich nicht nach den Damen zu richten. Mein Missgeschick vom Vortag, auf beiläufige Art erzählt, machte großen Eindruck. Es war genau wie bei Othello, mit nicht weniger als drei Desdemonas und ein paar mitfühlenden Senatoren im Hintergrund. Nie wurde den Kanus mehr oder gewandter geschmeichelt.

»Es sieht aus wie eine Violine«, rief eines der Mädchen verzückt.

»Vielen Dank für diesen Vergleich, Mademoiselle«, sagte ich. »Umso mehr, da es Leute gibt, die mir nachrufen, es sehe wie ein Sarg aus.«

»Oh! Aber es sieht wirklich wie eine Violine aus. Es ist vollendet wie eine Violine«, fuhr sie fort.

»Und ist glattpoliert wie eine Violine«, fügte ein Senator hinzu.

»Man müsste nur noch die Saiten aufziehen«, schloss ein anderer, »und dann dumdiedeldiedum« – er imitierte das Ergebnis mit Begeisterung.

War dies nicht ein anmutiges kleines Lob? Wo diese Leute das Geheimnis ihrer hübschen Reden hernehmen, ist mir ein Rätsel, es sei denn, dahinter steckt nichts anderes als der aufrichtige Wunsch, jemandem eine Freude zu machen. Immerhin ist es in Frankreich keine Schande, etwas auf nette Art zum Ausdruck zu bringen, während es in England einer Rücktrittserklärung an die Gesellschaft gleichkommt, wenn man sich gehoben ausdrückt.

Der alte Herr in Hemdsärmeln schlich in den Schuppen und teilte dem Kapitän der Cigarette ein wenig zusammenhanglos mit, er sei der Vater der drei Mädchen und von vier weiteren: kein schlechter Schnitt für einen Franzosen.

»Sie sind ein glücklicher Mann«, antwortete der Kapitän der Cigarette höflich.

Und der alte Herr, nachdem er offenbar das Gewünschte erhalten hatte, schlich wieder von dannen.

Wir wurden alle sehr gut Freund. Die Mädchen schlugen vor, am nächsten Morgen mit uns aufzubrechen, wenn es uns recht sei! Und, Scherz beiseite, alle wollten unbedingt unsere Abfahrtszeit wissen. Nun, wenn man sein Kanu an ungünstiger Stelle zu Wasser lässt, dann ist eine Menschenmenge nicht wünschenswert, so freundlich sie auch sein mag; und so sagten wir ihnen, nicht vor zwölf, beschlossen aber insgeheim, spätestens um zehn abzufahren.

Gegen Abend gingen wir wieder nach draußen, um ein paar Briefe abzuschicken. Es war kühl und angenehm; das große Dorf war fast verlassen bis auf ein, zwei Bengel, die uns nachgingen, als wären wir eine Zirkustruppe. Die Hügel und Baumwipfel ragten auf allen Seiten in die klare Luft, und die Glocken läuteten zu einer weiteren Messe.

Plötzlich sichteten wir die drei Mädchen mit einer vierten Schwester vor einem Laden auf dem breiten Band der Durchfahrtsstraße. Wir hatten uns vor kurzem wirklich sehr fröhlich unterhalten. Aber welches Benehmen verlangte die Etikette von Origny? Wären wir auf einer Landstraße unterwegs gewesen, hätten wir sie natürlich angesprochen, doch hier, unter den Augen sämtlicher Klatschbasen, durften wir uns vielleicht nicht einmal eine Verbeugung erlauben. Ich suchte Rat beim Kapitän der Cigarette.

»Sieh mal«, sagte er.

Ich sah hin. Die vier Mädchen standen noch an Ort und Stelle, man kehrte uns, sehr aufrecht und selbstbewusst, vier Rücken zu. Hauptmann Sittsamkeit hatte Befehl erteilt, und der disziplinierte Vorposten hatte im Gleichschritt kehrtgemacht. Sie verharrten in dieser Formation, solange wir in Sichtweite waren, doch hörten wir sie miteinander tuscheln, und das Mädchen, das wir noch nicht getroffen hatten, lachte mit offenem Mund und warf sogar einen Blick über die Schulter auf den Feind. Ich frage mich, ob das wirklich Sittsamkeit gewesen ist. Oder zum Teil eine Art ländliche Provokation?

Als wir zum Gasthof zurückkehrten, sahen wir etwas auf dem Feld des goldenen Abendhimmels schweben, über den Kalkklippen und den Bäumen, die auf deren Gipfeln wuchsen. Es war zu hoch, zu groß und zu unbeweglich, um ein Papierdrachen zu sein, und zu dunkel, als dass es sich um einen Stern hätte handeln können. Denn auch wenn ein Stern so schwarz wie Tinte und so uneben wie eine Walnuss ist, erfüllt die Sonne den Himmel mit so viel Leuchtkraft, dass er für uns wie ein Lichtpunkt ausgesehen hätte. Das Dorf wimmelte von Leuten mit nach oben gereckten Köpfen, und Kinder tummelten sich die Straße und den Weg hoch, der auf den Hügel führte, wo wir sie immer noch in vereinzelten Grüppchen rennen sahen. Es war ein Ballon, erfuhren wir, der Saint-Quentin um halb sechs am Abend verlassen hatte. Die Mehrheit der Erwachsenen nahm das Ereignis überaus gelassen hin. Doch wir waren Engländer und rannten bald mit den Schnellsten den Hügel nach oben. Da wir selbst in bescheidenem Maße Reisende waren, wären wir überglücklich gewesen, diese Reisenden landen zu sehen.

Das Spektakel war vorbei, als wir den Gipfel des Hügels erreichten. Alles Gold war vom Himmel gewichen und der Ballon verschwunden. Wohin ist er geflogen?, fragte ich mich. Ist er in den siebten Himmel aufgestiegen? Oder irgendwo in jener blauen hügligen Ferne gelandet, in die die Straße eintaucht und mit der sie vor unseren Augen verschmilzt? Wahrscheinlich wärmten sich die Luftschiffer bereits am Kamin eines Bauernhofs, denn man sagt, es sei kalt in jenen unwirtlichen Himmelsregionen. Die Nacht brach rasch herein. Die Bäume am Straßenrand und die enttäuschten Schaulustigen, die über die Wiesen heimkehrten, hoben sich schwarz vor einem niedrigen roten Sonnenuntergang ab. In die andere Richtung zu schauen war erfreulicher, und so gingen wir den Hügel hinunter, während der Vollmond, der die Farbe einer Melone hatte, hoch über dem bewaldeten Tal hing und die weißen Klippen hinter uns von den Feuern der Kalköfen schwach gerötet wurden.

Lampen wurden angezündet und Salate zubereitet in Origny-Sainte-Benoîte am Fluss.