In Landrecies

In Landrecies regnete und stürmte es immer noch, doch fanden wir ein Zweibettzimmer mit reichlich Möbeln, echten Wasserkrügen mit echtem Wasser und eine Mahlzeit: eine echte Mahlzeit, der es an echtem Wein nicht mangelte. Nachdem wir eine Nacht lang Hausierer und den ganzen darauffolgenden Tag Zielscheibe für die Naturgewalten gewesen waren, wärmten diese bequemen Bedingungen mein Herz wie Sonnenschein. Am Tisch saß ein englischer Obsthändler, der mit einem belgischen Kollegen reiste. Abends im café sahen wir zu, wie unser Landsmann eine Menge Geld für ein Glas Wein nach dem anderen ausgab. Ich weiß nicht warum, aber das freute uns.

Es stellte sich heraus, dass wir mehr von Landrecies zu sehen bekommen sollten, als wir erwartet hatten, denn das Wetter am nächsten Tag war einfach irrsinnig. Es ist nicht gerade ein Ort, den man sich für einen Ruhetag ausgesucht hätte, denn er besteht hauptsächlich aus Befestigungsanlagen. Hinter den Wehrmauern versuchen sich ein paar Häuserblocks, eine lange Reihe Kasernen und eine Kirche, mit welchem Erfolg auch immer, als Stadt zu präsentieren. Es scheint keinen Handel zu geben; ein Ladenbesitzer, dem ich ein billiges Feuerzeug abkaufte, war so gerührt, dass er mir die Taschen gratis mit Ersatzfeuersteinen füllte. Die einzigen öffentlichen Gebäude, die uns interessierten, waren das Hotel und das café. Aber wir besichtigten die Kirche. Dort ruht Marshal Clarke. Und da keiner von uns je von diesem Kriegshelden gehört hatte, ertrugen wir die Assoziationen, die dieser Ort wachrief, mit Fassung.

In allen Garnisonsstädten erzeugen Wachsignale und réveilles und dergleichen eine nette romantische Unterbrechung der zivilen Alltagsgeschäfte. Hörner und Trommeln und Querpfeifen sind, schon für sich genommen, die wundervollsten Dinger auf Erden; und wenn sie an Armeen im Gleichschritt und die malerischen Wechselfälle des Krieges erinnern, dann wecken sie etwas wie Stolz im Herzen. Doch in einer Geisterstadt wie Landrecies, in der sich sonst kaum etwas regt, sorgen diese Armeeposten regelrecht für Wirbel. Tatsächlich waren sie das einzig Erinnerungswürdige. Es war genau der richtige Ort, um nachts im Dunkeln dem Rundgang zu lauschen, dem festen Tritt marschierender Männer und dem erschreckenden Widerhall der Trommel. Es erinnerte daran, dass sogar dieser Ort ein Punkt im großen Kriegführungsnetz Europas ist und eines fernen Tages von Kanonenrauch und -donner umringt sein und sich einen Namen unter den befestigten Städten machen könnte.

Auf jeden Fall steht die Trommel wegen ihres martialischen Klangs und ihrer bemerkenswerten physiologischen Wirkung, ja sogar wegen ihrer klobigen und komischen Form einzig unter den lärmerzeugenden Instrumenten da. Und falls es stimmt, was ich gehört habe, dass Trommeln mit Eselfell bespannt sind, welch malerische Ironie ergäbe sich daraus! Als sei die Haut dieses duldsamen Tiers nicht zu Lebzeiten genug geschunden worden, mal von Gemüsehändlern aus Lyon, mal von überheblichen hebräischen Propheten, muss sie ihm nach dem Tod auch noch von den armen Hintervierteln abgezogen, auf eine Trommel gespannt und Nacht für Nacht durch die Straßen jeder Garnisonsstadt Europas geschlagen werden. Auf den Anhöhen von Alma und Spichern und wo immer die rote Flagge des Todes weht und dieser seinen eigenen kraftvollen Schlag zum Kanonendonner ertönen lässt, muss es auch einen Trommelknaben geben, der mit bleichem Gesicht über die gefallenen Kameraden hinwegeilt und dieses Stück Fell von den Lenden des friedlichen Esels traktiert und bearbeitet.

Im Allgemeinen gibt es keine nutzlosere Beschäftigung, als auf Eselhaut einzutrommeln. Wir wissen um die Wirkung am lebendigen Tier und dass unser träger Esel seine Schritte nicht durch Schläge beschleunigt. Doch in diesem mumifizierten und melancholischen Daseinszustand, wenn die leblose Haut unter dem Schlag des Trommlers erbebt und jedes Rumtabum direkt ins Herz eines Mannes dringt, wo es Wahnsinn und jenes Pochen des Blutes auslöst, dem wir großmäulig den Spitznamen Heldenmut geben – wird da an den Eselschindern nicht eine Art Rache verübt? »Einst«, könnte das Grautier sagen, »hast du mich über Berg und Tal getrieben, und ich musste es dulden. Doch nun, da ich tot bin, ist aus diesen dumpfen Klopfern, die auf den Landstraßen kaum hörbar waren, eine aufwühlende Musik an der Spitze der Brigade geworden. Für jeden Hieb, den du meinem alten Kittel versetzt, wirst du einen Kameraden stolpern und fallen sehen.«

Nicht lange nachdem die Trommeln am café vorüber waren, begannen die Kapitäne der Cigarette und Arethusa müde zu werden und brachen auf zum Hotel, das nur ein oder zwei Häuser weiter lag. Obwohl wir Landrecies ein wenig gleichgültig begegneten, war Landrecies uns gegenüber keineswegs gleichgültig. Wir erfuhren, dass den ganzen Tag lang zwischen den Sturmböen Leute herbeigelaufen waren, um unsere Boote zu besichtigen. Hunderte Personen, so sagte man uns, obwohl dies nicht so ganz zu unserem Bild von der Stadt passte – Hunderte Leute hätten sie in dem Kohlenlager inspiziert, in dem wir sie untergebracht hatten. Wir wurden Berühmtheiten in Landrecies, während wir in der Nacht zuvor noch Hausierer in Pont gewesen waren.

Und dann, als wir das café verließen, wurden wir von keinem Geringeren als dem Juge de Paix verfolgt und an der Hoteltür eingeholt: einem Funktionär, der, soweit ich dies feststellen konnte, etwa den Rang eines schottischen Hilfssheriffs innehatte. Er reichte uns seine Karte und lud uns auf der Stelle zum Essen ein, sehr freundlich, sehr würdevoll, so wie Franzosen solche Dinge handhaben. Zu Ehren von Landrecies, sagte er; und obwohl wir sehr wohl wussten, wie wenig Ehre wir diesem Ort machen konnten, wäre es doch flegelhaft gewesen, eine derart höflich vorgebrachte Einladung abzulehnen.

Das Haus des Richters war ganz in der Nähe. Es war eine schön eingerichtete Junggesellenwohnung mit einer kuriosen Sammlung alter Wärmepfannen aus Messing an den Wänden. Einige waren überaus kunstvoll verziert. Für einen Sammler schien es eine malerische Idee. Man musste einfach daran denken, wie viele Nachtmützen vergangener Generationen über diesen Wärmepfannen hin und her gewedelt worden waren, was für Scherze man gemacht und Küsse entgegengenommen hatte, als sie ihren Dienst taten, und wie oft sie nutzlos in Sterbebetten Einzug gehalten hatten. Wenn sie nur sprechen könnten – bei welchen absurden, unschicklichen und tragischen Szenen sie wohl Zeuge gewesen sind!

Der Wein war ausgezeichnet. Als wir dem Richter bezüglich der Flasche Komplimente machten, sagte er: »Ich werde Ihnen nicht meine schlechteste öffnen.« Ich frage mich, wann die Engländer diesen gastfreundlichen Charme beherrschen werden. Es lohnt sich, ihn zu erlernen. Er hebt sich vom Alltag ab und macht aus gewöhnlichen Augenblicken etwas Besonderes.

Es waren zwei weitere Personen aus Landrecies anwesend. Einer war Sammler von diesem oder jenem, ich habe vergessen, wovon. Der andere, sagte man uns, war der Chefnotar des Ortes. So erfuhren wir, dass wir alle mehr oder weniger dem Gesetz folgten. Unter diesen Umständen musste sich das Gespräch geradezu fachlichen Themen zuwenden. Der Kapitän der Cigarette dozierte gekonnt akademisch über die Armengesetzgebung. Und kurz darauf fand ich mich bemüßigt, Erläuterungen über das schottische Gesetz zu unehelichen Geburten abzugeben, von welchem ich glücklicherweise keine Ahnung habe. Der Sammler und der Notar, die beide verheiratet waren, beschuldigten den Richter, einen Junggesellen, das Thema aufgegriffen zu haben. Er wies die Anschuldigung mit einer überzeugten, zufriedenen Miene zurück, die ich schon bei vielen Männern beobachtet habe, gleich ob Engländer oder Franzosen. Wie seltsam, dass wir uns alle, in unseren unbedachten Momenten, gern ein klein wenig als schurkische Frauenhelden ansehen lassen!

Als der Abend verstrich, wurde der Wein immer besser. Die Stimmung erwies sich als dem Wein überlegen, die Gesellschaft war geistreich. Während der ganzen Reise erreichten wir keinen höheren Grad an allgemeiner Beliebtheit. Immerhin waren wir im Haus eines Richters zu Besuch, hatte diese Ehrung da nicht beinahe etwas Offizielles? Und so wurden wir der Gastfreundschaft voll und ganz gerecht, indem wir daran erinnerten, was für ein großes Land Frankreich ist. Landrecies lag seit langem im Tiefschlaf, als wir zum Hotel zurückkehrten und die Wachen auf den Stadtmauern schon nach dem Tagesanbruch Ausschau hielten.