Reisebilder.
Dritter Teil

Erstdruck 1830.

Reise von München nach Genua

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Ein edles Gemüt kommt nie in eure Rechnung; und daran scheitert heute eure Weisheit. (Er öffnet seinen Schreibtisch, nimmt zwei Pistolen heraus, wovon er das eine auf den Tisch legt und das andre ladet.)

Roberts »Macht der Verhältnisse«

Kapitel I

Ich bin der höflichste Mensch von der Welt. Ich tue mir was darauf zugute, niemals grob gewesen zu sein auf dieser Erde, wo es so viele unerträgliche Schlingel gibt, die sich zu einem hinsetzen und ihre Leiden erzählen oder gar ihre Verse deklamieren; mit wahrhaft christlicher Geduld habe ich immer solche Misere ruhig angehört, ohne nur durch eine Miene zu verraten, wie sehr sich meine Seele ennuyierte. Gleich einem büßenden Brahminen, der seinen Leib dem Ungeziefer preisgibt, damit auch diese Gottesgeschöpfe sich sättigen, habe ich dem fatalsten Menschengeschmeiß oft tagelang standgehalten und ruhig zugehört, und meine inneren Seufzer vernahm nur ER, der die Tugend belohnt.

Aber auch die Lebensklugheit gebietet uns, höflich zu sein und nicht verdrießlich zu schweigen oder gar Verdrießliches zu erwidern, wenn irgendein schwammiger Kommerzienrat oder dürrer Käsekrämer sich zu uns setzt und ein allgemein europäisches Gespräch anfängt mit den Worten: »Es ist heute eine schöne Witterung.« Man kann nicht wissen, wie man mit einem solchen Philister wieder zusammentrifft, und er kann es uns dann bitter eintränken, daß wir nicht höflich geantwortet: »Die Witterung ist sehr schön.« Es kann sich sogar fügen, lieber Leser, daß du zu Kassel an der Table d’hôte neben besagtem Philister zu sitzen kömmst, und zwar an seine linke Seite, und er ist just der Mann, der die Schüssel mit braunen Karpfen vor sich stehen hat und lustig austeilt; – hat er nun eine alte Pike auf dich, dann reicht er die Teller immer rechts herum, so daß auch nicht das kleinste Schwanzstückchen für dich übrigbleibt. Denn ach! Du bist just der dreizehnte bei Tisch, welches immer bedenklich ist, wenn man links neben dem Trancheur sitzt und die Teller rechts herumgereicht werden. Und keine Karpfen bekommen ist ein großes Übel, nächst dem Verlust der Nationalkokarde vielleicht das größte. Der Philister, der dir dieses Übel bereitet, verhöhnt dich noch obendrein und offeriert dir die Lorbeeren, die in der braunen Sauce liegengeblieben; – ach! was helfen einem alle Lorbeeren, wenn keine Karpfen dabei sind! – und der Philister blinzelt dann mit den Äuglein und kichert und lispelt: »Es ist heute eine schöne Witterung.«

Ach, liebe Seele, es kann sich sogar fügen, daß du auf irgendeinem Kirchhofe neben diesem selben Philister zu liegen kömmst, und hörst du dann am Jüngsten Tage die Posaune erschallen und sagst zu deinem Nachbar: »Guter Freund, reichen Sie mir gefälligst die Hand, damit ich aufstehen kann, das linke Bein ist mir eingeschlafen von dem verdammt langen Liegen!«, dann bemerkst du plötzlich das wohlbekannte Philisterlächeln und hörst die höhnische Stimme: »Es ist heute eine schöne Witterung.«

Kapitel II

»Es ist heute eine scheene Witterung –«

Hättest du, lieber Leser, den Ton gehört, den unübertrefflichen Fistelbaß, womit diese Worte gesprochen wurden, und sahest du gar den Sprecher selbst, das erzprosaische Witwenkassengesicht, die stockgescheuten Äuglein, die aufgestülpt pfiffige Forschungsnase, so erkanntest du gleich, diese Blume ist keinem gewöhnlichen Sande entsprossen, und diese Töne sind die Sprache Charlottenburgs, wo man das Berlinische noch besser spricht als in Berlin selbst.

Ich bin der höflichste Mensch von der Welt und esse gern braune Karpfen und glaube zuweilen an Auferstehung, und ich antwortete: »In der Tat, die Witterung ist sehr scheene.«

Als der Sohn der Spree dermaßen geentert, ging er erst recht derb auf mich ein, und ich konnte mich nimmermehr losreißen von seinen Fragen und Selbstbeantwortungen und absonderlich von seinen Parallelen zwischen Berlin und München, dem neuen Athen, dem er kein gutes Haar ließ.

Ich aber nahm das neue Athen sehr in Schutz, wie ich denn immer den Ort zu loben pflege, wo ich mich eben befinde. Daß solches diesmal auf Kosten Berlins geschah, das wirst du mir gern verzeihen, lieber Leser, wenn ich dir unterderhand gestehe, dergleichen geschieht zumeist aus purer Politik; denn ich weiß, sobald ich anfange, meine guten Berliner zu loben, so hat mein Ruhm bei ihnen ein Ende, und sie zucken die Achsel und flüstern einander zu: »Der Mensch wird sehr seicht, uns sogar lobt er.« Keine Stadt hat nämlich weniger Lokalpatriotismus als Berlin. Tausend miserable Schriftsteller haben Berlin schon in Prosa und Versen gefeiert, und es hat in Berlin kein Hahn danach gekräht, und kein Huhn ist ihnen dafür gekocht worden, und man hat sie Unter den Linden immer noch für miserable Poeten gehalten, nach wie vor. Dagegen hat man ebensowenig Notiz davon genommen, wenn irgendein Afterpoet etwa in Parabasen auf Berlin losschalt. Wage es aber mal jemand, gegen Polkwitz, Innsbruck, Schilda, Posen, Krähwinkel und andre Hauptstädte etwas Anzügliches zu schreiben! Wie würde sich der respektive Patriotismus dort regen! Der Grund davon ist: Berlin ist gar keine Stadt, sondern Berlin gibt bloß den Ort dazu her, wo sich eine Menge Menschen, und zwar darunter viele Menschen von Geist, versammeln, denen der Ort ganz gleichgültig ist; diese bilden das geistige Berlin. Der durchreisende Fremde sieht nur die langgestreckten, uniformen Häuser, die langen, breiten Straßen, die nach der Schnur und meistens nach dem Eigenwillen eines einzelnen gebaut sind und keine Kunde geben von der Denkweise der Menge. Nur Sonntagskinder vermögen etwas von der Privatgesinnung der Einwohner zu erraten, wenn sie die langen Häuserreihen betrachten, die sich, wie die Menschen selbst, voneinander fernzuhalten streben, erstarrend im gegenseitigen Groll. Nur einmal, in einer Mondnacht, als ich etwas spät von Lutter und Wegener heimkehrte, sah ich, wie jene harte Stimmung sich in milde Wehmut aufgelöst hatte, wie die Häuser, die einander so feindlich gegenübergestanden, sich gerührt baufällig christlich anblickten und sich versöhnt in die Arme stürzen wollten, so daß ich armer Mensch, der in der Mitte der Straße ging, zerquetscht zu werden fürchtete. Manche werden diese Furcht lächerlich finden, und auch ich lächelte darüber, als ich, nüchternen Blicks, den andern Morgen durch eben jene Straßen wanderte und sich die Häuser wieder so prosaisch entgegengähnten. Es sind wahrlich mehrere Flaschen Poesie dazu nötig, wenn man in Berlin etwas anderes sehen will als tote Häuser und Berliner. Hier ist es schwer, Geister zu sehen. Die Stadt enthält sowenig Altertümlichkeit und ist so neu; und doch ist dieses Neue schon so alt, so welk und abgestorben. Denn sie ist größtenteils, wie gesagt, nicht aus der Gesinnung der Masse, sondern einzelner entstanden. Der große Fritz ist wohl unter diesen wenigen der vorzüglichste; was er vorfand, war nur feste Unterlage, erst von ihm erhielt die Stadt ihren eigentlichen Charakter, und wäre seit seinem Tode nichts mehr daran gebaut worden, so bliebe ein historisches Denkmal von dem Geiste jenes prosaisch wundersamen Helden, der die raffinierte Geschmacklosigkeit und blühende Verstandesfreiheit, das Seichte und das Tüchtige seiner Zeit, recht deutsch-tapfer in sich ausgebildet hatte. Potsdam z.B. erscheint uns als ein solches Denkmal, durch seine öden Straßen wandern wir wie durch die hinterlassenen Schriftwerke des Philosophen von Sanssouci, es gehört zu dessen œuvres posthumes, und obgleich es jetzt nur steinernes Makulatur ist und des Lächerlichen genug enthält, so betrachten wir es doch mit ernstem Interesse und unterdrücken hie und da eine aufsteigende Lachlust, als fürchteten wir, plötzlich einen Schlag auf den Rücken zu bekommen, wie von dem spanischen Röhrchen des Alten Fritz. Solche Furcht aber befällt uns nimmermehr in Berlin, da fühlen wir, daß der Alte Fritz und sein spanisches Röhrchen keine Macht mehr üben; denn sonst würde aus den alten, aufgeklärten Fenstern der gesunden Vernunftstadt nicht so manch krankes Obskurantengesicht herausglotzen, und so manch dummes, abergläubisches Gebäude würde sich nicht unter die alten skeptisch philosophischen Häuser eingesiedelt haben. Ich will nicht mißverstanden sein und bemerke ausdrücklich, ich stichle hier keinesweges auf die neue Werdersche Kirche, jenen gotischen Dom in verjüngtem Maßstabe, der nur aus Ironie zwischen die modernen Gebäude hingestellt ist, um allegorisch zu zeigen, wie läppisch und albern es erscheinen würde, wenn man alte, längst untergegangene Institutionen des Mittelalters wieder neu aufrichten wollte, unter den neuen Bildungen einer neuen Zeit.

Das oben Angedeutete gilt bloß von Berlins äußerlicher Erscheinung, und wollte man in dieser Beziehung München damit vergleichen, so könnte man mit Recht behaupten, letzteres bilde ganz den Gegensatz von Berlin. München nämlich ist eine Stadt, gebaut von dem Volke selbst, und zwar von aufeinanderfolgenden Generationen, deren Geist noch immer in ihren Bauwerken sichtbar, so daß man dort, wie in der Hexenszene des »Macbeth«, eine chronologische Geisterreihe erblickt, von dem dunkelrohen Geiste des Mittelalters, der geharnischt aus gotischen Kirchenpforten hervortritt, bis auf den gebildet lichten Geist unserer eignen Zeit, der uns einen Spiegel entgegenhält, worin jeder sich selbst mit Vergnügen anschaut. In dieser Reihenfolge liegt eben das Versöhnende; das Barbarische empört uns nicht mehr, und das Abgeschmackte verletzt uns nicht mehr, wenn wir es als Anfänge und notwendige Übergänge betrachten. Wir sind ernst, aber nicht unmutig bei dem Anblick jenes barbarischen Doms, der sich noch immer, in stiefelknechtlicher Gestalt, über die ganze Stadt erhebt und die Schatten und Gespenster des Mittelalters in seinem Schoße verbirgt. Mit ebensowenig Unmut, ja sogar mit spaßhafter Rührung betrachten wir die haarbeuteligen Schlösser der spätern Periode, die plump deutschen Nachäffungen der glatt französischen Unnatur, die Prachtgebäude der Abgeschmacktheit, toll schnörkelhaft von außen, von innen noch putziger dekoriert mit schreiend bunten Allegorien, vergoldeten Arabesken, Stukkaturen und jenen Schildereien, worauf die seligen hohen Herrschaften abkonterfeit sind: die Kavaliere mit roten, betrunken nüchternen Gesichtern, worüber die Allongeperücken, wie gepuderte Löwenmähnen, herabhängen, die Damen mit steifem Toupet, stählernem Korsett, das ihr Herz zusammenschnürte, und ungeheurem Reifrock, der ihnen desto mehr prosaische Ausdehnung gewährte. Wie gesagt, dieser Anblick verstimmt uns nicht, er trägt vielmehr dazu bei, uns die Gegenwart und ihren lichten Wert recht lebhaft fühlen zu lassen, und wenn wir die neuen Werke betrachten, die sich neben den alten erheben, so ist’s, als würde uns eine schwere Perücke vom Haupte genommen und das Herz befreit von stählerner Fessel. Ich spreche hier von den heiteren Kunsttempeln und edlen Palästen, die in kühner Fülle hervorblühen aus dem Geiste Klenzes, des großen Meisters.

Kapitel III

Daß man aber die ganze Stadt ein neues Athen nennt, ist, unter uns gesagt, etwas ridikül, und es kostet mich viele Mühe, wenn ich sie in solcher Qualität vertreten soll. Dieses empfand ich aufs tiefste in dem Zweigespräch mit dem Berliner Philister, der, obgleich er schon eine Weile mit mir gesprochen hatte, unhöflich genug war, alles attische Salz im neuen Athen zu vermissen.

»Des«, rief er ziemlich laut, »gibt es nur in Berlin. Da nur ist Witz und Ironie. Hier gibt es gutes Weißbier, aber wahrhaftig keine Ironie.«

»Ironie haben wir nicht«, rief Nannerl, die schlanke Kellnerin, die in diesem Augenblick vorbeisprang, »aber jedes andre Bier können Sie doch haben.«

Daß Nannerl die Ironie für eine Sorte Bier gehalten, vielleicht für das beste Stettiner, war mir sehr leid, und damit sie sich in der Folge wenigstens keine solche Blöße mehr gebe, begann ich folgendermaßen zu dozieren: »Schönes Nannerl, die Ironie is ka Bier, sondern eine Erfindung der Berliner, der klügsten Leute von der Welt, die sich sehr ärgerten, daß sie zu spät auf die Welt gekommen sind, um das Pulver erfinden zu können, und die deshalb eine Erfindung zu machen suchten, die ebenso wichtig und eben denjenigen, die das Pulver nicht erfunden haben, sehr nützlich ist. Ehemals, liebes Kind, wenn jemand eine Dummheit beging, was war da zu tun? Das Geschehene konnte nicht ungeschehen gemacht werden, und die Leute sagten: ›Der Kerl war ein Rindvieh.‹ Das war unangenehm. In Berlin, wo man am klügsten ist und die meisten Dummheiten begeht, fühlte man am tiefsten diese Unannehmlichkeit. Das Ministerium suchte dagegen ernsthafte Maßregeln zu ergreifen: bloß die größeren Dummheiten durften noch gedruckt werden, die kleineren erlaubte man nur in Gesprächen, solche Erlaubnis erstreckte sich nur auf Professoren und hohe Staatsbeamte, geringere Leute durften ihre Dummheiten bloß im verborgenen laut werden lassen; – aber alle diese Vorkehrungen halfen nichts, die unterdrückten Dummheiten traten bei außerordentlichen Anlässen desto gewaltiger hervor, sie wurden sogar heimlich von oben herab protegiert, sie stiegen öffentlich von unten hinauf, die Not war groß, bis endlich ein rückwirkendes Mittel erfunden ward, wodurch man jede Dummheit gleichsam ungeschehen machen und sogar in Weisheit umgestalten kann. Dieses Mittel ist ganz einfach und besteht darin, daß man erklärt, man habe jene Dummheit bloß aus Ironie begangen oder gesprochen. So, liebes Kind, avanciert alles in dieser Welt, die Dummheit wird Ironie, verfehlte Speichelleckerei wird Satire, natürliche Plumpheit wird kunstreiche Persiflage, wirklicher Wahnsinn wird Humor, Unwissenheit wird brillanter Witz, und du wirst am Ende noch die Aspasia des neuen Athens.«

Ich hätte noch mehr gesagt, aber das schöne Nannerl, das ich unterdessen am Schürzenzipfel festhielt, riß sich gewaltsam los, als man von allen Seiten »A Bier! A Bier!« gar zu stürmisch forderte. Der Berliner aber sah aus wie die Ironie selbst, als er bemerkte, mit welchem Enthusiasmus die hohen schäumenden Gläser in Empfang genommen wurden; und indem er auf eine Gruppe Biertrinker hindeutete, die sich den Hopfennektar von Herzen schmecken ließen und über dessen Vortrefflichkeit disputierten, sprach er lächelnd: »Das wollen Athenienser sind?«

Die Bemerkungen, die der Mann bei dieser Gelegenheit nachschob, taten mir ordentlich weh, da ich für unser neues Athen keine geringe Vorliebe hege, und ich bestrebte mich daher, dem raschen Tadler zu bedeuten, daß wir erst seit kurzem auf den Gedanken gekommen sind, uns als ein neues Athen aufzutun, daß wir erst junge Anfänger sind und unsere großen Geister, ja unser ganzes gebildetes Publikum noch nicht danach eingerichtet ist, sich in der Nähe sehen zu lassen. »Es ist alles noch im Entstehen, und wir sind noch nicht komplett. Nur die untersten Fächer, lieber Freund«, fügte ich hinzu, »sind erst besetzt, und es wird Ihnen nicht entgangen sein, daß wir z.B. an Eulen, Sykophanten und Phrynen keinen Mangel haben. Es fehlt uns nur an dem höhern Personal, und mancher muß mehrere Rollen zu gleicher Zeit spielen. Zum Beispiel unser Dichter, der die zarte griechische Knabenliebe besingt, hat auch die aristophanische Grobheit übernehmen müssen; aber er kann alles machen, er hat alles, was zu einem großen Dichter gehört, außer etwa Phantasie und Witz, und wenn er viel Geld hätte, wäre er ein reicher Mann. Was uns aber an Quantität fehlt, das ersetzen wir durch Qualität. Wir haben nur einen großen Bildhauer – aber es ist ein ›Löwe‹! Wir haben nur einen großen Redner, aber ich bin überzeugt, daß Demosthenes über den Malzaufschlag in Attika nicht so gut donnern konnte. Wenn wir noch keinen Sokrates vergiftet haben, so war es wahrhaftig nicht das Gift, welches uns dazu fehlte. Und wenn wir noch keinen eigentlichen Demos, ein ganzes Demagogenvolk besitzen, so können wir doch mit einem Prachtexemplare dieser Gattung, mit einem Demagogen von Handwerk aufwarten, der ganz allein einen ganzen Demos, einen ganzen Haufen Großschwätzer, Maulaufsperrer, Poltrons und sonstigen Lumpengesindels aufwiegt – und hier sehen Sie ihn selbst.«

Ich kann der Versuchung nicht widerstehen, die Figur, die sich uns jetzt präsentierte, etwas genauer zu bezeichnen. Ob diese Figur mit Recht behauptet, daß ihr Kopf etwas Menschliches habe und sie daher juristisch befugt sei, sich für einen Menschen auszugeben, das lasse ich dahingestellt sein. Ich würde diesen Kopf vielmehr für den eines Affen halten; nur aus Courtoisie will ich ihn für menschlich passieren lassen. Seine Bedeckung bestand aus einer Tuchmütze, in der Form ähnlich dem Helm des Mambrin, und steifschwarze Haare hingen lang herab und waren vorn a l’enfant gescheitelt. Auf diese Vorderseite des Kopfes, die sich für ein Gesicht ausgab, hatte die Göttin der Gemeinheit ihren Stempel gedrückt, und zwar so stark, daß die dort befindliche Nase fast zerquetscht worden; die niedergeschlagenen Augen schienen diese Nase vergebens zu suchen und deshalb betrübt zu sein; ein übelriechendes Lächeln spielte um den Mund, der überaus liebreizend war und durch eine gewisse frappante Ähnlichkeit unseren griechischen Afterdichter zu den zartesten Ghaselen begeistern konnte. Die Bekleidung war ein altdeutscher Rock, zwar schon etwas modifiziert nach den dringendsten Anforderungen der neueuropäischen Zivilisation, aber im Schnitt noch immer erinnernd an den, welchen Arminius im Teutoburger Walde getragen und dessen Urform sich unter einer patriotschen Schneidergesellschaft ebenso geheimnisvoll-traditionell erhalten hat wie einst die gotische Baukunst unter einer mystischen Maurergilde. Ein weißgewaschener Lappen, der mit dem bloßen, altdeutschen Halse tiefbedeutsam kontrastierte, bedeckte den Kragen dieses famosen Rockes, aus seinen langen Ärmeln hingen lange schmutzige Hände, zwischen diesen zeigte sich ein langweiliger Leib, woran wieder zwei kurzweilige Beine schlotterten – die ganze Gestalt war eine katzenjämmerliche Parodie des Apoll von Belvedere.

»Und des ist der Demagog des neuen Athens?« frug spottlächelnd der Berliner. »Du juter Jott, des ist ja ein Landsmann von mich! Ich traue kaum meinen leiblichen Augen – des ist ja derjenige, welcher – Nee, des ist die Möglichkeit!«

»Ja, ihr verblendeten Berliner«, sprach ich, nicht ohne Feuer, »ihr verkennt eure heimischen Genies und steinigt eure Propheten. Wir aber können alles gebrauchen!«

»Und wozu braucht ihr denn diese unglückliche Fliege?«

»Er ist zu allem zu gebrauchen, wozu Springen, Kriechen, Gemüt, Fressen, Frömmigkeit, viel Altdeutsch, wenig Latein und gar kein Griechisch nötig ist. Er springt wirklich sehr gut übern Stock, macht auch Tabellen von allen möglichen Sprüngen und Verzeichnisse von allen möglichen Lesarten altdeutscher Gedichte. Dazu repräsentiert er die Vaterlandsliebe, ohne im mindesten gefährlich zu sein. Denn man weiß sehr gut, daß er sich von den altdeutschen Demagogen, unter welchen er sich mal zufällig befunden, zu rechter Zeit zurückgezogen, als ihre Sache etwas gefährlich wurde und daher mit den christlichen Gefühlen seines weichen Herzens nicht mehr übereinstimmte. Seitdem aber die Gefahr verschwunden, die Märtyrer für ihre Gesinnung gelitten, fast alle sie von selbst aufgegeben und sogar unsere feurigsten Barbiere ihre deutschen Röcke ausgezogen haben, seitdem hat die Blütezeit unseres vorsichtigen Vaterlandsretters erst recht begonnen; er allein hat noch das Demagogenkostüm und die dazugehörigen Redensarten beibehalten; er preist noch immer Arminius den Cherusker und Frau Thusnelda, als sei er ihr blonder Enkel; er bewahrt noch immer seinen germanisch-patriotischen Haß gegen welsches Babeltum, gegen die Erfindung der Seife, gegen Thierschs heidnisch-griechische Grammatik, gegen Quinctilius Varus, gegen Handschuh’ und gegen alle Menschen, die eine anständige Nase haben; – und so steht er da als wandelndes Denkmal einer untergegangenen Zeit, und wie der letzte Mohikan ist auch er allein übriggeblieben von einer ganzen tatkräftigen Horde, er, der letzte Demagoge. Sie sehen also, daß wir im neuen Athen, wo es noch ganz an Demagogen fehlt, diesen Mann brauchen können, wir haben an ihm einen sehr guten Demagogen, der zugleich so zahm ist, daß er jeden Speichelnapf beleckt und aus der Hand frißt, Haselnüsse, Kastanien, Käse, Würstchen, kurz, alles frißt, was man ihm gibt; und da er jetzt einzig in seiner Art, so haben wir noch den besonderen Vorteil, daß wir späterhin, wenn er krepiert ist, ihn ausstopfen lassen und als den letzten Demagogen mit Haut und Haar für die Nachwelt aufbewahren können. Ich bitte Sie jedoch, sagen Sie das nicht dem Professor Lichtenstein in Berlin, der ließe ihn sonst für das zoologische Museum reklamieren, welches Anlaß zu einem Kriege zwischen Preußen und Bayern geben könnte, da wir ihn auf keinen Fall ausliefern werden. Schon haben die Engländer ihn aufs Korn genommen und zweitausendsiebenhundertsiebenundsiebenzig Guineen für ihn geboten, schon haben die Östreicher ihn gegen die Giraffe eintauschen wollen; aber unser Ministerium soll geäußert haben: ›Der letzte Demagog ist uns für keinen Preis feil, er wird einst der Stolz unseres Naturalienkabinetts und die Zierde unserer Stadt.‹«

Der Berliner schien etwas zerstreut zuzuhören, schönere Gegenstände hatten seine Aufmerksamkeit in Anspruch genommen, und er fiel mir endlich in die Rede mit den Worten: »Erlauben Sie gehorsamst, daß ich Sie unterbreche, aber sagen Sie mir doch, was ist denn das für ein Hund, der dort läuft?«

»Das ist ein anderer Hund.«

»Ach, Sie verstehen mich nicht, ich meine jenen großen, weißzottigen Hund ohne Schwanz?«

»Mein lieber Herr, das ist der Hund des neuen Alkibiades.«

»Aber«, bemerkte der Berliner, »sagen Sie mir doch, wo ist denn der neue Alkibiades selbst?«

»Aufrichtig gestanden«, antwortete ich, »diese Stelle ist noch nicht besetzt, und wir haben erst den Hund.«

Kapitel IV

Der Ort, wo dieses Gespräch stattfand, heißt Bogenhausen oder Neuburghausen oder Villa Hompesch oder Montgelasgarten oder das Schlössel, ja man braucht ihn nicht einmal zu nennen, wenn man von München dort hinfahren will, der Kutscher versteht uns schon an einem gewissen durstigen Augenblinzeln, an einem gewissen vorseligen Kopfnicken und ähnlichen Bezeichnungsgrimassen. Tausend Ausdrücke hat der Araber für ein Schwert, der Franzose für die Liebe, der Engländer für das Hängen, der Deutsche für das Trinken und der neuere Athener sogar für die Orte, wo er trinkt. Das Bier ist an besagtem Orte wirklich sehr gut, selbst im Prytaneum, vulgo Bockkeller, ist es nicht besser, es schmeckt ganz vortrefflich, besonders auf jener Treppenterrasse, wo man die Tiroler Alpen vor Augen hat. Ich saß dort oft vorigen Winter und betrachtete die schneebedeckten Berge, die, glänzend in der Sonnenbeleuchtung, aus eitel Silber gegossen zu sein schienen.

Es war damals auch Winter in meiner Seele, Gedanken und Gefühle waren wie eingeschneit, es war mir so verdorrt und tot zumute, dazu kam die leidige Politik, die Trauer um ein liebes gestorbenes Kind und ein alter Nachärger und der Schnupfen. Außerdem trank ich viel Bier, weil man mich versicherte, das gäbe leichtes Blut. Doch der beste attische Breihahn wollte nicht fruchten bei mir, der ich mich in England schon an Porter gewöhnt hatte.

Endlich kam der Tag, wo alles ganz anders wurde. Die Sonne brach hervor aus dem Himmel und tränkte die Erde, das alte Kind, mit ihrer Strahlenmilch, die Berge schauerten vor Lust, und ihre Schneetränen flossen gewaltig, es krachten und brachen die Eisdecken der Seen, die Erde schlug die blauen Augen auf, aus ihrem Busen quollen hervor die liebenden Blumen und die klingenden Wälder, die grünen Paläste der Nachtigallen, die ganze Natur lächelte, und dieses Lächeln hieß Frühling. Da begann auch in mir ein neuer Frühling, neue Blumen sproßten aus dem Herzen, Freiheitsgefühle, wie Rosen, schossen hervor, auch heimliches Sehnen, wie junge Veilchen, dazwischen freilich manch unnütze Nessel. Über die Gräber meiner Wünsche zog die Hoffnung wieder ihr heiteres Grün, auch die Melodien der Poesie kamen wieder, wie Zugvögel, die den Winter im warmen Süden verbracht und das verlassene Nest im Norden wieder aufsuchen, und das verlassene nordische Herz klang und blühte wieder wie vormals – nur weiß ich nicht, wie das alles kam. Ist es eine braune oder blonde Sonne gewesen, die den Frühling in meinem Herzen aufs neue geweckt und all die schlafenden Blumen in diesem Herzen wieder aufgeküßt und die Nachtigallen wieder hineingelächelt? War es die wahlverwandte Natur selbst, die in meiner Brust ihr Echo suchte und sich gern darin bespiegelte mit ihrem neuen Frühlingsglanz? Ich weiß nicht, aber ich glaube, auf der Terrasse zu Bogenhausen, im Angesicht der Tiroler Alpen, geschah meinem Herzen solch neue Verzauberung. Wenn ich dort in Gedanken saß, war mir’s oft, als sehe ich ein wunderschönes Jünglingsantlitz über jene Berge hervorlauschen, und ich wünschte mir Flügel, um hinzueilen nach seinem Residenzland Italien. Ich fühlte mich auch oft angeweht von Zitronen- und Orangendüften, die von den Bergen herüberwogten, schmeichelnd und verheißend, um mich hinzulocken nach Italien. Einst sogar, in der goldenen Abenddämmerung, sah ich auf der Spitze einer Alpe ihn ganz und gar, lebensgroß, den jungen Frühlingsgott, Blumen und Lorbeeren umkränzten das freudige Haupt, und mit lachendem Auge und blühendem Munde rief er: »Ich liebe dich, komm zu mir nach Italien!«

Kapitel V

Mein Blick machte daher wohl etwas sehnsüchtig flimmern, als ich, in Verzweiflung über das unabsehbare Philistergespräch, nach den schönen Tiroler Bergen hinaussah und tief seufzte. Mein Berliner Philister nahm aber eben diesen Blick und Seufzer als neue Gesprächsfäden auf und seufzte mit: »Ach ja, ich möchte auch jetzt in Konstantinopel sein! Ach! Konstantinopel zu sehen war immer der eenzige Wunsch meines Lebens, und jetzt sind die Russen gewiß schon eingezogen, ach, in Konstantinopel! Haben Sie Petersburg gesehen?« Ich verneinte dieses und bat, mir davon zu erzählen. Aber nicht er selbst, sondern sein Herr Schwager, der Kammergerichtsrat, war vorigen Sommer da gewesen, und es soll eine ganz eenzige Stadt sein. – »Haben Sie Kopenhagen gesehen?« Da ich diese Frage ebenfalls verneinte und eine Schilderung dieser Stadt von ihm begehrte, lächelte er gar pfiffig und wiegte das Köpfchen recht vergnügt hin und her und versicherte mir auf Ehre, ich könne mir keine Vorstellung davon machen, wenn ich nicht selbst dort gewesen sei. »Dieses«, erwiderte ich, »wird vorderhand noch nicht stattfinden, ich will jetzt eine andere Reise antreten, die ich schon diesen Frühling projektiert, ich reise nämlich nach Italien.«

Als der Mann dieses Wort hörte, sprang er plötzlich vom Stuhle auf, drehte sich dreimal auf einem Fuße herum und trillerte: »Tirili! Tirili! Tirili!«

Das gab mir den letzten Sporn. Morgen reise ich, beschloß ich auf der Stelle. Ich will nicht länger zögern, ich will so bald als möglich das Land sehen, das den trockensten Philister so sehr in Ekstase bringen kann, daß er bei dessen Erwähnung plötzlich wie eine Wachtel schlägt. Während ich zu Hause meinen Koffer packte, klang mir der Ton jenes Tirilis noch immer in den Ohren, und mein Bruder, Maximilian Heine, der mich den andern Tag bis Tirol begleitete, konnte nicht begreifen, warum ich auf dem ganzen Wege kein vernünftiges Wort sprach und beständig tirilierte.

Kapitel VI

Tirili! Tirili! ich lebe! Ich fühle den süßen Schmerz der Existenz, ich fühle alle Freuden und Qualen der Welt, ich leide für das Heil des ganzen Menschengeschlechts, ich büße dessen Sünden, aber ich genieße sie auch.

Und nicht bloß mit den Menschen, auch mit den Pflanzen fühle ich, ihre tausend grünen Zungen erzählen mir allerliebste Geschichten, sie wissen, daß ich nicht menschenstolz bin und mit den niedrigsten Wiesenblümchen ebenso gern spreche wie mit den höchsten Tannen. Ach, ich weiß ja, wie es mit solchen Tannen beschaffen ist! Aus der Tiefe des Tals schießen sie himmelhoch empor, überragen fast die kühnsten Felsenberge – Aber wie lange dauert diese Herrlichkeit? Höchstens ein paar lumpige Jahrhunderte, dann krachen sie altersmüd zusammen und verfaulen auf dem Boden. Des Nachts kommen dann die hämischen Käuzlein aus ihren Felsenspalten hervorgehuscht und verhöhnen sie noch obendrein: »Seht, ihr starken Tannen, ihr glaubtet euch mit den Bergen messen zu können, jetzt liegt ihr gebrochen da unten, und die Berge stehen noch immer unerschüttert.«

Einem Adler, der auf seinem einsamen Lieblingsfelsen sitzt und solcher Verhöhnung zuhört, muß recht mitleidig zumute werden. Er denkt dann an das eigene Schicksal. Auch er weiß nicht, wie tief er einst gebettet wird. Aber die Sterne funkeln so beruhigend, die Waldwasser rauschen so trostvoll, und die eigene Seele überbraust so stolz all die kleinmütigen Gedanken, daß er sie bald wieder vergißt. Steigt gar die Sonne hervor, so fühlt er sich wieder wie sonst und fliegt zu ihr hinauf, und wenn er hoch genug ist, singt er ihr entgegen seine Lust und Qual. Seine Mittiere, besonders die Menschen, glauben, der Adler könne nicht singen, und sie wissen nicht, daß er dann nur singt, wenn er aus ihrem Bereich ist, und daß er aus Stolz nur von der Sonne gehört sein will. Und er hat recht; es könnte irgendeinem von der gefiederten Sippschaft da unten einfallen, seinen Gesang zu rezensieren. Ich habe selbst erfahren, wie solche Kritiken lauten: Das Huhn stellt sich dann auf ein Bein und gluckt, der Sänger habe kein Gemüt; der Truthahn kullert, es fehle ihm der wahre Ernst; die Taube girrt, er kenne nicht die wahre Liebe; die Gans schnattert, er sei nicht wissenschaftlich; der Kapaun kikert, er sei nicht moralisch; der Dompfaff zwitschert, er habe leider keine Religion; der Sperling piepst, er sei nicht produktiv genug; Wiedehöpfchen, Elsterchen, Schuhuchen, alles krächzt und ächzt und schnarrt – Nur die Nachtigall stimmt nicht ein in diese Kritiken, unbekümmert um die ganze Mitwelt, ist nur die rote Rose ihr einziger Gedanke und ihr einziges Lied, sehnsüchtig umflattert sie die rote Rose und stürzt sich begeistert in die geliebten Dornen und blutet und singt.

Kapitel VII

Es gibt einen Adler im deutschen Vaterlande, dessen Sonnenlied so gewaltig erklingt, daß es auch hier unten gehört wird und sogar die Nachtigallen aufhorchen, trotz all ihren melodischen Schmerzen. Das bist du, Karl Immermann, und deiner dacht ich gar oft in dem Lande, wovon du so schön gesungen. Wie konnte ich durch Tirol reisen, ohne an das »Trauerspiel« zu denken?

Nun freilich, ich habe die Dinge in anderer Färbung gesehen; aber ich bewundere doch den Dichter, der aus der Fülle des Gemütes dasjenige, was er nie gesehen hat, der Wirklichkeit so ähnlich schafft. Am meisten ergötzte mich, daß »Das Trauerspiel in Tirol« in Tirol verboten ist. Ich gedachte der Worte, die mir mein Freund Moser schrieb, als er mir meldete, daß der zweite Band der »Reisebilder« verboten sei: »Die Regierung hätte aber das Buch gar nicht zu verbieten brauchen, es wäre dennoch gelesen worden.«

Zu Innsbruck im »Goldenen Adler«, wo Andreas Hofer logiert hatte und noch jede Ecke mit seinen Bildnissen und Erinnerungen an ihn beklebt ist, fragte ich den Wirt, Herrn Niederkirchner, ob er mir noch viel von dem Sandwirt erzählen könne. Da war der alte Mann überfließend von Redseligkeit und vertraute mir mit klugen Augenzwinken, daß jetzt die Geschichte auch ganz gedruckt heraus sei, aber auch ganz geheim verboten; und als er mich nach einem dunkeln Stübchen geführt, wo er seine Reliquien aus dem Tiroler Krieg aufbewahrt, wickelte er ein schmutzig blaues Papier von einem schon zerlesenen grünen Büchlein, das ich zu meiner Verwunderung als Immermanns »Trauerspiel in Tirol« erkannte. Ich sagte ihm, nicht ohne errötenden Stolz, der Mann, der es geschrieben, sei mein Freund. Herr Niederkirchner wollte nun soviel als möglich von dem Manne wissen, und ich sagte ihm, es sei ein gedienter Mann, von fester Statur, sehr ehrlich und sehr geschickt in Schreibsachen, so daß er nur wenige seinesgleichen finde. Daß er aber ein Preuße sei, wollte Herr Niederkirchner durchaus nicht glauben und rief mit mitleidigem Lächeln: »Warum nicht gar!« Er ließ sich nicht ausreden, daß der Immermann ein Tiroler sei und den Tiroler Krieg mitgemacht habe – »wie könnte er sonst alles wissen?«

Seltsame Grille des Volkes! Es verlangt seine Geschichte aus der Hand des Dichters und nicht aus der Hand des Historikers. Es verlangt nicht den treuen Bericht nackter Tatsachen, sondern jene Tatsachen wieder aufgelöst in die ursprüngliche Poesie, woraus sie hervorgegangen. Das wissen die Dichter, und nicht ohne geheime Schadenlust modeln sie willkürlich die Völkererinnerungen, vielleicht zur Verhöhnung stolztrockner Historiographen und pergamentener Staatsarchivare. Nicht wenig ergötzte es mich, als ich in den Buden des letzten Jahrmarkts die Geschichte des Belisars in grell kolorierten Bildern ausgehängt sah, und zwar nicht nach dem Prokop, sondern ganz treu nach Schenks Tragödie. »So wird die Geschichte verfälscht« – rief der gelahrte Freund, der mich begleitete –, »sie weiß nichts von jener Rache einer beleidigten Gattin, von jenem gefangenen Sohn, von jener liebenden Tochter und dergleichen modernen Herzensgeburten!« Ist denn dies aber wirklich ein Fehler? soll man den Dichtern wegen dieser Fälschung gleich den Prozeß machen? Nein, denn ich leugne die Anklage. Die Geschichte wird nicht von den Dichtern verfälscht. Sie geben den Sinn derselben ganz treu, und sei es auch durch selbsterfundene Gestalten und Umstände. Es gibt Völker, denen nur auf diese Dichterart ihre Geschichte überliefert worden, z.B. die Indier. Dennoch geben Gesänge wie der »Mahabharata« den Sinn indischer Geschichte viel richtiger als irgendein Kompendienschreiber mit all seinen Jahrzahlen. In gleicher Hinsicht möchte ich behaupten, Walter Scotts Romane gäben zuweilen den Geist der englischen Geschichte weit treuer als Hume; wenigstens hat Sartorius sehr recht, wenn er in seinen Nachträgen zu Spittler jene Romane zu den Quellen der englischen Geschichte rechnet.

Es geht den Dichtern wie den Träumern, die im Schlafe dasjenige innere Gefühl, welches ihre Seele durch wirkliche äußere Ursachen empfindet, gleichsam maskieren, indem sie an die Stelle dieser letzteren ganz andere äußere Ursachen erträumen, die aber insofern ganz adäquat sind, als sie dasselbe Gefühl hervorbringen. So sind auch in Immermanns »Trauerspiel« manche Außendinge ziemlich willkürlich geschaffen, aber der Held selbst, der Gefühlsmittelpunkt, ist identisch geträumt, und wenn diese Traumgestalt selbst träumerisch erscheint, so ist auch dieses der Wahrheit gemäß. Der Baron Hormayr, der hierin der kompetenteste Richter sein kann, hat mich, als ich jüngst das Vergnügen hatte, ihn zu sprechen, auf diesen Umstand aufmerksam gemacht. Das mystische Gemütsleben, die abergläubische Religiosität, das Epische des Mannes hat Immermann ganz richtig angedeutet. Er gab ganz treu jene treue Taube, die, mit dem blanken Schwert im Schnabel, wie die kriegerische Liebe, über den Bergen Tirols so heldenmütig umherschwebte, bis die Kugeln von Mantua ihr treues Herz durchbohrten.

Was aber dem Dichter am meisten zur Ehre gereicht, ist die ebenso treue Schilderung des Gegners, aus welchem er keinen wütenden Geßler gemacht, um seinen Hofer desto mehr zu heben; wie dieser eine Taube mit dem Schwerte, so ist jener ein Adler mit dem Ölzweig.

Kapitel VIII

In der Wirtshausstube des Herrn Niederkirchner zu Innsbruck hängen einträchtig nebeneinander die Bilder von Andreas Hofer, Napoleon Bonaparte und Ludwig von Bayern.

Innsbruck selbst ist eine unwöhnliche, blöde Stadt. Vielleicht mag sie im Winter etwas geistiger und behaglicher aussehen, wenn die hohen Berge, wovon sie eingeschlossen, mit Schnee bedeckt sind und die Lawinen dröhnen und überall das Eis kracht und blitzt.

Ich fand die Häupter jener Berge mit Wolken, wie mit grauen Turbanen, umwickelt. Man sieht dort die Martinswand, den Schauplatz der lieblichsten Kaisersage; wie denn überhaupt die Erinnerung an den ritterlichen Max in Tirol noch immer blüht und klingt.

In der Hofkirche stehen die oft besprochenen Standbilder der Fürsten und Fürstinnen aus dem Hause Östreich und ihrer Ahnen, worunter mancher gerechnet worden, der gewiß bis auf den heutigen Tag nicht begreift, wie er zu dieser Ehre gekommen. Sie stehen in gewaltiger Lebensgröße, aus Eisen gegossen, um das Grabmal des Maximilian. Da aber die Kirche klein und das Dach niedrig ist, so kommt’s einem vor, als sähe man schwarze Wachsfiguren in einer Marktbude. Am Fußgestell der meisten liest man auch den Namen derjenigen hohen Personen, die sie vorstellen. Als ich jene Statuen betrachtete, traten Engländer in die Kirche; ein hagerer Mann mit aufgesperrtem Gesichte, die Daumen eingehakt in die Armöffnungen der weißen Weste und im Maul einen ledernen Guide des voyageurs; hinter ihm seine lange Lebensgefährtin, eine nicht mehr ganz junge, schon etwas abgeliebte, aber noch immer hinlänglich schöne Dame; hinter dieser ein rotes Portergesicht mit puderweißen Aufschlägen, steif einhertretend in einem dito Rock und die hölzernen Hände vollauf befrachtet mit Myladys Handschuhen, Alpenblumen und Mops.

Das Kleeblatt stieg schnurgerade nach dem obern Ende der Kirche, wo der Sohn Albinons seiner Gemahlin die Statuen erklärte, und zwar nach seinem Guide des voyageurs, in welchem ausführlich zu lesen war: »Die erste Statue ist der König Chlodewig von Frankreich, die andere ist der König Arthur von England, die dritte ist Rudolf von Habsburg usw.« Da aber der arme Engländer die Reihe von oben anfing statt von unten, wie es der Guide des voyageurs voraussetzte, so geriet er in die ergötzlichsten Verwechselungen, die noch komischer wurden, wenn er an eine Frauenstatue kam, die er für einen Mann hielt, und umgekehrt, so daß er nicht begriff, warum man Rudolf von Habsburg in Weibskleidern dargestellt, dagegen die Königin Maria mit eisernen Hosen und einem allzu langen Barte. Ich, der ich gerne mit meinem Wissen nachhelfe, bemerkte beiläufig, dergleichen habe wahrscheinlich das damalige Kostüm erfordert, auch könne es besonderer Wille der hohen Personen gewesen sein, so, und beileibe nicht anders, gegossen zu werden. So könne es ja dem jetzigen Kaiser einfallen, sich in einem Reifrock oder gar in Windeln gießen zu lassen; – wer würde was dagegen einwenden?

Der Mops bellte kritisch, der Lakai glotzte, sein Herr putzte sich die Nase, und Mylady sagte: »A fine exhibition, very fine indeed!« –

Kapitel IX

Brixen war die zweite größere Stadt Tirols, wo ich einkehrte. Sie liegt in einem Tal, und als ich ankam, war sie mit Dampf und Abendschatten übergossen. Dämmernde Stille, melancholisches Glockengebimmel, die Schafe trippelten nach ihren Ställen, die Menschen nach den Kirchen; überall beklemmender Geruch von häßlichen Heiligenbildern und getrocknetem Heu.

»Die Jesuiten sind in Brixen«, hatte ich kurz vorher im »Hesperus« gelesen. Ich sah mich auf allen Straßen nach ihnen um; aber ich habe niemanden gesehen, der einem Jesuiten glich, es sei denn jener dicke Mann mit geistlich dreieckigem Hut und pfäffisch geschnittenem schwarzen Rock, der alt und abgetragen war und mit den glänzend neuen schwarzen Hosen gar auffallend kontrastierte.

›Das kann auch kein Jesuit sein‹, sprach ich endlich zu mir selber; denn ich habe mir immer die Jesuiten etwas mager gedacht. Ob es wirklich noch Jesuiten gibt? Manchmal will es mich bedünken, als sei ihre Existenz nur eine Schimäre, als spuke nur die Angst vor ihnen noch in unseren Köpfen, nachdem längst die Gefahr vorüber, und alles Eifern gegen Jesuiten mahnt mich dann an Leute, die, wenn es längst aufgehört hat zu regnen, noch immer mit aufgespannten Regenschirmen umhergehen. Ja, mich dünkt zuweilen, der Teufel, der Adel und die Jesuiten existieren nur so lange, als man an sie glaubt. Vom Teufel könnten wir es wohl ganz bestimmt behaupten, denn nur die Gläubigen haben ihn bisher gesehen. Auch in betreff des Adels werden wir im Laufe einiger Zeit die Erfahrung machen, daß die bonne société aufhören wird, die bonne société zu sein, sobald der gute Bürgersmann nicht mehr die Güte hat, sie für die bonne société zu halten. Aber die Jesuiten? Wenigstens haben sie doch nicht mehr die alten Hosen an! Die alten Jesuiten liegen im Grabe mit ihren alten Hosen, Begierden, Weltplänen, Ränken, Distinktionen, Reservationen und Giften, und was wir jetzt in neuen, glänzenden Hosen durch die Welt schleichen sehen, ist nicht sowohl ihr Geist als vielmehr ihr Gespenst, ein albernes, blödsinniges Gespenst, das uns täglich durch Wort und Tat zu beweisen sucht, wie wenig es furchtbar sei; und wahrlich, es mahnt uns an die Geschichte von einem ähnlichen Gespenste im Thüringer Walde, das einst die Leute, so sich vor ihm fürchteten, von ihrer Furcht befreite, indem es, vor aller Augen, seinen Schädel von den Schultern herabnahm und jedem zeigte, daß er inwendig ganz hohl und leer sei.

Ich kann nicht umhin, nachträglich zu erzählen, daß ich Gelegenheit fand, den dicken Mann mit den glänzend neuen Hosen genauer zu beobachten und mich zu überzeugen, daß er kein Jesuit war, sondern ein ganz gewöhnliches Vieh Gottes. Ich traf ihn nämlich in der Gaststube meines Wirtshauses, wo er zu Nacht speiste, in Gesellschaft eines langen, magern, Exzellenz genannten Mannes, der jenem alten hagestolzlichen Landjunker, den uns Shakespeare geschildert, so ähnlich war, daß es schien, als habe die Natur ein Plagiat begangen. Beide würzten ihr Mahl, indem sie die Aufwärterin mit Karessen bedrängten, die das liebe, bildschöne Mädchen nicht wenig anzuekeln schienen, so daß sie sich mit Gewalt losriß, wenn der eine sie hinten klätschelte oder der andere sie gar zu embrassieren suchte. Dabei rissen sie ihre rohesten Zoten, die das Mädchen, wie sie wußten, nicht umhin konnte anzuhören, da sie zur Aufwartung der Gäste und auch, um mir den Tisch zu decken, im Zimmer bleiben mußte. Als jedoch die Ungebühr ganz unleidlich wurde, ließ die junge Person plötzlich alles stehen und liegen, eilte zur Tür hinaus und kam erst nach einigen Minuten ins Zimmer zurück, mit einem kleinen Kinde auf dem Arm, das sie die ganze Zeit auf dem Arm behielt, während sie im Gastzimmer ihre Geschäfte besorgte, obgleich ihr diese dadurch um so beschwerlicher wurden. Die beiden Kumpane aber, der geistliche und der adlige Herr, wagten keine einzige Belästigung mehr gegen das Mädchen, das jetzt ohne Unfreundlichkeit, jedoch mit seltsamem Ernst sie bediente; – das Gespräch nahm eine andere Wendung, beide schwatzten jetzt das gewöhnliche Geschwätz von der großen Verschwörung gegen Thron und Altar, sie verständigten sich über die Notwendigkeit strenger Maßregeln und reichten sich mehrmals die heiligen Allianzhände.

Kapitel X

Für die Geschichte von Tirol sind die Werke des Joseph von Hormayr unentbehrlich; für die neueste Geschichte ist er selbst die beste, oft die einzige Quelle. Er ist für Tirol, was Johannes von Müller für die Schweiz ist; eine Parallele dieser beiden Historiker drängt sich uns von selbst auf. Sie sind gleichsam Wandnachbaren, beide in ihrer Jugend gleich begeistert für ihre Geburtsalpen, beide fleißig, forschsam, von historischer Denkweise und Gefühlsrichtung; Johannes von Müller, epischer gestimmt, den Geist wiegend in den Geschichten der Vergangenheit, Joseph von Hormayr, hastiger fühlend, mehr in die Gegenwart hineingerissen, uneigennützig das Leben wagend für das, was ihm lieb war.

Bartholdys »Krieg der Tiroler Landleute im Jahr 1809« ist ein geistreich und schön geschriebenes Buch, und wenn Mängel darin sind, so entstanden sie notwendigerweise dadurch, weil der Verfasser, wie es edlen Gemütern eigen ist, für die unterdrückte Partei eine sichtbare Vorliebe hegte und weil noch Pulverdampf die Begebenheiten umhüllte, als er sie beschrieb.

Viele merkwürdige Ereignisse jener Zeit sind gar nicht aufgeschrieben und leben nur im Gedächtnisse des Volkes, das jetzt nicht gern mehr davon spricht, da die Erinnerung mancher getäuschten Hoffnung dabei auftaucht. Die armen Tiroler haben nämlich auch allerlei Erfahrungen machen müssen, und wenn man sie jetzt fragt, ob sie, zum Lohne ihrer Treue, alles erlangt, was man ihnen in der Not versprochen, so zucken sie gutmütig die Achsel und sagen naiv: »Es war vielleicht so ernst nicht gemeint, und der Kaiser hat viel zu denken, und da geht ihm manches durch den Kopf.«

Tröstet euch, arme Schelme! Ihr seid nicht die einzigen, denen etwas versprochen worden. Passiert es doch oft auf großen Sklavenschiffen, daß man bei großen Stürmen, und wenn das Schiff in Gefahr gerät, zu den schwarzen Menschen seine Zuflucht nimmt, die unten im dunkeln Schiffsraum zusammengestaut liegen. Man bricht dann ihre eisernen Ketten und verspricht heilig und teuer, ihnen die Freiheit zu schenken, wenn durch ihre Tätigkeit das Schiff gerettet werde. Die blöden Schwarzen jubeln nun hinauf ans Tageslicht, hurra! sie eilen zu den Pumpen, stampfen aus Leibeskräften, helfen, wo nur zu helfen ist, klettern, springen, kappen die Masten, winden die Taue, kurz, arbeiten so lange, bis die Gefahr vorüber ist. Alsdann werden sie, wie sich von selbst versteht, wieder nach dem Schiffsraum hinabgeführt, wieder ganz bequem angefesselt, und in ihrem dunkeln Elend machen sie demagogische Betrachtungen über Versprechungen von Seelenverkäufern, deren ganze Sorge, nach überstandener Gefahr, dahin geht, noch einige Seelen mehr einzutauschen.

O navis, referent in mare te novi

Fluctus? etc.

Als mein alter Lehrer diese Oder des Horaz, worin der Staat mit einem Schiffe verglichen wird, explizierte, hatte er allerlei politische Betrachtungen zu machen, die er bald einstellte, als die Schlacht bei Leipzig geschlagen worden und die ganze Klasse auseinanderging.

Mein alter Lehrer hat alles vorausgewußt. Als wir die erste Nachricht dieser Schlacht erhielten, schüttelte er das graue Haupt. Jetzt weiß ich, was dieses Schütteln bedeutete. Bald kamen die genaueren Berichte, und heimlich zeigte man einander die Bilder, wo gar bunt und erbaulich abkonterfeit war, wie die hohen Heerführer auf dem Schlachtfelde knieten und Gott dankten.

»Ja, sie konnten Gott danken«, sagte mein Lehrer und lächelte, wie er zu lächeln pflegte, wenn er den Sallust explizierte, »der Kaiser Napoleon hat sie so oft geklopft, daß sie es ihm doch am Ende ablernen konnten.«

Nun kamen die Alliierten und die schlechten Befreiungsgedichte, Hermann und Thusnelda, hurra! und der Frauenverein und die Vaterlandseicheln und das ewige Prahlen mit der Schlacht bei Leipzig und wieder die Schlacht bei Leipzig und kein Aufhören davon.

»Es geht diesen Leuten«, bemerkte mein Lehrer, »wie den Thebanern, als sie bei Leuktra endlich einmal jene unbesiegbaren Spartaner geschlagen und beständig mit dieser Schlacht prahlten, so daß Antisthenes von ihnen sagte: ›Sie machen es wie die Knaben, die vor Freude sich nicht zu lassen wissen, wenn sie einmal ihren Schulmeister ausgeprügelt haben.‹ Liebe Jungens, es wäre besser gewesen, wir hätten selbst die Prügel bekommen.«

Bald darauf ist der alte Mann gestorben. Auf seinem Grabe wächst preußisches Gras, und es weiden dort die adeligen Rosse unserer renovierten Ritter.

Kapitel XI

Die Tiroler sind schön, heiter, ehrlich, brav und von unergründlicher Geistesbeschränktheit. Sie sind eine gesunde Menschenrasse, vielleicht weil sie zu dumm sind, um krank sein zu können. Auch eine edle Rasse möchte ich sie nennen, weil sie sich in ihren Nahrungsmitteln sehr wählig und in ihren Gewöhnungen sehr reinlich zeigen; nur fehlt ihnen ganz und gar das Gefühl von der Würde der Persönlichkeit. Der Tiroler hat eine Sorte von lächelndem humoristischen Servilismus, der fast eine ironische Färbung trägt, aber doch grundehrlich gemeint ist. Die Frauenzimmer in Tirol begrüßen dich so zuvorkommend freundlich, die Männer drücken dir so derb die Hand und gebärden sich dabei so putzig herzlich, daß du fast glauben solltest, sie behandelten dich wie einen nahen Verwandten, wenigstens wie ihresgleichen; aber weit gefehlt, sie verlieren dabei nie aus dem Gedächtnis, daß sie nur gemeine Leute sind und daß du ein vornehmer Herr bist, der es gewiß gern sieht, wenn gemeine Leute ohne Blödigkeit sich zu ihm herauflassen. Und darin haben sie einen naturrichtigen Instinkt; die starrsten Aristokraten sind froh, wenn sie Gelegenheit finden zur Herablassung, denn dadurch eben fühlen sie, wie hoch sie gestellt sind. Zu Hause üben die Tiroler diesen Servilismus gratis, in der Fremde suchen sie auch noch dadurch zu lukrieren. Sie geben ihre Persönlichkeit preis, ihre Nationalität. Diese bunten Deckenverkäufer, diese muntern Tiroler Bua, die wir in ihrem Nationalkostüm herumwandern sehen, lassen gern ein Späßchen mit sich treiben, aber du mußt ihnen auch etwas abkaufen. Jene Geschwister Rainer, die in England gewesen, haben es noch besser verstanden, und sie hatten noch obendrein einen guten Ratgeber, der den Geist der englischen Nobility gut kannte. Daher ihre gute Aufnahme im Foyer der europäischen Aristokratie, in the west end of the town. Als ich vorigen Sommer in den glänzenden Konzertsälen der Londoner fashionablen Welt diese Tiroler Sänger, gekleidet in ihre heimatliche Volkstracht, das Schaugerüst betreten sah und von da herab jene Lieder hörte, die in den Tiroler Alpen so naiv und fromm gejodelt werden und uns auch ins norddeutsche Herz so lieblich hinabklingen – da verzerrte sich alles in meiner Seele zu bitterem Unmut, das gefällige Lächeln vornehmer Lippen stach mich wie Schlangen, es war mir, als sähe ich die Keuschheit des deutschen Wortes aufs roheste beleidigt und die süßesten Mysterien des deutschen Gemütlebens vor fremdem Pöbel profaniert. Ich habe nicht mitklatschen können bei dieser schamlosen Verschacherung des Verschämtesten, und ein Schweizer, der gleichfühlend mit mir den Saal verließ, bemerkte ganz richtig: »Wir Schwyzer geben auch viel fürs Geld, unsere besten Käse und unser bestes Blut, aber das Alphorn können wir in der Fremde kaum blasen hören, viel weniger es selbst blasen für Geld.«

Kapitel XII

Tirol ist sehr schön, aber die schönsten Landschaften können uns nicht entzücken bei trüber Witterung und ähnlicher Gemütsstimmung. Diese ist bei mir immer die Folge von jener, und da es draußen regnete, so war auch in mir schlechtes Wetter. Nur dann und wann durfte ich den Kopf zum Wagen hinausstrecken, und dann schaute ich himmelhohe Berge, die mich ernsthaft ansahen und mir mit den ungeheuern Häuptern und langen Wolkenbärten eine glückliche Reise zunickten. Hie und da bemerkte ich auch ein fernblaues Berglein, das sich auf die Fußzehen zu stellen schien und den anderen Bergen recht neugierig über die Schultern blickte, wahrscheinlich, um mich zu sehen. Dabei kreischten überall die Waldbäche, die sich wie toll von den Höhen herabstürzten und in den dunkeln Talstrudeln versammelten. Die Menschen steckten in ihren niedlichen, netten Häuschen, die über der Halde, an den schroffsten Abhängen und bis auf die Bergspitzen zerstreut liegen; niedliche, nette Häuschen, gewöhnlich mit einer langen, balkonartigen Galerie, und diese wieder mit Wäsche, Heiligenbildchen, Blumentöpfen und Mädchengesichtern ausgeschmückt. Auch hübsch bemalt sind diese Häuschen, meistens weiß und grün, als trügen sie ebenfalls die Tiroler Landestracht, grüne Hosenträger über dem weißen Hemde. Wenn ich solch Häuschen im einsamen Regen liegen sah, wollte mein Herz oft aussteigen und zu den Menschen gehen, die gewiß trocken und vergnügt da drinnen saßen. Da drinnen, dacht ich, muß sich’s recht lieb und innig leben lassen, und die alte Großmutter erzählt gewiß die heimlichsten Geschichten. Während der Wagen unerbittlich vorbeifuhr, schaut ich noch oft zurück, um die bläulichen Rauchsäulen aus den kleinen Schornsteinen steigen zu sehen, und es regnete dann immer stärker, außer mir und in mir, daß mir fast die Tropfen aus den Augen herauskamen.

Oft hob sich auch mein Herz, und trotz dem schlechten Wetter klomm es zu den Leuten, die ganz oben auf den Bergen wohnen und vielleicht kaum einmal im Leben herabkommen und wenig erfahren von dem, was hier unten geschieht. Sie sind deshalb um nichts minder fromm und glücklich. Von der Politik wissen sie nichts, als daß sie einen Kaiser haben, der einen weißen Rock und rote Hosen trägt; das hat ihnen der alte Ohm erzählt, der es selbst in Innsbruck gehört von dem schwarzen Sepperl, der in Wien gewesen. Als nun die Patrioten zu ihnen hinaufkletterten und ihnen beredsam vorstellten, daß sie jetzt einen Fürsten bekommen, der einen blauen Rock und weiße Hosen trage, da griffen sie zu ihren Büchsen und küßten Weib und Kind und stiegen von den Bergen hinab und ließen sich totschlagen für den weißen Rock und die lieben alten roten Hosen.

Im Grunde ist es auch dasselbe, für was man stirbt, wenn nur für etwas Liebes gestorben wird, und so ein warmer, treuer Tod ist besser als ein kaltes, treuloses Leben. Schon allein die Lieder von einem solchen Tode, die süßen Reime und lichten Worte erwärmen unser Herz, wenn feuchte Nebelluft und zudringliche Sorgen es betrüben wollen.

Viel solcher Lieder klangen durch mein Herz, als ich über die Berge Tirols dahinfuhr. Die traulichen Tannenwälder rauschten mir so manch vergessenes Liebeswort ins Gedächtnis zurück. Besonders wenn mich die großen blauen Bergseen so unergründlich sehnsüchtig anschauten, dann dachte ich wieder an die beiden Kinder, die sich so liebgehabt und zusammen gestorben sind. Es ist eine veraltete Geschichte, die auch jetzt niemand mehr glaubt und die ich selbst nur aus einigen Liederreimen kenne.

Es waren zwei Königskinder,

Die hatten einander so lieb,

Sie konnten beisammen nicht kommen,

Das Wasser war viel zu tief –

Diese Worte fingen von selbst wieder an, in mir zu klingen, als ich, bei einem von jenen blauen Seen, am jenseitigen Ufer einen kleinen Knaben und am diesseitigen ein kleines Mädchen stehen sah, die beide in der bunten Volkstracht, mit bebänderten, grünen Spitzhütchen auf dem Kopfe, gar wunderlieblich gekleidet waren und sich hinüber und herüber grüßten –

Sie konnten beisammen nicht kommen,

Das Wasser war viel zu tief.

Kapitel XIII

Im südlichen Tirol klärte sich das Wetter auf, die Sonne von Italien ließ schon ihre Nähe fühlen, die Berge wurden wärmer und glänzender, ich sah schon Weinreben, die sich daran hinaufrankten, und ich konnte mich schon öfter zum Wagen hinauslehnen. Wenn ich mich aber zum Wagen hinauslehne, so lehnt sich mein Herz mit mir hinaus und mit dem Herzen all seine Liebe, seine Wehmut und seine Torheit. Es ist mir oft geschehen, daß das arme Herz dadurch von den Dornen zerrissen wurde, wenn es sich nach den Rosenbüschen, die am Wege blühten, hinauslehnte, und die Rosen Tirols sind nicht häßlich. Als ich durch Steinach fuhr und den Markt besah, worauf Immermann den Sandwirt Hofer mit seinen Gesellen auftreten läßt, da fand ich, daß der Markt für eine Insurgentenversammlung viel zu klein wäre, aber noch immer groß genug ist, um sich darauf zu verlieben. Es sind da nur ein paar weiße Häuschen, und aus einem kleinen Fenster guckte eine kleine Sandwirtin und zielte und schoß aus ihren großen Augen; – wäre der Wagen nicht schnell vorübergerollt und hätte sie Zeit gehabt, noch einmal zu laden, so wäre ich gewiß geschossen. Ich rief: »Kutscher, fahr zu, mit einer solchen Schön-Elsy ist nicht zu spaßen; die steckt einem das Haus über dem Kopf in Brand.« Als gründlicher Reisender muß ich auch anführen, daß die Frau Wirtin in Sterzing zwar selbst eine alte Frau ist, aber dafür zwei junge Töchterlein hat, die einem das Herz, wenn es ausgestiegen ist, durch ihren Anblick recht wohltätig erwärmen. Aber dich darf ich nicht vergessen, du Schönste von allen, du schöne Spinnerin an den Marken Italiens! O hättest du mir, wie Ariadne dem Theseus, den Faden deines Gespinstes gegeben, um mich zu leiten durch das Labyrinth dieses Lebens, jetzt wäre der Minotaurus schon besiegt, und ich würde dich lieben und küssen und niemals verlassen!

»Es ist ein gutes Zeichen, wenn die Weiber lächeln«, sagt ein chinesischer Schriftsteller, und ein deutscher Schriftsteller war ebendieser Meinung, als er in Südtirol, wo Italien beginnt, einem Berge vorbeikam, an dessen Fuße, auf einem nicht sehr hohen Steindamm, eines von jenen Häuschen stand, die mit ihrer traulichen Galerie und ihren naiven Malereien uns so lieblich ansehen. Auf der einen Seite stand ein großes hölzernes Kruzifix, das einem jungen Weinstock als Stütze diente, so daß es fast schaurig heiter aussah, wie das Leben den Tod, die saftig grünen Reben den blutigen Leib und die gekreuzigten Arme und Beine des Heilands umrankten. Auf der anderen Seite des Häuschens stand ein runder Taubenkofen, dessen gefiedertes Völkchen flog hin und her, und eine ganz besonders anmutig weiße Taube saß auf dem hübschen Spitzdächlein, das, wie die fromme Steinkrone einer Heiligennische, über dem Haupte der schönen Spinnerin hervorragte. Diese saß auf der kleinen Galerie und spann, nicht nach der deutschen Spinnradmethode, sondern nach jener uralten Weise, wo ein flachsumzogener Wocken unter dem Arme gehalten wird und der abgesponnene Faden an der frei hängenden Spindel hinunterläuft. So spannen die Königstöchter in Griechenland, so spinnen noch jetzt die Parzen und alle Italienerinnen. Sie spann und lächelte, unbeweglich saß die Taube über ihrem Haupte, und über dem Hause selbst ragten hinten die hohen Berge, deren Schneegipfel die Sonne beschien, daß sie aussahen wie eine ernste Schutzwache von Riesen mit blanken Helmen auf den Häuptern.

Sie spann und lächelte, und ich glaube, sie hat mein Herz festgesponnen, während der Wagen etwas langsamer vorbeifuhr wegen des breiten Stromes der Eisach, die auf der andern Seite des Wegs dahinschoß. Die lieben Züge kamen mir den ganzen Tag nicht aus dem Gedächtnis, überall sah ich jenes holde Antlitz, das ein griechischer Bildhauer aus dem Dufte einer weißen Rose geformt zu haben schien, ganz so hingehaucht zart, so überselig edel, wie er es vielleicht einst als Jüngling geträumt in einer blühenden Frühlingsnacht. Die Augen freilich hätte kein Grieche erträumen und noch weniger begreifen können. Ich aber sah sie und begriff sie, diese romantischen Sterne, die so zauberhaft die antike Herrlichkeit beleuchteten. Den ganzen Tag sah ich diese Augen, und ich träumte davon in der folgenden Nacht. Da saß sie wieder und lächelte, die Tauben flatterten hin und her wie Liebesengel, auch die weiße Taube über ihrem Haupte bewegte mystisch die Flügel, hinter ihr hoben sich immer gewaltiger die behelmten Wächter, vor ihr hin jagte der Bach, immer stürmischer und wilder, die Weinreben umrankten mit ängstlicher Hast das gekreuzigte Holzbild, das sich schmerzlich regte und die leidenden Augen öffnete und aus den Wunden blutete – sie aber spann und lächelte, und an dem Faden ihres Wockens, gleich einer tanzenden Spindel, hing mein eigenes Herz.

Kapitel XIV

Während die Sonne immer schöner und herrlicher aus dem Himmel hervorblühte und Berg und Burgen mit Goldschleiern umkleidete, wurde es auch in meinem Herzen immer heißer und leuchtender, ich hatte wieder die ganze Brust voll Blumen, und diese sproßten hervor und wuchsen mir gewaltig über den Kopf, und durch die eignen Herzblumen hindurch lächelte wieder himmlisch die schöne Spinnerin. Befangen in solchen Träumen, selbst ein Traum, kam ich nach Italien, und da ich während der Reise schon ziemlich vergessen hatte, daß ich dorthin reiste, so erschrak ich fast, als mich all die großen italienischen Augen plötzlich ansahen und das buntverwirrte italienische Leben mir leibhaftig, heiß und summend, entgegenströmte.

Es geschah dieses aber in der Stadt Trient, wo ich an einem schönen Sonntag des Nachmittags ankam, zur Zeit, wo die Hitze sich legt und die Italiener aufstehen und in den Straßen auf und ab spazieren. Diese Stadt liegt alt und gebrochen in einem weiten Kreise von blühend grünen Bergen, die, wie ewig junge Götter, auf das morsche Menschenwerk herabsehen. Gebrochen und morsch liegt daneben auch die hohe Burg, die einst die Stadt beherrschte, ein abenteuerlicher Bau aus abenteuerlicher Zeit, mit Spitzen, Vorsprüngen, Zinnen und mit einem breitrunden Turm, worin nur noch Eulen und östreichische Invaliden hausen. Auch die Stadt selbst ist abenteuerlich gebaut, und wundersam wird einem zu Sinn beim ersten Anblick dieser uraltertümlichen Häuser mit ihren verblichenen Freskos, mit ihren zerbröckelten Heiligenbildern, mit ihren Türmchen, Erkern, Gitterfensterchen und jenen hervorstehenden Giebeln, die estradenartig auf grauen alterschwachen Pfeilern ruhen, welche selbst einer Stütze bedürften. Solcher Anblick wäre allzu wehmütig, wenn nicht die Natur diese abgestorbenen Steine mit neuem Leben erfrischte, wenn nicht süße Weinreben jene gebrechlichen Pfeiler, wie die Jugend das Alter, innig und zärtlich umrankten und wenn nicht noch süßere Mädchengesichter aus jenen trüben Bogenfenstern hervorguckten und über den deutschen Fremdling lächelten, der, wie ein schlafwandelnder Träumer, durch die blühenden Ruinen einherschwankt.

Ich war wirklich wie im Traum, wie in einem Traume, wo man sich auf irgend etwas besinnen will, was man ebenfalls einmal geträumt hat. Ich betrachtete abwechselnd die Häuser und die Menschen, und ich meinte fast, diese Häuser hätte ich einst in ihren besseren Tagen gesehen, als ihre hübschen Malereien noch farbig glänzten, als die goldenen Zieraten an den Fensterfriesen noch nicht so geschwärzt waren und als die marmorne Madonna, die das Kind auf dem Arme trägt, noch ihren wunderschönen Kopf aufhatte, den jetzt die bilderstürmende Zeit so pöbelhaft abgebrochen. Auch die Gesichter der alten Frauen schienen mir so bekannt, es kam mir vor, als wären sie herausgeschnitten aus jenen altitalienischen Gemälden, die ich einst als Knabe in der Düsseldorfer Galerie gesehen habe. Ebenfalls die alten Männer schienen mir so längstvergessen wohlbekannt, und sie schauten mich an mit ernsten Augen, wie aus der Tiefe eines Jahrtausends. Sogar die kecken jungen Mädchen hatten so etwas jahrtausendlich Verstorbenes und doch wieder blühend Aufgelebtes, daß mich fast ein Grauen anwandelte, ein süßes Grauen, wie ich es einst gefühlt, als ich in der einsamen Mitternacht meine Lippen preßte auf die Lippen Marias, einer wunderschönen Frau, die damals gar keinen Fehler hatte, außer daß sie tot war. Dann aber mußt ich wieder über mich selbst lächeln, und es wollte mich bedünken, als sei die ganze Stadt nichts anderes als eine hübsche Novelle, die ich einst einmal gelesen, ja, die ich selbst gedichtet, und ich sei jetzt in mein eigenes Gedicht hineingezaubert worden und erschräke vor den Gebilden meiner eigenen Schöpfung. Vielleicht auch, dacht ich, ist das Ganze wirklich nur ein Traum, und ich hätte herzlich gern einen Taler für eine einzige Ohrfeige gegeben, bloß um dadurch zu erfahren, ob ich wachte oder schlief.

Wenig fehlte, und ich hätte diesen Artikel noch wohlfeiler eingehandelt, als ich an der Ecke des Marktes über die dicke Obstfrau hinstolperte. Sie begnügte sich aber damit, mir einige wirkliche Feigen an die Ohren zu werfen, und ich gewann dadurch die Überzeugung, daß ich mich in der wirklichsten Wirklichkeit befand, mitten auf dem Marktplatz von Trient, neben dem großen Brunnen, aus dessen kupfernen Tritonen und Delphinen die silberklaren Wasser gar lieblich ermunternd emporsprangen. Links stand ein alter Palazzo, dessen Wände mit bunt allegorischen Figuren bemalt waren und auf dessen Terrasse einige grau östreichische Soldaten zum Heldentume abgerichtet wurden. Rechts stand ein gotisch-lombardisch kapriziöses Häuslein, in dessen Innerm eine süße, flatterhafte Mädchenstimme so keck und lustig trillerte, daß die verwitterten Mauern vor Vergnügen oder Baufälligkeit zitterten, während oben aus dem Spitzfenster eine schwarze, labyrinthisch gekräuselte, komödiantenhafte Frisur herausguckte, worunter ein scharfgezeichnetes, dünnes Gesicht hervortrat, das nur auf der linken Wange geschminkt war und daher aussah wie ein Pfannkuchen, der erst auf einer Seite gebacken ist. Vor mir aber, in der Mitte, stand der uralte Dom, nicht groß, nicht düster, sondern wie ein heiterer Greis, recht bejahrt zutraulich und einladend.

Kapitel XV

Als ich den grünseidenen Vorhang, der den Eingang des Doms bedeckte, zurückschob und eintrat in das Gotteshaus, wurde mir Leib und Herz angenehm erfrischt von der lieblichen Luft, die dort wehte, und von dem besänftigend magischen Lichte, das durch die buntbemalten Fenster auf die betende Versammlung herabfloß. Es waren meistens Frauenzimmer, in lange Reihen hingestreckt auf den niedrigen Betbänken. Sie beteten bloß mit leiser Lippenbewegung und fächerten sich dabei beständig mit großen grünen Fächern, so daß man nichts hörte als ein unaufhörlich heimliches Wispern und nichts sah als Fächerschlag und wehende Schleier. Der knarrende Tritt meiner Stiefeln störte manche schöne Andacht, und große katholische Augen sahen mich an, halb neugierig, halb liebwillig, und mochten mir wohl raten, mich ebenfalls hinzustrecken und Seelensieste zu halten.

Wahrlich, ein solcher Dom mit seinem gedämpften Lichte und seiner wehenden Kühle ist ein angenehmer Aufenthalt, wenn draußen greller Sonnenschein und drückende Hitze. Davon hat man gar keinen Begriff in unserem protestantischen Norddeutschland, wo die Kirchen nicht so komfortabel gebaut sind und das Licht so frech durch die unbemalten Vernunftscheiben hineinschießt und selbst die kühlen Predigten vor der Hitze nicht genug schützen. Man mag sagen, was man will, der Katholizismus ist eine gute Sommerreligion. Es läßt sich gut liegen auf den Bänken dieser alten Dome, man genießt dort die kühle Andacht, ein heiliges Dolcefarniente, man betet und träumt und sündigt in Gedanken, die Madonnen nicken so verzeihend aus ihren Nischen, weiblich gesinnt, verzeihen sie sogar, wenn man ihre eignen holden Züge in die sündigen Gedanken verflochten hat, und zum Überfluß steht noch in jeder Ecke ein brauner Notstuhl des Gewissens, wo man sich seiner Sünden entledigen kann.

In einem solchen Stuhle saß ein junger Mönch mit ernster Miene, das Gesicht der Dame, die ihm ihre Sünden beichtete, war mir aber teils durch ihren weißen Schleier, teils durch das Seitenbrett des Beichtstuhls verborgen. Doch kam außerhalb desselben eine Hand zum Vorschein, die mich gleichsam festhielt. Ich konnte nicht aufhören, diese Hand zu betrachten; das bläuliche Geäder und der vornehme Glanz der weißen Finger war mir so befremdlich wohlbekannt, und alle Traumgewalt meiner Seele kam in Bewegung, um ein Gesicht zu bilden, das zu dieser Hand gehören konnte. Es war eine schöne Hand, und nicht, wie man sie bei jungen Mädchen findet, die, halb Lamm, halb Rose, nur gedankenlose, vegetabil animalische Hände haben, sie hatte vielmehr so etwas Geistiges, so etwas geschichtlich Reizendes, wie die Hände von schönen Menschen, die sehr gebildet sind oder viel gelitten haben. Diese Hand hatte dabei auch so etwas rührend Unschuldiges, daß es schien, als ob sie nicht mitzubeichten brauche und auch nicht hören wolle, was ihre Eigentümerin beichtete, und gleichsam draußen warte, bis diese fertig sei. Das dauerte aber lange; die Dame mußte viele Sünden zu erzählen haben. Ich konnte nicht länger warten, meine Seele drückte einen unsichtbaren Abschiedskuß auf die schöne Hand, diese zuckte in demselben Momente, und zwar so eigentümlich, wie die Hand der toten Maria zu zucken pflegte, wenn ich sie berührte. Um Gottes willen, dacht ich, was tut die tote Maria in Trient? – und ich eilte aus dem Dome.

Kapitel XVI

Als ich wieder über den Marktplatz ging, grüßte mich an der Ecke die bereits erwähnte Obstfrau recht freundlich und recht zutraulich, als wären wir alte Bekannte. Gleichviel, dacht ich, wie man eine Bekanntschaft macht, wenn man nur miteinander bekannt wird. Ein paar an die Ohren geworfene Feigen sind zwar nicht immer die beste Introduktion; aber ich und die Obstfrau sahen uns jetzt doch so freundlich an, als hätten wir uns wechselseitig die besten Empfehlungsschreiben überreicht. Die Frau hatte auch keineswegs ein übles Aussehn. Sie war freilich schon etwas in jenem Alter, wo die Zeit unsere Dienstjahre mit fatalen Chevets auf die Stirne anzeichnet; jedoch dafür war sie auch desto korpulenter, und was sie an Jugend eingebüßt, das hatte sie an Gewicht gewonnen. Dazu trug ihr Gesicht noch immer die Spuren großer Schönheit, und wie auf alten Töpfen stand darauf geschrieben: »Lieben und geliebt zu werden ist das größte Glück auf Erden.« Was ihr aber den köstlichsten Reiz verlieh, das war die Frisur, die gekräuselten Locken, kreideweiß gepudert, mit Pomade reichlich gedüngt und idyllisch mit weißen Glockenblumen durchschlungen. Ich betrachtete diese Frau mit derselben Aufmerksamkeit, wie irgend ein Antiquar seine ausgegrabenen Marmortorsos betrachtet, ich konnte an jener lebenden Menschenruine noch viel mehr studieren, ich konnte die Spuren aller Zivilisationen Italiens an ihr nachweisen, der etruskischen, römischen, gotischen, lombardischen, bis herab auf die gepudert moderne, und recht interessant war mir das zivilisierte Wesen dieser Frau im Kontrast mit Gewerb und leidenschaftlicher Gewöhnung. Nicht minder interessant waren mir die Gegenstände ihres Gewerbes, die frischen Mandeln, die ich noch nie in ihrer ursprünglich grünen Schale gesehn, und die duftig frischen Feigen, die hochaufgeschüttet lagen, wie bei uns die Birnen. Auch die großen Körbe mit frischen Zitronen und Orangen ergötzten mich; und wunderlieblicher Anblick! in einem leeren Korbe daneben lag ein bildschöner Knabe, der ein kleines Glöckchen in den Händen hielt und, während jetzt die große Domglocke läutete, zwischen jedem Schlag derselben mit seinem kleinen Glöckchen klingelte und dabei so weltvergessen selig in den blauen Himmel hineinlächelte, daß mir selbst wieder die drolligste Kinderlaune im Gemüte aufstieg und ich mich, wie ein Kind, vor die lachenden Körbe hinstellte und naschte und mit der Obstfrau diskurierte.

Wegen meines gebrochenen Italienischsprechens hielt sie mich im Anfang für einen Engländer; aber ich gestand ihr, daß ich nur ein Deutscher sei. Sie machte sogleich viele geographische, ökonomische, hortologische, klimatische Fragen über Deutschland und wunderte sich, als ich ihr ebenfalls gestand, daß bei uns keine Zitronen wachsen, daß wir die wenigen Zitronen, die wir aus Italien bekommen, sehr pressen müssen, wenn wir Punsch machen, und daß wir dann aus Verzweiflung desto mehr Rum zugießen. »Ach, liebe Frau!« sagte ich ihr, »in unserem Lande ist es sehr frostig und feucht, unser Sommer ist nur ein grün angestrichener Winter, sogar die Sonne muß bei uns eine Jacke von Flanell tragen, wenn sie sich nicht erkälten will; bei diesem gelben Flanellsonnenschein können unsere Früchte nimmermehr gedeihen, sie sehen verdrießlich und grün aus, und unter uns gesagt, das einzige reife Obst, das wir haben, sind gebratene Äpfel. Was die Feigen betrifft, so müssen wir sie ebenfalls, wie die Zitronen und Orangen, aus fremden Ländern beziehen, und durch das lange Reisen werden sie dumm und mehlig; nur die schlechteste Sorte können wir frisch aus der ersten Hand bekommen, und diese ist so bitter, daß, wer sie umsonst bekommt, noch obendrein eine Realinjurienklage anstellt. Von den Mandeln haben wir bloß die geschwollenen. Kurz, uns fehlt alles edle Obst, und wir haben nichts als Stachelbeeren, Birnen, Haselnüsse, Zwetschen und dergleichen Pöbel.«

Kapitel XVII

Ich freute mich wirklich, schon gleich bei meiner Ankunft in Italien eine gute Bekanntschaft gemacht zu haben, und hätten mich nicht wichtige Gefühle nach Süden gezogen, so wäre ich vorderhand in Trient geblieben, bei der guten Obstfrau, bei den guten Feigen und Mandeln, bei dem kleinen Glöckner und, soll ich die Wahrheit sagen, bei den schönen Mädchen, die rudelweise vorbeiströmten. Ich weiß nicht, ob andere Reisende hier das Beiwort »schön« billigen werden; mir aber gefielen die Trienterinnen ganz ausnehmend gut. Es war just die Sorte, die ich liebe: – und ich liebe diese blassen, elegischen Gesichter, wo die großen, schwarzen Augen so liebeskrank herausstrahlen; ich liebe auch den dunkeln Teint jener stolzen Hälse, die schon Phöbus geliebt und braungeküßt hat; ich liebe sogar jene überreife Nacken, worin purpurne Pünktchen, als hätten lüsterne Vögel daran gepickt; vor allem aber liebe ich jenen genialen Gang, jene stumme Musik des Leibes, jene Glieder, die sich in den süßesten Rhythmen bewegen, üppig, schmiegsam, göttlich liederlich, sterbefaul, dann wieder ätherisch erhaben und immer hochpoetisch. Ich liebe dergleichen, wie ich die Poesie selbst liebe, und diese melodisch bewegten Gestalten, dieses wunderbare Menschenkonzert, das an mir vorüberrauschte, fand sein Echo in meinem Herzen und weckte darin die verwandten Töne.

Es war jetzt nicht mehr die Zaubermacht der ersten Überraschung, die Märchenhaftigkeit der wildfremden Erscheinung, es war schon der ruhige Geist, der, wie ein wahrer Kritiker ein Gedicht liest, jene Frauenbilder mit entzückt besonnenem Auge betrachtete. Und bei solcher Betrachtung entdeckt man viel, viel Trübes, den Reichtum der Vergangenheit, die Armut der Gegenwart und den zurückgebliebenen Stolz. Gern möchten die Töchter Trients sich noch schmücken wie zu den Zeiten des Konziliums, wo die Stadt blühte in Samt und Seide; aber das Konzilium hat wenig ausgerichtet, der Samt ist abgeschabt, die Seide zerfetzt, und den armen Kindern blieb nichts als kümmerlicher Flitterstaat, den sie in der Woche ängstlich schonen und womit sie sich nur noch des Sonntags putzen. Manche aber entbehren auch dieser Reste eines verschollenen Luxus und müssen sich mit allerlei ordinären und wohlfeilen Fabrikaten unsers Zeitalters behelfen. Da gibt es nun gar rührende Kontraste zwischen Leib und Kleid; der feingeschnittene Mund scheint fürstlich gebieten zu dürfen und wird höhnisch überschattet von einem armseligen Basthut mit zerknitterten Papierblumen, der stolzeste Busen wogt in einer Krause von plump falschen Garnspitzen, und die geistreichsten Hüften umschließt der dümmste Kattun. Wehmut, dein Name ist Kattun, und zwar braungestreifter Kattun! Denn ach! nie hat mich etwas wehmütiger gestimmt als der Anblick einer Trienterin, die an Gestalt und Gesichtsfarbe einer marmornen Göttin glich und auf diesem antik edlen Leib ein Kleid von braungestreiftem Kattun trug, so daß es aussah, als sei die steinerne Niobe plötzlich lustig geworden und habe sich maskiert in unsere moderne Kleintracht und schreite bettelstolz und grandios unbeholfen durch die Straßen Trients.

Kapitel XVIII

Als ich nach der Locanda dell’ Grande Europa zurückkehrte, wo ich mir ein gutes Pranzo bestellt hatte, war mir wirklich so wehmütig zu Sinn, daß ich nicht essen konnte, und das will viel sagen. Ich setzte mich vor die Türe der nachbarlichen Bottega, erfrischte mich mit Sorbett und sprach in mich hinein:

»Grillenhaftes Herz! jetzt bist du ja in Italien – warum tirilierst du nicht? Sind vielleicht die alten deutschen Schmerzen, die kleinen Schlangen, die sich tief in dir verkrochen, jetzt mit nach Italien gekommen, und sie freuen sich jetzt, und eben ihr gemeinschaftlicher Jubel erregt nun in der Brust jenes pittoreske Weh, das darin so seltsam sticht und hüpft und pfeift? Und warum sollten sich die alten Schmerzen nicht auch einmal freuen? Hier in Italien ist es ja so schön, das Leiden selbst ist hier so schön, in diesen gebrochenen Marmorpalazzos klingen die Seufzer viel romantischer als in unseren netten Ziegelhäuschen, unter jenen Lorbeerbäumen läßt sich viel wollüstiger weinen als unter unseren mürrisch zackigen Tannen, und nach den idealischen Wolkenbildern des himmelblauen Italiens läßt sich viel süßer hinaufschmachten als nach dem aschgrau deutschen Werkeltagshimmel, wo sogar die Wolken nur ehrliche Spießbürgerfratzen schneiden und langweilig herabgähnen! Bleibt nur in meiner Brust, ihr Schmerzen! Ihr findet nirgends ein besseres Unterkommen. Ihr seid mir lieb und wert, und keiner weiß euch besser zu hegen und zu pflegen als ich, und ich gestehe euch, ihr macht mir Vergnügen. Und überhaupt, was ist denn Vergnügen? Vergnügen ist nichts als ein höchst angenehmer Schmerz.«

Ich glaube, die Musik, die, ohne daß ich darauf achtete, vor der Bottega erklang und einen Kreis von Zuschauern schon um sich gezogen, hatte melodramatisch diesen Monolog begleitet. Es war ein wunderliches Trio, bestehend aus zwei Männern und einem jungen Mädchen, das die Harfe spielte. Der eine von jenen beiden, winterlich gekleidet in einen weißen Flausrock, war ein stämmiger Mann mit einem dickroten Banditengesicht, das aus den schwarzen Haupt- und Barthaaren, wie ein drohender Komet, hervorbrannte, und zwischen den Beinen hielt er eine ungeheure Baßgeige, die er so wütend strich, als habe er in den Abruzzen einen armen Reisenden niedergeworfen und wolle ihm geschwinde die Gurgel abfiedeln; der andre war ein langer, hagerer Greis, dessen morsche Gebeine in einem abgelebt schwarzen Anzuge schlotterten und dessen schneeweiße Haare mit seinem Buffogesang und seinen närrischen Kapriolen gar kläglich kontrastierten. Ist es schon betrübend, wenn ein alter Mann die Ehrfurcht, die man seinen Jahren schuldig ist, aus Not verkaufen und sich zur Possenreißerei hergeben muß; wieviel trübseliger ist es noch, wenn er solches in Gegenwart oder gar in Gesellschaft seines Kindes tut! Und jenes Mädchen war die Tochter des alten Buffo, und sie akkompagnierte mit der Harfe die unwürdigsten Späße des greisen Vaters oder stellte auch die Harfe beiseite und sang mit ihm ein komisches Duett, wo er einen verliebten alten Gecken und sie seine junge neckische Amante vorstellte. Obendrein schien das Mädchen kaum aus den Kinderjahren getreten zu sein, ja es schien, als habe man das Kind, ehe es noch zur Jungfräulichkeit gelangt war, gleich zum Weibe gemacht, und zwar zu keinem züchtigen Weibe. Daher das bleichsüchtige Welken und der zuckende Mißmut des schönen Gesichtes, dessen stolzgeschwungene Formen jedes ahnende Mitleid gleichsam verhöhnten; daher die verborgene Kümmerlichkeit der Augen, die unter ihren schwarzen Triumphbogen so herausfordernd leuchteten; daher der tiefe Schmerzenston, der so unheimlich kontrastierte mit den lachend schönen Lippen, denen er entschlüpfte; daher die Krankhaftigkeit der überzarten Glieder, die ein kurzes, ängstlich violettes Seidenkleidchen so tief als möglich umflatterte. Dabei flaggten grellbunte Atlasbänder auf dem verjährten Strohhut, und die Brust zierte gar sinnbildlich eine offne Rosenknospe, die mehr gewaltsam aufgerissen als in eigener Entfaltung aus der grünen Hülle hervorgeblüht zu sein schien. Indessen über dem unglücklichen Mädchen, diesem Frühling, den der Tod schon verderblich angehaucht, lag eine unbeschreibliche Anmut, eine Grazie, die sich in jeder Miene, in jeder Bewegung, in jedem Tone kundgab und selbst dann nicht ganz sich verleugnete, wenn sie mit vorgeworfenem Leibchen und ironischer Lüsternheit dem alten Vater entgegentänzelte, der ebenso unsittsam, mit vorgestrecktem Bauchgerippe zu ihr heranwackelte. Je frecher sie sich gebärdete, desto tieferes Mitleiden flößte sie mir ein, und wenn ihr Gesang dann weich und wunderbar aus ihrer Brust hervorstieg und gleichsam um Verzeihung bat, dann jauchzten in meiner Brust die kleinen Schlangen und bissen sich vor Vergnügen in den Schwanz. Auch die Rose schien mich dann wie bittend anzusehen, einmal sah ich sie sogar zittern, erbleichen – aber in demselben Augenblick schlugen die Triller des Mädchens um so lachender in die Höhe, der Alte meckerte noch verliebter, und das rote Kometgesicht marterte seine Bratsche so grimmig, daß sie die entsetzlich drolligsten Töne von sich gab und die Zuhörer noch toller jubelten.

Kapitel XIX

Es war ein echt italienisches Musikstück, aus irgendeiner beliebten Opera buffa, jener wundersamen Gattung, die dem Humor den freiesten Spielraum gewährt und worin er sich all seiner springenden Lust, seiner tollen Empfindelei, seiner lachenden Wehmut und seiner lebenssüchtigen Todesbegeisterung überlassen kann. Es war ganz Rossinische Weise, wie sie sich im »Barbier von Sevilla« am lieblichsten offenbart.

Die Verächter italienischer Musik, die auch dieser Gattung den Stab brechen, werden einst in der Hölle ihrer wohlverdienten Strafe nicht entgehen und sind vielleicht verdammt, die lange Ewigkeit hindurch nichts anderes zu hören als Fugen von Sebastian Bach. Leid ist es mir um so manchen meiner Kollegen, z.B. um Rellstab, der ebenfalls dieser Verdammnis nicht entgehen wird, wenn er sich nicht vor seinem Tode zu Rossini bekehrt. Rossini, divino Maestro, Helios von Italien, der du deine klingenden Strahlen über die Welt verbreitest! verzeih meinen armen Landsleuten, die dich lästern auf Schreibpapier und auf Löschpapier! Ich aber erfreue mich deiner goldenen Töne, deiner melodischen Lichter, deiner funkelnden Schmetterlingsträume, die mich so lieblich umgaukeln und mir das Herz küssen wie mit Lippen der Grazien! Divino Maestro, verzeih meinen armen Landsleuten, die deine Tiefe nicht sehen, weil du sie mit Rosen bedeckst, und denen du nicht gedankenschwer und gründlich genug bist, weil du so leicht flatterst, so gottbeflügelt! – Freilich, um die heutige italienische Musik zu lieben und durch die Liebe zu verstehn, muß man das Volk selbst vor Augen haben, seinen Himmel, seinen Charakter, seine Mienen, seine Leiden, seine Freuden, kurz, seine ganze Geschichte, von Romulus, der das Heilige Römische Reich gestiftet, bis auf die neueste Zeit, wo es zugrunde ging, unter Romulus Augustulus II. Dem armen geknechteten Italien ist ja das Sprechen verboten, und es darf nur durch Musik die Gefühle seines Herzens kundgeben. All sein Groll gegen fremde Herrschaft, seine Begeistrung für die Freiheit, sein Wahnsinn über das Gefühl der Ohnmacht, seine Wehmut bei der Erinnerung an vergangene Herrlichkeit, dabei sein leises Hoffen, sein Lauschen, sein Lechzen nach Hülfe, alles dieses verkappt sich in jene Melodien, die von grotesker Lebenstrunkenheit zu elegischer Weichheit herabgleiten, und in jene Pantomimen, die von schmeichelnden Karessen zu drohendem Ingrimm überschnappen.

Das ist der esoterische Sinn der Opera buffa. Die exoterische Schildwache, in deren Gegenwart sie gesungen und dargestellt wird, ahnt nimmermehr die Bedeutung dieser heiteren Liebesgeschichten, Liebesnöten und Liebesneckereien, worunter der Italiener seine tödlichsten Befreiungsgedanken verbirgt, wie Harmodius und Aristogiton ihren Dolch verbargen in einem Kranze von Myrten. »Das ist halt närrisches Zeug«, sagt die exoterische Schildwache, und es ist gut, daß sie nichts merkt. Denn sonst würde der Impresario mitsamt der Primadonna und dem Primo uomo bald jene Bretter betreten, die eine Festung bedeuten; es würde eine Untersuchungskommission niedergesetzt werden, alle staatsgefährliche Triller und revolutionärrische Koloraturen kämen zu Protokoll, man würde eine Menge Arlekine, die in weiteren Verzweigungen verbrecherischer Umtriebe verwickelt sind, auch den Tartaglia, den Brighella, sogar den alten bedächtigen Pantalon arretieren, dem Dottore von Bologna würde man die Papiere versiegeln, er selbst würde sich in noch größeren Verdacht hineinschnattern, und Columbine müßte sich, über dieses Familienunglück, die Augen rot weinen. Ich denke aber, daß solches Unglück noch nicht über diese guten Leute hereinbrechen wird, indem die italienischen Demagogen pfiffiger sind als die armen Deutschen, die, Ähnliches beabsichtigend, sich als schwarze Narren mit schwarzen Narrenkappen vermummt hatten, aber so auffallend trübselig aussahen und bei ihren gründlichen Narrensprüngen, die sie Turnen nannten, sich so gefährlich anstellten und so ernsthafte Gesichter schnitten, daß die Regierungen endlich aufmerksam werden und sie einstecken mußten.

Kapitel XX

Die kleine Harfenistin mußte wohl bemerkt haben, daß ich, während sie sang und spielte, oft nach ihrer Busenrose hinblickte, und als ich nachher auf den zinnernen Teller, womit sie ihr Honorar einsammelte, ein Geldstück warf, das nicht allzu klein war, da lächelte sie schlau und frug heimlich, ob ich ihre Rose haben wolle.

Nun bin ich aber der höflichste Mensch von der Welt, und um die Welt möchte ich nicht eine Rose beleidigen, und sei es auch eine Rose, die sich schon ein bißchen verduftet hat. Und wenn sie auch nicht mehr, so dacht ich, ganz frisch riecht und nicht mehr im Geruche der Tugend ist, wie etwa die Rose von Saron, was kümmert es mich, der ich ja doch den Stockschnupfen habe! Und nur die Menschen nehmen’s so genau. Der Schmetterling fragt nicht die Blume: »Hat schon ein anderer dich geküßt?« Und diese fragt nicht: »Hast du schon eine andere umflattert?« Dazu kam noch, daß die Nacht hereinbrach, und des Nachts, dacht ich, sind alle Blumen grau, die sündigste Rose ebensogut wie die tugendhafteste Petersilie. Kurz und gut, ohne allzulanges Zögern sagte ich zu der kleinen Harfenistin: »Si, Signora« – – –

Denk nur nichts Böses, lieber Leser. Es war dunkel geworden, und die Sterne sahen so klar und fromm herab in mein Herz. Im Herzen selbst aber zitterte die Erinnerung an die tote Maria. Ich dachte wieder an jene Nacht, als ich vor dem Bette stand, worauf der schöne, blasse Leib lag mit sanften, stillen Lippen – Ich dachte wieder an den sonderbaren Blick, den mir die alte Frau zuwarf, die bei der Leiche wachen sollte und mir ihr Amt auf einige Stunden überließ – Ich dachte wieder an die Nachtviole, die im Glase auf dem Tische stand und so seltsam duftete – Auch durchschauerte mich wieder der Zweifel, ob es wirklich ein Windzug war, wovon die Lampe erlosch. Ob wirklich kein Dritter im Zimmer war?

Kapitel XXI

Ich ging bald zu Bette, schlief bald ein und verwickelte mich in närrische Träume. Ich träumte mich nämlich wieder einige Stunden zurück, ich kam wieder an in Trient, ich staunte wie der wie vorher, und jetzt um so mehr, da lauter Blumen statt Menschen in den Straßen spazierengingen.

Da wandelten glühende Nelken, die sich wollüstig fächerten, kokettierende Balsaminen, Hyazinthen mit hübschen leeren Glockenköpfchen, hinterher ein Troß von schnurrbärtigen Narzissen und tölpelhaften Rittersporen. An der Ecke zankten sich zwei Maßliebchen. Aus dem Fenster eines alten Hauses von krankhaftem Aussehen guckte eine gesprenkelte Levkoje, gar närrisch buntgeputzt, und hinter ihr erklang eine niedlich duftende Veilchenstimme. Auf dem Balkon des großen Palazzos am Markte war der ganze Adel versammelt, die hohe Noblesse, nämlich jene Lilien, die nicht arbeiten und nicht spinnen und sich doch ebenso prächtig dünken wie König Salomon in all seiner Herrlichkeit. Auch die dicke Obstfrau glaubte ich dort zu sehen; doch als ich genauer hinblickte, war es nur eine verwinterte Ranunkel, die gleich auf mich loskeifte: »Was wollen Sie unreife Blite? Sie saure Jurke? Sie ordinäre Blume mit man eenen Stoobfaden? Ich will Ihnen schon begießen!« Vor Angst eilte ich in den Dom und überrannte fast ein altes hinkendes Stiefmütterchen, das sich von einem Gänseblümchen das Gebetbuch nachtragen ließ. Im Dome aber war es wieder recht angenehm; in langen Reihen saßen da Tulpen von allen Farben und bewegten andächtig die Köpfe. Im Beichtstuhl saß ein schwarzer Rettich, und vor ihm kniete eine Blume, deren Gesicht nicht zum Vorschein kam. Doch sie duftete so wohlbekannt schauerlich, daß ich seltsamerweise wieder an die Nachtviole dachte, die im Zimmer stand, wo die tote Maria lag.

Als ich wieder aus dem Dome trat, begegnete mir ein Leichenzug von lauter Rosen mit schwarzen Flören und weißen Taschentüchern, und ach! auf der Bahre lag die frühzerrissene Rose, die ich am Busen der kleinen Harfenistin kennengelernt. Sie sah jetzt noch viel anmutiger aus, aber ganz kreideblaß, eine weiße Rosenleiche. Bei einer kleinen Kapelle wurde der Sarg niedergesetzt; da gab es nichts als Weinen und Schluchzen, und endlich trat eine alte Klatschrose hervor und hielt eine lange Leichenpredigt, worin sie viel schwatzte von den Tugenden der Hingeschiedenen, von einem irdischen Katzenjammertal, von einem besseren Sein, von Liebe, Hoffnung und Glaube, alles in einem näselnd singenden Tone, eine breitgewässerte Rede und so lang und langweilig, daß ich davon erwachte.

Kapitel XXII

Mein Vetturin hatte früher denn Helios seine Gäule angeschirrt, und schon um Mittagszeit erreichten wir Ala. Hier pflegen die Vetturine einige Stunden zu halten, um ihre Wagen zu wechseln.

Ala ist schon ein echt italienisches Nest. Die Lage ist pittoresk, an einem Berghang, ein Fluß rauscht vorbei, heitergrüne Weinreben umranken hie und da die übereinanderstolpernden, zusammengeflickten Bettlerpaläste. An der Ecke des windschiefen Marktes, der so klein ist wie ein Hühnerhof, steht mit großmächtigen gigantischen Buchstaben: Piazza di San Marco. Auf dem steinernen Bruchstück eines großen, altadligen Wappenschilds saß dort ein kleiner Knabe und notdürftelte. Die blanke Sonne beschien seine naive Rückseite, und in den Händen hielt er ein papiernes Heiligenbild, das er vorher inbrünstig küßte. Ein kleines, bildschönes Mädchen stand betrachtungsvoll daneben und blies zuweilen akompagnierend in eine hölzerne Kindertrompete.

Das Wirtshaus, wo ich einkehrte und zu Mittag speiste, war ebenfalls schon von echt italienischer Art. Oben, auf dem ersten Stockwerk, eine freie Estrade mit der Aussicht nach dem Hofe, wo zerschlagene Wagen und sehnsüchtige Misthaufen lagen, Truthähne mit närrisch roten Schnabellappen und bettelstolze Pfauen einherspazierten und ein halb Dutzend zerlumpter, sonnverbrannter Buben sich nach der Bell- und Lancasterschen Methode lausten. Auf jener Estrade, längs dem gebrochenen Eisengeländer, gelangt man in ein weites, hallendes Zimmer. Fußboden von Marmor, in der Mitte ein breites Bett, worauf die Flöhe Hochzeit halten; überall großartiger Schmutz. Der Wirt sprang hin und her, um meine Wünsche zu vernehmen. Er trug einen hastig grünen Leibrock und ein vielfältig bewegtes Gesicht, worin eine lange, höckerige Nase, mit einer haarigen, roten Warze, die mitten darauf saß wie ein rotjäckiger Affe auf dem Rücken eines Kamels. Er sprang hin und her, und es war dann, als ob das rote Äffchen auf seiner Nase ebenfalls hin und her spränge. Es dauerte aber eine Stunde, ehe er das mindeste brachte, und wenn ich deshalb schalt, so beteuerte er, daß ich schon sehr gut italienisch spreche.

Ich mußte mich lange mit dem lieblichen Bratenduft begnügen, der mir entgegenwogte aus der türlosen Küche gegenüber, wo Mutter und Tochter nebeneinander saßen und sangen und Hühner rupften. Erstere war remarkabel korpulent; Brüste, die sich überreichlich hervorbäumten, die jedoch noch immer klein waren im Vergleich mit dem kolossalen Hintergestell, so daß jene erst die Institutionen zu sein schienen, dieses aber ihre erweiterte Ausführung als Pandekten. Die Tochter, eine nicht sehr große, aber stark geformte Person, schien sich ebenfalls zur Korpulenz hinzuneigen; aber ihr blühendes Fett war keineswegs mit dem alten Talg der Mutter zu vergleichen. Ihre Gesichtszüge waren nicht sanft, nicht jugendlich liebreizend, jedoch schön gemessen, edel, antik; Locken und Augen brennend schwarz. Die Mutter hingegen hatte flache, stumpfe Gesichtszüge, eine rosenrote Nase, blaue Augen, wie Veilchen in Milch gekocht, und lilienweiß gepuderte Haare. Dann und wann kam der Wirt, il Signor padre, herangesprungen und fragte nach irgendeinem Geschirr oder Geräte, und im Rezitativ bekam er die ruhige Weisung, es selbst zu suchen. Dann schnalzte er mit der Zunge, kramte in den Schränken, kostete aus den kochenden Töpfen, verbrannte sich das Maul und sprang wieder fort und mit ihm sein Nasenkamel und das rote Äffchen. Hinter ihnen drein schlugen dann die lustigsten Triller, wie liebreiche Verhöhnung und Familienneckerei.

Aber diese gemütliche, fast idyllische Wirtschaft unterbrach plötzlich ein Donnerwetter; ein vierschrötiger Kerl mit einem brüllenden Mordgesicht stürzte herein und schrie etwas, das ich nicht verstand. Als beide Frauenzimmer verneinend die Köpfe schüttelten, geriet er in die tollste Wut und spie Feuer und Flamme, wie ein kleiner Vesuv, der sich ärgert. Die Wirtin schien in Angst zu geraten und flüsterte begütigende Worte, die aber eine entgegengesetzte Wirkung hervorbrachten, so daß der rasende Mensch eine eiserne Schaufel ergriff, einige unglückliche Teller und Flaschen zerschlug und auch die arme Frau geschlagen haben würde, hätte nicht die Tochter ein langes Küchenmesser erfaßt und ihn niederzustechen gedroht, im Fall er nicht sogleich abzöge.

Es war ein schöner Anblick, das Mädchen stand da, blaßgelb und vor Zorn erstarrend, wie ein Marmorbild, die Lippen ebenfalls bleich, die Augen tief und tödlich, eine blaugeschwollene Ader quer über der Stirn, die schwarzen Locken wie flatternde Schlangen, in den Händen ihr blutiges Messer – Ich schauerte vor Lust, denn leibhaftig sah ich vor mir das Bild der Medea, wie ich es oft geträumt in meinen Jugendnächten, wenn ich entschlummert war an dem lieben Herzen Melpomenes, der finster schönen Göttin.

Während dieser Szene kam der Signor padre nicht im mindesten aus dem Geleise, mit geschäftiger Seelenruhe raffte er die Scherben vom Boden auf, suchte die Teller zusammen, die noch am Leben geblieben, brachte mir darauf: Zuppa mit Parmesankäse, einen Braten derb und fest wie deutsche Treue, Krebse rot wie Liebe, grünen Spinat wie Hoffnung mit Eier und zum Dessert gestovte Zwiebeln, die mir Tränen der Rührung aus den Augen lockten. »Das hat nichts zu bedeuten, das ist nun mal Pietros Methode«, sprach er, als ich verwundert nach der Küche zeigte; und wirklich, nachdem der Urheber des Zanks sich entfernt hatte, schien es, als ob dort gar nichts vorgefallen sei, Mutter und Tochter saßen wieder ruhig nach wie vor und sangen und rupften Hühner.

Die Rechnung überzeugte mich, daß auch der Signor padre sich aufs Rupfen verstand, und als ich ihm dennoch, außer der Zahlung, etwas für die gute Hand gab, da nieste er so vergnügt stark, daß das Äffchen beinah von seinem Sitze herabgefallen wäre. Hierauf winkte ich freundlich hinüber nach der Küche, freundlich war der Gegengruß, bald saß ich in dem eingetauschten Wagen, fuhr rasch hinab in die lombardische Ebene und erreichte gegen Abend die uralte, weltberühmte Stadt Verona.

Kapitel XXIII

Die bunte Gewalt der neuen Erscheinungen bewegte mich in Trient nur dämmernd und ahndungsvoll, wie Märchenschauer; in Verona aber erfaßte sie mich wie ein mächtiger Fiebertraum voll heißer Farben, scharfbestimmter Formen, gespenstischer Trompetenklänge und fernen Waffengeräusches. Da war manch verwitterter Palast, der mich so stier ansah, als wollte er mir ein altes Geheimnis anvertrauen und er scheuete sich nur vor dem Gewühl der zudringlichen Tagesmenschen und bäte mich, zur Nachtzeit wiederzukommen. Jedoch trotz dem Gelärm des Volkes und trotz der wilden Sonne, die ihr rotes Licht hineingoß, hat doch hie und da ein alter dunkler Turm mir ein bedeutendes Wort zugeworfen, hie und da vernahm ich das Geflüster gebrochener Bildsäulen, und als ich gar über eine kleine Treppe ging, die nach der Piazza de’ Signori führte, da erzählten mir die Steine eine furchtbar blutige Geschichte, und ich las an der Ecke die Worte: Scala Mazzanti.

Verona, die uralte, weltberühmte Stadt, gelegen auf beiden Seiten der Etsch, war immer gleichsam die erste Station für die germanischen Wandervölker, die ihre kaltnordischen Wälder verließen und über die Alpen stiegen, um sich im güldenen Sonnenschein des lieblichen Italiens zu erlustigen. Einige zogen weiter hinab, anderen gefiel es schon gut genug am Orte selbst, und sie machten es sich heimatlich bequem und zogen seidne Hausgewänder an und ergingen sich friedlich unter Blumen und Zypressen, bis neue Ankömmlinge, die noch ihre frischen Eisenkleider anhatten, aus dem Norden kamen und sie verdrängten – eine Geschichte, die sich oft wiederholte und von den Historikern die Völkerwanderung genannt wird. Wandelt man jetzt durch das Weichbild Veronas, so findet man überall die abenteuerlichen Spuren jener Tage sowie auch die Spuren der älteren und der späteren Zeiten. An die Römer mahnt besonders das Amphitheater und der Triumphbogen; an die Zeit des Theoderichs, des Dietrichs von Bern, von dem die Deutschen noch singen und sagen, erinnern die fabelhaften Reste so mancher byzantinisch vorgotischen Bauwerke; tolle Trümmer erinnern an König Alboin und seine wütenden Longobarden; sagenreiche Denkmale mahnen an Carolum Magnum, dessen Paladine an der Pforte des Doms ebenso fränkisch roh gemeißelt sind, wie sie gewiß im Leben gewesen – es will uns bedünken, als sei die Stadt eine große Völkerherberge, und gleichwie man in Wirtshäusern seinen Namen auf Wand und Fenster zu schreiben pflegt, so habe dort jedes Volk die Spuren seiner Anwesenheit zurückgelassen, freilich oft nicht in der leserlichsten Schrift, da mancher deutsche Stamm noch nicht schreiben konnte und sich damit behelfen mußte, zum Andenken etwas zu zertrümmern, welches auch hinreichend war, da diese Trümmer noch deutlicher sprechen als zierliche Buchstaben. Die Barbaren, welche jetzt die alte Herberge bezogen haben, werden nicht ermangeln, ebensolche Denkmäler ihrer holden Gegenwart zu hinterlassen, da es ihnen an Bildhauern und Dichtern fehlt, um sich durch mildere Mittel im Andenken der Menschen zu erhalten.

Ich blieb nur einen Tag in Verona, in beständiger Verwunderung ob des nie Gesehenen, anstarrend jetzt die altertümlichen Gebäude, dann die Menschen, die in geheimnisvoller Hast dazwischen wimmelten, und endlich wieder den gottblauen Himmel, der das seltsame Ganze wie ein kostbarer Rahmen umschloß und dadurch gleichsam zu einem Gemälde erhob. Es ist aber eigen, wenn man in dem Gemälde, das man eben betrachtet hat, selbst steckt und hie und da von den Figuren desselben angelächelt wird und gar von den weiblichen, wie’s mir auf der Piazza delle Erbe so lieblich geschah. Das ist nämlich der Gemüsemarkt, und da gab es vollauf ergötzliche Gestalten, Frauen und Mädchen, schmachtend großäugige Gesichter, süße wöhnliche Leiber, reizend gelb, naiv schmutzig, geschaffen viel mehr für die Nacht als für den Tag. Der weiße oder schwarze Schleier, den die Stadtfrauen auf dem Haupte tragen, war so listig um den Busen geschlagen, daß er die schönen Formen mehr verriet als verbarg. Die Mägde trugen Chignons, durchstochen mit einem oder mehreren goldnen Pfeilen, auch wohl mit einem eichelköpfigen Silberstäbchen. Die Bäuerinnen hatten meist kleine tellerartige Strohhütchen mit kokettierenden Blumen an die eine Seite des Kopfes gebunden. Die Tracht der Männer war minder abweichend von der unsrigen, und nur die ungeheuern schwarzen Backenbärte, die aus der Krawatte hervorbuschten, waren mir hier, wo ich diese Mode zuerst bemerkte, etwas auffallend.

Betrachtete man aber genauer diese Menschen, die Männer wie die Frauen, so entdeckte man, in ihren Gesichtern und in ihrem ganzen Wesen, die Spuren einer Zivilisation, die sich von der unsrigen insofern unterscheidet, daß sie nicht aus der Mittelalterbarbarei hervorgegangen, sondern noch aus der Römerzeit herrührt, nie ganz vertilgt worden ist und sich nur nach dem jedesmaligen Charakter der Landesherrscher modifiziert hat. Die Zivilisation hat bei diesen Menschen keine so auffallend neue Politur wie bei uns, wo die Eichenstämme erst gestern gehobelt worden sind und alles noch nach Firnis riecht. Es scheint uns, als habe dieses Menschengewühl auf der Piazza delle Erbe im Laufe der Zeiten nur allmählich Röcke und Redensarten gewechselt und der Geist der Gesittung habe sich dort wenig verändert. Die Gebäude aber, die diesen Platz umgeben, mögen nicht so leicht imstande gewesen sein, mit der Zeit fortzuschreiten; doch schauen sie darum nicht minder anmutig, und ihr Anblick bewegt wunderbar unsre Seele. Da stehen hohe Paläste im venezianisch-lombardischen Stil, mit unzähligen Balkonen und lachenden Freskobildern; in der Mitte erhebt sich eine einzelne Denksäule, ein Springbrunnen und eine steinerne Heilige; hier schaut man den launig rot und weiß gestreiften Podestà, der hinter einem mächtigen Pfeilertor emporragt; dort wieder erblickt man einen altviereckigen Kirchturm, woran oben der Zeiger und das Zifferblatt der Uhr zur Hälfte zerstört ist, so daß es aussieht, als wolle die Zeit sich selber vernichten – über dem ganzen Platz liegt derselbe romantische Zauber, der uns so lieblich anweht aus den phantastischen Dichtungen des Ludovico Ariosto oder des Ludovico Tieck.

Nahe bei diesem Platze steht ein Haus, das man wegen eines Hutes, der über dem inneren Tor in Stein gemeißelt ist, für den Palast der Capulets hält. Es ist jetzt eine schmutzige Kneipe für Fuhrleute und Kutscher, und als Herbergeschild hängt davor ein roter, durchlöcherter Blechhut. Unfern, in einer Kirche, zeigt man auch die Kapelle, worin, der Sage nach, das unglückliche Liebespaar getraut worden. Ein Dichter besucht gern solche Orte, wenn er auch selbst lächelt über die Leichtgläubigkeit seines Herzens. Ich fand in dieser Kapelle ein einsames Frauenzimmer, ein kümmerlich verblichenes Wesen, das, nach langem Knien und Bêten, seufzend aufstand, aus kranken, stillen Augen mich befremdet ansah und endlich, wie mit gebrochenen Gliedern, fortschwankte.

Auch die Grabmäler der Scaliger sind unfern der Piazza delle Erbe. Sie sind so wundersam prächtig wie dieses stolze Geschlecht selbst, und es ist schade, daß sie in einem engen Winkel stehen, wo sie sich gleichsam zusammendrängen müssen, um sowenig Raum als möglich einzunehmen, und wo auch dem Beschauer nicht viel Platz bleibt, um sie ordentlich zu betrachten. Es ist, als sähen wir hier die geschichtliche Erscheinung dieses Geschlechtes vergleichnist; diese füllt ebenfalls nur einen kleinen Winkel in der allgemeinen italienischen Geschichte, aber dieser Winkel ist gedrängt voll von Tatenglanz, Gesinnungspracht und Übermutsherrlichkeit. Wie in der Geschichte, so sieht man sie auch auf ihren Monumenten, stolze, eiserne Ritter auf eisernen Rossen, vor allen herrlich Can Grande, der Oheim, und Mastino, der Neffe.

Kapitel XXIV

Über das Amphitheater von Verona haben viele gesprochen; man hat dort Platz genug zu Betrachtungen, und es gibt keine Betrachtungen, die sich nicht in den Kreis dieses berühmten Bauwerks einfangen ließen. Es ist ganz in jenem ernsten tatsächlichen Stil gebaut, dessen Schönheit in der vollendeten Solidität besteht und, wie alle öffentlichen Gebäude der Römer, einen Geist ausspricht, der nichts anders ist als der Geist von Rom selbst. Und Rom? Wer ist so gesund unwissend, daß nicht heimlich bei diesem Namen sein Herz erbebte und nicht wenigstens eine traditionelle Furcht seine Denkkraft aufrüttelte? Was mich betrifft, so gestehe ich, daß mein Gefühl mehr Angst als Freude enthielt, wenn ich daran dachte, bald umherzuwandeln auf dem Boden der alten Roma. »Die alte Roma ist ja jetzt tot«, beschwichtigte ich die zagende Seele, »und du hast die Freude, ihre schöne Leiche ganz ohne Gefahr zu betrachten.« Aber dann stieg wieder das Falstaffsche Bedenken in mir auf: Wenn sie aber doch nicht ganz tot wäre und sich nur verstellt hätte und sie stände plötzlich wieder auf – es wäre entsetzlich!

Als ich das Amphitheater besuchte, wurde just Komödie darin gespielt; eine kleine Holzbude war nämlich in der Mitte errichtet, darauf ward eine italienische Posse aufgeführt, und die Zuschauer saßen unter freiem Himmel, teils auf kleinen Stühlchen, teils auf den hohen Steinbänken des alten Amphitheaters. Da saß ich nun und sah Brighellas und Tartaglias Spiegelfechtereien auf derselben Stelle, wo der Römer einst saß und seinen Gladiatoren und Tierhetzen zusah. Der Himmel über mir, die blaue Kristallschale, war noch derselbe wie damals. Es dunkelte allmählich, die Sterne schimmerten hervor, Truffaldino lachte, Smeraldina jammerte, endlich kam Pantalone und legte ihre Hände ineinander. Das Volk klatschte Beifall und zog jubelnd von dannen. Das ganze Spiel hatte keinen Tropfen Blut gekostet. Es war aber nur ein Spiel. Die Spiele der Römer hingegen waren keine Spiele, diese Männer konnten sich nimmermehr am bloßen Schein ergötzen, es fehlte ihnen dazu die kindliche Seelenheiterkeit, und ernsthaft, wie sie waren, zeigte sich auch in ihren Spielen der barste, blutigste Ernst. Sie waren keine große Menschen, aber durch ihre Stellung waren sie größer als andre Erdenkinder, denn sie standen auf Rom. Sowie sie von den sieben Hügeln herabstiegen, waren sie klein. Daher die Kleinlichkeit, die wir da entdecken, wo ihr Privatleben sich ausspricht; und Herkulanum und Pompeji, jene Palimpsesten der Natur, wo jetzt wieder der alte Steintext hervorgegraben wird, zeigen dem Reisenden das römische Privatleben in kleinen Häuschen mit winzigen Stübchen, welche so auffallend kontrastieren gegen jene kolossalen Bauwerke, die das öffentliche Leben aussprachen, jene Theater, Wasserleitungen, Brunnen, Landstraßen, Brücken, deren Ruinen noch jetzt unser Staunen erregen. Aber das ist es ja eben; wie der Grieche groß ist durch die Idee der Kunst, der Hebräer durch die Idee eines heiligsten Gottes, so sind die Römer groß durch die Idee ihrer ewigen Roma, groß überall, wo sie in der Begeisterung dieser Idee gefochten, geschrieben und gebaut haben. Je größer Rom wurde, je mehr erweiterte sich diese Idee, der einzelne verlor sich darin, die Großen, die noch hervorragen, sind nur getragen von dieser Idee, und sie macht die Kleinheit der Kleinen noch bemerkbarer. Die Römer sind deshalb zugleich die größten Helden und die größten Satiriker gewesen, Helden, wenn sie handelten, während sie an Rom dachten, Satiriker, wenn sie an Rom dachten, während sie die Handlungen ihrer Genossen beurteilten. Gemessen mit solchem ungeheuren Maßstab der Idee Rom, mußte selbst die größte Persönlichkeit zwerghaft erscheinen und somit der Spottsucht anheimfallen. Tacitus ist der grausamste Meister in dieser Satire, eben weil er die Größe Roms und die Kleinheit der Menschen am tiefsten fühlte. Recht in seinem Elemente ist er jedesmal, wenn er berichten kann, was die maliziösen Zungen auf dem Forum über irgendeine imperiale Schandtat räsonierten; recht ingrimmig glücklich ist er, wenn er irgendeine senatorische Blamage, etwa eine verfehlte Schmeichelei, zu erzählen hat.

Ich ging noch lange umher spazieren auf den höheren Bänken des Amphitheaters, zurücksinnend in die Vergangenheit. Wie alle Gebäude im Abendlichte ihren inwohnenden Geist am anschaulichsten offenbaren, so sprachen auch diese Mauern zu mir, in ihrem fragmentarischen Lapidarstil, tiefernste Dinge; sie sprachen von den Männern des alten Roms, und mir war dabei, als sähe ich sie selber umherwandeln, weiße Schatten unter mir im dunkeln Zirkus. Mir war, als sähe ich die Gracchen mit ihren begeisterten Märtyreraugen. »Tiberius Sempronius«, rief ich hinab, »ich werde mit dir stimmen für das agrarische Gesetz!« Auch Cäsar sah ich, Arm in Arm wandelte er mit Marcus Brutus – »Seid ihr wieder versöhnt?« rief ich. »Wir glaubten beide recht zu haben«, lachte Cäsar zu mir herauf, »ich wußte nicht, daß es noch einen Römer gab, und hielt mich deshalb für berechtigt, Rom in die Tasche zu stecken, und weil mein Sohn Marcus eben dieser Römer war, so glaubte er sich berechtigt, mich deshalb umzubringen.« Hinter diesen beiden schlich Tiberius Nero mit Nebelbeinen und unbestimmten Mienen. Auch Weiber sah ich dort wandeln, darunter Agrippina mit ihrem schönen herrschsüchtigen Gesichte, das wundersam rührend anzusehen war, wie ein altes Marmorbild, in dessen Zügen der Schmerz wie versteinert erscheint. »Wen suchst du, Tochter des Germanicus?« Schon hörte ich sie klagen – da plötzlich erscholl das dumpfsinnige Geläute einer Betglocke und das fatale Getrommel des Zapfenstreichs. Die stolzen römischen Geister verschwanden, und ich war wieder ganz in der christlich östreichischen Gegenwart.

Kapitel XXV

Auf dem Platze La Bra spaziert, sobald es dunkel wird, die schöne Welt von Verona oder sitzt dort auf kleinen Stühlchen vor den Kaffeebuden und schlürft Sorbett und Abendkühle und Musik. Da läßt sich gut sitzen, das träumende Herz wiegt sich auf süßen Tönen und erklingt im Widerhall. Manchmal, wie schlaftrunken, taumelt es auf, wenn die Trompeten erschallen, und es stimmt ein mit vollem Orchester. Dann ist der Geist wieder sonnig ermuntert, großblumige Gefühle und Erinnerungen mit tiefen schwarzen Augen blühen hervor, und drüber hin ziehen die Gedanken, wie Wolkenzüge, stolz und langsam und ewig.

Ich wandelte noch bis spät nach Mitternacht durch die Straßen Veronas, die allmählich menschenleer wurden und wunderbar widerhallten. Im halben Mondlicht dämmerten die Gebäude und ihre Bildwerke, und bleich und schmerzhaft sah mich an manch marmornes Gesicht. Ich eilte schnell den Grabmälern der Scaliger vorüber; denn mir schien, als wolle Can Grande, artig, wie er immer gegen Dichter war, von seinem Rosse herabsteigen und mich als Wegweiser begleiten. »Bleib du nur sitzen«, rief ich ihm zu, »ich bedarf deiner nicht, mein Herz ist der beste Cicerone und erzählt mir überall die Geschichten, die in den Häusern passiert sind, und bis auf Namen und Jahrzahl erzählt es sie treu genug.«

Als ich an den römischen Triumphbogen kam, huschte eben ein schwarzer Mönch hindurch, und fernher erscholl ein deutsch brummendes »Werda?« – »Gut Freund!« greinte ein vergnügter Diskant.

Welchem Weibe aber gehörte die Stimme, die mir so süß unheimlich in die Seele drang, als ich über die Scala Mazzanti stieg? Es war Gesang wie aus der Brust einer sterbenden Nachtigall, todzärtlich und wie hülferufend an den steinernen Häusern widerhallend. Auf dieser Stelle hat Antonio della Scala seinen Bruder Bartolomeo umgebracht, als dieser eben zur Geliebten gehen wollte. Mein Herz sagte mir, sie säße noch immer in ihrer Kammer und erwarte den Geliebten und sänge nur, um ihre ahnende Angst zu überstimmen. Aber bald schienen mir Lied und Stimme so wohlbekannt, ich hatte diese seidnen, schaurigen, verblutenden Töne schon früher gehört, sie umstrickten mich wie weiche, flehende Erinnerungen und – »O du dummes Herz«, sprach ich zu mir selber, »kennst du denn nicht mehr das Lied vom kranken Mohrenkönig, das die tote Maria so oft gesungen? Und die Stimme selbst – kennst du denn nicht mehr die Stimme der toten Maria?«

Die langen Töne verfolgten mich durch alle Straßen, bis zum Gasthof »Due Torre«, bis ins Schlafgemach, bis in den Traum – Und da sah ich wieder mein süßes gestorbenes Leben schön und regungslos liegen, die alte Wachfrau entfernte sich wieder mit rätselhaftem Seitenblick, die Nachtviole duftete, ich küßte wieder die lieblichen Lippen, und die holde Leiche erhob sich langsam, um mir den Gegenkuß zu bieten.

Wüßte ich nur, wer das Licht ausgelöscht hat.

Kapitel XXVI

Kennst du das Land, wo die Zitronen blühen?

Kennt du das Lied? Ganz Italien ist darin geschildert, aber mit den seufzenden Farben der Sehnsucht. In der »Italienische Reise« hat es Goethe etwas ausführlicher besungen, und wo er malt, hat er das Original immer vor Augen, und man kann sich auf die Treue der Umrisse und der Farbengebung ganz verlassen. Ich finde es daher bequem, hier ein für allemal auf Goethes »Italienische Reise« hinzudeuten, um so mehr, da er, bis Verona, dieselbe Tour, durch Tirol, gemacht hat. Ich habe schon früherhin über jenes Buch gesprochen, ehe ich den Stoff, den es behandelt, gekannt habe, und ich finde jetzt mein ahnendes Urteil vollauf bestätigt. Wir schauen nämlich darin überall tatsächliche Auffassung und die Ruhe der Natur. Goethe hält ihr den Spiegel vor, oder besser gesagt, er ist selbst der Spiegel der Natur. Die Natur wollte wissen, wie sie aussieht, und sie erschuf Goethe. Sogar die Gedanken, die Intentionen der Natur vermag er uns widerzuspiegeln, und es ist einem hitzigen Goethianer, zumal in den Hundstagen, nicht zu verargen, wenn er über die Identität der Spiegelbilder mit den Objekten selbst so sehr erstaunt, daß er dem Spiegel sogar Schöpfungskraft, die Kraft, ähnliche Objekte zu erschaffen, zutraut. Ein Herr Eckermann hat mal ein Buch über Goethe geschrieben, worin er ganz ernsthaft versichert: hätte der liebe Gott bei Erschaffung der Welt zu Goethe gesagt: »Lieber Goethe, ich bin jetzt gottlob fertig, ich habe jetzt alles erschaffen, bis auf die Vögel und die Bäume, und du tätest mir eine Liebe, wenn du statt meiner diese Bagatellen noch erschaffen wolltest« – so würde Goethe, ebensogut wie der liebe Gott, diese Tiere und Gewächse ganz im Geiste der übrigen Schöpfung, nämlich die Vögel mit Federn und die Bäume grün, erschaffen haben.

Es liegt Wahrheit in diesen Worten, und ich bin sogar der Meinung, daß Goethe manchmal seine Sache noch besser gemacht hätte als der liebe Gott selbst und daß er z.B. den Herrn Eckermann viel richtiger, ebenfalls mit Federn und grün, erschaffen hätte. Es ist wirklich ein Schöpfungsfehler, daß auf dem Kopfe des Herrn Eckermann keine grüne Federn wachsen, und Goethe hat diesem Mangel wenigstens dadurch abzuhelfen gesucht, daß er ihm einen Doktorhut aus Jena verschrieben und eigenhändig aufgesetzt hat.

Nächst Goethes »Italienischer Reise« ist Frau von Morgans »Italien« und Frau von Staëls »Corinna« zu empfehlen. Was diesen Frauen an Talent fehlt, um neben Goethe nicht unbedeutend zu erscheinen, das ersetzen sie durch männliche Gesinnungen, die jenem mangeln. Denn Frau v. Morgan hat wie ein Mann gesprochen, sie sprach Skorpionen in die Herzen frecher Söldner, und mutig und süß waren die Triller dieser flatternden Nachtigall der Freiheit. Ebenso, wie männiglich bekannt ist, war Frau von Staël eine liebenswürdige Marketenderin im Heer der Liberalen und lief mutig durch die Reihen der Kämpfenden mit ihrem Enthusiasmusfäßchen und stärkte die Müden und focht selber mit, besser als die Besten.

Was überhaupt italienische Reisebeschreibungen betrifft, so hat W. Müller vor geraumer Zeit im »Hermes« eine Übersicht derselben gegeben. Ihre Zahl ist Legion. Unter den ältern deutschen Schriftstellern in diesem Fache sind, durch Geist oder Eigentümlichkeit, am ausgezeichnetsten: Moritz, Archenholz, Bartels, der brave Seume, Arndt, Meyer, Benkowitz und Rehfues. Die neueren kenne ich weniger, und nur wenige davon haben mir Vergnügen und Belehrung gewährt. Unter diesen nenne ich des allzufrüh verstorbenen W. Müllers »Rom, Römer und Römerinnen« – ach, er war ein deutscher Dichter! –, dann die Reise von Kephalides, die ein bißchen trocken ist, ferner Leßmanns »Cisalpinische Blätter«, die etwas zu flüssig sind, und endlich die »Reisen in Italien seit 1822«, von Friedrich Thiersch, Lud. Schorn, Eduard Gerhardt und Leo v. Klenze; von diesem Werke ist erst ein Teil erschienen, und er enthält meistens Mitteilungen von meinem lieben, edlen Thiersch, dessen humanes Auge aus jeder Zeile hervorblickt.

Kapitel XXVII

Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn?

Im dunkeln Laub die Goldorangen glühn,

Ein sanfter Wind vom blauen Himmel weht,

Die Myrte still und hoch der Lorbeer steht,

Kennst du es wohl?

Dahin! dahin

Möcht ich mit dir, o mein Geliebter, ziehn.

– Aber reise nur nicht im Anfang August, wo man des Tags von der Sonne gebraten und des Nachts von den Flöhen verzehrt wird. Auch rate ich dir, mein lieber Leser, von Verona nach Mailand nicht mit dem Postwagen zu fahren.

Ich fuhr, in Gesellschaft von sechs Banditen, in einer schwerfälligen Carrozza, die, wegen des allzu gewaltigen Staubes, von allen Seiten so sorgfältig verschlossen wurde, daß ich von der Schönheit der Gegend wenig bemerken konnte. Nur zweimal, ehe wir Brescia erreichten, lüftete mein Nachbar das Seitenleder, um hinauszuspucken. Das eine Mal sah ich nichts als einige schwitzende Tannen, die in ihren grünen Winterröcken von der schwülen Sonnenhitze sehr zu leiden schienen; das andere Mal sah ich ein Stück von einem wunderklaren blauen See, worin die Sonne und ein magerer Grenadier sich spiegelten. Letzterer, ein östreichischer Narziß, bewunderte mit kindischer Freude, wie sein Spiegelbild ihm alles getreu nachmachte, wenn er das Gewehr präsentierte oder schulterte oder zum Schießen auslegte.

Von Brescia selbst weiß ich ebenfalls wenig zu erzählen, indem ich die Zeit meines dortigen Aufenthalts dazu benutzte, ein gutes Pranzo einzunehmen. Man kann es einem armen Reisenden nicht verdenken, wenn er den Hunger des Leibes früher stillt als den des Geistes. Doch war ich gewissenhaft genug, ehe ich wieder in den Wagen stieg, einige Notizen über Brescia vom Cameriere zu erfragen, und da erfuhr ich unter anderen: die Stadt habe 40000 Einwohner, ein Rathaus, 21 Kaffeehäuser, 20 katholische Kirchen, ein Tollhaus, eine Synagoge, eine Menagerie, ein Zuchthaus, ein Krankenhaus, ein ebenso gutes Theater und einen Galgen für Diebe, die unter 100000 Taler stehlen.

Um Mitternacht arrivierte ich in Mailand und kehrte ein bei Herrn Reichmann, einem Deutschen, der sein Hotel ganz nach deutscher Weise eingerichtet. Es sei das beste Wirtshaus in ganz Italien, sagten mir einige Bekannte, die ich dort wiederfand und die über italienische Gastwirte und Flöhe sehr schlecht zu sprechen waren. Da hörte ich nichts als ärgerliche Histörchen von italienischen Prellereien, und besonders Sir William fluchte und versicherte, wenn Europa der Kopf der Welt sei, so sei Italien das Diebesorgan dieses Kopfes. Der arme Baronet hat in der Locanda Croce bianca zu Padua nicht weniger als zwölf Francs für ein mageres Frühstück bezahlen müssen, und zu Vicenza hat ihm jemand ein Trinkgeld abgefordert, als er ihm einen Handschuh aufhob, den er beim Einsteigen in den Wagen fallen lassen. Sein Vetter Tom sagte, alle Italiener seien Spitzbuben bis auf den einzigen Umstand, daß sie nicht stehlen. Hätte er liebenswürdiger ausgesehen, so würde er auch die Bemerkung gemacht haben, daß alle Italienerinnen Spitzbübinnen sind. Der Dritte im Bunde war ein Mister Liver, den ich in Brighton als ein junges Kalb verlassen hatte und jetzt in Mailand als einen bœuf à la mode wiederfand. Er war ganz als Dandy gekleidet, und ich habe nie einen Menschen gesehen, der es besser verstanden hätte, mit seiner Figur lauter Ecken hervorzubringen. Wenn er die Daumen in die Ärmelausschnitte der Weste einkrempte, machte er auch mit der Handwurzel und mit jedem Finger einige Ecken; ja sein Maul war sogar viereckig aufgesperrt. Dazu kommt ein eckiger Kopf, hinten schmal, oben spitz, mit kurzer Stirn und sehr langem Kinn. Unter den englischen Bekannten, die ich in Mailand wiedersah, war auch Livers dicke Tante; gleich einer Fettlawine war sie von den Alpen herabgekommen, in Gesellschaft zweier schneeweißen, schneekalten Schneegänschen, Miß Polly und Miß Molly.

Beschuldige mich nicht der Anglomanie, lieber Leser, wenn ich in diesem Buche sehr häufig von Engländern spreche; sie sind jetzt in Italien zu zahlreich, um sie übersehen zu können, sie durchziehen dieses Land in ganzen Schwärmen, lagern in allen Wirtshäusern, laufen überall umher, um alles zu sehen, und man kann sich keinen italienischen Zitronenbaum mehr denken ohne eine Engländerin, die daran riecht, und keine Galerie ohne ein Schock Engländer, die, mit ihrem Guide in der Hand, darin umherrennen und nachsehen, ob noch alles vorhanden, was in dem Buche als merkwürdig erwähnt ist. Wenn man jenes blonde, rotbäckige Volk mit seinen blanken Kutschen, bunten Lakaien, wiehernden Rennpferden, grünverschleierten Kammerjungfern und sonstig kostbaren Geschirren, neugierig und geputzt, über die Alpen ziehen und Italien durchwandern sieht, glaubt man eine elegante Völkerwanderung zu sehen. Und in der Tat, der Sohn Albions, obgleich er weiße Wäsche trägt und alles bar bezahlt, ist doch ein zivilisierter Barbar, in Vergleichung mit dem Italiener, der vielmehr eine in Barbarei übergehende Zivilisation bekundet. Jener zeigt in seinen Sitten eine zurückgehaltene Roheit, dieser eine ausgelassene Feinheit. Und gar die blassen italienischen Gesichter, in den Augen das leidende Weiß, die Lippen krankhaft zärtlich, wie heimlich vornehm sind sie gegen die steif britischen Gesichter mit ihrer pöbelhaft roten Gesundheit! Das ganze italienische Volk ist innerlich krank, und kranke Menschen sind immer wahrhaft vornehmer als gesunde; denn nur der kranke Mensch ist ein Mensch, seine Glieder haben eine Leidensgeschichte, sie sind durchgeistet. Ich glaube sogar, durch Leidenskämpfe könnten die Tiere zu Menschen werden; ich habe mal einen sterbenden Hund gesehen, der in seinen Todesqualen mich fast menschlich ansah.

Der leidende Gesichtsausdruck wird bei den Italienern am sichtbarsten, wenn man mit ihnen vom Unglück ihres Vaterlandes spricht, und dazu gibt’s in Mailand genug Gelegenheit. Das ist die schmerzlichste Wunde in der Brust der Italiener, und sie zucken zusammen, sobald man diese nur leise berührt. Sie haben alsdann eine Bewegung der Achsel, die uns mit sonderbarem Mitleid erfüllt. Einer meiner Briten hielt die Italiener für politisch indifferent, weil sie gleichgültig zuzuhören schienen, wenn wir Fremde über die katholische Emanzipation und den Türkenkrieg politisierten; und er war ungerecht genug, gegen einen blassen Italiener mit pechschwarzem Barte sich darüber spöttisch zu äußern. Wir hatten den Abend vorher eine neue Oper in der Scala aufführen sehen und den Mordspektakel gehört, der, wie gebräuchlich, bei solchen Anlässen stattfindet. »Ihr Italiener«, sagte der Brite zu dem Blassen, »scheint für alles abgestorben zu sein, außer für Musik, und nur noch diese vermag euch zu begeistern.« – »Sie tun uns unrecht«, sagte der Blasse und bewegte die Achsel. »Ach!« seufzte er hinzu, »Italien sitzt elegisch träumend auf seinen Ruinen, und wenn es dann manchmal bei der Melodie irgendeines Liedes plötzlich erwacht und stürmisch emporspringt, so gilt diese Begeisterung nicht dem Liede selbst, sondern vielmehr den alten Erinnerungen und Gefühlen, die das Lied ebenfalls geweckt hat, die Italien immer im Herzen trug und die jetzt gewaltig hervorbrausen – und das ist die Bedeutung des tollen Lärms, den Sie in der Scala gehört haben.«

Vielleicht gewährt dieses Bekenntnis auch einigen Aufschluß über den Enthusiasmus, den jenseits der Alpen Rossinis oder Meyerbeers Opern überall hervorbringen. Habe ich jemals menschliche Raserei gesehen, so war es bei einer Aufführung des »Crociato in Egitto«, wenn die Musik manchmal aus dem weichen, wehmütigen Ton plötzlich in jauchzenden Schmerz übersprang. Jene Raserei heißt in Italien: furore.

Kapitel XXVIII

Obgleich ich, lieber Leser, jetzt schon Gelegenheit hätte, bei Erwähnung der Brera und Ambrosiana dir meine Kunsturteile aufzutischen, so will ich doch diesen Kelch an dir vorübergehen lassen und mich mit der Bemerkung begnügen, daß ich das spitze Kinn, das den Bildern der lombardischen Schule einen Anstrich von Sentimentalität gibt, auch auf den Straßen von Mailand bei mancher schönen Lombardin gesehen habe. Es war mir immer außerordentlich belehrend, wenn ich mit den Werken einer Schule auch die Originale vergleichen konnte, die ihr als Modelle gedient haben; der Charakter der Schule kam mir dann klarer zur Anschauung. So ist mir auf dem Jahrmarkt zu Rotterdam der Jan Steen in seiner göttlichsten Heiterkeit plötzlich verständlich geworden; so habe ich späterhin am Long-Arno die Formenwahrheit und den tüchtigen Geist der Florentiner und auf dem San Marco die Farbenwahrheit und die träumerische Oberflächlichkeit der Venezianer begreifen lernen. Geh nach Rom, liebe Seele, und vielleicht schwingst du dich dort hinauf zur Anschauung der Idealität und zum Verständnis des Raffael.

Indessen eine Merkwürdigkeit Mailands, die in jeder Hinsicht die größte ist, kann ich nicht unerwähnt lassen – das ist der Dom.

In der Ferne scheint es, als sei er aus weißem Postpapier geschnitzelt, und in der Nähe erschrickt man, daß dieses Schnitzwerk aus unwiderlegbarem Marmor besteht. Die unzähligen Heiligenbilder, die das ganze Gebäude bedecken, die überall unter den gotischen Krondächlein hervorgucken und oben auf allen Spitzen gepflanzt stehen, dieses steinerne Volk verwirrt einem fast die Sinne. Betrachtet man das ganze Werk etwas länger, so findet man es doch recht hübsch, kolossal niedlich, ein Spielzeug für Riesenkinder. Im mitternächtlichen Mondschein gewährt es noch den besten Anblick, dann kommen all die weißen Steinmenschen aus ihrer wimmelnden Höhe herabgestiegen und gehen mit einem über die Piazza und flüstern einem alte Geschichten ins Ohr, putzig heilige, ganz geheime Geschichten von Galeazzo Visconti, der den Dombau begonnen, und von Napoleon Buonaparte, der ihn späterhin fortgesetzt.

»Siehst du« – sagte mir ein gar seltsamer Heiliger, der in der neuesten Zeit aus dem neuesten Marmor verfertigt war –, »siehst du, meine älteren Kameraden können nicht begreifen, warum der Kaiser Napoleon den Dombau so eifrig betrieben hat. Aber ich weiß es sehr gut, er hat eingesehen, daß dieses große Steinhaus auf jeden Fall ein sehr nützliches Gebäude sein würde und auch dann noch brauchbar, wenn einst das Christenturn vorüber ist.«

Wenn einst das Christentum vorüber ist – Ich war schier erschrocken, als ich hörte, daß es Heilige in Italien gibt, die eine solche Sprache führen und dazu auf einem Platze, wo östreichische Schildwachen, mit Bärenmützen und Tornistern, auf und ab gehen. Indessen, der steinerne Kauz hat gewissermaßen recht, das Innere des Domes ist hübsch kühl im Sommer, und heiter und angenehm, und würde auch bei veränderter Bestimmung seinen Wert behalten.

Die Vollendung des Domes war einer von Napoleons Lieblingsgedanken, und er war nicht weit vom Ziele entfernt, als seine Herrschaft gebrochen wurde. Die Östreicher vollenden jetzt das Werk. Auch an dem berühmten Triumphbogen, der die Simplonstraße beschließen sollte, wird weitergebaut. Freilich, Napoleons Standbild wird nicht, wie früher bestimmt war, auf die Spitze jenes Bogens gestellt werden. Immerhin, der große Kaiser hat ein Standbild hinterlassen, das viel besser ist und dauerhafter als Marmor und das kein Östreicher unseren Blicken entziehen kann. Wenn wir anderen längst von der Sense der Zeit niedergemäht und wie Spreu des Feldes verweht sein werden, wird jenes Standbild noch unversehrt dastehen; neue Geschlechter werden aus der Erde hervorwachsen, werden schwindelnd an jenes Bild hinaufsehen und sich wieder in die Erde legen; – und die Zeit, unfähig, solch Bild zu zerstören, wird es in sagenhafte Nebel zu hüllen suchen, und seine ungeheure Geschichte wird endlich ein Mythos.

Vielleicht, nach Jahrtausenden, wird ein spitzfindiger Schulmeister, in einer grundgelehrten Dissertation, unumstößlich beweisen, daß der Napoleon Bonaparte ganz identisch sei mit jenem andern Titane, der den Göttern das Licht raubte und für dieses Vergehen auf einem einsamen Felsen, mitten im Meere, angeschmiedet wurde, preisgegeben einem Geier, der täglich sein Herz zerfleischte.

Kapitel XXIX

Ich bitte dich, lieber Leser, halte mich nicht für einen unbedingten Bonapartisten; meine Huldigung gilt nicht den Handlungen, sondern nur dem Genius des Mannes. Unbedingt liebe ich ihn nur bis zum achtzehnten Brumaire – da verriet er die Freiheit. Und er tat es nicht aus Notwendigkeit, sondern aus geheimer Vorliebe für Aristokratismus. Napoleon Bonaparte war ein Aristokrat, ein adeliger Feind der bürgerlichen Gleichheit, und es war ein kolossales Mißverständnis, daß die europäische Aristokratie, repräsentiert von England, ihn so todfeindlich bekriegte; denn wenn er auch in dem Personal dieser Aristokratie einige Veränderungen vorzunehmen beabsichtigte, so hätte er doch den größten Teil derselben und ihr eigentliches Prinzip erhalten, er würde diese Aristokratie regeneriert haben, statt daß sie jetzt darniederliegt durch Alterschwäche, Blutverlust und Ermüdung von ihrem letzten, gewiß allerletzten Sieg.

Lieber Leser! wir wollen uns hier ein für allemal verständigen. Ich preise nie die Tat, sondern nur den menschlichen Geist, die Tat ist nur dessen Gewand, und die Geschichte ist nichts anders als die alte Garderobe des menschlichen Geistes. Doch die Liebe liebt zuweilen alte Röcke, und so liebe ich den Mantel von Marengo.

»Wir sind auf dem Schlachtfelde von Marengo.« Wie lachte mein Herz, als der Postillion diese Worte sprach! Ich war in Gesellschaft eines sehr artigen Livländers, der vielmehr den Russen spielte, des Abends von Mailand abgereist und sah des folgenden Morgens die Sonne aufgehn über das berühmte Schlachtfeld.

Hier tat der General Bonaparte einen so starken Zug aus dem Kelch des Ruhmes, daß er im Rausche Konsul, Kaiser, Welteroberer wurde und sich erst zu St. Helena ernüchtern konnte. Es ist uns selbst nicht viel besser ergangen; wir waren mitberauscht, wir haben alles mitgeträumt, sind ebenfalls erwacht, und im Jammer der Nüchternheit machen wir allerlei verständige Reflexionen. Es will uns da manchmal bedünken, als sei der Kriegsruhm ein veraltetes Vergnügen, die Kriege bekämen eine edlere Bedeutung und Napoleon sei vielleicht der letzte Eroberer.

Es hat wirklich den Anschein, als ob jetzt mehr geistige Interessen verfochten würden als materielle und als ob die Welthistorie nicht mehr eine Räubergeschichte, sondern eine Geistergeschichte sein solle. Der Haupthebel, den ehrgeizige und habsüchtige Fürsten zu ihren Privatzwecken sonst so wirksam in Bewegung zu setzen wußten, nämlich die Nationalität mit ihrer Eitelkeit und ihrem Haß, ist jetzt morsch und abgenutzt; täglich verschwinden mehr und mehr die törichten Nationalvorurteile, alle schroffen Besonderheiten gehen unter in der Allgemeinheit der europäischen Zivilisation, es gibt jetzt in Europa keine Nationen mehr, sondern nur Parteien, und es ist ein wundersamer Anblick, wie diese trotz der mannigfaltigsten Farben sich sehr gut erkennen und trotz der vielen Sprachverschiedenheiten sich sehr gut verstehen. Wie es eine materielle Staatenpolitik gibt, so gibt es jetzt auch eine geistige Parteipolitik, und wie die Staatenpolitik auch den kleinsten Krieg, der zwischen den zwei unbedeutendsten Mächten ausbräche, gleich zu einem allgemeinen europäischen Krieg machen würde, worin sich alle Staaten, mit mehr oder minderem Eifer, auf jeden Fall mit Interesse, mischen müßten, so kann jetzt in der Welt auch nicht der geringste Kampf vorfallen, bei dem, durch jene Parteipolitik, die allgemein geistigen Bedeutungen nicht sogleich erkannt und die entferntesten und heterogensten Parteien nicht gezwungen würden, pro oder kontra Anteil zu nehmen. Vermöge dieser Parteipolitik, die ich, weil ihre Interessen geistiger und ihre ultimae rationes nicht von Metall sind, eine Geisterpolitik nenne, bilden sich jetzt, ebenso wie vermittelst der Staatenpolitik, zwei große Massen, die feindselig einander gegenüberstehen und mit Reden und Blicken kämpfen. Die Losungsworte und Repräsentanten dieser zwei großen Parteimassen wechseln täglich, es fehlt nicht an Verwirrung, oft entstehen die größten Mißverständnisse, diese werden durch die Diplomaten dieser Geisterpolitik, die Schriftsteller, eher vermehrt als vermindert; doch wenn auch die Köpfe irren, so fühlen die Gemüter nichtsdestoweniger, was sie wollen, und die Zeit drängt mit ihrer großen Aufgabe.

Was ist aber diese große Aufgabe unserer Zeit?

Es ist die Emanzipation. Nicht bloß die der Irländer, Griechen, Frankfurter Juden, westindischen Schwarzen und dergleichen gedrückten Volkes, sondern es ist die Emanzipation der ganzen Welt, absonderlich Europas, das mündig geworden ist und sich jetzt losreißt von dem eisernen Gängelbande der Bevorrechteten, der Aristokratie. Mögen immerhin einige philosophische Renegaten der Freiheit die feinsten Kettenschlüsse schmieden, um uns zu beweisen, daß Millionen Menschen geschaffen sind als Lasttiere einiger tausend privilegierter Ritter; sie werden uns dennoch nicht davon überzeugen können, solange sie uns, wie Voltaire sagt, nicht nachweisen, daß jene mit Sätteln auf dem Rücken und diese mit Sporen an den Füßen zur Welt gekommen sind.

Jede Zeit hat ihre Aufgabe, und durch die Lösung derselben rückt die Menschheit weiter. Die frühere Ungleichheit, durch das Feudalsystem in Europa gestiftet, war vielleicht notwendig oder notwendige Bedingung zu den Fortschritten der Zivilisation; jetzt aber hemmt sie diese, empört sie die zivilisierten Herzen. Die Franzosen, das Volk der Gesellschaft, hat diese Ungleichheit, die mit dem Prinzip der Gesellschaft am unleidlichsten kollidiert, notwendigerweise am tiefsten erbittert, sie haben die Gleichheit zu erzwingen gesucht, indem sie die Häupter derjenigen, die durchaus hervorragen wollten, gelinde abschnitten, und die Revolution ward ein Signal für den Befreiungskrieg der Menschheit.

Laßt uns die Franzosen preisen! sie sorgten für die zwei größten Bedürfnisse der menschlichen Gesellschaft, für gutes Essen und bürgerliche Gleichheit; in der Kochkunst und in der Freiheit haben sie die größten Fortschritte gemacht, und wenn wir einst alle, als gleiche Gäste, das große Versöhnungsmahl halten und guter Dinge sind – denn was gäbe es Besseres als eine Gesellschaft von Pairs an einem gutbesetzten Tische? –, dann wollen wir den Franzosen den ersten Toast darbringen. Es wird freilich noch einige Zeit dauern, bis dieses Fest gefeiert werden kann, bis die Emanzipation durchgesetzt sein wird; aber sie wird doch endlich kommen, diese Zeit, wir werden, versöhnt und allgleich, um denselben Tisch sitzen; wir sind dann vereinigt und kämpfen vereinigt gegen andere Weltübel, vielleicht am Ende gar gegen den Tod – dessen ernstes Gleichheitssystem uns wenigstens nicht so sehr beleidigt wie die lachende Ungleichheitslehre des Aristokratismus.

Lächle nicht, später Leser. Jede Zeit glaubt, ihr Kampf sei vor allen der wichtigste, dieses ist der eigentliche Glaube der Zeit, in diesem lebt sie und stirbt sie, und auch wir wollen leben und sterben in dieser Freiheitsreligion, die vielleicht mehr den Namen Religion verdient als das hohle, ausgestorbene Seelengespenst, das wir noch so zu benennen pflegen – unser heiliger Kampf dünkt uns der wichtigste, wofür jemals auf dieser Erde gekämpft worden, obgleich historische Ahnung uns sagt, daß einst unsre Enkel auf diesen Kampf herabsehen werden, vielleicht mit demselben Gleichgültigkeitsgefühl, womit wir herabsehen auf den Kampf der ersten Menschen, die gegen ebenso gierige Ungetüme, Lindwürmer und Raubriesen, zu kämpfen hatten.

Kapitel XXX

Auf dem Schlachtfelde von Marengo kommen einem die Betrachtungen so scharenweis angeflogen, daß man glauben sollte, es wären dieselben, die dort so mancher plötzlich aufgeben mußte und die nun, wie herrenlose Hunde, umherirren. Ich liebe Schlachtfelder, denn so furchtbar auch der Krieg ist, so bekundet er doch die geistige Größe des Menschen, der seinem mächtigsten Erbfeinde, dem Tode, zu trotzen vermag. Und gar dieses Schlachtfeld, wo die Freiheit auf Blutrosen tanzte, den üppigen Brauttanz! Frankreich war damals Bräutigam, hatte die ganze Welt zur Hochzeit geladen, und, wie es im Liede heißt,

Heida! am Polterabend

Zerschlug man statt der Töpfe

Aristokratenköpfe.

Aber ach! jeder Zoll, den die Menschheit weiterrückt, kostet Ströme Blutes; und ist das nicht etwas zu teuer? Ist das Leben des Individuums nicht vielleicht ebensoviel wert wie das des ganzen Geschlechtes? Denn jeder einzelne Mensch ist schon eine Welt, die mit ihm geboren wird und mit ihm stirbt, unter jedem Grabstein liegt eine Weltgeschichte – »Still davon«, so würden die Toten sprechen, die hier gefallen sind, wir aber leben und wollen weiterkämpfen im heiligen Befreiungskriege der Menschheit.

»Wer denkt jetzt noch an Marengo!« – sagte mein Reisegefährte, der livländische Russe, als wir über das Brachfeld fuhren – »jetzt sind alle Augen gerichtet nach dem Balkan, wo mein Landsmann Diebitsch den Türken die Turbane zurechtsetzt, und wir werden noch dieses Jahr Konstantinopel einnehmen. Sind Sie gut russisch?«

Das war eine Frage, die ich überall lieber beantwortet hätte als auf dem Schlachtfelde von Marengo – Ich sah im Morgennebel den Mann mit dem dreieckigen Hütchen und dem grauen Schlachtmantel, er jagte dahin wie ein Gedanke, geisterschnell, in der Ferne erscholl es wie ein schaurig süßes »Allons, enfants de la patrie« – Und dennoch antwortete ich: »Ja, ich bin gut russisch.«

Und in der Tat, bei dem wunderlichen Wechsel der Losungsworte und Repräsentanten in dem großen Kampfe hat es sich jetzt so gefügt, daß der glühendste Freund der Revolution nur im Siege Rußlands das Heil der Welt sieht und den Kaiser Nikolas als den Gonfaloniere der Freiheit betrachten muß. Seltsamer Wechsel! noch vor zwei Jahren bekleideten wir mit diesem Amte einen englischen Minister, das Geheul des hochtoryschen Hasses gegen George Canning leitete damals unsre Wahl, in den adlig unedlen Kränkungen, die er erlitt, sahen wir die Garantien seiner Treue, und als er des Märtyrertodes starb, da legten wir Trauer an, und der achte August wurde ein heiliger Tag im Kalender der Freiheit. Die Fahne aber nahmen wir wieder fort von Downing Street und pflanzten sie auf die Petersburg und wählten zu ihrem Träger den Kaiser Nikolas, den Ritter von Europa, der die griechischen Witwen und Waisen schützte gegen asiatische Barbaren und in solchem guten Kampfe seine Sporen verdiente. Wieder hatten sich die Feinde der Freiheit zu sehr verraten, und wir benutzten wieder den Scharfsinn ihres Hasses, um unser eignes Beste zu erkennen. Wieder zeigte sich diesmal die gewöhnliche Erscheinung, daß wir unsre Repräsentanten vielmehr der Stimmenmehrheit unserer Feinde als der eignen Wahl verdanken, und indem wir die wunderlich zusammengesetzte Gemeinde betrachteten, die für das Heil der Türkei und den Untergang Rußlands ihre frommen Wünsche gen Himmel sandte, so merkten wir bald, wer unser Freund oder vielmehr das Schrecken unserer Feinde ist. Wie mußte der liebe Gott im Himmel lachen, als er zu gleicher Zeit Wellington, den Großmufti, den Papst, Rothschild I., Metternich und einen ganzen Troß von Ritterlingen, Stockjobbern, Pfaffen und Türken für dieselbe Sache, für das Heil des Halbmonds, beten hörte!

Was die Alarmisten bisher über die Gefahr gefabelt, der wir durch die Übergröße Rußlands ausgesetzt sind, ist töricht. Wenigstens wir Deutsche haben nichts zu riskieren, etwas mehr oder weniger Knechtlichkeit, darauf darf es uns nicht ankommen, wo das Höchste, die Befreiung von den Resten des Feudalismus und Klerikalismus, zu gewinnen ist. Man droht uns mit der Herrschaft der Knute, aber ich will gern etwas Knute aushalten, wenn ich sicher weiß, daß unsre Feinde sie mitbekommen. Ich wette aber, sie werden, wie sie immer getan, der neuen Macht entgegenwedeln und graziöse lächeln und zu den schandbarsten Diensten sich darbieten und sich dafür, da doch einmal geknutet werden muß, das Privilegium einer Ehrenknute ausbedingen, so wie der Adlige in Siam, der, wenn er bestraft werden soll, in einen seidenen Sack gesteckt und mit parfümierten Stöcken geprügelt wird, statt daß der straffällige Bürgerliche nur einen leinenen Sack und keine so wohlriechende Prügel bekömmt. Nun, dieses Privilegium, da es das einzige ist, wollen wir ihnen gönnen, wenn sie nur Prügel bekommen, besonders die englische Nobility. Mag man noch so eifrig erinnern, daß es eben diese Nobility sei, die dem Despotismus die Magna Charta abgezwungen, und daß England, bei aller Aufrechthaltung der bürgerlichen Standesungleichheit, doch die persönliche Freiheit gesichert, daß England der Zufluchtsort für freie Geister war, wenn der Despotismus den ganzen Kontinent unterdrückte; – das sind tempi passati! England mit seinen Aristokraten gehe jetzt immerhin zugrunde, freie Geister haben jetzt im Notfall einen noch bessern Zufluchtsort; würde auch ganz Europa ein einziger Kerker, so gäbe es jetzt noch immer ein anderes Loch zum Entschlüpfen, das ist Amerika, und gottlob! das Loch ist noch größer als der Kerker selbst.

Aber das sind alles lächerliche Grillen; vergleicht man in freiheitlicher Hinsicht England mit Rußland, so bleibt auch dem Besorglichsten kein Zweifel übrig, welche Partei zu erfassen sei. Die Freiheit ist in England aus historischen Begebenheiten, in Rußland aus Prinzipien hervorgegangen. Wie jene Begebenheiten selbst, so tragen auch ihre geistigen Resultate das Gepräge des Mittelalters, ganz England ist erstarrt in unverjüngbaren, mittelalterlichen Institutionen, wohinter sich die Aristokratie verschanzt und den Todeskampf erwartet. Jene Prinzipien aber, woraus die russische Freiheit entstanden ist oder vielmehr täglich sich weiter entfaltet, sind die liberalen Ideen unserer neuesten Zeit; die russische Regierung ist durchdrungen von diesen Ideen, ihr unumschränkter Absolutismus ist vielmehr Diktatur, um jene Ideen unmittelbar ins Leben treten zu lassen; diese Regierung hat nicht ihre Wurzel im Feudalismus und Klerikalismus, sie ist der Adel- und Kirchengewalt direkt entgegenstrebend; schon Katharina hat die Kirche eingeschränkt, und der russische Adel entsteht durch Staatsdienste; Rußland ist ein demokratischer Staat, ich möchte es sogar einen christlichen Staat nennen, wenn ich dieses oft mißbrauchte Wort in seinem süßesten, weltbürgerlichsten Sinne anwenden wollte: denn die Russen werden schon durch den Umfang ihres Reichs von der Engherzigkeit eines heidnischen Nationalsinnes befreit, sie sind Kosmopoliten oder wenigstens Sechstelkosmopoliten, da Rußland fast den sechsten Teil der bewohnten Welt ausmacht –

Und wahrlich, wenn irgendein Deutschrusse, wie mein livländischer Reisegefährte, prahlerisch patriotisch tut und von unserem Rußland und unserem Diebitsch spricht, so ist mir, als hörte ich einen Hering, der das Weltmeer für sein Vaterland und den Walfisch für seinen Landsmann ausgibt.

Kapitel XXXI

»Ich bin gut russisch« – sagte ich auf dem Schlachtfelde von Marengo und stieg für einige Minuten aus dem Wagen, um meine Morgenandacht zu halten.

Wie unter einem Triumphbogen von kolossalen Wolkenmassen zog die Sonne herauf, siegreich, heiter, sicher, einen schönen Tag verheißend. Mir aber war zumute wie dem armen Monde, der verbleichend noch am Himmel stand. Er hatte seine einsame Laufbahn durchwandelt in öder Nachtzeit, wo das Glück schlief und nur Gespenster, Eulen und Sünder ihr Wesen trieben; und jetzt, wo der junge Tag hervorstieg, mit jubelnden Strahlen und flatterndem Morgenrot, jetzt mußte er von dannen – noch ein wehmütiger Blick nach dem großen Weltlicht, und er verschwand wie duftiger Nebel.

»Es wird ein schöner Tag werden«, rief mein Reisegefährte aus dem Wagen mir zu. Ja, es wird ein schöner Tag werden, wiederholte leise mein betendes Herz und zitterte vor Wehmut und Freude. Ja, es wird ein schöner Tag werden, die Freiheitssonne wird die Erde glücklicher wärmen als die Aristokratie sämtlicher Sterne; emporblühen wird ein neues Geschlecht, das erzeugt worden in freier Wahlumarmung, nicht im Zwangsbette und unter der Kontrolle geistlicher Zöllner; mit der freien Geburt werden auch in den Menschen freie Gedanken und Gefühle zur Welt kommen, wovon wir geborenen Knechte keine Ahnung haben – Oh! sie werden ebensowenig ahnen, wie entsetzlich die Nacht war, in deren Dunkel wir leben mußten, und wie grauenhaft wir zu kämpfen hatten, mit häßlichen Gespenstern, dumpfen Eulen und scheinheiligen Sündern! O wir armen Kämpfer! die wir unsre Lebenszeit in solchem Kampfe vergeuden mußten und müde und bleich sind, wenn der Siegestag hervorstrahlt! Die Glut des Sonnenaufgangs wird unsre Wangen nicht mehr röten und unsre Herzen nicht mehr wärmen können, wir sterben dahin wie der scheidende Mond – allzu kurz gemessen ist des Menschen Wanderbahn, an deren Ende das unerbittliche Grab.

Ich weiß wirklich nicht, ob ich es verdiene, daß man mir einst mit einem Lorbeerkranze den Sarg verziere. Die Poesie, wie sehr ich sie auch liebte, war mir immer nur heiliges Spielzeug oder geweihtes Mittel für himmlische Zwecke. Ich habe nie großen Wert gelegt auf Dichterruhm, und ob man meine Lieder preiset oder tadelt, es kümmert mich wenig. Aber ein Schwert sollt ihr mir auf den Sarg legen; denn ich war ein braver Soldat im Befreiungskriege der Menschheit.

Kapitel XXXII

Während der Mittagshitze suchten wir Obdach in einem Franziskanerkloster, das auf einer bedeutenden Anhöhe lag und mit seinen düstern Zypressen und weißen Mönchen, wie ein Jagdschloß des Glaubens, hinabschaute in die heiter grünen Täler des Apennins. Es war ein schöner Bau, wie ich denn, außer der Kartause zu Monza, die ich nur von außen sah, noch sehr merkwürdigen Klöstern und Kirchen vorbeigekommen bin. Ich wußte oft nicht, sollte ich mehr die Schönheit der Gegend bewundern oder die Größe der alten Kirchen oder die ebenso große, steinfeste Gesinnung ihrer Erbauer, die wohl voraussehen konnten, daß erst späte Urenkel imstande sein würden, solch ein Bauwerk zu vollenden, und die dessen ohngeachtet ganz ruhig den Grundstein legten und Stein auf Stein trugen, bis der Tod sie von der Arbeit abrief und andere Baumeister das Werk fortsetzten und sich nachher ebenfalls zur Ruhe begaben – alle im festen Glauben an die Ewigkeit der katholischen Religion und im festen Vertrauen auf die gleiche Denkweise der folgenden Geschlechter, die weiterbauen würden, wo die Vorfahren aufgehört.

Es war der Glaube der Zeit, und die alten Baumeister lebten und entschliefen in diesem Glauben. Da liegen sie nun vor den Türen jener alten Kirchen, und es ist zu wünschen, daß ihr Schlaf recht fest sei und das Lachen der neuen Zeit sie nicht erwecke. Absonderlich für solche, die vor einem von den alten Domen liegen, die nicht fertig geworden sind, für solche wäre es sehr schlimm, wenn sie des Nachts plötzlich erwachten und im schmerzlichen Mondschein ihr unvollendetes Tagewerk sähen und bald merkten, daß die Zeit des Weiterbauens aufgehört hat und daß ihr ganzes Leben nutzlos war und dumm.

So spricht die jetzige neue Zeit, die eine andere Aufgabe hat, einen anderen Glauben.

Ich hörte einst in Köln, wie ein kleiner Bube seine Mutter frug, warum man die halben Dome nicht fertigbaue. Es war ein schöner Bube, und ich küßte ihm die klugen Augen, und da die Mutter ihm keine rechte Antwort geben konnte, so sagte ich ihm, daß jetzt die Menschen ganz etwas anderes zu tun hätten.

Unfern von Genua, auf der Spitze der Apenninen, sieht man das Meer, zwischen den grünen Gebirgsgipfeln kommt die blaue Flut zum Vorschein, und Schiffe, die man hie und da erblickt, scheinen mit vollen Segeln über die Berge zu fahren. Hat man aber diesen Anblick zur Zeit der Dämmerung, wo die letzten Sonnenlichter mit den ersten Abendschatten ihr wunderliches Spiel beginnen und alle Farben und Formen sich nebelhaft verweben, dann wird einem ordentlich märchenhaft zumute, der Wagen rasselt bergab, die schläfrig süßesten Bilder der Seele werden aufgerüttelt und nicken wieder ein, und es träumt einem endlich, man sei in Genua.

Kapitel XXXIII

Diese Stadt ist alt ohne Altertümlichkeit, eng ohne Traulichkeit und häßlich über alle Maßen. Sie ist auf einem Felsen gebaut, am Fuße von amphitheatralischen Bergen, die den schönsten Meerbusen gleichsam umarmen. Die Genueser erhielten daher von der Natur den besten und sichersten Hafen. Da, wie gesagt, die ganze Stadt auf einem einzigen Felsen steht, so mußten, der Raumersparnis wegen, die Häuser sehr hoch und die Straßen sehr eng gebaut werden, so daß diese fast alle dunkel sind und nur auf zweien derselben ein Wagen fahren kann. Aber die Häuser dienen hier den Einwohnern, die meistens Kaufleute sind, fast nur zu Warenlagern und des Nachts zu Schlafstellen; den schachernden Tag über laufen sie umher in der Stadt oder sitzen vor ihrer Haustüre oder vielmehr in der Haustüre, denn sonst würden sich die Gegenüberwohnenden einander mit den Knien berühren.

Von der Seeseite, besonders gegen Abend, gewährt die Stadt einen bessern Anblick. Da liegt sie am Meere, wie das gebleichte Skelett eines ausgeworfenen Riesentiers, dunkle Ameisen, die sich Genueser nennen, kriechen darin herum, die blauen Meereswellen bespülen es plätschernd wie ein Ammenlied, der Mond, das blasse Auge der Nacht, schaut mit Wehmut darauf hinab.

Im Garten des Palazzo Doria steht der alte Seeheld als Neptun in einem großen Wasserbassin. Aber die Statue ist verwittert und verstümmelt, das Wasser ausgetrocknet, und die Möwen nisten in den schwarzen Zypressen. Wie ein Knabe, der immer seine Komödien im Kopf hat, dachte ich bei dem Namen Doria gleich an Friedrich Schiller, den edelsten, wenn auch nicht größten Dichter der Deutschen.

Obgleich meistens im Verfall, sind die Paläste der ehemaligen Machthaber von Genua, der Nobili, dennoch sehr schön und mit Pracht überladen. Sie stehen meistens auf den zwei großen Straßen, genannt Strada nuova und Balbi. Der Palast Durazzo ist der merkwürdigste. Hier sind gute Bilder und darunter Paul Veroneses Christus, dem Magdalena die gewaschenen Füße abtrocknet. Diese ist so schön, daß man fürchten sollte, sie werde gewiß noch einmal verführt werden. Ich stand lange vor ihr – ach, sie schaute nicht auf! Christus steht da wie ein Religionshamlet: go to a nunnery. Hier fand ich auch einige Holländer und vorzügliche Bilder von Rubens, letztere ganz durchdrungen von der kolossalen Heiterkeit dieses niederländischen Titanen, dessen Geistesflügel so stark waren, daß er bis zur Sonne emporflog, obgleich hundert Zentner holländischer Käse an seinen Beinen hingen. Ich kann dem kleinsten Bilde dieses großen Malers nicht vorübergehen, ohne den Zoll meiner Bewundrung zu entrichten. Um so mehr, da es jetzt Mode wird, ihn, ob seines Mangels an Idealität, nur mit Achselzucken zu betrachten. Die historische Schule zu München zeigt sich besonders groß in solcher Betrachtung. Man sehe nur, mit welcher vornehmen Geringschätzung der langhaarige Cornelianer durch den Rubenssaal wandelt! Vielleicht aber ist der Irrtum der Jünger erklärlich, wenn man den großen Gegensatz betrachtet, den Peter Cornelius zu Peter Paul Rubens bildet. Es läßt sich fast kein größerer Gegensatz ersinnen – und nichtsdestoweniger ist mir bisweilen zu Sinn, als hätten beide dennoch Ähnlichkeiten, die ich mehr ahnen als anschauen könne. Vielleicht sind landsmannschaftliche Eigenheiten in ihnen verborgen, die den dritten Landsmann, nämlich mich, wie leise heimische Laute ansprechen. Diese geheime Verwandtschaft besteht aber nimmermehr in der niederländischen Heiterkeit und Farbenlust, die uns aus allen Bildern des Rubens entgegenlacht, so daß man meinen sollte, er habe sie im freudigen Rheinweinrausch gemalt, während tanzende Kirmesmusik um ihn her jubelte. Wahrlich, die Bilder des Cornelius scheinen eher am Karfreitage gemalt zu sein, während die schwermütigen Leidenslieder der Prozession durch die Straßen zogen und im Atelier und Herzen des Malers widerhallten. In der Produktivität, in der Schöpfungskühnheit, in der genialen Ursprünglichkeit sind sich beide ähnlicher, beide sind geborne Maler und gehören zu dem Zyklus großer Meister, die größtenteils zur Zeit des Raffael blühten, einer Zeit, die auf Rubens noch ihren unmittelbaren Einfluß üben konnte, die aber von der unsrigen so abgeschieden ist, daß wir ob der Erscheinung des Peter Cornelius fast erschrecken, daß er uns manchmal vorkommt wie der Geist eines jener großen Maler aus raffaelscher Zeit, der aus dem Grabe hervorsteige, um noch einige Bilder zu malen, ein toter Schöpfer, selbstbeschworen durch das mitbegrabene, inwohnende Lebenswort. Betrachten wir seine Bilder, so sehen sie uns an wie mit Augen des funfzehnten Jahrhunderts, gespenstisch sind die Gewänder, als rauschten sie uns vorbei um Mitternacht, zauberkräftig sind die Leiber, traumrichtig gezeichnet, gewaltsam wahr, nur das Blut fehlt ihnen, das pulsierende Leben, die Farbe. Ja, Cornelius ist ein Schöpfer, doch betrachten wir seine Geschöpfe, so will es uns bedünken, als könnten sie alle nicht lange leben, als seien sie alle eine Stunde vor ihrem Tode gemalt, als trügen sie alle die wehmütige Ahnung des Sterbens. Trotz ihrer Heiterkeit erregen die Gestalten des Rubens ein ähnliches Gefühl in unserer Seele; diese scheinen ebenfalls den Todeskeim in sich zu tragen, und es ist uns, als müßten sie eben durch ihre Lebensüberfülle, durch ihre rote Vollblütigkeit, plötzlich vom Schlage gerührt werden. Das ist sie vielleicht, die geheime Verwandtschaft, die wir in der Vergleichung beider Meister so wundersam ahnen. Die höchste Lust in einigen Bildern des Rubens und der tiefste Trübsinn in denen des Cornelius erregen in uns vielleicht dasselbe Gefühl. Woher aber dieser Trübsinn bei einem Niederländer? Es ist vielleicht eben das schaurige Bewußtsein, daß er einer längst verklungenen Zeit angehört und sein Leben eine mystische Nachsendung ist – denn ach! er ist nicht bloß der einzige große Maler, der jetzt lebt, sondern vielleicht auch der letzte, der auf dieser Erde malen wird; vor ihm, bis zur Zeit der Carraccis, ist ein langes Dunkel, und hinter ihm schlagen wieder die Schatten zusammen, seine Hand ist eine lichte, einsame Geisterhand in der Nacht der Kunst, und die Bilder, die sie malt, tragen die unheimliche Trauer solcher ernsten, schroffen Abgeschiedenheit. Ich habe diese letzte Malerhand nie ohne geheimen Schauer betrachten können, wenn ich den Mann selbst sah, den kleinen scharfen Mann mit den heißen Augen; und doch wieder erregte diese Hand in mir das Gefühl der traulichsten Pietät, da ich mich erinnerte, daß sie mir einst liebreich auf den kleinen Fingern lag und mir einige Gesichtskonturen ziehen half, als ich, ein kleines Bübchen, auf der Akademie zu Düsseldorf zeichnen lernte.

Kapitel XXXIV

Die Sammlung von Porträts schöner Genueserinnen, die im Palast Durazzo gezeigt wird, darf ich nimmermehr unerwähnt lassen. Nichts auf der Welt kann unsre Seele trauriger stimmen als solcher Anblick von Porträts schöner Frauen, die schon seit einigen Jahrhunderten tot sind. Melancholisch überkriecht uns der Gedanke, daß von den Originalen jener Bilder, von all jenen Schönen, die so lieblich, so kokett, so witzig, so schalkhaft und so schwärmerisch waren, von all jenen Maiköpfchen mit Aprillaunen, von jenem ganzen Frauenfrühling nichts übriggeblieben ist als diese bunten Schatten, die ein Maler, der gleich ihnen längst vermodert ist, auf ein morsch Stückchen Leinwand gepinselt hat, das ebenfalls mit der Zeit in Staub zerfällt und verweht. So geht alles Leben, das Schöne ebenso wie das Häßliche, spurlos vorüber, der Tod, der dürre Pedant, verschont die Rose ebensowenig wie die Distel, er vergißt auch nicht das einsame Hälmchen in der fernsten Wildnis, er zerstört gründlich und unaufhörlich, überall sehen wir, wie er Pflanzen und Tiere, die Menschen und ihre Werke zu Staub zerstampft, und selbst jene ägyptischen Pyramiden, die seiner Zerstörungswut zu trotzen scheinen, sie sind nur Trophäen seiner Macht, Denkmäler der Vergänglichkeit, uralte Königsgräber.

Aber noch schlimmer als dieses Gefühl eines ewigen Sterbens, einer öden gähnenden Vernichtung, ergreift uns der Gedanke, daß wir nicht einmal als Originale dahinsterben, sondern als Kopien von längst verschollenen Menschen, die geistig und körperlich uns gleich waren, und daß nach uns wieder Menschen geboren werden, die wieder ganz aussehen und fühlen und denken werden wie wir und die der Tod ebenfalls wieder vernichten wird – ein trostlos ewiges Wiederholungsspiel, wobei die zeugende Erde beständig hervorbringen und mehr hervorbringen muß, als der Tod zu zerstören vermag, so daß sie, in solcher Not, mehr für die Erhaltung der Gattungen als für die Originalität der Individuen sorgen kann.

Wunderbar erfaßten mich die mystischen Schauer dieses Gedankens, als ich im Palast Durazzo die Porträts der schönen Genueserinnen sah und unter diesen ein Bild, das in meiner Seele einen süßen Sturm erregte, wovon mir noch jetzt, wenn ich daran denke, die Augenwimpern zittern – Es war das Bild der toten Maria.

Der Aufseher der Galerie meinte zwar, das Bild stelle eine Herzogin von Genua vor, und im ciceronischen Tone setzte er hinzu: »Es ist gemalt von Giorgio Barbarelli da Castelfranco nel Trevigiano, genannt Giorgione, er war einer der größten Maler der venezianischen Schule, wurde geboren im Jahr 1477 und starb im Jahr 1511.«

»Lassen Sie das gut sein, Signor Custode. Das Bild ist gut getroffen, mag es immerhin ein paar Jahrhunderte im voraus gemalt sein, das ist kein Fehler. Zeichnung richtig, Farbengebung vorzüglich, Faltenwurf des Brustgewandes ganz vortrefflich. Haben Sie doch die Güte, das Bild für einige Augenblicke von der Wand herabzunehmen, ich will nur den Staub von den Lippen abblasen und auch die Spinne, die in der Ecke des Rahmens sitzt, fortscheuchen – Maria hatte immer einen Abscheu vor Spinnen.«

»Eccellenza scheinen ein Kenner zu sein.«

»Daß ich nicht wüßte, Signor Custode. Ich habe das Talent, bei manchen Bildern sehr gerührt zu werden, und es wird mir dann etwas feucht in den Augen. Aber was sehe ich! von wem ist das Porträt des Mannes im schwarzen Mantel, das dort hängt?«

»Es ist ebenfalls von Giorgione, ein Meisterstück.«

»Ich bitte Sie, Signor, haben Sie doch die Güte, es ebenfalls von der Wand herabzunehmen und einen Augenblick hier neben dem Spiegel zu halten, damit ich vergleichen kann, ob ich dem Bilde ähnlich sehe.«

»Eccellenza sind nicht so blaß. Das Bild ist ein Meisterstück von Giorgione; er war Rival des Tiziano, wurde geboren im Jahr 1477 und starb im Jahr 1511.«

Lieber Leser, der Giorgione ist mir weit lieber als der Tiziano, und ich bin ihm besonders Dank schuldig, daß er mir die Maria gemalt. Du wirst gewiß ebensogut wie ich einsehen, daß Giorgione für mich das Bild gemalt hat und nicht für irgendeinen alten Genueser. Und es ist sehr gut getroffen, totschweigend getroffen, es fehlt nicht einmal der Schmerz im Auge, ein Schmerz, der mehr einem geträumten als einem erlebten Leide galt und sehr schwer zu malen war. Das ganze Bild ist wie hingeseufzt auf die Leinwand. Auch der Mann im schwarzen Mantel ist gut gemalt, und die maliziös sentimentalen Lippen sind gut getroffen, sprechend getroffen, als wollten sie eben eine Geschichte erzählen – es ist die Geschichte von dem Ritter, der seine Geliebte aus dem Tode aufküssen wollte, und als das Licht erlosch – –

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