Zweites Buch

Im vorigen Buche haben wir von der großen religiösen Revolution gehandelt, die von Martin Luther in Deutschland repräsentiert ward. Jetzt haben wir von der philosophischen Revolution zu sprechen, die aus jener hervorging, ja, die eben nichts anderes ist wie die letzte Konsequenz des Protestantismus.

Ehe wir aber erzählen, wie diese Revolution durch Immanuel Kant zum Ausbruch kam, müssen die philosophischen Vorgänge im Auslande, die Bedeutung des Spinoza, die Schicksale der Leibnizischen Philosophie, die Wechselverhältnisse dieser Philosophie und der Religion, die Reibungen derselben, ihr Zerwürfnis u. dgl. m. erwähnt werden. Beständig aber halten wir im Auge diejenigen von den Fragen der Philosophie, denen wir eine soziale Bedeutung beimessen und zu deren Lösung sie mit der Religion konkurriert.

Dieses ist nun die Frage von der Natur Gottes. »Gott ist Anfang und Ende aller Weisheit!« sagen die Gläubigen in ihrer Demut, und der Philosoph, in allem Stolze seines Wissens, muß diesem frommen Spruche beistimmen.

Nicht Baco, wie man zu lehren pflegt, sondern René Descartes ist der Vater der neuern Philosophie, und in welchem Grade die deutsche Philosophie von ihm abstammt, werden wir ganz deutlich zeigen.

René Descartes ist ein Franzose, und dem großen Frankreich gebührt auch hier der Ruhm der Initiative. Aber das große Frankreich, das geräuschvolle, bewegte, vielschwatzende Land der Franzosen, war nie ein geeigneter Boden für Philosophie, diese wird vielleicht niemals darauf gedeihen, und das fühlte René Descartes, und er ging nach Holland, dem stillen, schweigenden Lande der Trekschuiten und Holländer, und dort schrieb er seine philosophischen Werke. Nur dort konnte er seinen Geist von dem traditionellen Formalismus befreien und eine ganze Philosophie aus reinen Gedanken emporbauen, die weder dem Glauben noch der Empirie abgeborgt sind, wie es seitdem von jeder wahren Philosophie verlangt wird. Nur dort konnte er so tief in des Denkens Abgründe sich versenken, daß er es in den letzten Gründen des Selbstbewußtseins ertappte und er eben durch den Gedanken das Selbstbewußtsein konstatieren konnte, in dem weltberühmten Satze: Cogito, ergo sum.

Aber auch vielleicht nirgends anders als in Holland konnte Descartes es wagen, eine Philosophie zu lehren, die mit allen Traditionen der Vergangenheit in den offenbarsten Kampf geriet. Ihm gebührt die Ehre, die Autonomie der Philosophie gestiftet zu haben; diese brauchte nicht mehr die Erlaubnis zum Denken von der Theologie zu erbetteln und durfte sich jetzt als selbständige Wissenschaft neben dieselbe hinstellen. Ich sage nicht: derselben entgegensetzen, denn es galt damals der Grundsatz: die Wahrheiten, wozu wir durch die Philosophie gelangen, sind am Ende dieselben, welche uns auch die Religion überliefert. Die Scholastiker, wie ich schon früher bemerkt, hatten hingegen der Religion nicht bloß die Suprematie über die Philosophie eingeräumt, sondern auch diese letztere für ein nichtiges Spiel, für eitel Wortfechterei erklärt, sobald sie mit den Dogmen der Religion in Widerspruch geriet. Den Scholastikern war es nur darum zu tun, ihre Gedanken auszusprechen, gleichviel unter welcher Bedingung. Sie sagten ein mal eins ist eins und bewiesen es; aber sie setzten lächelnd hinzu, das ist wieder ein Irrtum der menschlichen Vernunft, die immer irrt, wenn sie mit den Beschlüssen der ökumenischen Konzilien in Widerspruch gerät; ein mal eins ist drei, und das ist die wahre Wahrheit, wie uns längst offenbart worden, im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes! Die Scholastiker bildeten, im geheim, eine philosophische Opposition gegen die Kirche. Aber öffentlich heuchelten sie die größte Unterwürfigkeit, kämpften sogar in manchen Fällen für die Kirche, und bei Aufzügen paradierten sie im Gefolge derselben, ungefähr wie die französischen Oppositionsdeputierten bei den Feierlichkeiten der Restauration. Die Komödie der Scholastiker dauerte mehr als sechs Jahrhunderte, und sie wurde immer trivialer. Indem Descartes den Scholastizismus zerstörte, zerstörte er auch die verjährte Opposition des Mittelalters. Die alten Besen waren durch das lange Fegen stumpf geworden, es klebte daran allzuviel Kehricht, und die neue Zeit verlangte neue Besen. Nach jeder Revolution muß die bisherige Opposition abdanken; es geschehen sonst große Dummheiten. Wir haben’s erlebt. Weniger war es nun die katholische Kirche als vielmehr die alten Gegner derselben, der Nachtrab der Scholastiker, welche sich zuerst gegen die Cartesianische Philosophie erhoben. Erst 1663 verbot sie der Papst.

Ich darf bei Franzosen eine zulängliche, süffisante Bekanntschaft mit der Philosophie ihres großen Landsmannes voraussetzen, und ich brauche hier nicht erst zu zeigen, wie die entgegengesetztesten Doktrinen aus ihr das nötige Material entlehnen konnten. Ich spreche hier vom Idealismus und vom Materialismus.

Da man, besonders in Frankreich, diese zwei Doktrinen mit den Namen Spiritualismus und Sensualismus bezeichnet und da ich mich dieser beiden Benennungen in anderer Weise bediene, so muß ich, um Begriffsverwirrungen vorzubeugen, die obigen Ausdrücke näher besprechen.

Seit den ältesten Zeiten gibt es zwei entgegengesetzte Ansichten über die Natur des menschlichen Denkens, d.h. über die letzten Gründe der geistigen Erkenntnis, über die Entstehung der Ideen. Die einen behaupten, wir erlangen unsere Ideen nur von außen, unser Geist sei nur ein leeres Behältnis, worin die von den Sinnen eingeschluckten Anschauungen sich verarbeiten, ungefähr wie die genossenen Speisen in unserem Magen. Um ein besseres Bild zu gebrauchen, diese Leute betrachten unseren Geist wie eine tabula rasa, worauf später die Erfahrung täglich etwas Neues schreibt, nach bestimmten Schreibregeln.

Die anderen, die entgegengesetzter Ansicht, behaupten, die Ideen sind dem Menschen angeboren, der menschliche Geist ist der Ursitz der Ideen, und die Außenwelt, die Erfahrung und die vermittelnden Sinne bringen uns nur zur Erkenntnis dessen, was schon vorher in unserem Geiste war, sie wecken dort nur die schlafenden Ideen.

Die erstere Ansicht hat man nun den Sensualismus, manchmal auch den Empirismus genannt; die andere nannte man den Spiritualismus, manchmal auch den Rationalismus. Dadurch können jedoch leicht Mißverständnisse entstehen, da wir mit diesen zwei Namen, wie ich schon im vorigen Buche erwähnt, seit einiger Zeit auch jene zwei soziale Systeme, die sich in allen Manifestationen des Lebens geltend machen, bezeichnen. Den Namen Spiritualismus überlassen wir daher jener frevelhaften Anmaßung des Geistes, der, nach alleiniger Verherrlichung strebend, die Materie zu zertreten, wenigstens zu fletrieren sucht; und den Namen Sensualismus überlassen wir jener Opposition, die, dagegen eifernd, ein Rehabilitieren der Materie bezweckt und den Sinnen ihre Rechte vindiziert, ohne die Rechte des Geistes, ja nicht einmal ohne die Suprematie des Geistes zu leugnen. Hingegen den philosophischen Meinungen über die Natur unserer Erkenntnisse gehe ich lieber die Namen Idealismus und Materialismus; und ich bezeichne mit dem ersteren die Lehre von den angeborenen Ideen, von den Ideen a priori, und mit dem anderen Namen bezeichne ich die Lehre von der Geisteserkenntnis durch die Erfahrung, durch die Sinne, die Lehre von den Ideen a posteriori.

Bedeutungsvoll ist der Umstand, daß die idealistische Seite der Cartesianischen Philosophie niemals in Frankreich Glück machen wollte. Mehre berühmte Jansenisten verfolgten einige Zeit diese Richtung, aber sie verloren sich bald in den christlichen Spiritualismus. Vielleicht war es dieser Umstand, welcher den Idealismus in Frankreich diskreditierte. Die Völker ahnen instinktmäßig, wessen sie bedürfen, um ihre Mission zu erfüllen. Die Franzosen waren schon auf dem Wege zu jener politischen Revolution, die erst am Ende des achtzehnten Jahrhunderts ausbrach und wozu sie eines Beils und einer ebenso kaltscharfen, materialistischen Philosophie bedurften. Der christliche Spiritualismus stand als Mitkämpfer in den Reihen ihrer Feinde, und der Sensualismus wurde daher ihr natürlicher Bundesgenosse. Da die französischen Sensualisten gewöhnlich Materialisten waren, so entstand der Irrtum, daß der Sensualismus nur aus dem Materialismus hervorgehe. Nein, jener kann sich ebensogut als ein Resultat des Pantheismus geltend machen, und da ist seine Erscheinung schön und herrlich. Wir wollen jedoch dem französischen Materialismus keineswegs seine Verdienste absprechen. Der französische Materialismus war ein gutes Gegengift gegen das Übel der Vergangenheit, ein verzweifeltes Heilmittel in einer verzweifelten Krankheit, Merkur für ein infiziertes Volk. Die französischen Philosophen wählten John Locke zu ihrem Meister. Das war der Heiland, dessen sie bedurften. Sein »Essay on human understanding« ward ihr Evangelium; darauf schworen sie. John Locke war bei Descartes in die Schule gegangen und hatte alles von ihm gelernt, was ein Engländer lernen kann: Mechanik, Scheidekunst, Kombinieren, Konstruieren, Rechnen. Nur eins hat er nicht begreifen können, nämlich die angeborenen Ideen. Er vervollkommnete daher die Doktrin, daß wir unsere Erkenntnisse von außen, durch die Erfahrung, erlangen. Er machte den menschlichen Geist zu einer Art Rechenkasten, der ganze Mensch wurde eine englische Maschine. Dieses gilt auch von dem Menschen, wie ihn die Schüler Lockes konstruierten, obgleich sie sich durch verschiedene Benennungen voneinander unterscheiden wollen. Sie haben alle Angst vor den letzten Folgerungen ihres obersten Grundsatzes, und der Anhänger Condillacs erschrickt, wenn man ihn mit einem Helvetius oder gar mit einem Holbach oder vielleicht noch am Ende mit einem Lamettrie in eine Klasse setzt, und doch muß es geschehen, und ich darf daher die französischen Philosophen des achtzehnten Jahrhunderts und ihre heutigen Nachfolger samt und sonders als Materialisten bezeichnen. »L’homme machine« ist das konsequenteste Buch der französischen Philosophie, und der Titel schon verrät das letzte Wort ihrer ganzen Weltansicht.

Diese Materialisten waren meistens auch Anhänger des Deismus, denn eine Maschine setzt einen Mechanikus voraus, und es gehört zu der höchsten Vollkommenheit dieser ersteren, daß sie die technischen Kenntnisse eines solchen Künstlers, teils an ihrer eigenen Konstruktion, teils an seinen übrigen Werken, zu erkennen und zu schätzen weiß.

Der Materialismus hat in Frankreich seine Mission erfüllt. Er vollbringt jetzt vielleicht dasselbe Werk in England, und auf Locke fußen dort die revolutionären Parteien, namentlich die Benthamisten, die Prädikanten der Utilität. Diese sind gewaltige Geister, die den rechten Hebel ergriffen, womit man John Bull in Bewegung setzen kann. John Bull ist ein geborener Materialist, und sein christlicher Spiritualismus ist meistens eine traditionelle Heuchelei oder doch nur materielle Borniertheit – sein Fleisch resigniert sich, weil ihm der Geist nicht zu Hülfe kommt. Anders ist es in Deutschland, und die deutschen Revolutionäre irren sich, wenn sie wähnen, daß eine materialistische Philosophie ihren Zwecken günstig sei. Ja, es ist dort gar keine allgemeine Revolution möglich, solange ihre Prinzipien nicht aus einer volkstümlicheren, religiöseren und deutscheren Philosophie deduziert und durch die Gewalt derselben herrschend geworden. Welche Philosophie ist dieses? Wir werden sie späterhin unumwunden besprechen. Ich sage: unumwunden, denn ich rechne darauf, daß auch Deutsche diese Blätter lesen.

Deutschland hat von jeher eine Abneigung gegen den Materialismus bekundet und wurde deshalb, während anderthalb Jahrhunderte, der eigentliche Schauplatz des Idealismus. Auch die Deutschen begaben sich in die Schule des Descartes, und der große Schüler desselben hieß Gottfried Wilhelm Leibniz. Wie Locke die materialistische Richtung, so verfolgte Leibniz die idealistische Richtung des Meisters. Hier finden wir am determiniertesten die Lehre von den angeborenen Ideen Er bekämpfte Locke in seinen »Nouveaux essais sur l’entendement humain«. Mit Leibniz erblühte ein großer Eifer für philosophisches Studium bei den Deutschen. Er weckte die Geister und lenkte sie in neue Bahnen. Ob der inwohnenden Milde, ob des religiösen Sinnes, der seine Schriften belebte, wurden auch die widerstrebenden Geister mit der Kühnheit derselben einigermaßen ausgesöhnt, und die Wirkung war ungeheuer. Die Kühnheit dieses Denkers zeigt sich namentlich in seiner Monadenlehre, eine der merkwürdigsten Hypothesen, die je aus dem Haupte eines Philosophen hervorgegangen. Diese ist auch zugleich das Beste, was er geliefert; denn es dämmert darin schon die Erkenntnis der wichtigsten Gesetze, die unsere heutige Philosophie erkannt hat. Die Lehre von den Monaden war vielleicht nur eine unbehülfliche Formulierung dieser Gesetze, die jetzt von den Naturphilosophen in bessern Formeln ausgesprochen worden. Ich sollte hier eigentlich statt des Wortes »Gesetz« eben nur »Formel« sagen; denn Newton hat ganz recht, wenn er bemerkt, daß dasjenige, was wir Gesetze in der Natur nennen, eigentlich nicht existiert und daß es nur Formeln sind, die unserer Fassungskraft zu Hülfe kommen, um eine Reihe von Erscheinungen in der Natur zu erklären. Die »Theodizee« ist in Deutschland von allen Leibnizischen Schriften am meisten besprochen worden. Es ist jedoch sein schwächstes Werk. Dieses Buch, wie noch einige andere Schriften, worin sich der religiöse Geist des Leibniz ausspricht, hat ihm manchen bösen Leumund, manche bittere Verkennung zugezogen. Seine Feinde haben ihn der gemütlichsten Schwachköpfigkeit beschuldigt; seine Freunde, die ihn verteidigten, machten ihn dagegen zu einem pfiffigen Heuchler. Der Charakter des Leibniz blieb lange bei uns ein Gegenstand der Kontroverse. Die Billigsten haben ihn von dem Vorwurf der Zweideutigkeit nicht freisprechen können. Am meisten schmähten ihn die Freidenker und Aufklärer. Wie konnten sie einem Philosophen verzeihen, die Dreieinigkeit, die ewigen Höllenstrafen und gar die Gottheit Christi verteidigt zu haben! So weit erstreckte sich nicht ihre Toleranz. Aber Leibniz war weder ein Tor noch ein Schuft, und von seiner harmonischen Höhe konnte er sehr gut das ganze Christentum verteidigen. Ich sage das ganze Christentum, denn er verteidigte es gegen das halbe Christentum. Er zeigte die Konsequenz der Orthodoxen im Gegensatze zur Halbheit ihrer Gegner. Mehr hat er nie gewollt. Und dann stand er auf jenem Indifferenzpunkte, wo die verschiedensten Systeme nur verschiedene Seiten derselben Wahrheit sind. Diesen Indifferenzpunkt hat späterhin auch Herr Schelling erkannt, und Hegel hat ihn wissenschaftlich begründet, als ein System der Systeme. In gleicher Weise beschäftigte sich Leibniz mit einer Harmonie zwischen Plato und Aristoteles. Auch in der späteren Zeit ist diese Aufgabe oft genug bei uns vorgekommen. Ist sie gelöst worden?

Nein, wahrhaftig nein! Denn diese Aufgabe ist eben nichts anders als eine Schlichtung des Kampfes zwischen Idealismus und Materialismus. Plato ist durchaus Idealist und kennt nur angeborene oder vielmehr mitgeborene Ideen: der Mensch bringt die Ideen mit zur Welt, und wenn er derselben bewußt wird, so kommen sie ihm vor wie Erinnerungen aus einem früheren Dasein. Daher auch das Vage und Mystische des Plato, er erinnert sich mehr oder minder klar. Bei Aristoteles hingegen ist alles klar, alles deutlich, alles sicher; denn seine Erkenntnisse offenbaren sich nicht in ihm mit vorweltlichen Beziehungen, sondern er schöpft alles aus der Erfahrung und weiß alles aufs bestimmteste zu klassifizieren. Er bleibt daher auch ein Muster für alle Empiriker, und diese wissen nicht genug Gott zu preisen, daß er ihn zum Lehrer des Alexander gemacht, daß er durch dessen Eroberungen so viele Gelegenheiten fand zur Beförderung der Wissenschaft und daß sein siegender Schüler ihm so viele tausend Talente gegeben zu zoologischen Zwecken. Dieses Geld hat der alte Magister gewissenhaft verwendet, und er hat dafür eine ehrliche Anzahl von Säugetieren seziert und Vögel ausgestopft und dabei die wichtigsten Beobachtungen angestellt: aber die große Bestie, die er am nächsten vor Augen hatte, die er selber auferzogen und die weit merkwürdiger war als die ganze damalige Weltmenagerie, hat er leider übersehen und unerforscht gelassen. In der Tat, er ließ uns ganz ohne Kunde über die Natur jenes Jünglingkönigs, dessen Leben und Taten wir noch immer als Wunder und Rätsel anstaunen. Wer war Alexander? Was wollte er? War er ein Wahnsinniger oder ein Gott? Noch jetzt wissen wir es nicht. Desto bessere Auskunft gibt uns Aristoteles über babylonische Meerkatzen, indische Papageien und griechische Tragödien, welche er ebenfalls seziert hat.

Plato und Aristoteles! Das sind nicht bloß die zwei Systeme, sondern auch die Typen zweier verschiedenen Menschennaturen, die sich, seit undenklicher Zeit, unter allen Kostümen, mehr oder minder feindselig entgegenstehen. Vorzüglich das ganze Mittelalter hindurch, bis auf den heutigen Tag, wurde solchermaßen gekämpft, und dieser Kampf ist der wesentlichste Inhalt der christlichen Kirchengeschichte. Von Plato und Aristoteles ist immer die Rede, wenn auch unter anderem Namen. Schwärmerische, mystische, platonische Naturen offenbaren aus den Abgründen ihres Gemütes die christlichen Ideen und die entsprechenden Symbole. Praktische, ordnende, aristotelische Naturen bauen aus diesen Ideen und Symbolen ein festes System, eine Dogmatik und einen Kultus. Die Kirche umschließt endlich beide Naturen, wovon die einen sich meistens im Klerus und die anderen im Mönchstum verschanzen, aber sich unablässig befehden. In der protestantischen Kirche zeigt sich derselbe Kampf, und das ist der Zwiespalt zwischen Pietisten und Orthodoxen, die den katholischen Mystikern und Dogmatikern in einer gewissen Weise entsprechen. Die protestantischen Pietisten sind Mystiker ohne Phantasie, und die protestantischen Orthodoxen sind Dogmatiker ohne Geist.

Diese beiden protestantischen Parteien finden wir in einem erbitterten Kampfe zur Zeit des Leibniz, und die Philosophie desselben intervenierte späterhin, als Christian Wolff sich derselben bemächtigte, sie den Zeitbedürfnissen anpaßte und sie, was die Hauptsache war, in deutscher Sprache vortrug. Ehe wir aber von diesem Schüler des Leibniz, von den Wirkungen seines Strebens und von den späteren Schicksalen des Luthertums ein Weiteres berichten, müssen wir des providentiellen Mannes erwähnen, der gleichzeitig mit Locke und Leibniz sich in der Schule des Descartes gebildet hatte, lange Zeit nur mit Hohn und Haß betrachtet worden und dennoch in unseren heutigen Tagen zur alleinigen Geisterherrschaft emporsteigt.

Ich spreche von Benedikt Spinoza.

Ein großer Genius bildet sich durch einen anderen großen Genius, weniger durch Assimilierung als durch Reibung. Ein Diamant schleift den andern. So hat die Philosophie des Descartes keineswegs die des Spinoza hervorgebracht, sondern nur befördert. Daher zunächst finden wir bei dem Schüler die Methode des Meisters; dieses ist ein großer Gewinn. Dann finden wir bei Spinoza, wie bei Descartes, die der Mathematik abgeborgte Beweisführung. Dieses ist ein großes Gebrechen. Die mathematische Form gibt dem Spinoza ein herbes Äußere. Aber dieses ist wie die herbe Schale der Mandel; der Kern ist um so erfreulicher. Bei der Lektüre des Spinoza ergreift uns ein Gefühl wie beim Anblick der großen Natur in ihrer lebendigsten Ruhe. Ein Wald von himmelhohen Gedanken, deren blühende Wipfel in wogender Bewegung sind, während die unerschütterlichen Baumstämme in der ewigen Erde wurzeln. Es ist ein gewisser Hauch in den Schriften des Spinoza, der unerklärlich. Man wird angeweht wie von den Lüften der Zukunft. Der Geist der hebräischen Propheten ruhte vielleicht noch auf ihrem späten Enkel. Dabei ist ein Ernst in ihm, ein selbstbewußter Stolz, eine Gedankengrandezza, die ebenfalls ein Erbteil zu sein scheint; denn Spinoza gehörte zu jenen Märtyrerfamilien, die damals von den allerkatholischsten Königen aus Spanien vertrieben worden. Dazu kommt noch die Geduld des Holländers, die sich ebenfalls, wie im Leben, so auch in den Schriften des Mannes, niemals verleugnet hat.

Konstatiert ist es, daß der Lebenswandel des Spinoza frei von allem Tadel war und rein und makellos wie das Leben seines göttlichen Vetters, Jesu Christi. Auch wie dieser litt er für seine Lehre, wie dieser trug er die Dornenkrone. Überall, wo ein großer Geist seinen Gedanken ausspricht, ist Golgatha.

Teurer Leser, wenn du mal nach Amsterdam kömmst, so laß dir dort von dem Lohnlakaien die spanische Synagoge zeigen. Diese ist ein schönes Gebäude, und das Dach ruht auf vier kolossalen Pfeilern, und in der Mitte steht die Kanzel, wo einst der Bannfluch ausgesprochen wurde über den Verächter des mosaischen Gesetzes, den Hidalgo Don Benedikt de Spinoza. Bei dieser Gelegenheit wurde auf einem Bockshorne geblasen, welches Schofar heißt. Es muß eine furchtbare Bewandtnis haben mit diesem Horne. Denn wie ich mal in dem Leben des Salomon Maimon gelesen, suchte einst der Rabbi von Altona ihn, den Schüler Kants, wieder zum alten Glauben zurückzuführen, und als derselbe bei seinen philosophischen Ketzereien halsstarrig beharrte, wurde er drohend und zeigte ihm den Schofar, mit den finstern Worten: »Weißt du, was das ist?« Als aber der Schüler Kants sehr gelassen antwortete: »Es ist das Horn eines Bockes!«, da fiel der Rabbi rücklings zu Boden vor Entsetzen.

Mit diesem Horne wurde die Exkommunikation des Spinoza akkompagniert, er wurde feierlich ausgestoßen aus der Gemeinschaft Israels und unwürdig erklärt, hinfüro den Namen Jude zu tragen. Seine christlichen Feinde waren großmütig genug, ihm diesen Namen zu lassen. Die Juden aber, die Schweizergarde des Deismus, waren unerbittlich, und man zeigt den Platz vor der spanischen Synagoge zu Amsterdam, wo sie einst mit ihren langen Dolchen nach dem Spinoza gestochen haben.

Ich konnte nicht umhin, auf solche persönliche Mißgeschicke des Mannes besonders aufmerksam zu machen. Ihn bildete nicht bloß die Schule, sondern auch das Leben. Das unterscheidet ihn von den meisten Philosophen, und in seinen Schriften erkennen wir die mittelbaren Einwirkungen des Lebens. Die Theologie war für ihn nicht bloß eine Wissenschaft. Ebenso die Politik. Auch diese lernte er in der Praxis kennen. Der Vater seiner Geliebten wurde wegen politischer Vergehen in den Niederlanden gehenkt. Und nirgends in der Welt wird man schlechter gehenkt wie in den Niederlanden. Ihr habt keinen Begriff davon, wie unendlich viele Vorbereitungen und Zeremonien dabei stattfinden. Der Delinquent stirbt zugleich vor Langerweile, und der Zuschauer hat dabei hinlängliche Muße zum Nachdenken. Ich bin daher überzeugt, daß Benedikt Spinoza über die Hinrichtung des alten van Ende sehr viel nachgedacht hat, und so wie er früher die Religion mit ihren Dolchen begriffen, so begriff er auch jetzt die Politik mit ihren Stricken. Kunde davon gibt sein »Tractatus politicus«.

Ich habe nur die Art und Weise hervorzuheben, wie die Philosophen mehr oder minder miteinander verwandt sind, und ich zeige nur die Verwandtschaftsgrade und die Erbfolge. Diese Philosophie des Spinoza, des dritten Sohnes des René Descartes, wie er sie in seinem Hauptwerk, in der »Ethik«, doziert, ist von dem Materialismus seines Bruders Locke ebensosehr entfernt wie von dem Idealismus seines Bruders Leibniz. Spinoza quält sich nicht analytisch mit der Frage über die letzten Gründe unserer Erkenntnisse. Er gibt uns seine große Synthese, seine Erklärung von der Gottheit.

Benedikt Spinoza lehrt: Es gibt nur eine Substanz, das ist Gott. Diese eine Substanz ist unendlich, sie ist absolut. Alle endliche Substanzen derivieren von ihr, sind in ihr enthalten, tauchen in ihr auf, tauchen in ihr unter, sie haben nur relative, vorübergehende, akzidentielle Existenz. Die absolute Substanz offenbart sich uns sowohl unter der Form des unendlichen Denkens als auch unter der Form der unendlichen Ausdehnung. Beides, das unendliche Denken und die unendliche Ausdehnung, sind die zwei Attribute der absoluten Substanz. Wir erkennen nur diese zwei Attribute; Gott, die absolute Substanz, hat aber vielleicht noch mehr Attribute, die wir nicht kennen. »Non dico me deum omnino cognoscere, sed me quaedam ejus attributa, non autem omnia, neque maximam intelligere partem.«

Nur Unverstand und Böswilligkeit konnten dieser Lehre das Beiwort »atheistisch« beilegen. Keiner hat sich jemals erhabener über die Gottheit ausgesprochen wie Spinoza. Statt zu sagen, er leugne Gott, könnte man sagen, er leugne den Menschen. Alle endliche Dinge sind ihm nur Modi der unendlichen Substanz. Alle endliche Dinge sind in Gott enthalten, der menschliche Geist ist nur ein Lichtstrahl des unendlichen Denkens, der menschliche Leib ist nur ein Atom der unendlichen Ausdehnung; Gott ist die unendliche Ursache beider, der Geister und der Leiber, natura naturans.

In einem Briefe an Madame Du Devant zeigt Voltaire sich ganz entzückt über einen Einfall dieser Dame, die sich geäußert hatte, daß alle Dinge, die der Mensch durchaus nicht wissen könne, sicher von der Art sind, daß ein Wissen derselben ihm nichts nützen würde. Diese Bemerkung möchte ich auf jenen Satz des Spinoza anwenden, den ich oben mit seinen eignen Worten mitgeteilt und wonach der Gottheit nicht bloß die zwei erkennbaren Attribute, Denken und Ausdehnung, sondern vielleicht auch andere für uns unerkennbare Attribute gebühren. Was wir nicht erkennen können, hat für uns keinen Wert, wenigstens keinen Wert auf dem sozialen Standpunkte, wo es gilt, das im Geiste Erkannte zur leiblichen Erscheinung zu bringen. In unserer Erklärung des Wesens Gottes nehmen wir daher Bezug nur auf jene zwei erkennbare Attribute. Und dann ist ja doch am Ende alles, was wir Attribute Gottes nennen, nur eine verschiedene Form unserer Anschauung, und diese verschiedenen Formen sind identisch in der absoluten Substanz. Der Gedanke ist am Ende nur die unsichtbare Ausdehnung, und die Ausdehnung ist nur der sichtbare Gedanke. Hier geraten wir in den Hauptsatz der deutschen Identitätsphilosophie, die in ihrem Wesen durchaus nicht von der Lehre des Spinoza verschieden ist. Mag immerhin Herr Schelling dagegen eifern, daß seine Philosophie von dem Spinozismus verschieden sei, daß sie mehr »eine lebendige Durchdringung des Idealen und Realen« sei, daß sie sich von dem Spinozismus unterscheide »wie die ausgebildeten griechischen Statuen von den starr-ägyptischen Originalen«: dennoch muß ich aufs bestimmteste erklären, daß sich Herr Schelling in seiner früheren Periode, wo er noch ein Philosoph war, nicht im geringsten von Spinoza unterschied. Nur auf einem andern Wege ist er zu derselben Philosophie gelangt, und das habe ich späterhin zu erläutern, wenn ich erzähle, wie Kant eine neue Bahn betritt, Fichte ihm nachfolgt, Herr Schelling wieder in Fichtes Fußstapfen weiterschreitet und, durch das Walddunkel der Naturphilosophie umherirrend, endlich dem großen Standbilde Spinozas, Angesicht zu Angesicht, gegenübersteht.

Die neuere Naturphilosophie hat bloß das Verdienst, daß sie den ewigen Parallelismus, der zwischen dem Geiste und der Materie herrscht, aufs scharfsinnigste nachgewiesen. Ich sage Geist und Materie, und diese Ausdrücke brauche ich als gleichbedeutend für das, was Spinoza Gedanken und Ausdehnung nennt. Gewissermaßen gleichbedeutend ist auch das, was unsere Naturphilosophen Geist und Natur oder das Ideale und das Reale nennen.

Ich werde in der Folge weniger das System als vielmehr die Anschauungsweise des Spinoza mit dem Namen Pantheismus bezeichnen. Bei letzterem wird, ebensogut wie bei dem Deismus, die Einheit Gottes angenommen. Aber der Gott des Pantheisten ist in der Welt selbst, nicht indem er sie mit seiner Göttlichkeit durchdringt, in der Weise, die einst der heilige Augustin zu veranschaulichen suchte, als er Gott mit einem großen See und die Welt mit einem großen Schwamm verglich, der in der Mitte läge und die Gottheit einsauge: nein, die Welt ist nicht bloß gottgetränkt, gottgeschwängert, sondern sie ist identisch mit Gott. »Gott«, welcher von Spinoza die eine Substanz und von den deutschen Philosophen das Absolute genannt wird, »ist alles, was da ist«, er ist sowohl Materie wie Geist, beides ist gleich göttlich, und wer die heilige Materie beleidigt, ist ebenso sündhaft wie der, welcher sündigt gegen den Heiligen Geist.

Der Gott des Pantheisten unterscheidet sich also von dem Gotte des Deisten dadurch, daß er in der Welt selbst ist, während letzterer ganz außer oder, was dasselbe ist, über der Welt ist. Der Gott des Deisten regiert die Welt von oben herab, als ein von ihm abgesondertes Etablissement. Nur in betreff der Art dieses Regierens differenzieren untereinander die Deisten. Die Hebräer denken sich Gott als einen donnernden Tyrannen; die Christen als einen liebenden Vater; die Schüler Rousseaus, die ganze Genfer Schule, denken sich ihn als einen weisen Künstler, der die Welt verfertigt hat, ungefähr wie ihr Papa seine Uhren verfertigt, und als Kunstverständige bewundern sie das Werk und preisen den Meister dort oben.

Dem Deisten, welcher also einen außerweltlichen oder überweltlichen Gott annimmt, ist nur der Geist heilig, indem er letzteren gleichsam als den göttlichen Atem betrachtet, den der Weltschöpfer dem menschlichen Leibe, dem aus Lehm gekneteten Werk seiner Hände, eingeblasen hat. Die Juden achteten daher den Leib als etwas Geringes, als eine armselige Hülle des Ruach hakodasch, des heiligen Hauchs, des Geistes, und nur diesem widmeten sie ihre Sorgfalt, ihre Ehrfurcht, ihren Kultus. Sie wurden daher ganz eigentlich das Volk des Geistes, keusch, genügsam, ernst, abstrakt, halsstarrig, geeignet zum Martyrtum, und ihre sublimste Blüte ist Jesus Christus. Dieser ist im wahren Sinne des Wortes der inkarnierte Geist, und tiefsinnig bedeutungsvoll ist die schöne Legende, daß ihn eine leiblich unberührte, immakulierte Jungfrau, nur durch geistige Empfängnis, zur Welt gebracht habe.

Hatten aber die Juden den Leib nur mit Geringschätzung betrachtet, so sind die Christen auf dieser Bahn noch weiter gegangen und betrachteten ihn als etwas Verwerfliches, als etwas Schlechtes, als das Übel selbst. Da sehen wir nun, einige Jahrhunderte nach Christi Geburt, eine Religion emporsteigen, welche ewig die Menschheit in Erstaunen setzen und den spätesten Geschlechtern die schauerlichste Bewunderung abtrotzen wird. Ja, es ist eine große, heilige, mit unendlicher Seligkeit erfüllte Religion, die dem Geiste auf dieser Erde die unbedingteste Herrschaft erobern wollte – aber diese Religion war eben allzu erhaben, allzu rein, allzu gut für diese Erde, wo ihre Idee nur in der Theorie proklamiert, aber niemals in der Praxis ausgeführt werden konnte. Der Versuch einer Ausführung dieser Idee hat in der Geschichte unendlich viel herrliche Erscheinungen hervorgebracht, und die Poeten aller Zeiten werden noch lange davon singen und sagen. Der Versuch, die Idee des Christentums zur Ausführung zu bringen, ist jedoch, wie wir endlich sehen, aufs kläglichste verunglückt, und dieser unglückliche Versuch hat der Menschheit Opfer gekostet, die unberechenbar sind, und trübselige Folge derselben ist unser jetziges soziales Unwohlsein in ganz Europa. Wenn wir noch, wie viele glauben, im Jugendalter der Menschheit leben, so gehörte das Christentum gleichsam zu ihren überspanntesten Studentenideen, die weit mehr ihrem Herzen als ihrem Verstande Ehre machen. Die Materie, das Weltliche, überließ das Christentum den Händen Cäsars und seiner jüdischen Kammerknechte und begnügte sich damit, ersterem die Suprematie abzusprechen und letztere in der öffentlichen Meinung zu fletrieren – aber siehe! das gehaßte Schwert und das verachtete Geld erringen dennoch am Ende die Obergewalt, und die Repräsentanten des Geistes müssen sich mit ihnen verständigen. Ja, aus diesem Verständnis ist sogar eine solidarische Allianz geworden. Nicht bloß die römischen, sondern auch die englischen, die preußischen, kurz, alle privilegierten Priester haben sich verbündet mit Cäsar und Konsorten zur Unterdrückung der Völker. Aber durch diese Verbündung geht die Religion des Spiritualismus desto schneller zugrunde. Zu dieser Einsicht gelangen schon einige Priester, und um die Religion zu retten, gehen sie sich das Ansehen, als entsagten sie jener verderblichen Allianz, und sie laufen über in unsere Reihen, sie setzen die rote Mütze auf, sie schwören Tod und Haß allen Königen, den sieben Blutsäufern, sie verlangen die irdische Gütergleichheit, sie fluchen, trotz Marat und Robespierre. – Unter uns gesagt, wenn ihr sie genau betrachtet, so findet ihr: sie lesen Messe in der Sprache des Jakobinismus, und wie sie einst dem Cäsar das Gift beigebracht, versteckt in der Hostie, so suchen sie jetzt dem Volke ihre Hostien beizubringen, indem sie solche in revolutionärem Gifte verstecken; denn sie wissen, wir lieben dieses Gift.

Vergebens jedoch ist all euer Bemühen! Die Menschheit ist aller Hostien überdrüssig und lechzt nach nahrhafterer Speise, nach echtem Brot und schönem Fleisch. Die Menschheit lächelt mitleidig über jene Jugendideale, die sie trotz aller Anstrengung nicht verwirklichen konnte, und sie wird männlich praktisch. Die Menschheit huldigt jetzt dem irdischen Nützlichkeitssystem, sie denkt ernsthaft an eine bürgerlich wohlhabende Einrichtung, an vernünftigen Haushalt und an Bequemlichkeit für ihr späteres Alter. Da ist wahrlich nicht mehr die Rede davon, das Schwert in den Händen des Cäsars und gar den Säckel in den Händen seiner Knechte zu lassen. Dem Fürstendienst wird die privilegierte Ehre entrissen, und die Industrie wird der alten Schmach entlastet. Die nächste Aufgabe ist, gesund zu werden; denn wir fühlen uns noch sehr schwach in den Gliedern. Die heiligen Vampire des Mittelalters haben uns soviel Lebensblut ausgesaugt. Und dann müssen der Materie noch große Sühnopfer geschlachtet werden, damit sie die alten Beleidigungen verzeihe. Es wäre sogar ratsam, wenn wir Festspiele anordneten und der Materie noch mehr außerordentliche Entschädigungsehren erwiesen. Denn das Christentum, unfähig, die Materie zu vernichten, hat sie überall fletriert, es hat die edelsten Genüsse herabgewürdigt, und die Sinne mußten heucheln, und es entstand Lüge und Sünde. Wir müssen unseren Weibern neue Hemden und neue Gedanken anziehen, und alle unsere Gefühle müssen wir durchräuchern, wie nach einer überstandenen Pest.

Der nächste Zweck aller unserer neuen Institutionen ist solchermaßen die Rehabilitation der Materie, die Wiedereinsetzung derselben in ihre Würde, ihre moralische Anerkennung, ihre religiöse Heiligung, ihre Versöhnung mit dem Geiste. Purusa wird wieder vermählt mit Prakriti. Durch ihre gewaltsame Trennung, wie in der indischen Mythe so sinnreich dargestellt wird, entstand die große Weltzerrissenheit, das Übel.

Wißt ihr nun, was in der Welt das Übel ist? Die Spiritualisten haben uns immer vorgeworfen, daß bei der pantheistischen Ansicht der Unterschied zwischen dem Guten und dem Bösen aufhöre. Das Böse ist aber einesteils nur ein Wahnbegriff ihrer eignen Weltanschauung, anderenteils ist es ein reelles Ergebnis ihrer eigenen Welteinrichtung. Nach ihrer Weltanschauung ist die Materie an und für sich böse, was doch wahrlich eine Verleumdung ist, eine entsetzliche Gotteslästerung. Die Materie wird nur alsdann böse, wenn sie heimlich konspirieren muß gegen die Usurpationen des Geistes, wenn der Geist sie fletriert hat und sie sich aus Selbstverachtung prostituiert oder wenn sie gar mit Verzweiflungshaß sich an dem Geiste rächt; und somit wird das Übel nur ein Resultat der spiritualistischen Welteinrichtung.

Gott ist identisch mit der Welt. Er manifestiert sich in den Pflanzen, die ohne Bewußtsein ein kosmisch-magnetisches Leben führen. Er manifestiert sich in den Tieren, die in ihrem sinnlichen Traumleben eine mehr oder minder dumpfe Existenz empfinden. Aber am herrlichsten manifestiert er sich in dem Menschen, der zugleich fühlt und denkt, der sich selbst individuell zu unterscheiden weiß von der objektiven Natur und schon in seiner Vernunft die Ideen trägt, die sich ihm in der Erscheinungswelt kundgeben. Im Menschen kommt die Gottheit zum Selbstbewußtsein, und solches Selbstbewußtsein offenbart sie wieder durch den Menschen. Aber dieses geschieht nicht in dem einzelnen und durch den einzelnen Menschen, sondern in und durch die Gesamtheit der Menschen, so daß jeder Mensch nur einen Teil des Gottweltalls auffaßt und darstellt, alle Menschen zusammen aber das ganze Gottweltall in der Idee und in der Realität auffassen und darstellen werden. Jedes Volk vielleicht hat die Sendung, einen bestimmten Teil jenes Gottweltalls zu erkennen und kundzugeben, eine Reihe von Erscheinungen zu begreifen und eine Reihe von Ideen zur Erscheinung zu bringen und das Resultat den nachfolgenden Völkern, denen eine ähnliche Sendung obliegt, zu überliefern. Gott ist daher der eigentliche Held der Weltgeschichte, diese ist sein beständiges Denken, sein beständiges Handeln, sein Wort, seine Tat; und von der ganzen Menschheit kann man mit Recht sagen, sie ist eine Inkarnation Gottes!

Es ist eine irrige Meinung, daß diese Religion, der Pantheismus, die Menschen zum Indifferentismus führe. Im Gegenteil, das Bewußtsein seiner Göttlichkeit wird den Menschen auch zur Kundgebung derselben begeistern, und jetzt erst werden die wahren Großtaten des wahren Heroentums diese Erde verherrlichen.

Die politische Revolution, die sich auf die Prinzipien des französischen Materialismus stützt, wird in den Pantheisten keine Gegner finden, sondern Gehülfen, aber Gehülfen, die ihre Überzeugungen aus einer tieferen Quelle, aus einer religiösen Synthese, geschöpft haben. Wir befördern das Wohlsein der Materie, das materielle Glück der Völker, nicht weil wir gleich den Materialisten den Geist mißachten, sondern weil wir wissen, daß die Göttlichkeit des Menschen sich auch in seiner leiblichen Erscheinung kundgibt und das Elend den Leib, das Bild Gottes, zerstört oder aviliert und der Geist dadurch ebenfalls zugrunde geht. Das große Wort der Revolution, das Saint-Just ausgesprochen: Le pain est le droit du peuple, lautet bei uns: Le pain est le droit divin de l’homme. Wir kämpfen nicht für die Menschenrechte des Volks, sondern für die Gottesrechte des Menschen. Hierin, und in noch manchen andern Dingen, unterscheiden wir uns von den Männern der Revolution. Wir wollen keine Sansculotten sein, keine frugale Bürger, keine wohlfeile Präsidenten: wir stiften eine Demokratie gleichherrlicher, gleichheiliger, gleichbeseligter Götter. Ihr verlangt einfache Trachten, enthaltsame Sitten und ungewürzte Genüsse; wir hingegen verlangen Nektar und Ambrosia, Purpurmäntel, kostbare Wohlgerüche, Wollust und Pracht, lachenden Nymphentanz, Musik und Komödien – Seid deshalb nicht ungehalten, ihr tugendhaften Republikaner! Auf eure zensorische Vorwürfe entgegnen wir euch, was schon ein Narr des Shakespeare sagte: »Meinst du, weil du tugendhaft bist, solle es auf dieser Erde keine angenehmen Torten und keinen süßen Sekt mehr geben?«

Die Saint-Simonisten haben etwas der Art begriffen und gewollt. Aber sie standen auf ungünstigem Boden, und der umgebende Materialismus hat sie niedergedrückt, wenigstens für einige Zeit. In Deutschland hat man sie besser gewürdigt. Denn Deutschland ist der gedeihlichste Boden des Pantheismus; dieser ist die Religion unserer größten Denker, unserer besten Künstler, und der Deismus, wie ich späterhin erzählen werde, ist dort längst in der Theorie gestürzt. Er erhält sich dort nur noch in der gedankenlosen Masse, ohne vernünftige Berechtigung, wie so manches andere. Man sagt es nicht, aber jeder weiß es; der Pantheismus ist das öffentliche Geheimnis in Deutschland. In der Tat, wir sind dem Deismus entwachsen. Wir sind frei und wollen keinen donnernden Tyrannen. Wir sind mündig und bedürfen keiner väterlichen Vorsorge. Auch sind wir keine Machwerke eines großen Mechanikus. Der Deismus ist eine Religion für Knechte, für Kinder, für Genfer, für Uhrmacher.

Der Pantheismus ist die verborgene Religion Deutschlands, und daß es dahin kommen würde, haben diejenigen deutschen Schriftsteller vorausgesehen, die schon vor funfzig Jahren so sehr gegen Spinoza eiferten. Der wütendste dieser Gegner Spinozas war Fr. Heinr. Jacobi, dem man zuweilen die Ehre erzeigt, ihn unter den deutschen Philosophen zu nennen. Er war nichts als ein zänkischer Schleicher, der sich in dem Mantel der Philosophie vermummt und sich bei den Philosophen einschlich, ihnen erst viel von seiner Liebe und weichem Gemüte vorwimmerte und dann auf die Vernunft losschmähte. Sein Refrain war immer, die Philosophie, die Erkenntnis durch Vernunft, sei eitel Wahn, die Vernunft wisse selbst nicht, wohin sie führe, sie bringe den Menschen in ein dunkles Labyrinth von Irrtum und Widerspruch, und nur der Glaube könne ihn sicher leiten. Der Maulwurf! er sah nicht, daß die Vernunft der ewigen Sonne gleicht, die, während sie droben sicher einherwandelt, sich selber mit ihrem eignen Lichte ihren Pfad beleuchtet. Nichts gleicht dem frommen, gemütlichen Hasse des kleinen Jacobi gegen den großen Spinoza.

Merkwürdig ist es, wie die verschiedensten Parteien gegen Spinoza gekämpft. Sie bilden eine Armee, deren bunte Zusammensetzung den spaßhaftesten Anblick gewährt. Neben einem Schwarm schwarzer und weißer Kapuzen, mit Kreuzen und dampfenden Weihrauchfässern, marschiert die Phalanx der Enzyklopädisten, die ebenfalls gegen diesen penseur téméraire eifern. Neben dem Rabbiner der Amsterdamer Synagoge, der mit dem Bockshorn des Glaubens zum Angriff bläst, wandelt Arouet de Voltaire, der mit der Pickelflöte der Persiflage zum Besten des Deismus musiziert. Dazwischen greint das alte Weib Jacobi, die Marketenderin dieser Glaubensarmee.

Wir entrinnen so schnell als möglich solchem Charivari. Zurückkehrend von unserem pantheistischen Ausflug, gelangen wir wieder zur Leibnizischen Philosophie und haben ihre weitern Schicksale zu erzählen.

Leibniz hatte seine Werke, die ihr kennt, teils in lateinischer, teils in französischer Sprache geschrieben. Christian Wolff heißt der vortreffliche Mann, der die Ideen des Leibniz nicht bloß systematisierte, sondern auch in deutscher Sprache vortrug. Sein eigentliches Verdienst besteht nicht darin, daß er die Ideen des Leibniz in ein festes System einschloß, noch weniger darin, daß er sie durch die deutsche Sprache dem größeren Publikum zugänglich machte: sein Verdienst besteht darin, daß er uns anregte, auch in unserer Muttersprache zu philosophieren. Wie wir bis Luther die Theologie, so haben wir bis Wolff die Philosophie nur in lateinischer Sprache zu behandeln gewußt. Das Beispiel einiger wenigen, die schon vorher dergleichen auf deutsch vortrugen, blieb ohne Erfolg; aber der Literarhistoriker muß ihrer mit besonderem Lobe gedenken. Hier erwähnen wir daher namentlich des Johannes Tauler, eines Dominikanermönchs, der zu Anfang des vierzehnten Jahrhunderts am Rheine geboren und 1361 ebendaselbst, ich glaube zu Straßburg, gestorben ist. Er war ein frommer Mann und gehörte zu jenen Mystikern, die ich als die platonische Partei des Mittelalters bezeichnet habe. In den letzten Jahren seines Lebens entsagte dieser Mann allem gelehrten Dünkel, schämte sich nicht, in der demütigen Volkssprache zu predigen, und diese Predigten, die er aufgezeichnet, sowie auch die deutschen Übersetzungen, die er von einigen seiner früheren lateinischen Predigten mitgeteilt, gehören zu den merkwürdigsten Denkmälern der deutschen Sprache. Denn hier zeigt sie schon, daß sie zu metaphysischen Untersuchungen nicht bloß tauglich, sondern weit geeigneter ist als die lateinische. Diese letztere, die Sprache der Römer, kann nie ihren Ursprung verleugnen. Sie ist eine Kommandosprache für Feldherren, eine Dekretalsprache für Administratoren, eine Justizsprache für Wucherer, eine Lapidarsprache für das steinharte Römervolk. Sie wurde die geeignete Sprache für den Materialismus. Obgleich das Christentum, mit wahrhaft christlicher Geduld, länger als ein Jahrtausend sich damit abgequält, diese Sprache zu spiritualisieren, so ist es ihm doch nicht gelungen; und als Johannes Tauler sich ganz versenken wollte in die schauerlichsten Abgründe des Gedankens und als sein Herz am heiligsten schwoll, da mußte er deutsch sprechen. Seine Sprache ist wie ein Bergquell, der aus harten Felsen hervorbricht, wunderbar geschwängert von unbekanntem Kräuterduft und geheimnisvollen Steinkräften. Aber erst in neuerer Zeit ward die Benutzbarkeit der deutschen Sprache für die Philosophie recht bemerklich. In keiner anderen Sprache hätte die Natur ihr geheimstes Werk offenbaren können wie in unserer lieben deutschen Muttersprache. Nur auf der starken Eiche konnte die heilige Mistel gedeihen.

Hier wäre wohl der Ort zur Besprechung des Paracelsus oder, wie er sich nannte, des Theophrastus Paracelsus Bombastus von Hohenheim. Denn auch er schrieb meistens deutsch. Aber ich habe später in einer noch bedeutungsvolleren Beziehung von ihm zu reden. Seine Philosophie war nämlich das, was wir heutzutage Naturphilosophie nennen, und eine solche Lehre von der ideenbelebten Natur, wie sie dem deutschen Geiste so geheimnisvoll zusagt, hätte sich schon damals bei uns ausgebildet, wenn nicht, durch zufälligen Einfluß, die leblose, mechanistische Physik der Cartesianer allgemein herrschend geworden wäre. Paracelsus war ein großer Scharlatan und trug immer einen Scharlachrock, eine Scharlachhose, rote Strümpfe und einen roten Hut und behauptete, homunculi, kleine Menschen, machen zu können, wenigstens stand er in vertrauter Bekanntschaft mit verborgenen Wesen, die in den verschiedenen Elementen hausen – aber er war zugleich einer der tiefsinnigsten Naturkundigen, die mit deutschem Forscherherzen den vorchristlichen Volksglauben, den germanischen Pantheismus begriffen und, was sie nicht wußten, ganz richtig geahnt haben.

Von Jakob Böhme sollte eigentlich auch hier die Rede sein. Denn er hat ebenfalls die deutsche Sprache zu philosophischen Darstellungen benutzt und wird in diesem Betracht sehr gelobt. Aber ich habe mich noch nie entschließen können, ihn zu lesen. Ich laß mich nicht gern zum Narren halten. Ich habe nämlich die Lobredner dieses Mystikers in Verdacht, daß sie das Publikum mystifizieren wollen. Was den Inhalt seiner Werke betrifft, so hat euch ja Saint-Martin einiges davon in französischer Sprache mitgeteilt. Auch die Engländer haben ihn übersetzt. Karl I. hatte von diesem theosophischen Schuster eine so große Idee, daß er eigens einen Gelehrten zu ihm nach Görlitz schickte, um ihn zu studieren. Dieser Gelehrte war glücklicher als sein königlicher Herr. Denn während dieser zu Whitehall den Kopf verlor durch Cromwells Beil, hat jener zu Görlitz, durch Jakob Böhmes Theosophie, nur den Verstand verloren.

Wie ich bereits gesagt, erst Christian Wolff hat mit Erfolg die deutsche Sprache in die Philosophie eingeführt. Sein geringeres Verdienst war sein Systematisieren und sein Popularisieren der Leibnizischen Ideen. Beides unterliegt sogar dem größten Tadel, und wir müssen beiläufig dessen erwähnen. Sein Systematisieren war nur eitel Schein, und das Wichtigste der Leibnizischen Philosophie war diesem Scheine geopfert, z.B. der beste Teil der Monadenlehre. Leibniz hatte freilich kein systematisches Lehrgebäude hinterlassen, sondern nur die dazu nötigen Ideen. Eines Riesen bedurfte es, um die kolossalen Quadern und Säulen zusammenzusetzen, die ein Riese aus den tiefsten Marmorbrüchen hervorgeholt und zierlich ausgemeißelt hatte. Das wär ein schöner Tempel geworden. Christian Wolff jedoch war von sehr untersetzter Statur und konnte nur einen Teil solcher Baumaterialien bemeistern, und er verarbeitete sie zu einer kümmerlichen Stiftshütte des Deismus. Wolff war mehr ein enzyklopädischer Kopf als ein systematischer, und die Einheit einer Lehre begriff er nur unter der Form der Vollständigkeit. Er war zufrieden mit einem gewissen Fachwerk, wo die Fächer schönstens geordnet, bestens gefüllt und mit deutlichen Etiketten versehen sind. So gab er uns eine »Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften«. Daß er, der Enkel des Descartes, die großväterliche Form der mathematischen Beweisführung geerbt hat, versteht sich von selbst. Diese mathematische Form habe ich bereits bei Spinoza gerügt. Durch Wolff stiftete sie großes Unheil. Sie degenerierte bei seinen Schülern zum unleidlichsten Schematismus und zur lächerlichen Manie, alles in mathematischer Weise zu demonstrieren. Es entstand der sogenannte Wolffsche Dogmatismus. Alles tiefere Forschen hörte auf, und ein langweiliger Eifer nach Deutlichkeit trat an dessen Stelle. Die Wolffsche Philosophie wurde immer wäßriger und überschwemmte endlich ganz Deutschland. Die Spuren dieser Sündflut sind noch heutzutage bemerkbar, und hie und da, auf unseren höchsten Musensitzen, findet man noch alte Fossilien aus der Wolffschen Schule.

Christian Wolff wurde geboren 1679 zu Breslau und starb 1754 zu Halle. Über ein halbes Jahrhundert dauerte seine Geistesherrschaft in Deutschland. Sein Verhältnis zu den Theologen jener Tage müssen wir besonders erwähnen, und wir ergänzen damit unsere Mitteilungen über die Schicksale des Luthertums.

In der ganzen Kirchengeschichte gibt es keine verwickeltere Partie als die Streitigkeiten der protestantischen Theologen seit dem Dreißigjährigen Krieg. Nur das spitzfündige Gezänke der Byzantiner ist damit zu vergleichen; jedoch war dieses nicht so langweilig, da große, staatsinteressante Hofintrigen sich dahinter versteckten, statt daß die protestantische Klopffechterei meistens in dem Pedantismus enger Magisterköpfe und Schulfüchse ihren Grund hatte. Die Universitäten, besonders Tübingen, Wittenberg, Leipzig und Halle, sind die Schauplätze jener theologischen Kämpfe. Die zwei Parteien, die wir, im katholischen Gewande, während dem ganzen Mittelalter kämpfen sahen, die platonische und die aristotelische, haben nur Kostüme gewechselt und befehden sich nach wie vor. Das sind die Pietisten und die Orthodoxen, deren ich schon oben erwähnt und die ich als Mystiker ohne Phantasie und Dogmatiker ohne Geist bezeichnet habe. Johannes Spener war der Scotus Erigena des Protestantismus, und wie dieser durch seine Übersetzung des fabelhaften Dionysius Areopagita den katholischen Mystizismus begründet, so begründete jener den protestantischen Pietismus durch seine Erbauungsversammlungen, colloquia pietatis, woher vielleicht der Namen Pietisten seinen Anhängern geblieben ist. Er war ein frommer Mann, Ehre seinem Andenken. Ein Berliner Pietist, Herr Franz Horn, hat eine gute Biographie von ihm geliefert. Das Leben Speners ist ein beständiges Martyrtum für die christliche Idee. Er war in diesem Betracht seinen Zeitgenossen überlegen. Er drang auf gute Werke und Frömmigkeit, er war viel mehr ein Prediger des Geistes als des Wortes. Sein homiletisches Wesen war damals löblich. Denn die ganze Theologie, wie sie auf den erwähnten Universitäten gelehrt wurde, bestand nur in engbrüstiger Dogmatik und wortklaubender Polemik. Exegese und Kirchengeschichte wurden ganz beiseite gesetzt.

Ein Schüler jenes Speners, Hermann Francke, begann in Leipzig Vorlesungen zu halten nach dem Beispiele und im Sinne seines Lehrers. Er hielt sie auf deutsch, ein Verdienst, welches wir immer gern mit Anerkennung erwähnen. Der Beifall, den er dabei erwarb, erregte den Neid seiner Kollegen, die deshalb unserem armen Pietisten das Leben sehr sauer machten. Er mußte das Feld räumen, und er begab sich nach Halle, wo er mit Wort und Tat das Christentum lehrte. Sein Andenken ist dort unverwelklich, denn er ist der Stifter des Halleschen Waisenhauses. Die Universität Halle ward nun bevölkert von Pietisten, und man nannte sie »die Waisenhauspartei«. Nebenbei gesagt, diese hat sich dort bis auf heutigen Tag erhalten; Halle ist noch bis jetzt die Taupinière der Pietisten, und ihre Streitigkeiten mit den protestantischen Rationalisten haben noch vor einigen Jahren einen Skandal erregt, der durch ganz Deutschland seinen Mißduft verbreitete. Glückliche Franzosen, die ihr nichts davon gehört habt! Sogar die Existenz jener evangelischen Klatschblätter, worin die frommen Fischweiber der protestantischen Kirche sich weidlich ausgeschimpft, ist euch unbekannt geblieben. Glückliche Franzosen, die ihr keinen Begriff davon habt, wie hämisch, wie kleinlich, wie widerwärtig unsre evangelischen Priester einander begeifern können. Ihr wißt, ich bin kein Anhänger des Katholizismus. In meinen jetzigen religiösen Überzeugungen lebt zwar nicht mehr die Dogmatik, aber doch immer der Geist des Protestantismus. Ich bin also für die protestantische Kirche noch immer parteiisch. Und doch muß ich, der Wahrheit wegen, eingestehen, daß ich nie in den Annalen des Papismus solche Miserabilitäten gefunden habe, wie in der Berliner »Evangelischen Kirchenzeitung« bei dem erwähnten Skandal zum Vorschein kamen. Die feigsten Mönchstücken, die kleinlichsten Klosterränke sind noch immer noble Gutmütigkeiten in Vergleichung mit den christlichen Heldentaten, die unsere protestantischen Orthodoxen und Pietisten gegen die verhaßten Rationalisten ausübten. Von dem Haß, der bei solchen Gelegenheiten zum Vorschein kommt, habt ihr Franzosen keinen Begriff. Die Deutschen sind aber überhaupt vindikativer als die romanischen Völker.

Das kommt daher, sie sind Idealisten auch im Haß. Wir hassen uns nicht um Außendinge, wie ihr, etwa wegen beleidigter Eitelkeit, wegen eines Epigramms, wegen einer nicht erwiderten Visitenkarte, nein, wir hassen bei unsern Feinden das Tiefste, das Wesentlichste, das in ihnen ist, den Gedanken. Ihr Franzosen seid leichtfertig und oberflächlich, wie in der Liebe, so auch im Haß. Wir Deutschen hassen gründlich, dauernd; da wir zu ehrlich, auch zu unbeholfen sind, um uns mit schneller Perfidie zu rächen, so hassen wir bis zu unserem letzten Atemzug.

»Ich kenne, mein Herr, diese deutsche Ruhe«, sagte jüngst eine Dame, indem sie mich mit großgeöffneten Augen ungläubig und beängstigt ansah; »ich weiß, ihr Deutschen gebraucht dasselbe Wort für Verzeihen und Vergiften.« Und in der Tat, sie hat recht, das Wort Vergeben bedeutet beides.

Es waren nun, wenn ich nicht irre, die halleschen Orthodoxen, welche, in ihrem Kampfe mit den eingesiedelten Pietisten, die Wolffsche Philosophie zu Hülfe riefen. Denn die Religion, wenn sie uns nicht mehr verbrennen kann, kommt sie bei uns betteln. Aber alle unsere Gaben bringen ihr schlechten Gewinn. Das mathematische, demonstrative Gewand, womit Wolff die arme Religion recht liebevoll eingekleidet hatte, paßte ihr so schlecht, daß sie sich noch beengter fühlte und in dieser Beengnis sehr lächerlich machte. Überall platzten die schwachen Nähte. Besonders der verschämte Teil, die Erbsünde, trat hervor in seiner grellsten Blöße. Hier half kein logisches Feigenblatt. Christlich-lutherische Erbsünde und Leibniz-Wolffscher Optimismus sind unverträglich. Die französische Persiflage des Optimismus mißfiel daher am wenigsten unseren Theologen. Voltaires Witz kam der nackten Erbsünde zugute. Der deutsche Pangloß hat aber, durch die Vernichtung des Optimismus, sehr viel verloren und suchte lange nach einer ähnlichen Trostlehre, bis das Hegelsche Wort »Alles, was ist, ist vernünftig!« ihm einigen Ersatz bot.

Von dem Augenblick an, wo eine Religion bei der Philosophie Hülfe begehrt, ist ihr Untergang unabwendlich. Sie sucht sich zu verteidigen und schwatzt sich immer tiefer ins Verderben hinein. Die Religion, wie jeder Absolutismus, darf sich nicht justifizieren. Prometheus wird an den Felsen gefesselt von der schweigenden Gewalt. Ja, Äschylus läßt die personifizierte Gewalt kein einziges Wort reden. Sie muß stumm sein. Sobald die Religion einen räsonierenden Katechismus drucken läßt, sobald der politische Absolutismus eine offizielle Staatszeitung herausgibt, haben beide ein Ende. Aber das ist eben unser Triumph, wir haben unsere Gegner zum Sprechen gebracht, und sie müssen uns Rede stehn.

Es ist freilich nicht zu leugnen, daß der religiöse Absolutismus, ebenso wie der politische, sehr gewaltige Organe seines Wortes gefunden hat. Doch laßt uns darob nicht bange sein. Lebt das Wort, so wird es von Zwergen getragen; ist das Wort tot, so können es keine Riesen aufrechterhalten.

Seitdem nun, wie ich oben erzählt, die Religion Hülfe suchte bei der Philosophie, wurden von den deutschen Gelehrten, außer der neuen Einkleidung, noch unzählige Experimente mit ihr angestellt. Man wollte ihr eine neue Jugend bereiten, und man benahm sich dabei ungefähr wie Medea bei der Verjüngung des Königs Äson. Zuerst wurde ihr zur Ader gelassen, alles abergläubische Blut wurde ihr langsam abgezapft; um mich bildlos auszudrücken: es wurde der Versuch gemacht, allen historischen Inhalt aus dem Christentume herauszunehmen und nur den moralischen Teil zu bewahren. Hierdurch ward nun das Christentum zu einem reinen Deismus. Christus hörte auf, Mitregent Gottes zu sein, er wurde gleichsam mediatisiert, und nur noch als Privatperson fand er anerkennende Verehrung. Seinen moralischen Charakter lobte man über alle Maßen. Man konnte nicht genug rühmen, welch ein braver Mensch er gewesen sei. Was die Wunder betrifft, die er verrichtet, so erklärte man sie physikalisch, oder man suchte sowenig Aufhebens als möglich davon zu machen. Wunder, sagten einige, waren nötig in jenen Zeiten des Aberglaubens, und ein vernünftiger Mann, der irgendeine Wahrheit zu verkündigen hatte, bediente sich ihrer gleichsam als Annonce. Diese Theologen, die alles Historische aus dem Christentume schieden, heißen Rationalisten, und gegen diese wendete sich sowohl die Wut der Pietisten als auch der Orthodoxen, die sich seitdem minder heftig befehdeten und nicht selten verbündeten. Was die Liebe nicht vermochte, das vermochte der gemeinschaftliche Haß, der Haß gegen die Rationalisten.

Diese Richtung in der protestantischen Theologie beginnt mit dem ruhigen Semler, den ihr nicht kennt, erstieg schon eine besorgliche Höhe mit dem klaren Teller, den ihr auch nicht kennt, und erreichte ihren Gipfel mit dem seichten Bahrdt, an dessen Bekanntschaft ihr nichts verliert. Die stärksten Anregungen kamen von Berlin, wo Friedrich der Große und der Buchhändler Nicolai regierten.

Über ersteren, den gekrönten Materialismus, seid ihr hinlänglich unterrichtet. Ihr wißt, daß er französische Verse machte, sehr gut die Flöte blies, die Schlacht bei Roßbach gewann, viel Tabak schnupfte und nur an Kanonen glaubte. Einige von euch haben gewiß auch Sanssouci besucht, und der alte Invalide, der dort Schloßwart, hat euch in der Bibliothek die französischen Romane gezeigt, die Friedrich als Kronprinz in der Kirche las und die er in schwarzen Maroquin einbinden lassen, damit sein gestrenger Vater glaubte, er läse in einem lutherischen Gesangbuche. Ihr kennt ihn, den königlichen Weltweisen, den ihr den Salomo des Nordens genannt habt. Frankreich war das Ophir dieses nordischen Salomons, und von dorther erhielt er seine Poeten und Philosophen, für die er eine große Vorliebe hegte, gleich dem Salomo des Südens, welcher, wie ihr im Buche der Könige, Kapitel 10, lesen könnt, durch seinen Freund Hiram ganze Schiffsladungen von Gold, Elfenbein, Poeten und Philosophen aus Ophir kommen ließ. Wegen solcher Vorliebe für ausländische Talente konnte nun freilich Friedrich der Große keinen allzu großen Einfluß auf den deutschen Geist gewinnen. Er beleidigte vielmehr, er kränkte das deutsche Nationalgefühl. Die Verachtung, die Friedrich der Große unserer Literatur angedeihen ließ, muß sogar uns Enkel noch verdrießen. Außer dem alten Gellert hatte keiner derselben sich seiner allergnädigsten Huld zu erfreuen. Die Unterredung, die er mit demselben führte, ist merkwürdig.

Hat aber Friedrich der Große uns verhöhnt, ohne uns zu unterstützen, so unterstützte uns desto mehr der Buchhändler Nicolai, ohne daß wir deshalb Bedenken trugen, ihn zu verhöhnen. Dieser Mann war sein ganzes Leben lang unablässig tätig für das Wohl des Vaterlandes, er scheute weder Mühe noch Geld, wo er etwas Gutes zu befördern hoffte, und doch ist noch nie in Deutschland ein Mann so grausam, so unerbittlich, so zernichtend verspottet worden wie eben dieser Mann. Obgleich wir, die Spätergeborenen, recht wohl wissen, daß der alte Nicolai, der Freund der Aufklärung, sich in der Hauptsache durchaus nicht irrte; obgleich wir wissen, daß es meistens unsere eignen Feinde, die Obskuranten, gewesen, die ihn zugrunde persifliert: so können wir doch nicht mit ganz ernsthaftem Gesichte an ihn denken. Der alte Nicolai suchte in Deutschland dasselbe zu tun, was die französischen Philosophen in Frankreich getan: er suchte die Vergangenheit im Geiste des Volks zu vernichten; eine löbliche Vorarbeit, ohne welche keine radikale Revolution stattfinden kann. Aber vergebens, er war solcher Arbeit nicht gewachsen. Die alten Ruinen standen noch zu fest, und die Gespenster stiegen daraus hervor und verhöhnten ihn; dann aber wurde er sehr unwirsch und schlug blind drein, und die Zuschauer lachten, wenn ihm die Fledermäuse um die Ohren zischten und sich in seiner wohlgepuderten Perücke verfingen. Auch geschah es wohl zuweilen, daß er Windmühlen für Riesen ansah und dagegen focht. Noch schlimmer aber bekam es ihm, wenn er manchmal wirkliche Riesen für bloße Windmühlen ansah, z.B. einen Wolfgang Goethe. Er schrieb eine Satire gegen dessen »Werther«, worin er alle Intentionen des Autors aufs plumpste verkannte. Indessen in der Hauptsache hatte er immer recht; wenn er auch nicht begriffen, was Goethe mit seinem »Werther« eigentlich sagen wollte, so begriff er doch ganz gut dessen Wirkung, die weichliche Schwärmerei, die unfruchtbare Sentimentalität, die durch diesen Roman aufkam und mit jeder vernünftigen Gesinnung, die uns not tat, in feindlichem Widerspruch war. Hier stimmte Nicolai ganz überein mit Lessing, der an einen Freund folgendes Urteil über den »Werther« schrieb:

»Wenn ein so warmes Produkt nicht mehr Unheil als Gutes stiften soll, meinen Sie nicht, daß es noch eine kleine kalte Schlußrede haben müßte? Ein paar Winke hinterher, wie Werther zu einem so abenteuerlichen Charakter gekommen; wie ein anderer Jüngling, dem die Natur eine ähnliche Anlage gegeben, sich davor zu bewahren habe. Glauben Sie wohl, daß je ein römischer oder griechischer Jüngling sich so, und darum, das Leben genommen? Gewiß nicht. Die wußten sich vor der Schwärmerei der Liebe ganz anders zu sichern; und zu Sokrates’ Zeiten würde man eine solche εξ ερωτος κατοχη, welche τι τολμαν παρα φυσις antreibt, nur kaum einem Mädelchen verziehen haben. Solche kleingroße, verächtlich schätzbare Originale hervorzubringen war nur der christlichen Erziehung vorbehalten, die ein körperliches Bedürfnis so schön in eine geistige Vollkommenheit zu verwandeln weiß. Also, lieber Goethe, noch ein Kapitelchen zum Schlusse; und je zynischer, je besser!«

Freund Nicolai hat nun wirklich, nach solcher Angabe, einen veränderten »Werther« herausgegeben. Nach dieser Version hat sich der Held nicht totgeschossen, sondern nur mit Hühnerblut besudelt; denn statt mit Blei war die Pistole nur mit letzterem geladen. Werther wird lächerlich, bleibt leben, heiratet Charlotte, kurz, endet noch tragischer als im Goetheschen Original.

Die »Allgemeine deutsche Bibliothek« hieß die Zeitschrift, die Nicolai gegründet und worin er und seine Freunde gegen Aberglauben, Jesuiten, Hoflakaien u. dgl. kämpften. Es ist nicht zu leugnen, daß mancher Hieb, der dem Aberglauben galt, unglücklicherweise die Poesie selbst traf. So stritt Nicolai z.B. gegen die aufkommende Vorliebe für altdeutsche Volkslieder. Aber im Grunde hatte er wieder recht; bei aller möglichen Vorzüglichkeit enthielten doch jene Lieder mancherlei Erinnerungen, die eben nicht zeitgemäß waren, die alten Klänge der Kuhreigen des Mittelalters konnten die Gemüter des Volks wieder in den Glaubensstall der Vergangenheit zurücklocken. Er suchte, wie Odysseus, die Ohren seiner Gefährten zu verstopfen, damit sie den Gesang der Sirenen nicht hörten, unbekümmert, daß sie alsdann auch taub wurden für die unschuldigen Töne der Nachtigall. Damit das Feld der Gegenwart nur radikal von allem Unkraut gesäubert werde, trug der praktische Mann wenig Bedenken, auch die Blumen mit auszureuten. Dagegen erhob sich nun feindlichst die Partei der Blumen und Nachtigallen und alles, was zu dieser Partei gehört, Schönheit, Grazie, Witz und Scherz, und der arme Nicolai unterlag.

In dem heutigen Deutschland haben sich die Umstände geändert, und die Partei der Blumen und der Nachtigallen ist eng verbunden mit der Revolution. Uns gehört die Zukunft, und es dämmert schon herauf die Morgenröte des Sieges. Wenn einst sein schöner Tag sein Licht über unser ganzes Vaterland ergießt, dann gedenken wir auch der Toten; dann gedenken wir gewiß auch deiner, alter Nicolai, armer Märtyrer der Vernunft! Wir werden deine Asche nach dem deutschen Pantheon tragen, der Sarkophag umgeben vom jubelnden Triumphzug und begleitet vom Chor der Musikanten, unter deren Blasinstrumenten beileibe keine Querpfeife sein wird; wir werden auf deinem Sarg die anständigste Lorbeerkrone legen, und wir werden uns alle mögliche Mühe geben, nicht dabei zu lachen.

Da ich von den philosophischen und religiösen Zuständen jener Zeit einen Begriff geben möchte, muß ich hier auch derjenigen Denker erwähnen, die mehr oder minder in Gemeinschaft mit Nicolai zu Berlin tätig waren und gleichsam ein Justemilieu zwischen Philosophen und Belletristik bildeten. Sie hatten kein bestimmtes System, sondern nur eine bestimmte Tendenz. Sie gleichen den englischen Moralisten in ihrem Stil und in ihren letzten Gründen. Sie schreiben ohne wissenschaftlich strenge Form, und das sittliche Bewußtsein ist die einzige Quelle ihrer Erkenntnis. Ihre Tendenz ist ganz dieselbe, die wir bei den französischen Philanthropen finden. In der Religion sind sie Rationalisten. In der Politik sind sie Weltbürger. In der Moral sind sie Menschen, edle, tugendhafte Menschen, streng gegen sich selbst, milde gegen andere. Was Talent betrifft, so mögen wohl Mendelssohn, Sulzer, Abbt, Moritz, Garve, Engel und Biester als die ausgezeichnetsten genannt werden. Moritz ist mir der liebste. Er leistete viel in der Erfahrungsseelenkunde. Er war von einer köstlichen Naivität, wenig verstanden von seinen Freunden. Seine Lebensgeschichte ist eins der wichtigsten Denkmäler jener Zeit. Mendelssohn hat jedoch vor allen übrigen eine große soziale Bedeutung. Er war der Reformator der deutschen Israeliten, seiner Glaubensgenossen, er stürzte das Ansehen des Talmudismus, er begründete den reinen Mosaismus. Dieser Mann, den seine Zeitgenossen den deutschen Sokrates nannten und wegen seines Seelenadels und seiner Geisteskraft so ehrfurchtsvoll bewunderten, war der Sohn eines armen Küsters der Synagoge von Dessau. Außer diesem Geburtsübel hatte ihn die Vorsehung auch noch mit einem Buckel belastet, gleichsam um dem Pöbel in recht greller Weise die Lehre zu geben, daß man den Menschen nicht nach seiner äußern Erscheinung, sondern nach seinem innern Werte schätzen solle. Oder hat ihm die Vorsehung, eben aus gütiger Vorsicht, einen Buckel zugeteilt, damit er manche Unbill des Pöbels einem Übel zuschreibe, worüber ein Weiser sich leicht trösten kann?

Wie Luther das Papsttum, so stürzte Mendelssohn den Talmud, und zwar in derselben Weise, indem er nämlich die Tradition verwarf, die Bibel für die Quelle der Religion erklärte und den wichtigsten Teil derselben übersetzte. Er zerstörte hierdurch den jüdischen wie Luther den christlichen Katholizismus. In der Tat, der Talmud ist der Katholizismus der Juden. Er ist ein gotischer Dom, der zwar mit kindischen Schnörkeleien überladen, aber doch durch seine himmelkühne Riesenhaftigkeit uns in Erstaunen setzt. Er ist eine Hierarchie von Religionsgesetzen, die oft die putzigsten, lächerlichsten Subtilitäten betreffen, aber so sinnreich einander über- und untergeordnet sind, einander stützen und tragen und so furchtbar konsequent zusammenwirken, daß sie ein grauenhaft trotziges, kolossales Ganze bilden.

Nach dem Untergang des christlichen Katholizismus mußte auch der jüdische, der Talmud, untergehen. Denn der Talmud hatte alsdann seine Bedeutung verloren; er diente nämlich nur als Schutzwerk gegen Rom, und ihm verdanken es die Juden, daß sie dem christlichen Rom ebenso heldenmütig wie einst dem heidnischen Rom widerstehen konnten. Und sie haben nicht bloß widerstanden, sondern auch gesiegt. Der arme Rabbi von Nazareth, über dessen sterbendes Haupt der heidnische Römer die hämischen Worte schrieb: »König der Juden« – ebendieser dornengekrönte, mit dem ironischen Purpur behängte Spottkönig der Juden wurde am Ende der Gott der Römer, und sie mußten vor ihm niederknien! Wie das heidnische Rom wurde auch das christliche Rom besiegt, und dieses wurde sogar tributär. Wenn du, teurer Leser, dich in den ersten Tagen des Trimesters nach der Straße Lafitte verfügen willst, und zwar nach dem Hotel Numero funfzehn, so siehst du dort vor einem hohen Portal eine schwerfällige Kutsche, aus welcher ein dicker Mann hervorsteigt. Dieser begibt sich die Treppe hinauf nach einem kleinen Zimmer, wo ein blonder junger Mensch sitzt, der dennoch älter ist, als er wohl aussieht, und in dessen vornehmer grandseigneurlicher Nonchalance dennoch etwas so Solides liegt, etwas so Positives, etwas so Absolutes, als habe er alles Geld dieser Welt in seiner Tasche. Und wirklich, er hat alles Geld dieser Welt in seiner Tasche, und er heißt Monsieur James de Rothschild, und der dicke Mann ist Monsignor Grimbaldi, Abgesandter Seiner Heiligkeit des Papstes, und er bringt in dessen Namen die Zinsen der römischen Anleihe, den Tribut von Rom.

Wozu jetzt noch der Talmud?

Moses Mendelssohn verdient daher großes Lob, daß er diesen jüdischen Katholizismus, wenigstens in Deutschland, gestürzt hat. Denn was überflüssig ist, ist schädlich. Die Tradition verwerfend, suchte er jedoch das mosaische Zeremonialgesetz als religiöse Verpflichtung aufrechtzuerhalten. War es Feigheit oder Klugheit? War es eine wehmütige Nachliebe, die ihn abhielt, die zerstörende Hand an Gegenstände zu legen, die seinen Vorvätern am heiligsten waren und wofür soviel Märtyrerblut und Märtyrertränen geflossen? Ich glaube nicht. Wie die Könige der Materie, so müssen auch die Könige des Geistes unerbittlich sein gegen Familiengefühle; auch auf dem Throne des Gedankens darf man keinen sanften Gemütlichkeiten nachgeben. Ich bin deshalb vielmehr der Meinung, daß Moses Mendelssohn in dem reinen Mosaismus eine Institution sah, die dem Deismus gleichsam als eine letzte Verschanzung dienen konnte. Denn der Deismus war sein innerster Glaube und seine tiefste Überzeugung. Als sein Freund Lessing starb und man denselben des Spinozismus anklagte, verteidigte er ihn mit dem ängstlichsten Eifer, und er ärgerte sich bei dieser Gelegenheit zu Tode.

Ich habe hier schon zum zweiten Male den Namen genannt, den kein Deutscher aussprechen kann, ohne daß in seiner Brust ein mehr oder minder starkes Echo laut wird. Aber seit Luther hat Deutschland keinen größeren und besseren Mann hervorgebracht als Gotthold Ephraim Lessing. Diese beiden sind unser Stolz und unsere Wonne. In der Trübnis der Gegenwart schauen wir hinauf nach ihren tröstenden Standbildern, und sie nicken eine glänzende Verheißung. Ja, kommen wird auch der dritte Mann, der da vollbringt, was Luther begonnen, was Lessing fortgesetzt und dessen das deutsche Vaterland so sehr bedarf – der dritte Befreier! – Ich sehe schon seine goldne Rüstung, die aus dem purpurnen Kaisermantel hervorstrahlt, »wie die Sonne aus dem Morgenrot!«

Gleich dem Luther wirkte Lessing nicht nur, indem er etwas Bestimmtes tat, sondern indem er das deutsche Volk bis in seine Tiefen aufregte und indem er eine heilsame Geisterbewegung hervorbrachte, durch seine Kritik, durch seine Polemik. Er war die lebendige Kritik seiner Zeit, und sein ganzes Leben war Polemik. Diese Kritik machte sich geltend im weitesten Bereiche des Gedankens und des Gefühls, in der Religion, in der Wissenschaft, in der Kunst. Diese Polemik überwand jeden Gegner und erstarkte nach jedem Siege. Lessing, wie er selbst eingestand, bedurfte eben des Kampfes zu der eignen Geistesentwickelung. Er glich ganz jenem fabelhaften Normann, der die Talente, Kenntnisse und Kräfte derjenigen Männer erbte, die er im Zweikampf erschlug, und in dieser Weise endlich mit allen möglichen Vorzügen und Vortrefflichkeiten begabt war. Begreiflich ist es, daß solch ein streitlustiger Kämpe nicht geringen Lärm in Deutschland verursachte, in dem stillen Deutschland, das damals noch sabbatlich stiller war als heute. Verblüfft wurden die meisten ob seiner literarischen Kühnheit. Aber eben diese kam ihm hülfreich zustatten; denn Oser! ist das Geheimnis des Gelingens in der Literatur, ebenso wie in der Revolution – und in der Liebe. Vor dem Lessingschen Schwerte zitterten alle. Kein Kopf war vor ihm sicher. Ja, manchen Schädel hat er sogar aus Übermut heruntergeschlagen, und dann war er dabei noch so boshaft, ihn vom Boden aufzuheben und dem Publikum zu zeigen, daß er inwendig hohl war. Wen sein Schwert nicht erreichen konnte, den tötete er mit den Pfeilen seines Witzes. Die Freunde bewunderten die bunten Schwungfedern dieser Pfeile; die Feinde fühlten die Spitze in ihren Herzen. Der Lessingsche Witz gleicht nicht jenem Enjouement, jener Gaité, jenen springenden Saillies, wie man hierzuland dergleichen kennt. Sein Witz war kein kleines französisches Windhündchen, das seinem eigenen Schatten nachläuft; sein Witz war vielmehr ein großer deutscher Kater, der mit der Maus spielt, ehe er sie würgt.

Ja, Polemik war die Lust unseres Lessings, und daher überlegte er nie lange, ob auch der Gegner seiner würdig war. So hat er, eben durch seine Polemik, manchen Namen der wohlverdientesten Vergessenheit entrissen. Mehre winzige Schriftstellerlein hat er mit dem geistreichsten Spott, mit dem köstlichsten Humor gleichsam umsponnen, und in den Lessingschen Werken erhalten sie sich nun für ewige Zeiten wie Insekten, die sich in einem Stück Bernstein verfangen. Indem er seine Gegner tötete, machte er sie zugleich unsterblich. Wer von uns hätte jemals etwas von jenem Klotz erfahren, an welchen Lessing soviel Hohn und Scharfsinn verschwendet! Die Felsenblöcke, die er auf diesen armen Antiquar geschleudert und womit er ihn zerschmettert, sind jetzt dessen unverwüstliches Denkmal.

Merkwürdig ist es, daß jener witzigste Mensch in Deutschland auch zugleich der ehrlichste war. Nichts gleicht seiner Wahrheitsliebe. Lessing machte der Lüge nicht die mindeste Konzession, selbst wenn er dadurch, in der gewöhnlichen Weise der Weltklugen, den Sieg der Wahrheit befördern konnte. Er konnte alles für die Wahrheit tun, nur nicht lügen. »Wer darauf denkt«, sagte er einst, »die Wahrheit unter allerlei Larven und Schminken an den Mann zu bringen, der möchte wohl gern ihr Kuppler sein, aber ihr Liebhaber ist er nie gewesen.«

Das schöne Wort Buffons »Der Stil ist der Mensch selber!« ist auf niemand anwendbarer als auf Lessing. Seine Schreibart ist ganz wie sein Charakter, wahr, fest, schmucklos, schön und imposant durch die inwohnende Stärke. Sein Stil ist ganz der Stil der römischen Bauwerke: höchste Solidität bei der höchsten Einfachheit; gleich Quadersteinen ruhen die Sätze aufeinander, und wie bei jenen das Gesetz der Schwere, so ist bei diesen die logische Schlußfolge das unsichtbare Bindemittel. Daher in der Lessingschen Prosa sowenig von jenen Füllwörtern und Wendungskünsten, die wir bei unserem Periodenbau gleichsam als Mörtel gebrauchen. Noch viel weniger finden wir da jene Gedankenkaryatiden, welche ihr la belle phrase nennt.

Daß ein Mann wie Lessing niemals glücklich sein konnte, werdet ihr leicht begreifen. Und wenn er auch nicht die Wahrheit geliebt hätte und wenn er sie auch nicht selbstwillig überall verfochten hätte, so mußte er doch unglücklich sein; denn er war ein Genie. »Alles wird man dir verzeihen«, sagte jüngst ein seufzender Dichter, »man verzeiht dir deinen Reichtum, man verzeiht dir die hohe Geburt, man verzeiht dir deine Wohlgestalt, man läßt dir sogar Talent hingehen, aber man ist unerbittlich gegen das Genie.« Ach! und begegnet ihm auch nicht der böse Wille von außen, so fände das Genie doch schon in sich selber den Feind, der ihm Elend bereitet. Deshalb ist die Geschichte der großen Männer immer eine Märtyrerlegende; wenn sie auch nicht litten für die große Menschheit, so litten sie doch für ihre eigene Größe, für die große Art ihres Seins, das Unphilisterliche, für ihr Mißbehagen an der prunkenden Gemeinheit, der lächelnden Schlechtigkeit ihrer Umgebung, ein Mißbehagen, welches sie natürlich zu Extravaganzen bringt, z.B. zum Schauspielhaus oder gar zum Spielhaus – wie es dem armen Lessing begegnete.

Mehr als dieses hat ihm aber der böse Leumund nicht nachsagen können, und aus seiner Biographie erfahren wir nur, daß ihm schöne Komödiantinnen amüsanter dünkten als hamburgische Pastöre und daß stumme Karten ihm bessere Unterhaltung gewährten als schwatzende Wolffianer.

Es ist herzzerreißend, wenn wir in dieser Biographie lesen, wie das Schicksal auch jede Freude diesem Manne versagt hat und wie es ihm nicht einmal vergönnte, in der Umfriedung der Familie sich von seinen täglichen Kämpfen zu erholen. Einmal nur schien Fortuna ihn begünstigen zu wollen, sie gab ihm ein geliebtes Weib, ein Kind – aber dieses Glück war wie der Sonnenstrahl, der den Fittich eines vorüberfliegenden Vogels vergoldet, es schwand ebensoschnell, das Weib starb infolge des Wochenbetts, das Kind schon bald nach der Geburt, und über letzteres schrieb er einem Freunde die gräßlich witzigen Worte:

»Meine Freude war nur kurz. Und ich verlor ihn ungern, diesen Sohn! Denn er hatte soviel Verstand! soviel Verstand! – Glauben Sie nicht, daß die wenigen Stunden meiner Vaterschaft mich schon zu so einem Affen von Vater gemacht haben! Ich weiß, was ich sage. – War es nicht Verstand, daß man ihn mit eisernen Zangen auf die Welt ziehen mußte? daß er so bald Unrat merkte? – War es nicht Verstand, daß er die erste Gelegenheit ergriff, sich wieder davonzumachen? – Ich wollte es auch einmal so gut haben wie andere Menschen. Aber es ist mir schlecht bekommen.«

Ein Unglück gab es, worüber sich Lessing nie gegen seine Freunde ausgesprochen: dieses war seine schaurige Einsamkeit, sein geistiges Alleinstehn. Einige seiner Zeitgenossen liebten ihn, keiner verstand ihn. Mendelssohn, sein bester Freund, verteidigte ihn mit Eifer, als man ihn des Spinozismus beschuldigte. Verteidigung und Eifer waren ebenso lächerlich wie überflüssig. Beruhige dich im Grabe, alter Moses; dein Lessing war zwar auf dem Wege zu diesem entsetzlichen Irrtum, zu diesem jammervollen Unglück, nämlich zum Spinozismus – aber der Allerhöchste, der Vater im Himmel, hat ihn noch zur rechten Zeit durch den Tod gerettet. Beruhige dich, dein Lessing war kein Spinozist, wie die Verleumdung behauptete; er starb als guter Deist wie du und Nicolai und Teller und die »Allgemeine deutsche Bibliothek«!

Lessing war nur der Prophet, der aus dem zweiten Testamente ins dritte hinüberdeutete. Ich habe ihn den Fortsetzer des Luther genannt, und eigentlich in dieser Eigenschaft habe ich ihn hier zu besprechen. Von seiner Bedeutung für die deutsche Kunst kann ich erst später reden. In dieser hat er nicht bloß durch seine Kritik, sondern auch durch sein Beispiel eine heilsame Reform bewirkt, und diese Seite seiner Tätigkeit wird gewöhnlich zumeist hervorgehoben und beleuchtet. Wir jedoch betrachten ihn von einem anderen Standpunkte aus, und seine philosophischen und theologischen Kämpfe sind uns wichtiger als seine Dramaturgie und seine Dramata. Letztere jedoch, wie alle seine Schriften, haben eine soziale Bedeutung, und »Nathan der Weise« ist im Grunde nicht bloß eine gute Komödie, sondern auch eine philosophisch-theologische Abhandlung zugunsten des reinen Deismus. Die Kunst war für Lessing ebenfalls eine Tribüne, und wenn man ihn von der Kanzel oder vom Katheder herabstieß, dann sprang er aufs Theater und sprach dort noch viel deutlicher und gewann ein noch zahlreicheres Publikum.

Ich sage, Lessing hat den Luther fortgesetzt. Nachdem Luther uns von der Tradition befreit und die Bibel zur alleinigen Quelle des Christentums erhoben hatte, da entstand, wie ich schon oben erzählt, ein starrer Wortdienst, und der Buchstabe der Bibel herrschte ebenso tyrannisch wie einst die Tradition. Zur Befreiung von diesem tyrannischen Buchstaben hat nun Lessing am meisten beigetragen. Wie Luther ebenfalls nicht der einzige war, der die Tradition bekämpft, so kämpfte Lessing zwar nicht allein, aber doch am gewaltigsten gegen den Buchstaben. Hier erschallt am lautesten seine Schlachtstimme. Hier schwingt er sein Schwert am freudigsten, und es leuchtet und tötet. Hier aber auch wird Lessing am stärksten bedrängt von der schwarzen Schar, und in solcher Bedrängnis rief er einst aus:

»O sancta simplicitas! – Aber noch bin ich nicht da, wo der gute Mann, der dieses ausrief, nur noch dieses ausrufen konnte. (Hus rief dieses auf dem Scheiterhaufen.) Erst soll uns hören, erst soll über uns urteilen, wer hören und urteilen kann und will!

O daß er es könnte, er, den ich am liebsten zu meinem Richter haben möchte! – Luther, du! – Großer, verkannter Mann! Und von niemanden mehr verkannt als von den Starrköpfen, die, deine Pantoffeln in der Hand, den von dir gebahnten Weg schreiend, aber gleichgültig daherschlendern! – Du hast uns von dem Joche der Tradition erlöst: wer erlöset uns von dem unerträglicheren Joche des Buchstabens! Wer bringt uns endlich ein Christentum, wie du es itzt lehren würdest, wie es Christus selbst lehren würde!«

Ja, der Buchstabe, sagte Lessing, sei die letzte Hülle des Christentums, und erst nach Vernichtung dieser Hülle trete hervor der Geist. Dieser Geist ist aber nichts anders als das, was die Wolffschen Philosophen zu demonstrieren gedacht, was die Philanthropen in ihrem Gemüte gefühlt, was Mendelssohn im Mosaismus gefunden, was die Freimaurer gesungen, was die Poeten gepfiffen, was sich damals in Deutschland unter allen Formen geltend machte: der reine Deismus.

Lessing starb zu Braunschweig, im Jahr 1781, verkannt, gehaßt und verschrien. In demselben Jahre erschien zu Königsberg die »Kritik der reinen Vernunft« von Immanuel Kant. Mit diesem Buche, welches durch sonderbare Verzögerung erst am Ende der achtziger Jahre allgemein bekannt wurde, beginnt eine geistige Revolution in Deutschland, die mit der materiellen Revolution in Frankreich die sonderbarsten Analogien bietet und dem tieferen Denker ebenso wichtig dünken muß wie jene. Sie entwickelt sich mit denselben Phasen, und zwischen beiden herrscht der merkwürdigste Parallelismus. Auf beiden Seiten des Rheines sehen wir denselben Bruch mit der Vergangenheit, der Tradition wird alle Ehrfurcht aufgekündigt; wie hier in Frankreich jedes Recht, so muß dort in Deutschland jeder Gedanke sich justifizieren, und wie hier das Königtum, der Schlußstein der alten sozialen Ordnung, so stürzt dort der Deismus, der Schlußstein des geistigen alten Regimes.

Von dieser Katastrophe, von dem 21. Januar des Deismus, sprechen wir im folgenden Stücke. Ein eigentümliches Grauen, eine geheimnisvolle Pietät erlaubt uns heute nicht, weiterzuschreiben. Unsere Brust ist voll von entsetzlichem Mitleid – es ist der alte Jehova selber, der sich zum Tode bereitet. Wir haben ihn so gut gekannt, von seiner Wiege an, in Ägypten, als er unter göttlichen Kälbern, Krokodilen, heiligen Zwiebeln, Ibissen und Katzen erzogen wurde – Wir haben ihn gesehen, wie er diesen Gespielen seiner Kindheit und den Obelisken und Sphinxen seines heimatlichen Niltals ade sagte und in Palästina, bei einem armen Hirtenvölkchen, ein kleiner Gottkönig wurde und in einem eigenen Tempelpalast wohnte – Wir sahen ihn späterhin, wie er mit der assyrisch-babylonischen Zivilisation in Berührung kam und seine allzu menschlichen Leidenschaften ablegte, nicht mehr lauter Zorn und Rache spie, wenigstens nicht mehr wegen jeder Lumperei gleich donnerte – Wir sahen ihn auswandern nach Rom, der Hauptstadt, wo er aller Nationalvorurteile entsagte und die himmlische Gleichheit aller Völker proklamierte und mit solchen schönen Phrasen gegen den alten Jupiter Opposition bildete und so lange intrigierte, bis er zur Herrschaft gelangte und vom Kapitole herab die Stadt und die Welt, urbem et orbem, regierte – Wir sahen, wie er sich noch mehr vergeistigte, wie er sanftselig wimmerte, wie er ein liebevoller Vater wurde, ein allgemeiner Menschenfreund, ein Weltbeglücker, ein Philanthrop – es konnte ihm alles nichts helfen –

Hört ihr das Glöckchen klingeln? Kniet nieder – Man bringt die Sakramente einem sterbenden Gotte.

Drittes Buch

Es geht die Sage, daß ein englischer Mechanikus, der schon die künstlichsten Maschinen erdacht, endlich auch auf den Einfall geraten, einen Menschen zu fabrizieren; dieses sei ihm auch endlich gelungen, das Werk seiner Hände konnte sich ganz wie ein Mensch gebärden und betragen, es trug in der ledernen Brust sogar eine Art menschlichen Gefühls, das von den gewöhnlichen Gefühlen der Engländer nicht gar zu sehr verschieden war, es konnte in artikulierten Tönen seine Empfindungen mitteilen, und eben das Geräusch der innern Räder, Raspeln und Schrauben, das man dann vernahm, gab diesen Tönen eine echt englische Aussprache; kurz, dieses Automat war ein vollendeter Gentleman, und zu einem echten Menschen fehlte ihm gar nichts als eine Seele. Diese aber hat ihm der englische Mechanikus nicht geben können, und das arme Geschöpf, das sich solchen Mangels bewußt worden, quälte nun Tag und Nacht seinen Schöpfer mit der Bitte, ihm eine Seele zu geben. Solche Bitte, die sich immer dringender wiederholte, wurde jenem Künstler endlich so unerträglich, daß er vor seinem eignen Kunstwerk die Flucht ergriff. Das Automat aber nahm gleich Extrapost, verfolgte ihn nach dem Kontinente, reist beständig hinter ihm her, erwischt ihn manchmal und schnarrt und grunzt ihm dann entgegen: »Give me a soul!« Diesen beiden Gestalten begegnen wir nun in allen Ländern, und nur wer ihr besonderes Verhältnis kennt, begreift ihre sonderbare Hast und ihren ängstlichen Mißmut. Wenn man aber dieses besondere Verhältnis kennt, so sieht man darin wieder etwas Allgemeines, man sieht, wie ein Teil des englischen Volks seines mechanischen Daseins überdrüssig ist und eine Seele verlangt, der andere Teil aber aus Angst vor solcherlei Begehrnis in die Kreuz und die Quer getrieben wird, beide aber es daheim nicht mehr aushalten können.

Dieses ist eine grauenhafte Geschichte. Es ist entsetzlich wenn die Körper, die wir geschaffen haben, von uns eine Seele verlangen. Weit grauenhafter, entsetzlicher, unheimlicher ist es jedoch, wenn wir eine Seele geschaffen und diese von uns ihren Leib verlangt und uns mit diesem Verlangen verfolgt. Der Gedanke, den wir gedacht, ist eine solche Seele, und er läßt uns keine Ruhe, bis wir ihm seinen Leib gegeben, bis wir ihn zur sinnlichen Erscheinung gefördert. Der Gedanke will Tat, das Wort will Fleisch werden. Und wunderbar! der Mensch, wie der Gott der Bibel, braucht nur seinen Gedanken auszusprechen, und es gestaltet sich die Welt, es wird Licht oder es wird Finsternis, die Wasser sondern sich von dem Festland, oder gar wilde Bestien kommen zum Vorschein. Die Welt ist die Signatur des Wortes.

Dieses merkt euch, ihr stolzen Männer der Tat. Ihr seid nichts als unbewußte Handlanger der Gedankenmänner, die oft in demütigster Stille euch all eu’r Tun aufs bestimmteste vorgezeichnet haben. Maximilian Robespierre war nichts als die Hand von Jean-Jacques Rousseau, die blutige Hand, die aus dem Schoße der Zeit den Leib hervorzog, dessen Seele Rousseau geschaffen. Die unstete Angst, die dem Jean-Jacques das Leben verkümmerte, rührte sie vielleicht daher, daß er schon im Geiste ahnte, welch eines Geburtshelfers seine Gedanken bedurften, um leiblich zur Welt zu kommen?

Der alte Fontenelle hatte vielleicht recht, als er sagte: »Wenn ich alle Gedanken dieser Welt in meiner Hand trüge, so würde ich mich hüten, sie zu öffnen.« Ich meinesteils, ich denke anders. Wenn ich alle Gedanken dieser Welt in meiner Hand hätte – ich würde euch vielleicht bitten, mir die Hand gleich abzuhauen; auf keinen Fall hielte ich sie so lange verschlossen. Ich bin nicht dazu geeignet, ein Kerkermeister der Gedanken zu sein. Bei Gott! ich laß sie los. Mögen sie sich immerhin zu den bedenklichsten Erscheinungen verkörpern, mögen sie immerhin, wie ein toller Bacchantenzug, alle Lande durchstürmen, mögen sie mit ihren Thyrsusstäben unsere unschuldigsten Blumen zerschlagen, mögen sie immerhin in unsere Hospitäler hereinbrechen und die kranke alte Welt aus ihren Betten jagen – es wird freilich mein Herz sehr bekümmern, und ich selber werde dabei zu Schaden kommen! Denn ach! ich gehöre ja selber zu dieser kranken alten Welt, und mit Recht sagt der Dichter: Wenn man auch seiner Krücken spottet, so kann man darum doch nicht besser gehen. Ich bin der Krankste von euch allen und um so bedauernswürdiger, da ich weiß, was Gesundheit ist. Ihr aber, ihr wißt es nicht, ihr Beneidenswerten! Ihr seid kapabel zu sterben, ohne es selbst zu merken. Ja, viele von euch sind längst tot und behaupten, jetzt erst beginne ihr wahres Leben. Wenn ich solchem Wahnsinn widerspreche, dann wird man mir gram und schmäht mich – und entsetzlich! die Leichen springen an mich heran und schimpfen, und mehr noch als ihre Schmähworte belästigt mich ihr Moderduft… Fort, ihr Gespenster, ich spreche jetzt von einem Manne, dessen Name schon eine exorzierende Macht ausübt, ich spreche von Immanuel Kant!

Man sagt, die Nachtgeister erschrecken, wenn sie das Schwert eines Scharfrichters erblicken – Wie müssen sie erst erschrecken, wenn man ihnen Kants »Kritik der reinen Vernunft« entgegenhält! Dieses Buch ist das Schwert, womit der Deismus hingerichtet worden in Deutschland.

Ehrlich gestanden, ihr Franzosen, in Vergleichung mit uns Deutschen seid ihr zahm und moderant. Ihr habt höchstens einen König töten können, und dieser hatte schon den Kopf verloren, ehe ihr köpftet. Und dabei mußtet ihr so viel trommeln und schreien und mit den Füßen trampeln, daß es den ganzen Erdkreis erschütterte. Man erzeigt wirklich dem Maximilian Robespierre zuviel Ehre, wenn man ihn mit dem Immanuel Kant vergleicht. Maximilian Robespierre, der große Spießbürger von der Rue Saint-Honoré, bekam freilich seine Anfälle von Zerstörungswut, wenn es das Königtum galt, und er zuckte dann furchtbar genug in seiner regiziden Epilepsie; aber sobald vom höchsten Wesen die Rede war, wusch er sich den weißen Schaum wieder vom Munde und das Blut von den Händen und zog seinen blauen Sonntagsrock an, mit den Spiegelknöpfen, und steckte noch obendrein einen Blumenstrauß vor seinen breiten Brustlatz.

Die Lebensgeschichte des Immanuel Kant ist schwer zu beschreiben. Denn er hatte weder Leben noch Geschichte. Er lebte ein mechanisch geordnetes, fast abstraktes Hagestolzenleben, in einem stillen, abgelegenen Gäßchen zu Königsberg, einer alten Stadt an der nordöstlichen Grenze Deutschlands. Ich glaube nicht, daß die große Uhr der dortigen Kathedrale leidenschaftsloser und regelmäßiger ihr äußeres Tagewerk vollbrachte wie ihr Landsmann Immanuel Kant. Aufstehn, Kaffeetrinken, Schreiben, Kollegienlesen, Essen, Spazierengehn, alles hatte seine bestimmte Zeit, und die Nachbaren wußten ganz genau, daß die Glocke halb vier sei, wenn Immanuel Kant in seinem grauen Leibrock, das spanische Röhrchen in der Hand, aus seiner Haustüre trat und nach der kleinen Lindenallee wandelte, die man seinetwegen noch jetzt den Philosophengang nennt. Achtmal spazierte er dort auf und ab, in jeder Jahrzeit, und wenn das Wetter trübe war oder die grauen Wolken einen Regen verkündigten, sah man seinen Diener, den alten Lampe, ängstlich besorgt hinter ihm drein wandeln, mit einem langen Regenschirm unter dem Arm, wie ein Bild der Vorsehung.

Sonderbarer Kontrast zwischen dem äußeren Leben des Mannes und seinen zerstörenden, weltzermalmenden Gedanken! Wahrlich, hätten die Bürger von Königsberg die ganze Bedeutung dieses Gedankens geahnt, sie würden vor jenem Manne eine weit grauenhaftere Scheu empfunden haben als vor einem Scharfrichter, vor einem Scharfrichter, der nur Menschen hinrichtet – aber die guten Leute sahen in ihm nichts anderes als einen Professor der Philosophie, und wenn er zur bestimmten Stunde vorbeiwandelte, grüßten sie freundlich und richteten etwa nach ihm ihre Taschenuhr.

Wenn aber Immanuel Kant, dieser große Zerstörer im Reiche der Gedanken, an Terrorismus den Maximilian Robespierre weit übertraf, so hat er doch mit diesem manche Ähnlichkeiten, die zu einer Vergleichung beider Männer auffordern. Zunächst finden wir in beiden dieselbe unerbittliche, schneidende, poesielose, nüchterne Ehrlichkeit. Dann finden wir in beiden dasselbe Talent des Mißtrauens, nur daß es der eine gegen Gedanken ausübt und Kritik nennt, während der andere es gegen Menschen anwendet und republikanische Tugend betitelt. Im höchsten Grade jedoch zeigt sich in beiden der Typus des Spießbürgertums – die Natur hatte sie bestimmt, Kaffee und Zucker zu wiegen, aber das Schicksal wollte, daß sie andere Dinge abwögen, und legte dem einen einen König und dem anderen einen Gott auf die Waagschale…

Und sie gaben das richtige Gewicht!

Die »Kritik der reinen Vernunft« ist das Hauptwerk von Kant, und wir müssen uns vorzugsweise damit beschäftigen. Keine von allen Schriften Kants hat größere Wichtigkeit. Dieses Buch, wie schon erwähnt, erschien 1781 und wurde erst 1789 allgemein bekannt. Es wurde anfangs ganz übersehen, nur zwei unbedeutende Anzeigen sind damals darüber erschienen, und erst spät wurde durch Artikel von Schütz, Schultz und Reinhold die Aufmerksamkeit des Publikums auf dieses große Buch geleitet. Die Ursache dieser verzögerten Anerkenntnis liegt wohl in der ungewöhnlichen Form und schlechten Schreibart. In betreff der letztern verdient Kant größeren Tadel als irgendein anderer Philosoph; um so mehr, wenn wir seinen vorhergehenden besseren Stil erwägen. Die kürzlich erschienene Sammlung seiner kleinen Schriften enthält die ersten Versuche, und wir wundern uns da über die gute, manchmal sehr witzige Schreibart. Während Kant im Kopfe schon sein großes Werk ausarbeitete, hat er diese kleinen Aufsätze vor sich hin geträllert. Er lächelt da wie ein Soldat, der sich ruhig waffnet, um in eine Schlacht zu gehen, wo er gewiß zu siegen denkt. Unter jenen kleinen Schriften sind besonders merkwürdig: »Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels«, geschrieben schon 1755; »Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen«, geschrieben zehn Jahre später, sowie auch »Träume eines Geistersehers«, voll guter Laune in der Art der französischen Essays. Der Witz eines Kant, wie er sich in diesen Schriftchen äußert, hat etwas höchst Eigentümliches. Der Witz rankt da an dem Gedanken, und trotz seiner Schwäche erreicht er dadurch eine erquickliche Höhe. Ohne solche Stütze freilich kann der reichste Witz nicht gedeihen; gleich der Weinrebe, die eines Stabes entbehrt, muß er alsdann kümmerlich am Boden hinkriechen und mit seinen kostbarsten Früchten vermodern.

Warum aber hat Kant seine »Kritik der reinen Vernunft« in einem so grauen, trocknen Packpapierstil geschrieben? Ich glaube, weil er die mathematische Form der Descartes-Leibniz-Wolffianer verwarf, fürchtete er, die Wissenschaft möchte etwas von ihrer Würde einbüßen, wenn sie sich in einem leichten, zuvorkommend heiteren Tone ausspräche. Er verlieh ihr daher eine steife, abstrakte Form, die alle Vertraulichkeit der niederen Geistesklassen kalt ablehnte. Er wollte sich von den damaligen Popularphilosophen, die nach bürgerlichster Deutlichkeit strebten, vornehm absondern, und er kleidete seine Gedanken in eine hofmännisch abgekältete Kanzleisprache. Hier zeigt sich ganz der Philister. Aber vielleicht bedurfte Kant zu seinem sorgfältig gemessenen Ideengang auch einer Sprache, die sorgfältig gemessener, und er war nicht imstande, eine bessere zu schaffen. Nur das Genie hat für den neuen Gedanken auch das neue Wort. Immanuel Kant war aber kein Genie. Im Gefühl dieses Mangels, ebenso wie der gute Maximilian, war Kant um so mißtrauischer gegen das Genie, und in seiner »Kritik der Urteilskraft« behauptete er sogar, das Genie habe nichts in der Wissenschaft zu schaffen, seine Wirksamkeit gehöre ins Gebiet der Kunst.

Kant hat durch den schwerfälligen, steifleinenen Stil seines Hauptwerks sehr vielen Schaden gestiftet. Denn die geistlosen Nachahmer äfften ihn nach in dieser Äußerlichkeit, und es entstand bei uns der Aberglaube, daß man kein Philosoph sei, wenn man gut schriebe. Die mathematische Form jedoch konnte seit Kant in der Philosophie nicht mehr aufkommen. Dieser Form hat er in der »Kritik der reinen Vernunft« ganz unbarmherzig den Stab gebrochen. Die mathematische Form in der Philosophie, sagte er, bringe nichts als Kartengebäude hervor, so wie die philosophische Form in der Mathematik nur eitel Geschwätz hervorbringt. Denn in der Philosophie könne es keine Definitionen geben wie in der Mathematik, wo die Definitionen nicht diskursiv, sondern intuitiv sind, d.h. in der Anschauung nachgewiesen werden können; was man Definitionen in der Philosophie nenne, werde nur versuchsweise, hypothetisch, vorangestellt; die eigentlich richtige Definition erscheine nur am Ende als Resultat.

Wie kommt es, daß die Philosophen soviel Vorliebe für die mathematische Form zeigen? Diese Vorliebe beginnt schon mit Pythagoras, der die Prinzipien der Dinge durch Zahlen bezeichnete. Dieses war ein genialer Gedanke. In einer Zahl ist alles Sinnliche und Endliche abgestreift, und dennoch bezeichnet sie etwas Bestimmtes und dessen Verhältnis zu etwas Bestimmtem, welches letztere, wenn es ebenfalls durch eine Zahl bezeichnet wird, denselben Charakter des Entsinnlichten und Unendlichen angenommen. Hierin gleicht die Zahl den Ideen, die denselben Charakter und dasselbe Verhältnis zueinander haben. Man kann die Ideen, wie sie in unserem Geiste und in der Natur sich kundgeben, sehr treffend durch Zahlen bezeichnen; aber die Zahl bleibt doch immer das Zeichen der Idee, nicht die Idee selber. Der Meister bleibt dieses Unterschieds noch bewußt, der Schüler aber vergißt dessen und überliefert seinen Nachschülern nur eine Zahlenhieroglyphik, bloße Chiffern, deren lebendige Bedeutung niemand mehr kennt und die man mit Schulstolz nachplappert. Dasselbe gilt von den übrigen Elementen der mathematischen Form. Das Geistige in seiner ewigen Bewegung erlaubt kein Fixieren; ebensowenig wie durch die Zahl läßt es sich fixieren durch Linie, Dreieck, Viereck und Kreis. Der Gedanke kann weder gezählt werden noch gemessen.

Da es mir hauptsächlich darum zu tun ist, das Studium der deutschen Philosophie in Frankreich zu erleichtern, so bespreche ich immer zumeist diejenigen Äußerlichkeiten, die den Fremden leicht abschrecken, wenn man ihn nicht vorher darüber in Kenntnis gesetzt hat. Literatoren, die den Kant für das französische Publikum bearbeiten wollen, mache ich besonders darauf aufmerksam, daß sie denjenigen Teil seiner Philosophie ausscheiden können, der bloß dazu dient, die Absurditäten der Wolffschen Philosophie zu bekämpfen. Diese Polemik, die sich überall durchdrängt, kann bei den Franzosen nur Verwirrung und gar keinen Nutzen hervorbringen. – Wie ich höre, beschäftigt sich der Herr Doktor Schön, ein deutscher Gelehrter in Paris, mit einer französischen Herausgabe des Kant. Ich hege eine zu günstige Meinung von den philosophischen Einsichten des Obgenannten, als daß ich es für nötig erachtete, obigen Wink auch an ihn zu richten, und ich erwarte vielmehr von ihm ein ebenso nützliches wie wichtiges Buch.

Die »Kritik der reinen Vernunft« ist, wie ich bereits gesagt, das Hauptbuch von Kant, und seine übrigen Schriften sind einigermaßen als entbehrlich oder allenfalls als Kommentare zu betrachten. Welche soziale Bedeutung jenem Hauptbuche innewohnt, wird sich aus folgendem ergeben.

Die Philosophen vor Kant haben zwar über den Ursprung unserer Erkenntnisse nachgedacht und sind, wie wir bereits gezeigt, in zwei verschiedene Wege geraten, je nachdem sie Ideen a priori oder Ideen a posteriori annahmen; über das Erkenntnisvermögen selber, über den Umfang unseres Erkenntnisvermögens oder über die Grenzen unseres Erkenntnisvermögens ist weniger nachgedacht worden. Dieses ward nun die Aufgabe von Kant, er unterwarf unser Erkenntnisvermögen einer schonungslosen Untersuchung, er sondierte die ganze Tiefe dieses Vermögens und konstatierte alle seine Grenzen. Da fand er nun freilich, daß wir gar nichts wissen können von sehr vielen Dingen, mit denen wir früher in vertrautester Bekanntschaft zu stehen vermeinten. Das war sehr verdrießlich. Aber es war doch immer nützlich, zu wissen, von welchen Dingen wir nichts wissen können. Wer uns vor nutzlosen Wegen warnt, leistet uns einen ebenso guten Dienst wie derjenige, der uns den rechten Weg anzeigt. Kant bewies uns, daß wir von den Dingen, wie sie an und für sich selber sind, nichts wissen, sondern daß wir nur insofern etwas von ihnen wissen, als sie sich in unserem Geiste reflektieren. Da sind wir nun ganz wie die Gefangenen, wovon Plato, im siebenten Buche vom »Staate«, so Betrübsames erzählt: Diese Unglücklichen, gefesselt an Hals und Schenkeln, so daß sie sich mit dem Kopfe nicht herumdrehen können, sitzen in einem Kerker, der oben offen ist, und von oben her erhalten sie einiges Licht. Dieses Licht aber kömmt von einem Feuer, welches hinter ihnen oben brennt, und zwar noch getrennt von ihnen durch eine kleine Mauer. Längs dieser Mauer wandeln Menschen, welche allerlei Statuen, Holz- und Steinbilder, vorübertragen und miteinander sprechen. Die armen Gefangenen können nun von diesen Menschen, welche nicht so hoch wie die Mauer, gar nichts sehen, und von den vorbeigetragenen Statuen, die über die Mauer hervorragen, sehen sie nur die Schatten, welche sich an der ihnen gegenüberstehenden Wand dahinbewegen; und sie halten nun diese Schatten für die wirklichen Dinge, und getäuscht durch das Echo ihres Kerkers, glauben sie, es seien diese Schatten, welche miteinander sprechen.

Die bisherige Philosophie, die schnüffelnd an den Dingen herumlief und sich Merkmale derselben einsammelte und sie klassifizierte, hörte auf, als Kant erschien, und dieser lenkte die Forschung zurück in den menschlichen Geist und untersuchte, was sich da kundgab. Nicht mit Unrecht vergleicht er daher seine Philosophie mit dem Verfahren des Kopernikus. Früher, als man die Welt stillstehen und die Sonne um dieselbe herumwandeln ließ, wollten die Himmelsberechnungen nicht sonderlich übereinstimmen; da ließ Kopernikus die Sonne stillstehen und die Erde um sie herumwandeln, und siehe! alles ging nun vortrefflich. Früher lief die Vernunft, gleich der Sonne, um die Erscheinungswelt herum und suchte sie zu beleuchten; Kant aber läßt die Vernunft, die Sonne, stillstehen, und die Erscheinungswelt dreht sich um sie herum und wird beleuchtet, je nachdem sie in den Bereich dieser Sonne kömmt.

Nach diesen wenigen Worten, womit ich die Aufgabe Kants angedeutet, ist jedem begreiflich, daß ich denjenigen Abschnitt seines Buches, worin er die sogenannten Phänomena und Noumena abhandelt, für den wichtigsten Teil, für den Mittelpunkt seiner Philosophie halte. Kant macht nämlich einen Unterschied zwischen den Erscheinungen der Dinge und den Dingen an sich. Da wir von den Dingen nur insoweit etwas wissen können, als sie sich uns durch Erscheinung kundgeben, und da also die Dinge nicht, wie sie an und für sich selbst sind, sich uns zeigen, so hat Kant die Dinge, insofern sie erscheinen, Phänomena und die Dinge an und für sich Noumena genannt. Nur von den Dingen als Phänomena können wir etwas wissen, nichts aber können wir von den Dingen wissen als Noumena. Letztere sind nur problematisch, wir können weder sagen: sie existieren, noch: sie existieren nicht. Ja, das Wort Noumen ist nur dem Wort Phänomen nebengesetzt, um von Dingen, insoweit sie uns erkennbar, sprechen zu können, ohne in unserem Urteil die Dinge, die uns nicht erkennbar, zu berühren.

Kant hat also nicht, wie manche Lehrer, die ich nicht nennen will, die Dinge unterschieden in Phänomena und Noumena, in Dinge, welche für uns existieren, und in Dinge, welche für uns nicht existieren. Dieses wäre ein irländischer Bull in der Philosophie. Er hat nur einen Grenzbegriff geben wollen.

Gott ist, nach Kant, ein Noumen. Infolge seiner Argumentation ist jenes transzendentale Idealwesen, welches wir bisher Gott genannt, nichts anders als eine Erdichtung. Es ist durch eine natürliche Illusion entstanden. Ja, Kant zeigt, wie wir von jenem Noumen, von Gott, gar nichts wissen können und wie sogar jede künftige Beweisführung seiner Existenz unmöglich sei. Die Danteschen Worte »Laßt die Hoffnung zurück!« schreiben wir über diese Abteilung der »Kritik der reinen Vernunft«.

Ich glaube, man erläßt mir gern die populäre Erörterung dieser Partie, wo »von den Beweisgründen der spekulativen Vernunft, auf das Dasein eines höchsten Wesens zu schließen«, gehandelt wird. Obwohl die eigentliche Widerlegung dieser Beweisgründe nicht viel Raum einnimmt und erst in der zweiten Hälfte des Buches zum Vorschein kommt, so ist sie doch schon von vornherein aufs absichtlichste eingeleitet, und sie gehört zu dessen Pointen. Es knüpft sich daran die »Kritik aller spekulativen Theologie«, und vernichtet werden die übrigen Luftgebilde der Deisten. Bemerken muß ich, daß Kant, indem er die drei Hauptbeweisarten für das Dasein Gottes, nämlich den ontologischen, den kosmologischen und den physiko-theologischen Beweis angreift, nach meiner Meinung die zwei letzteren, aber nicht den ersteren zugrunde richten kann. Ich weiß nicht, ob die obigen Ausdrücke hier bekannt sind, und ich gebe daher die Stelle aus der »Kritik der reinen Vernunft«, wo Kant ihre Unterscheidungen formuliert:

»Es sind nur drei Beweisarten vom Dasein Gottes aus spekulativer Vernunft möglich. Alle Wege, die man in dieser Absicht einschlagen mag, fangen entweder von der bestimmten Erfahrung und der dadurch erkannten besonderen Beschaffenheit unserer Sinnenwelt an und steigen von ihr nach Gesetzen der Kausalität bis zur höchsten Ursache außer der Welt hinauf; oder sie legen nur unbestimmte Erfahrung, das ist irgendein Dasein, zum Grunde, oder sie abstrahieren endlich von aller Erfahrung und schließen gänzlich a priori aus bloßen Begriffen auf das Dasein einer höchsten Ursache. Der erste Beweis ist der physiko-theologische, der zweite der kosmologische, der dritte ist der ontologische Beweis. Mehr gibt es ihrer nicht, und mehr kann es ihrer auch nicht geben.«

Nach mehrmaligem Durchstudieren des Kantschen Hauptbuchs glaubte ich zu erkennen, daß die Polemik gegen jene bestehenden Beweise für das Dasein Gottes überall hervorlauscht, und ich würde sie weitläufiger besprechen, wenn mich nicht ein religiöses Gefühl davon abhielte. Schon daß ich jemanden das Dasein Gottes diskutieren sehe, erregt in mir eine so sonderbare Angst, eine so unheimliche Beklemmung, wie ich sie einst in London zu New-Bedlam empfand, als ich, umgehen von lauter Wahnsinnigen, meinen Führer aus den Augen verlor. »Gott ist alles, was da ist«, und Zweifel an ihm ist Zweifel an das Leben selbst, es ist der Tod.

So verwerflich auch jede Diskussion über das Dasein Gottes ist, desto preislicher ist das Nachdenken über die Natur Gottes. Dieses Nachdenken ist ein wahrhafter Gottesdienst unser Gemüt wird dadurch abgezogen vom Vergänglichen und Endlichen und gelangt zum Bewußtsein der Urgüte und der ewigen Harmonie. Dieses Bewußtsein durchschauert den Gefühlsmenschen im Gebet oder bei der Betrachtung kirchlicher Symbole; der Denker findet diese heilige Stimmung in der Ausübung jener erhabenen Geisteskraft, welche wir Vernunft nennen und deren höchste Aufgabe es ist, die Natur Gottes zu erforschen. Ganz besonders religiöse Menschen beschäftigen sich mit dieser Aufgabe von Kind auf, geheimnisvoll sind sie davon schon bedrängt, durch die erste Regung der Vernunft. Der Verfasser dieser Blätter ist sich einer solchen frühen, ursprünglichen Religiosität aufs freudigste bewußt, und sie hat ihn nie verlassen. Gott war immer der Anfang und das Ende aller meiner Gedanken. Wenn ich jetzt frage: Was ist Gott, was ist seine Natur?, so frug ich schon als kleines Kind: Wie ist Gott? wie sieht er aus? Und damals konnte ich ganze Tage in den Himmel hinaufsehen und war des Abends sehr betrübt, daß ich niemals das allerheiligste Angesicht Gottes, sondern immer nur graue, blöde Wolkenfratzen erblickt hatte. Ganz konfus machten mich die Mitteilungen aus der Astronomie, womit man damals, in der Aufklärungsperiode, sogar die kleinsten Kinder nicht verschonte, und ich konnte mich nicht genug wundern, daß alle diese tausend Millionen Sterne ebenso große, schöne Erdkugeln seien wie die unsrige und über all dieses leuchtende Weltengewimmel ein einziger Gott waltete. Einst im Traume, erinnere ich mich, sah ich Gott, ganz oben in der weitesten Ferne. Er schaute vergnüglich zu einem kleinen Himmelsfenster hinaus, ein frommes Greisengesicht mit einem kleinen Judenbärtchen, und er streute eine Menge Saatkörner herab, die, während sie vom Himmel niederfielen, im unendlichen Raum gleichsam aufgingen, eine ungeheure Ausdehnung gewannen, bis sie lauter strahlende, blühende, bevölkerte Welten wurden, jede so groß wie unsere eigene Erdkugel. Ich habe dieses Gesicht nie vergessen können, noch oft im Traume sah ich den heiteren Alten aus seinem kleinen Himmelfenster die Weltensaat herabschütten; ich sah ihn einst sogar mit den Lippen schnalzen, wie unsere Magd, wenn sie den Hühnern ihr Gerstenfutter zuwarf. Ich konnte nur sehen, wie die fallenden Saatkörner sich immer zu großen, leuchtenden Weltkugeln ausdehnten; aber die etwanigen großen Hühner, die vielleicht irgendwo mit aufgesperrten Schnäbeln lauerten, um mit den hingestreuten Weltkugeln gefüttert zu werden, konnte ich nicht sehen.

Du lächelst, lieber Leser, über die großen Hühner. Diese kindische Ansicht ist aber nicht allzusehr entfernt von der Ansicht der reifsten Deisten. Um von dem außerweltlichen Gott einen Begriff zu geben, haben sich der Orient und der Okzident in kindischen Hyperbeln erschöpft. Mit der Unendlichkeit des Raumes und der Zeit hat sich aber die Phantasie der Deisten vergeblich abgequält. Hier zeigt sich ganz ihre Ohnmacht, die Haltlosigkeit ihrer Weltansicht, ihrer Idee von der Natur Gottes. Es betrübt uns daher wenig, wenn diese Idee zugrunde gerichtet wird. Dieses Leid aber hat ihnen Kant wirklich angetan, indem er ihre Beweisführungen von der Existenz Gottes zerstörte.

Die Rettung des ontologischen Beweises käme dem Deismus gar nicht besonders heilsam zustatten, denn dieser Beweis ist ebenfalls für den Pantheismus zu gebrauchen. Zu näherem Verständnis bemerke ich, daß der ontologische Beweis derjenige ist, den Descartes aufstellt und der schon lange vorher im Mittelalter, durch Anselm von Canterbury, in einer ruhenden Gebetform ausgesprochen worden. Ja, man kann sagen daß der heilige Augustin schon im zweiten Buche »De libero arbitrio« den ontologischen Beweis aufgestellt hat.

Ich enthalte mich, wie gesagt, aller popularisierenden Erörterung der Kantschen Polemik gegen jene Beweise. Ich begnüge mich, zu versichern, daß der Deismus seitdem im Reiche der spekulativen Vernunft erblichen ist. Diese betrübende Todesnachricht bedarf vielleicht einiger Jahrhunderte, ehe sie sich allgemein verbreitet hat – wir aber haben längst Trauer angelegt. De profundis!

Ihr meint, wir könnten jetzt nach Hause gehn? Beileibe! es wird noch ein Stück aufgeführt. Nach der Tragödie kommt die Farce. Immanuel Kant hat bis hier den unerbittlichen Philosophen traciert, er hat den Himmel gestürmt, er hat die ganze Besatzung über die Klinge springen lassen, der Oberherr der Welt schwimmt unbewiesen in seinem Blute, es gibt jetzt keine Allbarmherzigkeit mehr, keine Vatergüte, keine jenseitige Belohnung für diesseitige Enthaltsamkeit, die Unsterblichkeit der Seele liegt in den letzten Zügen – das röchelt, das stöhnt –, und der alte Lampe steht dabei mit seinem Regenschirm unterm Arm, als betrübter Zuschauer, und Angstschweiß und Tränen rinnen ihm vom Gesichte. Da erbarmt sich Immanuel Kant und zeigt, daß er nicht bloß ein großer Philosoph, sondern auch ein guter Mensch ist, und er überlegt, und halb gutmütig und halb ironisch spricht er: »Der alte Lampe muß einen Gott haben, sonst kann der arme Mensch nicht glücklich sein – der Mensch soll aber auf der Welt glücklich sein – das sagt die praktische Vernunft – meinetwegen – so mag auch die praktische Vernunft die Existenz Gottes verbürgen.« Infolge dieses Arguments unterscheidet Kant zwischen der theoretischen Vernunft und der praktischen Vernunft, und mit dieser, wie mit einem Zauberstäbchen, belebte er wieder den Leichnam des Deismus, den die theoretische Vernunft getötet.

Hat vielleicht Kant die Resurrektion nicht bloß des alten Lampe wegen, sondern auch der Polizei wegen unternommen? Oder hat er wirklich aus Überzeugung gehandelt? Hat er eben dadurch, daß er alle Beweise für das Dasein Gottes zerstörte, uns recht zeigen wollen, wie mißlich es ist, wenn wir nichts von der Existenz Gottes wissen können? Er handelte da fast ebenso weise wie mein westfälischer Freund, welcher alle Laternen auf der Grohnderstraße zu Göttingen zerschlagen hatte und uns nun dort, im Dunkeln stehend, eine lange Rede hielt über die praktische Notwendigkeit der Laternen, welche er nur deshalb theoretisch zerschlagen habe, um uns zu zeigen, wie wir ohne dieselben nichts sehen können.

Ich habe schon früher erwähnt, daß die »Kritik der reinen Vernunft« bei ihrem Erscheinen nicht die geringste Sensation gemacht. Erst mehre Jahre später, als einige scharfsinnige Philosophen Erläuterungen über dieses Buch geschrieben, erregte es die Aufmerksamkeit des Publikums, und im Jahre 1789 war in Deutschland von nichts mehr die Rede als von Kantscher Philosophie, und sie hatte schon in Hülle und Fülle ihre Kommentare, Chrestomathien, Erklärungen, Beurteilungen, Apologien usw. Man braucht nur einen Blick auf den ersten besten philosophischen Katalog zu werfen, und die Unzahl von Schriften, die damals über Kant erschienen, zeugt hinreichend von der geistigen Bewegung, die von diesem einzigen Manne ausging. Bei dem einen zeigte sich ein schäumender Enthusiasmus, bei dem andern eine bittere Verdrießlichkeit, bei vielen eine glotzende Erwartung über den Ausgang dieser geistigen Revolution. Wir hatten Emeuten in der geistigen Welt ebensogut wie ihr in der materiellen Welt, und bei dem Niederreißen des alten Dogmatismus echauffierten wir uns ebensosehr wie ihr beim Sturm der Bastille. Es waren freilich ebenfalls nur ein paar alte Invaliden, welche den Dogmatismus, das ist die Wolffsche Philosophie, verteidigten. Es war eine Revolution, und es fehlte nicht an Greuel. Unter der Partei der Vergangenheit waren die eigentlichen guten Christen über jene Greuel am wenigsten ungehalten. Ja, sie wünschten noch schlimmere Greuel, damit sich das Maß fülle und die Konterrevolution desto schneller als notwendige Reaktion stattfinde. Es gab bei uns Pessimisten in der Philosophie wie bei euch in der Politik. Manche unserer Pessimisten gingen in der Selbstverblendung so weit, daß sie sich einbildeten, Kant sei mit ihnen in einem geheimen Einverständnis und habe die bisherigen Beweise für das Dasein Gottes nur deshalb zerstört, damit die Welt einsehe, daß man durch die Vernunft nimmermehr zur Erkenntnis Gottes gelange und daß man sich also hier an der geoffenbarten Religion halten müsse.

Diese große Geisterbewegung hat Kant nicht sowohl durch den Inhalt seiner Schriften hervorgebracht als vielmehr durch den kritischen Geist, der darin waltete und der sich jetzt in alle Wissenschaften eindrängte. Alle Disziplinen wurden davon ergriffen. Ja, sogar die Poesie blieb nicht verschont von ihrem Einfluß. Schiller z.B. war ein gewaltsamer Kantianer, und seine Kunstansichten sind geschwängert von dem Geist der Kantschen Philosophie. Der schönen Literatur und den schönen Künsten wurde diese Kantsche Philosophie, wegen ihrer abstrakten Trockenheit, sehr schädlich. Zum Glück mischte sie sich nicht in die Kochkunst.

Das deutsche Volk läßt sich nicht leicht bewegen; ist es aber einmal in irgendeine Bahn hineinbewegt, so wird es dieselbe mit beharrlichster Ausdauer bis ans Ende verfolgen. So zeigten wir uns in den Angelegenheiten der Religion. So zeigten wir uns nun auch in der Philosophie. Werden wir uns ebenso konsequent weiterbewegen in der Politik?

Deutschland war durch Kant in die philosophische Bahn hineingezogen, und die Philosophie ward eine Nationalsache. Eine schöne Schar großer Denker sproßte plötzlich aus dem deutschen Boden wie hervorgezaubert. Wenn einst, gleich der französischen Revolution, auch die deutsche Philosophie ihren Thiers und ihren Mignet findet, so wird die Geschichte derselben eine ebenso merkwürdige Lektüre bieten, und der Deutsche wird sie mit Stolz und der Franzose wird sie mit Bewunderung lesen.

Unter den Schülern Kants ragte schon früher hervor Johann Gottlieb Fichte.

Ich verzweifle fast, von der Bedeutung dieses Mannes einen richtigen Begriff geben zu können. Bei Kant hatten wir nur ein Buch zu betrachten. Hier aber kommt außer dem Buche auch ein Mann in Betrachtung; in diesem Manne sind Gedanke und Gesinnung eins, und in solcher großartigen Einheit wirken sie auf die Mitwelt. Wir haben daher nicht bloß eine Philosophie zu erörtern, sondern auch einen Charakter, durch den sie gleichsam bedingt wird, und um beider Einfluß zu begreifen, bedürfte es auch wohl einer Darstellung der damaligen Zeitverhältnisse. Welche weitreichende Aufgabe! Vollauf sind wir gewiß entschuldigt, wenn wir hier nur dürftige Mitteilungen bieten.

Schon über den Fichteschen Gedanken ist sehr schwer zu berichten. Auch hier stoßen wir auf eigentümliche Schwierigkeiten. Sie betreffen nicht bloß den Inhalt, sondern auch die Form und die Methode, beides Dinge, womit wir den Ausländer gern zunächst bekannt machen. Zuerst also über die Fichtesche Methode. Diese ist anfänglich ganz dem Kant entlehnt. Bald aber ändert sich diese Methode durch die Natur des Gegenstandes. Kant hatte nämlich nur eine Kritik, also etwas Negatives, Fichte aber hatte späterhin ein System, folglich etwas Positives aufzustellen. Wegen jenes Mangels an einem festen System hat man der Kantschen Philosophie manchmal den Titel »Philosophie« absprechen wollen. In Beziehung auf Immanuel Kant selber hatte man recht, keineswegs aber in Beziehung auf die Kantianer, die aus Kants Sätzen eine hinlängliche Anzahl von festen Systemen zusammengebaut. In seinen früheren Schriften bleibt Fichte, wie gesagt, der Kantschen Methode ganz treu, so daß man seine erste Abhandlung, als sie anonym erschien, für ein Werk von Kant halten konnte. Da Fichte aber später ein System aufstellt, so gerät er in ein eifriges, gar eigensinniges Konstruieren, und wenn er die ganze Welt konstruiert hat, so beginnt er ebenso eifrig und eigensinnig von oben bis unten herab seine Konstruktionen zu demonstrieren. In diesem Konstruieren und Demonstrieren bekundet Fichte eine sozusagen abstrakte Leidenschaft. Wie in seinem System selbst, so herrscht bald die Subjektivität auch in seinem Vortrag. Kant hingegen legt den Gedanken vor sich hin und seziert ihn und zerlegt ihn in seine feinsten Fasern, und seine »Kritik der reinen Vernunft« ist gleichsam das anatomische Theater des Geistes. Er selber bleibt dabei kalt, gefühllos, wie ein echter Wundarzt.

Wie die Methode, so auch die Form der Fichteschen Schriften. Sie ist lebendig, aber sie hat auch alle Fehler des Lebens: sie ist unruhig und verwirrsam. Um recht lebendig zu bleiben, verschmäht Fichte die gewöhnliche Terminologie der Philosophen, die ihm etwas Totes dünkt; aber wir geraten dadurch noch viel weniger zum Verständnis. Er hat überhaupt über Verständnis ganz eigene Grillen. Als Reinhold mit ihm gleicher Meinung war, erklärte Fichte, daß ihn niemand besser verstehe wie Reinhold. Als dieser aber später von ihm abwich, erklärte Fichte, er habe ihn nie verstanden. Als er mit Kant differenzierte, ließ er drucken, Kant verstehe sich selber nicht. Ich berühre hier überhaupt die komische Seite unserer Philosophen. Sie klagen beständig über Nichtverstandenwerden. Als Hegel auf dem Todbette lag, sagte er: »Nur einer hat mich verstanden«, aber gleich darauf fügte er verdrießlich hinzu: »Und der hat mich auch nicht verstanden.«

In betreff ihres Inhalts an und für sich hat die Fichtesche Philosophie keine große Bedeutung. Sie hat der Gesellschaft keine Resultate geliefert. Nur insofern sie eine der merkwürdigsten Phasen der deutschen Philosophie überhaupt ist, nur insofern sie die Unfruchtbarkeit des Idealismus in seiner letzten Konsequenz beurkundet und nur insofern sie den notwendigen Übergang zur heutigen Naturphilosophie bildet, ist der Inhalt der Fichteschen Lehre von einigem Interesse. Da dieser Inhalt also mehr historisch und wissenschaftlich als sozial wichtig ist, will ich ihn nur mit den kürzesten Worten andeuten.

Die Aufgabe, welche sich Fichte stellt, ist: Welche Gründe haben wir, anzunehmen, daß unseren Vorstellungen von Dingen auch Dinge außer uns entsprechen? Und dieser Frage gibt er die Lösung: Alle Dinge haben Realität nur in unserem Geiste.

Wie die »Kritik der reinen Vernunft« das Hauptbuch von Kant, so ist die »Wissenschaftslehre« das Hauptbuch von Fichte. Dieses Buch ist gleichsam eine Fortsetzung des ersteren. Die Wissenschaftslehre verweist den Geist ebenfalls in sich selbst. Aber wo Kant analysiert, da konstruiert Fichte. Die Wissenschaftslehre beginnt mit einer abstrakten Formel (Ich = Ich), sie erschafft die Welt hervor aus der Tiefe des Geistes, sie fügt die zersetzten Teile wieder zusammen, sie macht den Weg der Abstraktion zurück, bis sie zur Erscheinungswelt gelangt. Diese Erscheinungswelt kann alsdann der Geist für notwendige Handlungen der Intelligenz erklären.

Bei Fichte ist noch die besondere Schwierigkeit, daß er dem Geiste zumutet, sich selber zu beobachten, während er tätig ist. Das Ich soll über seine intellektuellen Handlungen Betrachtungen anstellen, während es sie ausführt. Der Gedanke soll sich selber belauschen, während er denkt, während er allmählich warm und wärmer und endlich gar wird. Diese Operation mahnt uns an den Affen, der am Feuerherde vor einem kupfernen Kessel sitzt und seinen eigenen Schwanz kocht. Denn er meinte: Die wahre Kochkunst besteht nicht darin, daß man bloß objektiv kocht, sondern auch subjektiv des Kochens bewußt wird.

Es ist ein eigener Umstand, daß die Fichtesche Philosophie immer viel von der Satire auszustehen hatte. Ich sah mal eine Karikatur, die eine Fichtesche Gans vorstellt. Sie hat eine so große Leber, daß sie nicht mehr weiß, ob sie die Gans oder ob sie die Leber ist. Auf ihrem Bauch steht: Ich – Ich. Jean Paul hat die Fichtesche Philosophie aufs heilloseste persifliert in einem Buche, betitelt »Clavis Fichteana«. Daß der Idealismus in seiner konsequenten Durchführung am Ende gar die Realität der Materie leugnete, das erschien dem großen Publikum als ein Spaß, der zu weit getrieben. Wir mokierten uns nicht übel über das Fichtesche Ich, welches die ganze Erscheinungswelt durch sein bloßes Denken produzierte. Unseren Spöttern kam dabei ein Mißverständnis zustatten, das zu populär geworden, als daß ich es unerwähnt lassen dürfte. Der große Haufe meinte nämlich, das Fichtesche Ich, das sei das Ich von Johann Gottlieb Fichte, und dieses individuelle Ich leugne alle anderen Existenzen. »Welche Unverschämtheit!« riefen die guten Leute, »dieser Mensch glaubt nicht, daß wir existieren, wir, die wir weit korpulenter als er und als Bürgermeister und Amtsaktuare sogar seine Vorgesetzten sind!« Die Damen fragten: »Glaubt er nicht wenigstens an die Existenz seiner Frau? Nein? Und das läßt Madame Fichte so hingehn?«

Das Fichtesche Ich ist aber kein individuelles Ich, sondern das zum Bewußtsein gekommene allgemeine Welt-Ich. Das Fichtesche Denken ist nicht das Denken eines Individuums, eines bestimmten Menschen, der Johann Gottlieb Fichte heißt; es ist vielmehr ein allgemeines Denken, das sich in einem Individuum manifestiert. So wie man sagt: es regnet, es blitzt usw., so sollte auch Fichte nicht sagen: »ich denke«, sondern: »es denkt«, »das allgemeine Weltdenken denkt in mir«.

Bei einer Vergleichung der französischen Revolution mit der deutschen Philosophie habe ich einst, mehr aus Scherz als im Ernste, den Fichte mit Napoleon verglichen. Aber, in der Tat, es bieten sich hier bedeutsame Ähnlichkeiten. Nachdem die Kantianer ihr terroristisches Zerstörungswerk vollbracht, erscheint Fichte, wie Napoleon erschienen, nachdem die Konvention ebenfalls mit einer reinen Vernunftkritik die ganze Vergangenheit niedergerissen hatte. Napoleon und Fichte repräsentieren das große, unerbittliche Ich, bei welchem Gedanke und Tat eins sind, und die kolossalen Gebäude, welche beide zu konstruieren wissen, zeugen von einem kolossalen Willen. Aber durch die Schrankenlosigkeit dieses Willens gehen jene Gebäude gleich wieder zugrunde, und die Wissenschaftslehre wie das Kaiserreich zerfallen und verschwinden ebenso schnell, wie sie entstanden.

Das Kaiserreich gehört nur noch der Geschichte, aber die Bewegung, welche der Kaiser in der Welt hervorgebracht, ist noch immer nicht gestillt, und von dieser Bewegung lebt noch unsere Gegenwart. So ist es auch mit der Fichteschen Philosophie. Sie ist ganz untergegangen, aber die Geister sind noch aufgeregt von den Gedanken, die durch Fichte laut geworden, und unberechenbar ist die Nachwirkung seines Wortes. Wenn auch der ganze Transzendentalidealismus ein Irrtum war, so lebte doch in den Fichteschen Schriften eine stolze Unabhängigkeit, eine Freiheitsliebe, eine Manneswürde, die besonders auf die Jugend einen heilsamen Einfluß übte. Fichtes Ich war ganz übereinstimmend mit seinem unbeugsamen, hartnäckigen, eisernen Charakter. Die Lehre von einem solchen allmächtigen Ich konnte vielleicht nur einem solchen Charakter entsprießen, und ein solcher Charakter mußte, zurückwurzelnd in eine solche Lehre, noch unbeugsamer werden, noch hartnäckiger, noch eiserner.

Wie mußte dieser Mann den gesinnungslosen Skeptikern, den frivolen Eklektikern und den Moderanten von allen Farben ein Greuel sein! Sein ganzes Leben war ein beständiger Kampf. Seine Jugendgeschichte ist eine Reihe von Kümmernissen, wie bei fast allen unseren ausgezeichneten Männern. Armut sitzt an ihrer Wiege und schaukelt sie groß, und diese magere Amme bleibt ihre treue Lebensgefährtin.

Nichts ist rührender, als den willenstolzen Fichte zu sehen, wie er sich durch Hofmeisterei in der Welt durchzuquälen sucht. Solches klägliche Dienstbrot kann er nicht einmal in der Heimat finden, und er muß nach Warschau wandern. Dort die alte Geschichte. Der Hofmeister mißfällt der gnädigen Frau oder vielleicht gar der ungnädigen Kammerjungfer. Seine Kratzfüße sind nicht fein genug, nicht französisch genug, und er wird nicht mehr würdig befunden, die Erziehung eines kleinen polnischen Junkers zu leiten. Johann Gottlieb Fichte wird abgeschafft wie ein Lakai, erhält von der mißvergnügten Herrschaft kaum einen dürftigen Zehrpfennig, verläßt Warschau und wandert nach Königsberg, in jugendlichem Enthusiasmus, um Kant kennenzulernen. Das Zusammentreffen dieser beiden Männer ist in jeder Hinsicht interessant, und ich glaube beider Weise und Zustände nicht besser veranschaulichen zu können, als indem ich ein Fragment aus Fichtes Tagebuch mitteile, das in einer Biographie desselben, die sein Sohn unlängst herausgegeben, enthalten ist:

»Am fünfundzwanzigsten Juni ging ich nach Königsberg ab mit einem Fuhrmann von dorther und traf ohne besondere Fährlichkeiten am ersten Juli daselbst ein. – Den vierten Kant besucht, der mich indes nicht sonderlich aufnahm: ich hospitierte bei ihm und fand auch da meine Erwartungen nicht befriedigt. Sein Vortrag ist schläfrig. Unterdes schrieb ich dies Tagebuch. –

– Schon lange wollte ich Kant ernsthafter besuchen, fand aber kein Mittel. Endlich fiel ich darauf, eine ›Kritik aller Offenbarungen‹ zu schreiben und sie ihm statt einer Empfehlung zu überreichen. Ich fing ungefähr den dreizehnten damit an und arbeitete seitdem ununterbrochen fort. – Am achtzehnten August überschickte ich endlich die nun fertig gewordene Arbeit an Kant und ging den fünfundzwanzigsten hin, um sein Urteil darüber zu hören. Er empfing mich mit ausgezeichneter Güte und schien sehr wohl mit der Abhandlung zufrieden. Zu einem näheren wissenschaftlichen Gespräche kam es nicht; wegen meiner philosophischen Zweifel verwies er mich an seine ›Kritik der reinen Vernunft‹ und an den Hofprediger Schultz, den ich sofort aufsuchen werde. Am sechsundzwanzigsten speiste ich bei Kant, in Gesellschaft des Professor Sommer, und fand einen sehr angenehmen, geistreichen Mann an Kant; erst jetzt erkannte ich Züge in ihm, die des großen, in seinen Schriften niedergelegten Geistes würdig sind.

Den siebenundzwanzigsten endigte ich dies Tagebuch, nachdem ich vorher schon die Exzerpte aus den Kantschen Vorlesungen über Anthropologie, welche mir Herr v. S. geliehen, beendigt hatte. Zugleich beschließe ich, jenes hinfüro ordentlich alle Abende vor Schlafengehn fortzusetzen und alles Interessante, was mir begegnet, besonders aber Charakterzüge und Bemerkungen, einzutragen.

Den achtundzwanzigsten, abends. Noch gestern fing ich an, meine ›Kritik‹ zu revidieren, und kam auf recht gute, tiefe Gedanken, die mich aber leider überzeugten, daß die erste Bearbeitung von Grund aus oberflächlich ist. Heute wollte ich die neuen Untersuchungen fortsetzen, fand mich aber von meiner Phantasie so fortgerissen, daß ich den ganzen Tag nichts habe tun können. In meiner jetzigen Lage ist dies nun leider kein Wunder! Ich habe berechnet, daß ich von heute an nur noch vierzehn Tage hier subsistieren kann. – Freilich bin ich schon in solchen Verlegenheiten gewesen, aber es war in meinem Vaterlande, und dann wird es bei zunehmenden Jahren und dringenderem Ehrgefühl immer härter. – Ich habe keinen Entschluß, kann keinen fassen. – Dem Pastor Borowski, zu welchem Kant mich gehen ließ, werde ich mich nicht entdecken; soll ich mich ja entdecken, so geschieht es an niemand als Kant selbst.

Am neunundzwanzigsten ging ich zu Borowski und fand an ihm einen recht guten, ehrlichen Mann. Er schlug mir eine Kondition vor, die aber noch nicht völlig gewiß ist und die mich auch gar nicht sehr freut; zugleich nötigte er mir durch seine Offenheit das Geständnis ab, daß ich pressiert sei, eine Versorgung zu wünschen. Er riet mir, zu Professor W. zu gehn. Arbeiten habe ich nicht gekonnt. – Am folgenden Tage ging ich in der Tat zu W. und nachher zum Hofprediger Schultz. Die Aussichten bei ersterem sind sehr mißlich; doch sprach er von Hauslehrerstellen im Kurländischen, die mich ebenfalls nur die höchste Not anzunehmen bewegen wird! Nachher zum Hofprediger, wo anfangs mich seine Gattin empfing. Auch er erschien, aber in mathematische Zirkel vertieft; nachher, als er meinen Namen genauer hörte, wurde er durch die Empfehlung Kants desto freundlicher. Es ist ein eckiges preußisches Gesicht, doch leuchtet die Ehrlichkeit und Gutherzigkeit selbst aus seinen Zügen hervor. Ferner lernte ich da noch kennen Herrn Bräunlich und dessen Pflegbefohlnen, den Grafen Dönhof, Herrn Büttner, Neveu des Hofpredigers, und einen jungen Gelehrten aus Nürnberg, Herrn Ehrhard, einen guten, trefflichen Kopf, doch ohne Lebensart und Weltkenntnis.

Am ersten September stand ein Entschluß in mir fest, den ich Kant entdecken wollte; eine Hauslehrerstelle, so ungern ich dieselbe auch angenommen hätte, findet sich nicht, und die Ungewißheit meiner Lage hindert mich hier, mit freiem Geiste zu arbeiten und des bildenden Umgangs meiner Freunde zu genießen: also fort, in mein Vaterland zurück! Das kleine Darlehen, welches ich dazu bedarf, wird mir vielleicht durch Kants Vermittelung verschafft werden. Aber indem ich zu ihm gehn und meinen Vorschlag ihm machen wollte, entfiel mir der Mut. Ich beschloß zu schreiben. Abends wurde ich zu Hofpredigers gebeten, wo ich einen sehr angenehmen Abend verlebte. Am zweiten vollendete ich den Brief an Kant und schickte ihn ab.«

Trotz seiner Merkwürdigkeit kann ich mich doch nicht entschließen, diesen Brief hier in französischer Sprache mitzuteilen. Ich glaube, es steigt mir eine Röte in die Wangen, und mir ist, als sollte ich die verschämtesten Kümmernisse der eignen Familie vor fremden Leuten erzählen. Trotz meinem Streben nach französischem Weltsinn, trotz meinem philosophischen Kosmopolitismus sitzt doch immer das alte Deutschland mit allen seinen Spießbürgergefühlen in meiner Brust. – Genug, ich kann jenen Brief nicht mitteilen, und ich berichte hier nur: Immanuel Kant war so arm, daß er trotz der herzzerreißend rührenden Sprache jenes Briefes dem Johann Gottlieb Fichte kein Geld borgen konnte. Letzterer ward aber darob nicht im mindesten unmutig, wie wir aus den Worten des Tagebuchs, die ich noch hierhersetzen will, schließen können:

»Am dritten September wurde ich zu Kant eingeladen. Er empfing mich mit seiner gewöhnlichen Offenheit, sagte aber, er habe sich über meinen Vorschlag noch nicht resolviert; jetzt bis in vierzehn Tagen sei er außerstande. Welche liebenswürdige Offenheit! Übrigens machte er Schwierigkeiten über meine Desseins, welche verrieten, daß er unsere Lage in Sachsen nicht genug kennt. – – Alle diese Tage habe ich nichts gemacht: ich will aber wieder arbeiten und das übrige schlechthin Gott überlassen. – Am sechsten. – Ich war zu Kant gebeten, der mir vorschlug, mein Manuskript über die ›Kritik aller Offenbarungen‹ durch Vermittlung des Herrn Pfarrer Borowski an Buchhändler Hartung zu verkaufen. Es sei gut geschrieben, meinte er, da ich von Umarbeitung sprach. – Ist dies wahr? Und doch sagt es Kant! – Übrigens schlug er mir meine erste Bitte ab. – Am zehnten war ich zu Mittag bei Kant. Nichts von unserer Affäre; Magister Gensichen war zugegen, und nur allgemeine, zum Teil sehr interessante Gespräche: auch ist Kant ganz unverändert gegen mich derselbe. – – Am dreizehnten, heute, wollte ich arbeiten, und tue nichts. Mein Mißmut überfällt mich. Wie wird dies ablaufen? Wie wird es heut über acht Tage um mich stehen? Da ist mein Geld rein aufgezehrt!«

Nach vielem Umherirren, nach einem langen Aufenthalt in der Schweiz findet Fichte endlich eine feste Stelle in Jena, und von hier aus datiert sich seine Glanzperiode. Jena und Weimar, zwei sächsische Städtchen, die nur wenige Stunden voneinander entfernt liegen, waren damals der Mittelpunkt des deutschen Geisterlebens. In Weimar war der Hof und die Poesie, in Jena war die Universität und die Philosophie. Dort sahen wir die größten Dichter, hier die größten Gelehrten Deutschlands. Anno 1794 begann Fichte seine Vorlesungen in Jena. Die Jahrzahl ist bedeutsam und erklärt sowohl den Geist seiner damaligen Schriften als auch die Tribulationen, denen er seitdem ausgesetzt stand und denen er vier Jahre später endlich unterlag. Anno 1798 nämlich erheben sich gegen ihn die Anklagen wegen Atheismus, die ihm unleidliche Verfolgungen zuziehen und auch seinen Abgang von Jena bewirken. Diese Begebenheit, die merkwürdigste in Fichtes Leben, hat zugleich eine allgemeine Bedeutung, und wir dürfen nicht davon schweigen. Hier kommt auch Fichtes Ansicht von der Natur Gottes ganz eigentlich zur Sprache.

In der Zeitschrift »Philosophisches Journal«, welche Fichte damals herausgab, druckte er einen Aufsatz, betitelt »Entwickelung des Begriffs Religion«, der ihm von einem gewissen Forberg, welcher Schullehrer zu Saalfeld, eingesendet worden. Diesem Aufsatz fügte er noch eine kleine erläuternde Abhandlung hinzu, unter dem Titel: »Über den Grund unseres Glaubens an eine göttliche Weltregierung«.

Die beiden Stücke nun wurden von der kursächsischen Regierung konfisziert, unter dem Vorgehen, sie enthielten Atheismus, und zugleich ging von Dresden aus ein Requisitionsschreiben an den Weimarschen Hof, worin derselbe aufgefordert wurde, den Professor Fichte ernstlich zu bestrafen. Der Weimarsche Hof hatte nun freilich von dergleichen Ansinnen sich keineswegs irreleiten lassen; aber da Fichte bei diesem Vorfalle die größten Fehlgriffe beging, da er nämlich eine Appellation ans Publikum schrieb, ohne seine offizielle Behörde zu berücksichtigen, so hat diese, die Weimarsche Regierung, verstimmt und von außen gedrängt, dennoch nicht vermeiden können, den in seinen Ausdrücken unvorsichtigen Professor mit einer gelinden Rüge zu erquicken. Fichte aber, der sich in seinem Rechte glaubte, wollte solche Rüge nicht geduldig hinnehmen und verließ Jena. Nach seinen damaligen Briefen zu schließen, wurmte ihn ganz besonders das Verhalten zweier Männer, die, durch ihre amtliche Stellung, in seiner Sache besonders wichtige Stimmen hatten, und dieses waren S. Ehrwürden der Oberkonsistorialrat v. Herder und S. Exzellenz der Geheime Rat v. Goethe. Aber beide sind hinreichend zu entschuldigen. Es ist rührend, wenn man in Herders hinterlassenen Briefen liest, wie der arme Herder seine liebe Not hatte mit den Kandidaten der Theologie, die, nachdem sie in Jena studiert, zu ihm nach Weimar kamen, um als protestantische Prediger examiniert zu werden. Über Christus, den Sohn, wagte er im Examen sie gar nicht mehr zu befragen; er war froh genug, wenn man ihm nur die Existenz des Vaters zugestand. Was Goethe betrifft, so hat er sich in seinen Memoiren über obiges Ereignis folgendermaßen geäußert:

»Nach Reinholds Abgang von Jena, der mit Recht als ein großer Verlust für die Akademie erschien, war mit Kühnheit, ja Verwegenheit an seine Stelle Fichte berufen worden, der in seinen Schriften sich mit Großheit, aber vielleicht nicht ganz gehörig, über die wichtigsten Sitten- und Staatsgegenstände erklärt hatte. Es war eine der tüchtigsten Persönlichkeiten, die man je gesehen, und an seinen Gesinnungen im höheren Betracht nichts auszusetzen; aber wie hätte er mit der Welt, die er als seinen erschaffenen Besitz betrachtete, gleichen Schritt halten sollen?

Da man ihm die Stunden, die er zu öffentlichen Vorlesungen benutzen wollte, an Werktagen verkümmert hatte, so unternahm er sonntags Vorlesungen, deren Einleitung Hindernisse fand. Kleine und größere daraus entspringende Widerwärtigkeiten waren kaum, nicht ohne Unbequemlichkeit der oberen Behörden, getuscht und geschlichtet, als uns dessen Äußerungen über Gott und göttliche Dinge, über die man freilich besser ein tiefes Stillschweigen beobachtet, von außen beschwerende Anregungen zuzogen.

Fichte hatte in seinem ›Philosophischen Journal‹ über Gott und göttliche Dinge auf eine Weise sich zu äußern gewagt, welche den hergebrachten Ausdrücken über solche Geheimnisse zu widersprechen schien. Er ward in Anspruch genommen; seine Verteidigung besserte die Sache nicht, weil er leidenschaftlich zu Werke ging, ohne Ahnung, wie gut man diesseits für ihn gesinnt sei, wie wohl man seine Gedanken, seine Worte auszulegen wisse, welches man freilich ihm nicht gerade mit dürren Worten zu erkennen geben konnte, und ebensowenig, wie man ihm auf das gelindeste herauszuhelfen gedachte. Das Hin- und Widerreden, das Vermuten und Behaupten, das Bestärken und Entschließen wogte in vielfachen unsicheren Reden auf der Akademie ineinander; man sprach von einem ministeriellen Vorhalt, von nichts Geringerem als einer Art Verweis, dessen Fichte sich zu gewärtigen hätte. Hierüber ganz außer Fassung, hielt er sich für berechtigt, ein heftiges Schreiben beim Ministerium einzureichen, worin er, jene Maßregel als gewiß voraussetzend, mit Ungestüm und Trotz erklärte, er werde dergleichen niemals dulden, er werde lieber ohne weiteres von der Akademie abziehen, und in solchem Falle nicht allein, indem mehrere bedeutende Lehrer, mit ihm einstimmig, den Ort zu verlassen gedächten.

Hierdurch war nun auf einmal aller gegen ihn gehegte gute Wille gehemmt, ja paralysiert: hier blieb kein Ausweg, keine Vermittlung übrig, und das Gelindeste war, ihm ohne weiteres seine Entlassung zu erteilen. Nun erst, nachdem die Sache sich nicht mehr ändern ließ, vernahm er die Wendung, die man ihr zu geben im Sinne gehabt, und er mußte seinen übereilten Schritt bereuen, wie wir ihn bedauern.«

Ist das nicht, wie er leibt und lebt, der ministerielle, schlichtende, vertuschende Goethe? Er rügt im Grunde nur, daß Fichte das gesprochen, was er dachte, und daß er es nicht in den hergebrachten verhüllenden Ausdrücken gesprochen. Er tadelt nicht den Gedanken, sondern das Wort. Daß der Deismus in der deutschen Denkerwelt seit Kant vernichtet sei, war, wie ich schon einmal gesagt, ein Geheimnis, das jeder wußte, das man aber nicht laut auf dem Markte ausschreien sollte. Goethe war sowenig Deist wie Fichte; denn er war Pantheist. Aber eben von der Höhe des Pantheismus konnte Goethe, mit seinem scharfen Auge, die Haltlosigkeit der Fichteschen Philosophie am besten durchschauen, und seine milden Lippen mußten darob lächeln. Den Juden, was doch die Deisten am Ende alle sind, mußte Fichte ein Greuel sein; dem großen Heiden war er bloß eine Torheit. »Der große Heide« ist nämlich der Name, den man in Deutschland dem Goethe beilegt. Doch ist dieser Name nicht ganz passend. Das Heidentum des Goethe ist wunderbar modernisiert. Seine starke Heidennatur bekundet sich in dem klaren, scharfen Auffassen aller äußeren Erscheinungen, aller Farben und Gestalten; aber das Christentum hat ihn zu gleicher Zeit mit einem tieferen Verständnis begabt, trotz seines sträubenden Widerwillens hat das Christentum ihn eingeweiht in die Geheimnisse der Geisterwelt, er hat vom Blute Christi genossen, und dadurch verstand er die verborgensten Stimmen der Natur, gleich Siegfried, dem Nibelungenheld, der plötzlich die Sprache der Vögel verstand, als ein Tropfen Blut des erschlagenen Drachen seine Lippen benetzte. Es ist merkwürdig, wie bei Goethe jene Heidennatur von unserer heutigsten Sentimentalität durchdrungen war, wie der antike Marmor so modern pulsierte und wie er die Leiden eines jungen Werthers ebenso stark mitempfand wie die Freuden eines alten Griechengottes. Der Pantheismus des Goethe ist also von dem heidnischen sehr unterschieden. Um mich kurz auszudrücken: Goethe war der Spinoza der Poesie. Alle Gedichte Goethes sind durchdrungen von demselben Geiste, der uns auch in den Schriften des Spinoza anweht. Daß Goethe gänzlich der Lehre des Spinoza huldigte, ist keinem Zweifel unterworfen. Wenigstens beschäftigte er sich damit während seiner ganzen Lebenszeit; in dem Anfang seiner Memoiren sowie auch in dem kürzlich erschienenen letzten Bande derselben hat er solches freimütig bekannt. Ich weiß nicht mehr, wo ich es gelesen, daß Herder über diese beständige Beschäftigung mit Spinoza einst übellaunig ausrief: »Wenn doch der Goethe einmal ein anderes lateinisches Buch als den Spinoza in die Hand nähme!« Aber dieses gilt nicht bloß von Goethe; noch eine Menge seiner Freunde, die später mehr oder minder als Dichter bekannt wurden, huldigten frühzeit dem Pantheismus, und dieser blühte praktisch in der deutschen Kunst, ehe er noch als philosophische Theorie bei uns zur Herrschaft gelangte. Eben zur Zeit Fichtes, als der Idealismus im Reiche der Philosophie seine erhabenste Blütezeit feierte, ward er im Reiche der Kunst gewaltsam zerstört, und es entstand hier jene berühmte Kunstrevolution, die noch heute nicht beendigt ist und die mit dem Kampfe der Romantiker gegen das altklassische Regime, mit den Schlegelschen Emeuten, anfängt.

In der Tat, unsere ersten Romantiker handelten aus einem pantheistischen Instinkt, den sie selbst nicht begriffen. Das Gefühl, das sie für Heimweh nach der katholischen Mutterkirche hielten, war tieferen Ursprungs, als sie selbst ahnten, und ihre Verehrung und Vorliebe für die Überlieferungen des Mittelalters, für dessen Volksglauben, Teufeltum, Zauberwesen, Hexerei… alles das war eine bei ihnen plötzlich erwachte, aber unbegriffene Zurückneigung nach dem Pantheismus der alten Germanen, und in der schnöde beschmutzten und boshaft verstümmelten Gestalt liebten sie eigentlich nur die vorchristliche Religion ihrer Väter. Hier muß ich erinnern an das erste Buch, wo ich gezeigt, wie das Christentum die Elemente der altgermanischen Religion in sich aufgenommen, wie diese nach schmählichster Umwandlung sich im Volksglauben des Mittelalters erhalten haben, so daß der alte Naturdienst als lauter böse Zauberei, die alten Götter als lauter häßliche Teufel und ihre keuschen Priesterinnen als lauter ruchlose Hexen betrachtet wurden. Die Verirrungen unserer ersten Romantiker lassen sich von diesem Gesichtspunkte aus etwas milder beurteilen, als es sonst geschieht. Sie wollten das katholische Wesen des Mittelalters restaurieren, weil sie fühlten, daß von den Heiligtümern ihrer ältesten Väter, von den Herrlichkeiten ihrer frühesten Nationalität sich noch manches darin erhalten hat; es waren diese verstümmelten und geschändeten Reliquien, die ihr Gemüt so sympathetisch anzogen, und sie haßten den Protestantismus und den Liberalismus, die dergleichen mitsamt der ganzen katholischen Vergangenheit zu vertilgen streben.

Doch darüber werde ich später sprechen. Hier gilt es nur zu erwähnen, daß der Pantheismus schon zur Zeit Fichtes in die deutsche Kunst eindrang, daß sogar die katholischen Romantiker unbewußt dieser Richtung folgten und daß Goethe sie am bestimmtesten aussprach. Dieses geschieht schon im »Werther«, wo er nach einer liebeseligen Identifizierung mit der Natur schmachtet. Im »Faust« sucht er ein Verhältnis mit der Natur anzuknüpfen auf einem trotzig mystischen, unmittelbaren Wege: er beschwört die geheimen Erdkräfte, durch die Zauberformeln des Höllenzwangs. Aber am reinsten und lieblichsten beurkundet sich dieser Goethesche Pantheismus in seinen kleinen Liedern. Die Lehre des Spinoza hat sich aus der mathematischen Hülle entpuppt und umflattert uns als Goethesches Lied. Daher die Wut unserer Orthodoxen und Pietisten gegen das Goethesche Lied. Mit ihren frommen Bärentatzen tappen sie nach diesem Schmetterling, der ihnen beständig entflattert. Das ist so zart ätherisch, so duftig beflügelt. Ihr Franzosen könnt euch keinen Begriff davon machen, wenn ihr die Sprache nicht kennt. Diese Goetheschen Lieder haben einen neckischen Zauber, der unbeschreibbar. Die harmonischen Verse umschlingen dein Herz wie eine zärtliche Geliebte; das Wort umarmt dich, während der Gedanke dich küßt.

In Goethes Betragen gegen Fichte sehen wir also keineswegs die häßlichen Motive, die von manchen Zeitgenossen mit noch häßlicheren Worten bezeichnet worden. Sie hatten die verschiedene Natur beider Männer nicht begriffen. Die Mildesten mißdeuteten die Passivität Goethes, als später Fichte stark bedrängt und verfolgt wurde. Sie berücksichtigten nicht Goethes Lage. Dieser Riese war Minister in einem deutschen Zwergstaate. Er konnte sich nie natürlich bewegen. Man sagte von dem sitzenden Jupiter des Phidias zu Olympia, daß er das Dachgewölbe des Tempels zersprengen würde, wenn er einmal plötzlich aufstünde. Dies war ganz die Lage Goethes zu Weimar; wenn er aus seiner stillsitzenden Ruhe einmal plötzlich in die Höhe gefahren wäre, er hätte den Staatsgiebel durchbrochen oder, was noch wahrscheinlicher, er hätte sich daran den Kopf zerstoßen. Und dieses sollte er riskieren für eine Lehre, die nicht bloß irrig, sondern auch lächerlich? Der deutsche Jupiter blieb ruhig sitzen und ließ sich ruhig anbeten und beräuchern.

Es würde mich von meinem Thema zu sehr entfernen, wollte ich, vom Standpunkte damaliger Kunstinteressen aus, das Betragen Goethes bei Gelegenheit der Anklage Fichtes noch gründlicher rechtfertigen. Für Fichte spricht nur, daß die Anklage eigentlich ein Vorwand war und daß sich politische Verhetzungen dahinter verbargen. Denn wegen Atheismus kann wohl ein Theolog angeklagt werden, weil er sich verpflichtet hat, bestimmte Doktrinen zu lehren. Ein Philosoph hat aber keine solche Verpflichtung eingegangen, kann sie nicht eingehn, und sein Gedanke ist frei wie der Vogel in der Luft. – Es ist vielleicht unrecht, daß ich, teils um meine eigenen, teils um anderer Gefühle zu schonen, nicht alles, was jene Anklage selbst begründete und rechtfertigte, hier mitteile. Nur eine von den mißlichen Stellen will ich aus dem inkulpierten Aufsatze hierhersetzen: »– – Die lebendige und wirkende moralische Ordnung ist selbst Gott; wir bedürfen keines anderen Gottes und können keinen anderen fassen. Es liegt kein Grund in der Vernunft, aus jener moralischen Weltordnung herauszugehen und vermittelst eines Schlusses vom Begründeten auf den Grund noch ein besonderes Wesen, als die Ursache desselben, anzunehmen; der ursprüngliche Verstand macht sonach diesen Schluß sicher nicht und kennt kein solches besonderes Wesen; nur eine sich selbst mißverstehende Philosophie macht ihn. – –«

Wie es halsstarrigen Menschen eigentümlich, so hat sich Fichte in seiner »Appellation an das Publikum« und seiner gerichtlichen Verantwortung noch derber und greller ausgesprochen, und zwar mit Ausdrücken, die unser tiefstes Gemüt verletzen. Wir, die wir an einen wirklichen Gott glauben, der unseren Sinnen in der unendlichen Ausdehnung und unserem Geiste in dem unendlichen Gedanken sich offenbart, wir, die wir einen sichtbaren Gott verehren in der Natur und seine unsichtbare Stimme in unserer eigenen Seele vernehmen, wir werden widerwärtig berührt von den grellen Worten, womit Fichte unseren Gott für ein bloßes Hirngespinst erklärt und sogar ironisiert. Es ist zweifelhaft, in der Tat, ob es Ironie oder bloßer Wahnsinn ist, wenn Fichte den lieben Gott von allem sinnlichen Zusatze so rein befreit, daß er ihm sogar die Existenz abspricht, weil Existieren ein sinnlicher Begriff und nur als sinnlicher möglich ist! Die Wissenschaftslehre, sagt er, kennt kein anderes Sein als das sinnliche, und da nur den Gegenständen der Erfahrung ein Sein zugeschrieben werden kann, so ist dieses Prädikat bei Gott nicht zu gebrauchen. Demnach hat der Fichtesche Gott keine Existenz, er ist nicht, er manifestiert sich nur als reines Handeln, als eine Ordnung von Begebenheiten, als ordo ordinans, als das Weltgesetz.

Solchermaßen hat der Idealismus die Gottheit durch alle möglichen Abstraktionen so lange durchfiltriert, bis am Ende gar nichts mehr von ihr übrigblieb. Jetzt, wie bei euch an der Stelle eines Königs, so bei uns an der Stelle eines Gottes, herrschte das Gesetz.

Was ist aber unsinniger, eine loi athée, ein Gesetz, welches keinen Gott hat, oder ein Dieu-loi, ein Gott, der nur ein Gesetz ist?

Der Fichtesche Idealismus gehört zu den kolossalsten Irrtümern, die jemals der menschliche Geist ausgeheckt. Er ist gottloser und verdammlicher als der plumpste Materialismus. Was man Atheismus der Materialisten hier in Frankreich nennt, wäre, wie ich leicht zeigen könnte, noch immer etwas Erbauliches, etwas Frommgläubiges, in Vergleichung mit den Resultaten des Fichteschen Transzendentalidealismus. Soviel weiß ich, beide sind mir zuwider. Beide Ansichten sind auch antipoetisch. Die französischen Materialisten haben ebenso schlechte Verse gemacht wie die deutschen Transzendentalidealisten. Aber staatsgefährlich ist die Lehre Fichtes keineswegs gewesen, und noch weniger verdiente sie als staatsgefährlich verfolgt zu werden. Um von dieser Irrlehre mißleitet werden zu können, dazu bedurfte man eines spekulativen Scharfsinns, wie er nur bei wenigen Menschen gefunden wird. Dem großen Haufen mit seinen tausend dicken Köpfen war diese Irrlehre ganz unzugänglich. Die Fichtesche Ansicht von Gott hätte also auf rationellem, aber nicht auf polizeilichem Wege widerlegt werden müssen. Wegen Atheismus in der Philosophie angeklagt zu werden war auch in Deutschland so etwas Befremdliches, daß Fichte wirklich im Anfang gar nicht wußte, was man begehre. Ganz richtig sagte er, die Frage, ob eine Philosophie atheistisch sei oder nicht, klinge einem Philosophen ebenso wunderlich wie etwa einem Mathematiker die Frage, ob ein Dreieck grün oder rot sei.

Jene Anklage hatte also ihre verborgenen Gründe, und diese hat Fichte bald begriffen. Da er der ehrlichste Mensch von der Welt war, so dürfen wir einem Briefe, worin er sich gegen Reinhold über jene verborgenen Gründe ausspricht, völligen Glauben schenken, und da dieser Brief, datiert vom zweiundzwanzigsten Mai 1799, die ganze Zeit schildert und die ganze Bedrängnis des Mannes veranschaulichen kann, so wollen wir einen Teil desselben hierhersetzen:

»Ermattung und Ekel bestimmen mich zu dem Dir schon mitgeteilten Entschlusse, für einige Jahre ganz zu verschwinden. Ich war, meiner damaligen Ansicht der Sache nach, sogar überzeugt, daß diesen Entschluß die Pflicht fordere, indem bei der gegenwärtigen Gärung ich ohnedies nicht gehört werden und die Gärung nur ärger machen würde, nach ein paar Jahren aber, wenn die erste Befremdung sich gelegt, ich mit desto größerem Nachdruck sprechen würde. – Ich denke jetzt anders. Ich darf jetzt nicht verstummen; schweige ich jetzt, so dürfte ich wohl nie wieder ans Reden kommen. – Es war mir seit der Verbindung Rußlands mit Östreich schon längst wahrscheinlich, was mir nunmehr durch die neuesten Begebenheiten, und besonders seit dem gräßlichen Gesandtenmord (über den man hier jubelt und über welchen S. und G. ausrufen: So ist’s recht, diese Hunde muß man totschlagen), völlig gewiß ist, daß der Despotismus sich von nun an mit Verzweiflung verteidigen wird, daß er durch Paul und Pitt konsequent wird, daß die Basis seines Plans die ist, die Geistesfreiheit auszurotten, und daß die Deutschen ihm die Erreichung dieses Zwecks nicht erschweren werden.

Glaube z.B. nicht, daß der Weimarsche Hof geglaubt hat, der Frequenz der Universität werde durch meine Gegenwart geschadet werden; er weiß zu wohl das Gegenteil. Er hat zufolge des allgemeinen, besonders von Kursachsen kräftigst ergriffenen Plans mich entfernen müssen. Burscher in Leipzig, ein Eingeweihter dieser Geheimnisse, ist schon gegen Ende des vorigen Jahrs eine ansehnliche Wette eingegangen, daß ich zu Ende dieses Jahrs Exulant sein würde. Voigt ist durch Burgsdorf schon längst gegen mich gewonnen worden. Vom Departement der Wissenschaften zu Dresden ist bekanntgemacht worden, daß keiner, der sich auf die neuere Philosophie lege, befördert werden oder, wenn er es schon ist, weiterrücken solle. In der Freischule zu Leipzig ist sogar die Rosenmüllersche Aufklärung bedenklich gefunden; Luthers Katechismus ist neuerlich dort wieder eingeführt, und die Lehrer sind von neuem auf die symbolischen Bücher konfirmiert worden. Das wird weitergehn und sich verbreiten. – – – In summa: es ist nichts gewisser als das gewisseste, daß, wenn nicht die Franzosen die ungeheuerste Übermacht erringen und in Deutschland, wenigstens einem beträchtlichen Teile desselben, eine Veränderung durchsetzen, in einigen Jahren in Deutschland kein Mensch mehr, der dafür bekannt ist, in seinem Leben einen freien Gedanken gedacht zu haben, eine Ruhestätte finden wird. – Es ist mir also gewisser als das gewisseste, daß, finde ich auch jetzt irgendwo ein Winkelchen, ich doch in einem, höchstens in zwei Jahren wieder fortgejagt werden würde; und es ist gefährlich, sich an mehreren Orten fortjagen zu lassen; dies lehrt historisch Rousseaus Beispiel.

Gesetzt, ich schweige ganz, schreibe nicht das geringste mehr: wird man mich unter dieser Bedingung ruhig lassen? Ich glaube dies nicht, und gesetzt, ich könnte es von den Höfen hoffen, wird nicht die Geistlichkeit, wohin ich mich auch wende, den Pöbel gegen mich aufhetzen, mich von ihm steinigen lassen und nun – die Regierungen bitten, mich als einen Menschen, der Unruhen erregt, zu entfernen? Aber, darf ich dann schweigen? Nein, das darf ich wahrlich nicht; denn ich habe Grund zu glauben, daß, wenn noch etwas gerettet werden kann des deutschen Geistes, es durch mein Reden gerettet werden kann und durch mein Stillschweigen die Philosophie ganz und zu frühe zugrunde gehen würde. Denen ich nicht zutraue, daß sie mich schweigend würden existieren lassen, traue ich noch weniger zu, daß sie mich werden reden lassen.

Aber ich werde sie von der Unschädlichkeit meiner Lehre überzeugen. – Lieber Reinhold, wie Du mir so gut von diesen Menschen denken kannst! Je klarer ich werde, je unschuldiger ich erscheine, desto schwärzer werden sie und desto größer wird überhaupt mein wahres Vergehen. Ich habe nie geglaubt, daß sie meinen vorgeblichen Atheismus verfolgen; sie verfolgen in mir einen Freidenker, der anfängt, sich verständlich zu machen (Kants Glück war seine Obskurität), und einen verschrienen Demokraten; es erschreckt sie, wie ein Gespenst, die Selbständigkeit, die, wie sie dunkel ahnen, meine Philosophie weckt.«

Ich bemerke nochmals, daß dieser Brief nicht von gestern ist, sondern das Datum des 22. Mai 1799 trägt. Die politischen Verhältnisse jener Zeit haben eine gar betrübende Ähnlichkeit mit den neuesten Zuständen in Deutschland, nur daß damals der Freiheitssinn mehr unter Gelehrten, Dichtern und sonstigen Literaten blühete, heutigentags aber unter diesen viel minder, sondern weit mehr in der großen aktiven Masse, unter Handwerkern und Gewerbsleuten, sich ausspricht. Während zur Zeit der ersten Revolution die bleiern deutscheste Schlafsucht auf dem Volke lastete und gleichsam eine brutale Ruhe in ganz Germanien herrschte, offenbarte sich in unserer Schriftwelt das wildeste Gären und Wallen. Der einsamste Autor, der in irgendeinem abgelegenen Winkelchen Deutschlands lebte, nahm teil an dieser Bewegung; fast sympathetisch, ohne von den politischen Vorgängen genau unterrichtet zu sein, fühlte er ihre soziale Bedeutung und sprach sie aus in seinen Schriften. Dieses Phänomen mahnt mich an die großen Seemuscheln, welche wir zuweilen als Zierat auf unsere Kamine stellen und die, wenn sie auch noch so weit vom Meere entfernt sind, dennoch plötzlich zu rauschen beginnen, sobald dort die Flutzeit eintritt und die Wellen gegen die Küste heranbrechen. Als hier in Paris, in dem großen Menschenozean, die Revolution losflutete, als es hier brandete und stürmte, da rauschten und brausten jenseits des Rheins die deutschen Herzen… Aber sie waren so isoliert, sie standen unter lauter fühllosem Porzellan, Teetassen und Kaffeekannen und chinesischen Pagoden, die mechanisch mit dem Kopfe nickten, als wüßten sie, wovon die Rede sei. Ach! unsere armen Vorgänger in Deutschland mußten für jene Revolutionssympathie sehr arg büßen. Junker und Pfäffchen übten an ihnen ihre plumpsten und gemeinsten Tücken. Einige von ihnen flüchteten nach Paris und sind hier in Armut und Elend verkommen und verschollen. Ich habe jüngst einen blinden Landsmann gesehen, der noch seit jener Zeit in Paris ist; ich sah ihn im Palais Royal, wo er sich ein bißchen an der Sonne gewärmt hatte. Es war schmerzlich anzusehen, wie er blaß und mager war und sich seinen Weg an den Häusern weiterfühlte. Man sagte mir, es sei der alte dänische Dichter Heiberg. Auch die Dachstube habe ich jüngst gesehen, wo der Bürger Georg Forster gestorben. Den Freiheitsfreunden, die in Deutschland blieben, wäre es aber noch weit schlimmer ergangen, wenn nicht bald Napoleon und seine Franzosen uns besiegt hätten. Napoleon hat gewiß nie geahnt, daß er selber der Retter der Ideologie gewesen. Ohne ihn wären unsere Philosophen mitsamt ihren Ideen durch Galgen und Rad ausgerottet worden. Die deutschen Freiheitsfreunde jedoch, zu republikanisch gesinnt, um dem Napoleon zu huldigen, auch zu großmütig, um sich der Fremdherrschaft anzuschließen, hüllten sich seitdem in ein tiefes Schweigen. Sie gingen traurig herum mit gebrochenen Herzen, mit geschlossenen Lippen. Als Napoleon fiel, da lächelten sie, aber wehmütig, und schwiegen; sie nahmen fast gar keinen Teil an dem patriotischen Enthusiasmus, der damals, mit allerhöchster Bewilligung, in Deutschland emporjubelte. Sie wußten, was sie wußten, und schwiegen. Da diese Republikaner eine sehr keusche, einfache Lebensart führen, so werden sie gewöhnlich sehr alt, und als die Juliusrevolution ausbrach, waren noch viele von ihnen am Leben, und nicht wenig wunderten wir uns, als die alten Käuze, die wir sonst immer so gebeugt und fast blödsinnig schweigend umherwandeln gesehen, jetzt plötzlich das Haupt erhoben und uns Jungen freundlich entgegenlachten und die Hände drückten und lustige Geschichten erzählten. Einen von ihnen hörte ich sogar singen; denn im Kaffeehause sang er uns die Marseiller Hymne vor, und wir lernten da die Melodie und die schönen Worte, und es dauerte nicht lange, so sangen wir sie besser als der Alte selbst; denn der hat manchmal in der besten Strophe wie ein Narr gelacht oder geweint wie ein Kind. Es ist immer gut, wenn so alte Leute leben bleiben, um den Jungen die Lieder zu lehren. Wir Jungen werden sie nicht vergessen, und einige von uns werden sie einst jenen Enkeln einstudieren, die jetzt noch nicht geboren sind. Viele von uns werden aber unterdessen verfault sein, daheim im Gefängnisse oder auf einer Dachstube in der Fremde.

Laßt uns wieder von Philosophie reden! Ich habe oben gezeigt, wie die Fichtesche Philosophie, aus den dünnsten Abstraktionen aufgebaut, dennoch eine eiserne Unbeugsamkeit in ihren Folgerungen, die bis zur verwegensten Spitze emporstiegen, kundgab. Aber eines frühen Morgens erblicken wir in ihr eine große Veränderung. Das fängt an zu blümeln und zu flennen und wird weich und bescheiden. Aus dem idealistischen Titanen, der auf der Gedankenleiter den Himmel erklettert und mit kecker Hand in dessen leere Gemächer herumgetastet, der wird jetzt etwas gebückt Christliches, das viel von Liebe seufzt. Solches ist nun die zweite Periode von Fichte, die uns hier wenig angeht. Sein ganzes System erleidet die befremdlichsten Modifikationen. In jener Zeit schrieb er ein Buch, welches ihr jüngst übersetzt »Die Bestimmung des Menschen«. Ein ähnliches Buch, »Anweisung zum seligen Leben«, gehört ebenfalls in jene Periode.

Fichte, der starrsinnige Mann, wie sich von selbst versteht, wollte dieser eignen großen Umwandlung niemals eingeständig sein. Er behauptete, seine Philosophie sei noch immer dieselbe, nur die Ausdrücke seien verändert, verbessert; man habe ihn nie verstanden. Er behauptete auch, die Naturphilosophie, die damals in Deutschland aufkam und den Idealismus verdrängte, sei im Grunde ganz und gar sein eignes System, und sein Schüler, Herr Joseph Schelling, welcher sich von ihm losgesagt und jene neue Philosophie eingeleitet, habe bloß die Ausdrücke umgeschaffen und seine alte Lehre nur durch unerquickliche Zutat erweitert.

Wir gelangen hier zu einer neuen Phase des deutschen Gedankens. Wir erwähnten die Namen Joseph Schelling und Naturphilosophie; da nun ersterer hier fast ganz unbekannt ist und da auch der Ausdruck Naturphilosophie nicht allgemein verstanden wird, so habe ich beider Bedeutung zu erklären. Erschöpfend können wir solches nun freilich nicht in diesen Blättern; ein späteres Buch werden wir einer solchen Aufgabe widmen. Nur einige eindringende Irrtümer wollen wir hier abweisen und nur der sozialen Wichtigkeit der erwähnten Philosophie einige Aufmerksamkeit leihen.

Zuerst ist zu erwähnen, daß Fichte nicht so ganz unrecht hat, wenn er eiferte, des Herrn Joseph Schellings Lehre sei eigentlich die seinige, nur anders formuliert und erweitert. Ebenso wie Herr Joseph Schelling lehrte auch Fichte: Es gibt nur ein Wesen, das Ich, das Absolute; er lehrte Identität des Idealen und des Realen. In der »Wissenschaftslehre«, wie ich gezeigt, hat Fichte durch intellektuelle Konstruktion aus dem Idealen das Reale konstruieren wollen. Herr Joseph Schelling hat aber die Sache umgekehrt: er suchte aus dem Realen das Ideale herauszudeuten. Um mich noch klarer auszudrücken: Von dem Grundsatze ausgehend, daß der Gedanke und die Natur eins und dasselbe seien, gelangt Fichte durch Geistesoperation zur Erscheinungswelt, aus dem Gedanken schafft er die Natur, aus dem Idealen das Reale; dem Herrn Schelling hingegen, während er von demselben Grundsatz ausgeht, wird die Erscheinungswelt zu lauter Ideen, die Natur wird ihm zum Gedanken, das Reale zum Idealen. Beide Richtungen, die von Fichte und die von Herrn Schelling, ergänzen sich daher gewissermaßen. Denn nach jenem erwähnten obersten Grundsatze konnte die Philosophie in zwei Teile zerfallen, und in dem einen Teile würde man zeigen, wie aus der Idee die Natur zur Erscheinung kommt; in dem andern Teil würde man zeigen, wie die Natur sich in lauter Ideen auflöst. Die Philosophie konnte daher zerfallen in transzendentalen Idealismus und in Naturphilosophie. Diese beiden Richtungen hat nun auch Herr Schelling wirklich anerkannt, und die letztere verfolgte er in seinen »Ideen zu einer Philosophie der Natur« und erstere in seinem »System des transzendentalen Idealismus«.

Diese Werke, wovon das eine 1797 und das andere 1800 erschien, erwähne ich nur deshalb, weil jene ergänzende Richtungen schon in ihrem Titel ausgesprochen sind, nicht weil etwa ein vollständiges System in ihnen enthalten sei. Nein, dieses findet sich in keinem von Herrn Schellings Büchern. Bei ihm gibt es nicht, wie bei Kant und bei Fichte, ein Hauptbuch, welches als Mittelpunkt seiner Philosophie betrachtet werden kann. Es wäre eine Ungerechtigkeit, wenn man Herrn Schelling nach dem Umfange eines Buches und nach der Strenge des Buchstabens beurteilen wollte. Man muß vielmehr seine Bücher chronologisch lesen, die allmähliche Ausbildung seines Gedankens darin verfolgen und sich dann an seiner Grundidee festhalten. Ja, es scheint mir auch nötig, daß man bei ihm nicht selten unterscheide, wo der Gedanke aufhört und die Poesie anfängt. Denn Herr Schelling ist eines von jenen Geschöpfen, denen die Natur mehr Neigung zur Poesie als poetische Potenz verliehen hat und die, unfähig, den Töchtern des Parnassus zu genügen, sich in die Wälder der Philosophie geflüchtet und dort mit abstrakten Hamadryaden die unfruchtbarste Ehe führen. Ihr Gefühl ist poetisch, aber das Werkzeug, das Wort, ist schwach; sie ringen vergebens nach einer Kunstform, worin sie ihre Gedanken und Erkenntnisse mitteilen können. Die Poesie ist Herrn Schellings Force und Schwäche. Sie ist es, wodurch er sich von Fichte unterscheidet, sowohl zu seinem Vorteil als auch zu seinem Nachteil. Fichte ist nur Philosoph, und seine Macht besteht in Dialektik, und seine Stärke besteht im Demonstrieren. Dieses aber ist die schwache Seite des Herrn Schelling, er lebt mehr in Anschauungen, er fühlt sich nicht heimisch in den kalten Höhen der Logik, er schnappt gern über in die Blumentäler der Symbolik, und seine philosophische Stärke besteht im Konstruieren. Letzteres aber ist eine Geistesfähigkeit, die bei den mittelmäßigen Poeten ebenso oft gefunden wie bei den besten Philosophen.

Nach dieser letzteren Andeutung wird begreiflich, daß Herr Schelling in demjenigen Teile der Philosophie, der bloß transzendentaler Idealismus ist, nur ein Nachbeter von Fichte geblieben und bleiben mußte, daß er aber in der Philosophie der Natur, wo er unter Blumen und Sternen zu wirtschaften hatte, gar gewaltig blühen und strahlen mußte. Diese Richtung ist daher nicht bloß von ihm, sondern auch von den gleichgestimmten Freunden vorzugsweise verfolgt worden, und der Ungestüm, der dabei zum Vorschein kam, war gleichsam nur eine dichterlingsche Reaktion gegen die frühere abstrakte Geistesphilosophie. Wie freigelassene Schulknaben, die den ganzen Tag in engen Sälen unter der Last der Vokabeln und Chiffern geseufzt, so stürmten die Schüler des Herrn Schelling hinaus in die Natur, in das duftende, sonnige Reale, und jauchzten und schlugen Purzelbäume und machten einen großen Spektakel.

Der Ausdruck »die Schüler des Herrn Schelling« darf hier ebenfalls nicht in seinem gewöhnlichen Sinne genommen werden. Herr Schelling selber sagt, nur in der Art der alten Dichter habe er eine Schule bilden wollen, eine Dichterschule, wo keiner an eine bestimmte Doktrin und durch eine bestimmte Disziplin gebunden ist, sondern wo jeder dem Geiste gehorcht und jeder ihn in seiner Weise offenbart. Er hätte auch sagen können, er stifte eine Prophetenschule, wo die Begeisterten zu prophezeien anfangen, nach Lust und Laune und in beliebiger Sprechart. Dies taten auch wirklich die Jünger, die des Meisters Geist angeregt, die beschränktesten Köpfe fingen an zu prophezeien, jeder in einer andern Zunge, und es entstand ein großes Pfingstfest in der Philosophie.

Wie das Bedeutendste und Herrlichste zu lauter Mummenschanz und Narretei verwendet werden kann, wie eine Rotte von feigen Schälken und melancholischen Hanswürsten imstande ist, eine große Idee zu kompromittieren, das sehen wir hier bei Gelegenheit der Naturphilosophie. Aber das Ridikül, das ihr die Prophetenschule oder die Dichterschule des Herrn Schelling bereitet, kommt wahrlich nicht auf ihre eigne Rechnung. Denn die Idee der Naturphilosophie ist ja im Grunde nichts anders als die Idee des Spinoza, der Pantheismus.

Die Lehre des Spinoza und die Naturphilosophie, wie sie Schelling in seiner besseren Periode aufstellte, sind wesentlich eins und dasselbe. Die Deutschen, nachdem sie den Lockeschen Materialismus verschmäht und den Leibnizschen Idealismus bis auf die Spitze getrieben und diesen ebenfalls unfruchtbar erfunden, gelangten endlich zu dem dritten Sohne des Descartes, zu Spinoza. Die Philosophie hat wieder einen großen Kreislauf vollendet, und man kann sagen, es sei derselbe, den sie schon vor zweitausend Jahren in Griechenland durchlaufen. Aber bei näherer Vergleichung dieser beiden Kreisläufe zeigt sich eine wesentliche Verschiedenheit. Die Griechen hatten ebenso kühne Skeptiker wie wir, die Eleaten haben die Realität der Außenwelt ebenso bestimmt geleugnet wie unsere neueren Transzendentalidealisten. Plato hat ebensogut wie Herr Schelling in der Erscheinungswelt die Geisteswelt wiedergefunden. Aber wir haben etwas voraus vor den Griechen sowie auch vor den cartesianischen Schulen, wir haben etwas vor ihnen voraus, nämlich:

Wir begannen unseren philosophischen Kreislauf mit einer Prüfung der menschlichen Erkenntnisquellen, mit der Kritik der reinen Vernunft unseres Immanuel Kant.

Bei Erwähnung Kants kann ich obigen Betrachtungen hinzufügen, daß der Beweis für das Dasein Gottes, den derselbe noch bestehen lassen, nämlich der sogenannte moralische Beweis, von Herrn Schelling mit großem Eklat umgestoßen worden. Ich habe aber oben schon bemerkt, daß dieser Beweis nicht von sonderlicher Stärke war und daß Kant ihn vielleicht nur aus Gutmütigkeit bestehen lassen. Der Gott des Herrn Schelling ist das Gottweltall des Spinoza. Wenigstens war er es im Jahr 1801, im zweiten Bande der »Zeitschrift für spekulative Physik«. Hier ist Gott die absolute Identität der Natur und des Denkens, der Materie und des Geistes, und die absolute Identität ist nicht Ursache des Weltalls, sondern sie ist das Weltall selbst, sie ist also das Gottweltall. In diesem gibt es auch keine Gegensätze und Teilungen. Die absolute Identität ist auch die absolute Totalität. Ein Jahr später hat Herr Schelling seinen Gott noch mehr entwickelt, nämlich in einer Schrift, betitelt »Bruno oder über das göttliche oder natürliche Prinzip der Dinge«. Dieser Titel erinnert an den edelsten Märtyrer unserer Doktrin, Giordano Bruno von Nola, glorreichen Andenkens. Die Italiener behaupten, Herr Schelling habe dem alten Bruno seine besten Gedanken entlehnt, und sie beschuldigen ihn des Plagiats. Sie haben unrecht, denn es gibt kein Plagiat in der Philosophie. Anno 1804 erschien der Gott des Herrn Schelling endlich ganz fertig in einer Schrift, betitelt »Philosophie und Religion«. Hier finden wir in ihrer Vollständigkeit die Lehre vom Absoluten. Hier wird das Absolute in drei Formeln ausgedrückt. Die erste ist die kategorische: Das Absolute ist weder das Ideale noch das Reale (weder Geist noch Materie), sondern es ist die Identität beider. Die zweite Formel ist die hypothetische: Wenn ein Subjekt und ein Objekt vorhanden ist, so ist das Absolute die wesentliche Gleichheit dieser beiden. Die dritte Formel ist die disjunktive: Es ist nur ein Sein, aber dies eine kann zu gleicher Zeit oder abwechselnd als ganz ideal oder als ganz real betrachtet werden. Die erste Formel ist ganz negativ, die zweite setzt eine Bedingung voraus, die noch schwerer zu begreifen ist als das Bedingte selbst, und die dritte Formel ist ganz die des Spinoza: Die absolute Substanz ist erkennbar entweder als Denken oder als Ausdehnung. Auf philosophischem Wege konnte also Herr Schelling nicht weiter kommen als Spinoza, da nur unter der Form dieser beiden Attribute, Denken und Ausdehnung, das Absolute zu begreifen ist. Aber Herr Schelling verläßt jetzt den philosophischen Weg und sucht durch eine Art mystischer Intuition zur Anschauung des Absoluten selbst zu gelangen, er sucht es anzuschauen in seinem Mittelpunkt, in seiner Wesenheit, wo es weder etwas Ideales ist noch etwas Reales, weder Gedanken noch Ausdehnung, weder Subjekt noch Objekt, weder Geist noch Materie, sondern… was weiß ich!

Hier hört die Philosophie auf bei Herrn Schelling, und die Poesie, ich will sagen die Narrheit, beginnt. Hier aber auch findet er den meisten Anklang bei einer Menge von Faselhänsen, denen es eben recht ist, das ruhige Denken aufzugeben und gleichsam jene Derwisch-Tourneurs nachzuahmen, die, wie unser Freund Jules David erzählt, sich so lange im Kreise herumdrehen, bis sowohl objektive wie subjektive Welt ihnen entschwindet, bis beides zusammenfließt in ein weißes Nichts, das weder real noch ideal ist, bis sie etwas sehen, was nicht sichtbar, hören, was nicht hörbar, bis sie Farben hören und Töne sehen, bis sich das Absolute ihnen veranschaulicht.

Ich glaube, mit dem Versuch, das Absolute intellektuell anzuschauen, ist die philosophische Laufbahn des Herrn Schelling beschlossen. Ein größerer Denker tritt jetzt auf, der die Naturphilosophie zu einem vollendeten System ausbildet, aus ihrer Synthese die ganze Welt der Erscheinungen erklärt, die großen Ideen seiner Vorgänger durch größere Ideen ergänzt, sie durch alle Disziplinen durchführt und also wissenschaftlich begründet. Er ist ein Schüler des Herrn Schelling, aber ein Schüler, der allmählich im Reiche der Philosophie aller Macht seines Meisters sich bemeisterte, diesem herrschsüchtig über den Kopf wuchs und ihn endlich in die Dunkelheit verstieß. Es ist der große Hegel, der größte Philosoph, den Deutschland seit Leibniz erzeugt hat. Es ist keine Frage, daß er Kant und Fichte weit überragt. Er ist scharf wie jener und kräftig wie dieser und hat dabei noch einen konstituierenden Seelenfrieden, eine Gedankenharmonie, die wir bei Kant und Fichte nicht finden, da in diesen mehr der revolutionäre Geist waltet. Diesen Mann mit Herrn Joseph Schelling zu vergleichen ist gar nicht möglich; denn Hegel war ein Mann von Charakter. Und wenn er auch, gleich Herrn Schelling, dem Bestehenden in Staat und Kirche einige allzu bedenkliche Rechtfertigungen verlieh, so geschah dieses doch für einen Staat, der dem Prinzip des Fortschrittes wenigstens in der Theorie huldigt, und für eine Kirche, die das Prinzip der freien Forschung als ihr Lebenselement betrachtet; und er machte daraus kein Hehl, er war aller seiner Absichten eingeständig. Herr Schelling hingegen windet sich wurmhaft in den Vorzimmern eines sowohl praktischen wie theoretischen Absolutismus, und er handlangert in der Jesuitenhöhle, wo Geistesfesseln geschmiedet werden; und dabei will er uns weismachen, er sei noch immer unverändert derselbe Lichtmensch, der er einst war, er verleugnet seine Verleugnung, und zu der Schmach des Abfalls fügt er noch die Feigheit der Lüge!

Wir dürfen es nicht verhehlen, weder aus Pietät noch aus Klugheit, wir wollen es nicht verschweigen: Der Mann, welcher einst am kühnsten in Deutschland die Religion des Pantheismus ausgesprochen, welcher die Heiligung der Natur und die Wiedereinsetzung des Menschen in seine Gottesrechte am lautesten verkündet, dieser Mann ist abtrünnig geworden von seiner eigenen Lehre, er hat den Altar verlassen, den er selber eingeweiht, er ist zurückgeschlichen in den Glaubensstall der Vergangenheit, er ist jetzt gut katholisch und predigt einen außerweltlichen, persönlichen Gott, »der die Torheit begangen habe, die Welt zu erschaffen«. Mögen immerhin die Altgläubigen ihre Glocken läuten und Kyrie eleison singen ob solcher Bekehrung – es beweist aber nichts für ihre Meinung, es beweist nur, daß der Mensch sich dem Katholizismus zuneigt, wenn er müde und alt wird, wenn er seine physischen und geistigen Kräfte verloren, wenn er nicht mehr genießen und denken kann. Auf dem Totenbette sind so viele Freidenker bekehrt worden – aber macht nur kein Rühmens davon! Diese Bekehrungsgeschichten gehören höchstens zur Pathologie und würden nur schlechtes Zeugnis geben für eure Sache. Sie bewiesen am Ende nur, daß es euch nicht möglich war, jene Freidenker zu bekehren, solange sie mit gesunden Sinnen unter Gottes freiem Himmel umherwandelten und ihrer Vernunft völlig mächtig waren.

Ich glaube, Ballanche sagt, es sei ein Naturgesetz, daß die Initiatoren gleich sterben müssen, sobald sie das Werk der Initiation vollbracht haben. Ach! guter Ballanche, das ist nur zum Teil wahr, und ich möchte eher behaupten: Wenn das Werk der Initiation vollbracht ist, stirbt der Initiator – oder er wird abtrünnig. Und so können wir vielleicht das strenge Urteil, wleches das denkende Deutschland über Herrn Schelling fällt, einigermaßen mildern; wir können vielleicht die schwere, dicke Verachtung, die auf ihm lastet, in stilles Mitleid verwandeln, und seinen Abfall von der eigenen Lehre erklären wir nur als eine Folge jenes Naturgesetzes, daß derjenige, der an das Aussprechen oder an die Ausführung eines Gedankens alle seine Kräfte hingegeben, nachher, wenn er diesen Gedanken ausgesprochen oder ausgeführt hat, erschöpft dahinsinkt, dahinsinkt entweder in die Arme des Todes oder in die Arme seiner ehemaligen Gegner.

Nach solcher Erklärung begreifen wir vielleicht noch grellere Phänomene des Tages, die uns so tief betrüben. Wir begreifen dadurch vielleicht, warum Männer, die für ihre Meinung alles geopfert, die dafür gekämpft und gelitten, endlich, wenn sie gesiegt hat, die Meinung verlassen und ins feindliche Lager hinübertreten! Nach solcher Erklärung darf ich auch darauf aufmerksam machen, daß nicht bloß Herr Joseph Schelling, sondern gewissermaßen auch Fichte und Kant des Abfalls zu beschuldigen sind. Fichte ist noch zeitig genug gestorben, ehe sein Abfall von der eigenen Philosophie allzu eklatant werden konnte. Und Kant ist der »Kritik der reinen Vernunft« schon gleich untreu geworden, indem er die »Kritik der praktischen Vernunft« schrieb. Der Initiator stirbt – oder wird abtrünnig.

Ich weiß nicht, wie es kommt, dieser letzte Satz wirkt so melancholisch zähmend auf mein Gemüt, daß ich in diesem Augenblick nicht imstande bin, die übrigen herben Wahrheiten, die den heutigen Herrn Schelling betreffen, hier mitzuteilen. Laßt uns lieber jenen ehemaligen Schelling preisen, dessen Andenken unvergeßlich blüht in den Annalen des deutschen Gedankens; denn der ehemalige Schelling repräsentiert, ebenso wie Kant und Fichte, eine der großen Phasen unserer philosophischen Revolution, die ich in diesen Blättern mit den Phasen der politischen Revolution Frankreichs verglichen habe. In der Tat, wenn man in Kant die terroristische Konvention und in Fichte das Napoleonische Kaiserreich sieht, so sieht man in Herrn Schelling die restaurierende Reaktion, welche hierauf folgte. Aber es war zunächst ein Restaurieren im besseren Sinne. Herr Schelling setzte die Natur wieder ein in ihre legitimen Rechte, er strebte nach einer Versöhnung von Geist und Natur, er wollte beide wieder vereinigen in der ewigen Weltseele. Er restaurierte jene große Naturphilosophie, die wir bei den altgriechischen Philosophen finden, die erst durch Sokrates mehr ins menschliche Gemüt selbst hineingeleitet wird und die nachher ins Ideelle verfließt. Er restaurierte jene große Naturphilosophie, die, aus der alten, pantheistischen Religion der Deutschen heimlich emporkeimend, zur Zeit des Paracelsus die schönsten Blüten verkündete, aber durch den eingeführten Cartesianismus erdrückt wurde. Ach! und am Ende restaurierte er Dinge, wodurch er auch im schlechten Sinne mit der französischen Restauration verglichen werden kann. Doch da hat ihn die öffentliche Vernunft nicht länger geduldet, er wurde schmählich herabgestoßen vom Throne des Gedankens, Hegel, sein Majordomus, nahm ihm die Krone vom Haupt und schor ihn, und der entsetzte Schelling lebte seitdem wie ein armseliges Mönchlein zu München, einer Stadt, welche ihren pfäffischen Charakter schon im Namen trägt und auf Latein Monacho monachorum heißt. Dort sah ich ihn gespenstisch herumschwanken mit seinen großen, blassen Augen und seinem niedergedrückten, abgestumpften Gesichte, ein jammervolles Bild heruntergekommener Herrlichkeit. Hegel aber ließ sich krönen zu Berlin, leider auch ein bißchen salben, und beherrschte seitdem die deutsche Philosophie.

Unsere philosophische Revolution ist beendigt. Hegel hat ihren großen Kreis geschlossen. Wir sehen seitdem nur Entwicklung und Ausbildung der naturphilosophischen Lehre. Diese ist, wie ich schon gesagt, in alle Wissenschaften eingedrungen und hat da das Außerordentlichste und Großartigste hervorgebracht. Viel Unerfreuliches, wie ich ebenfalls angedeutet, mußte zugleich ans Licht treten. Diese Erscheinungen sind so vielfältig, daß schon zu ihrer Aufzählung ein ganzes Buch nötig wäre. Hier ist die eigentlich interessante und farbenreiche Partie unserer Philosophiegeschichte. Ich bin jedoch überzeugt, daß es den Franzosen nützlicher ist, von dieser Partie gar nichts zu erfahren. Denn dergleichen Mitteilungen könnten dazu beitragen, die Köpfe in Frankreich noch mehr zu verwirren; manche Sätze der Naturphilosophie, aus ihrem Zusammenhang gerissen, könnten bei euch großes Unheil anrichten. Soviel weiß ich, wäret ihr vor vier Jahren mit der deutschen Naturphilosophie bekannt gewesen, so hättet ihr nimmermehr die Juliusrevolution machen können. Zu dieser Tat gehörte ein Konzentrieren von Gedanken und Kräften, eine edle Einseitigkeit, ein süffisanter Leichtsinn, wie dessen nur eure alte Schule gestattet. Philosophische Verkehrtheiten, womit man die Legitimität und die katholische Inkarnationslehre allenfalls vertreten konnte, hätten eure Begeisterung gedämpft, euren Mut gelähmt. Ich halte es daher für welthistorisch wichtig, daß euer großer Eklektiker, der euch damals die deutsche Philosophie lehren wollte, auch nicht das mindeste davon verstanden hat. Seine providentielle Unwissenheit war heilsam für Frankreich und für die ganze Menschheit.

Ach, die Naturphilosophie, die in manchen Regionen des Wissens, namentlich in den eigentlichen Naturwissenschaften, die herrlichsten Früchte hervorgebracht, hat in anderen Regionen das verderblichste Unkraut erzeugt. Während Oken, der genialste Denker und einer der größten Bürger Deutschlands, seine neuen Ideenwelten entdeckte und die deutsche Jugend für die Urrechte der Menschheit, für Freiheit und Gleichheit, begeisterte, ach! zu derselben Zeit dozierte Adam Müller die Stallfütterung der Völker nach naturphilosophischen Prinzipien; zu derselben Zeit predigte Herr Görres den Obskurantismus des Mittelalters, nach der naturwissenschaftlichen Ansicht, daß der Staat nur ein Baum sei und in seiner organischen Gliederung auch einen Stamm, Zweige und Blätter haben müsse, welches alles so hübsch in der Korporationshierarchie des Mittelalters zu finden sei; zu derselben Zeit proklamierte Herr Steffens das philosophische Gesetz, wonach der Bauernstand sich von dem Adelstand dadurch unterscheidet, daß der Bauer von der Natur bestimmt sei zu arbeiten, ohne zu genießen, der Adelige aber berechtigt sei zu genießen, ohne zu arbeiten; – ja, vor einigen Monaten, wie man mir sagt, hat ein Krautjunker in Westfalen, ein Hans Narr, ich glaube mit dem Zunamen Haxthausen, eine Schrift herausgegeben, worin er die königlich preußische Regierung angeht, den konsequenten Parallelismus, den die Philosophie im ganzen Weltorganismus nachweist, zu berücksichtigen und die politischen Stände strenger abzuscheiden, denn wie es in der Natur vier Elemente gebe, Feuer, Luft, Wasser und Erde, so gehe es auch vier analoge Elemente in der Gesellschaft, nämlich Adel, Geistlichkeit, Bürger und Bauern.

Wenn man solche betrübende Torheiten aus der Philosophie emporsprossen und zu schädlichster Blüte gedeihen sah; wenn man überhaupt bemerkte, daß die deutsche Jugend, versenkt in metaphysischen Abstraktionen, der nächsten Zeitinteressen vergaß und untauglich wurde für das praktische Leben: so mußten wohl die Patrioten und Freiheitsfreunde einen gerechten Unmut gegen die Philosophie empfinden, und einige gingen so weit, ihr, als einer müßigen, nutzlosen Luftfechterei, ganz den Stab zu brechen.

Wir werden nicht so töricht sein, diese Malkontenten ernsthaft zu widerlegen. Die deutsche Philosophie ist eine wichtige, das ganze Menschengeschlecht betreffende Angelegenheit, und erst die spätesten Enkel werden darüber entscheiden können ob wir dafür zu tadeln oder zu loben sind, daß wir erst unsere Philosophie und hernach unsere Revolution ausarbeiteten. Mich dünkt, ein methodisches Volk wie wir mußte mit der Reformation beginnen, konnte erst hierauf sich mit der Philosophie beschäftigen und durfte nur nach deren Vollendung zur politischen Revolution übergehen. Diese Ordnung finde ich ganz vernünftig. Die Köpfe, welche die Philosophie zum Nachdenken benutzt hat, kann die Revolution nachher zu beliebigen Zwecken abschlagen. Die Philosophie hätte aber nimmermehr die Köpfe gebrauchen können, die von der Revolution, wenn diese ihr vorherging, abgeschlagen worden wären. Laßt euch aber nicht bange sein, ihr deutschen Republikaner, die deutsche Revolution wird darum nicht milder und sanfter ausfallen, weil ihr die Kantsche Kritik, der Fichtesche Transzendentalidealismus und gar die Naturphilosophie vorausging. Durch diese Doktrinen haben sich revolutionäre Kräfte entwickelt, die nur des Tages harren, wo sie hervorbrechen und die Welt mit Entsetzen und Bewunderung erfüllen können. Es werden Kantianer zum Vorschein kommen, die auch in der Erscheinungswelt von keiner Pietät etwas wissen wollen und erbarmungslos, mit Schwert und Beil, den Boden unseres europäischen Lebens durchwühlen, um auch die letzten Wurzeln der Vergangenheit auszurotten. Es werden bewaffnete Fichteaner auf den Schauplatz treten, die in ihrem Willensfanatismus weder durch Furcht noch durch Eigennutz zu bändigen sind; denn sie leben im Geist, sie trotzen der Materie, gleich den ersten Christen, die man ebenfalls weder durch leibliche Qualen noch durch leibliche Genüsse bezwingen konnte; ja, solche Transzendentalidealisten wären bei einer gesellschaftlichen Umwälzung sogar noch unbeugsamer als die ersten Christen, da diese die irdische Marter ertrugen, um dadurch zur himmlischen Seligkeit zu gelangen, der Transzendentalidealist aber die Marter selbst für eitel Schein hält und unerreichbar ist in der Verschanzung des eigenen Gedankens. Doch noch schrecklicher als alles wären Naturphilosophen, die handelnd eingriffen in eine deutsche Revolution und sich mit dem Zerstörungswerk selbst identifizieren würden. Denn wenn die Hand des Kantianers stark und sicher zuschlägt, weil sein Herz von keiner traditionellen Ehrfurcht bewegt wird; wenn der Fichteaner mutvoll jeder Gefahr trotzt, weil sie für ihn in der Realität gar nicht existiert: so wird der Naturphilosoph dadurch furchtbar sein, daß er mit den ursprünglichen Gewalten der Natur in Verbindung tritt, daß er die dämonischen Kräfte des altgermanischen Pantheismus beschwören kann und daß in ihm jene Kampflust erwacht, die wir bei den alten Deutschen finden und die nicht kämpft, um zu zerstören noch um zu siegen, sondern bloß, um zu kämpfen. Das Christentum – und das ist sein schönstes Verdienst – hat jene brutale germanische Kampflust einigermaßen besänftigt, konnte sie jedoch nicht zerstören, und wenn einst der zähmende Talisman, das Kreuz, zerbricht, dann rasselt wieder empor die Wildheit der alten Kämpfer, die unsinnige Berserkerwut, wovon die nordischen Dichter soviel singen und sagen. Jener Talisman ist morsch, und kommen wird der Tag, wo er kläglich zusammenbricht. Die alten steinernen Götter erheben sich dann aus dem verschollenen Schutt und reiben sich den tausendjährigen Staub aus den Augen, und Thor mit dem Riesenhammer springt endlich empor und zerschlägt die gotischen Dome. Wenn ihr dann das Gepolter und Geklirre hört, hütet euch, ihr Nachbarskinder, ihr Franzosen, und mischt euch nicht in die Geschäfte, die wir zu Hause in Deutschland vollbringen. Es könnte euch schlecht bekommen. Hütet euch, das Feuer anzufachen, hütet euch, es zu löschen. Ihr könntet euch leicht an den Flammen die Finger verbrennen. Lächelt nicht über meinen Rat, den Rat eines Träumers, der euch vor Kantianern, Fichteanern und Naturphilosophen warnt. Lächelt nicht über den Phantasten, der im Reiche der Erscheinungen dieselbe Revolution erwartet, die im Gebiete des Geistes stattgefunden. Der Gedanke geht der Tat voraus, wie der Blitz dem Donner. Der deutsche Donner ist freilich auch ein Deutscher und ist nicht sehr gelenkig und kommt etwas langsam herangerollt; aber kommen wird er, und wenn ihr es einst krachen hört, wie es noch niemals in der Weltgeschichte gekracht hat, so wißt: der deutsche Donner hat endlich sein Ziel erreicht. Bei diesem Geräusche werden die Adler aus der Luft tot niederfallen, und die Löwen in der fernsten Wüste Afrikas werden die Schwänze einkneifen und sich in ihren königlichen Höhlen verkriechen. Es wird ein Stück aufgeführt werden in Deutschland, wogegen die französische Revolution nur wie eine harmlose Idylle erscheinen möchte. Jetzt ist es freilich ziemlich still: und gebärdet sich auch dort der eine oder der andere etwas lebhaft, so glaubt nur nicht, diese würden einst als wirkliche Akteure auftreten. Es sind nur die kleinen Hunde, die in der leeren Arena herumlaufen und einander anbellen und beißen, ehe die Stunde erscheint, wo dort die Schar der Gladiatoren anlangt, die auf Tod und Leben kämpfen sollen.

Und die Stunde wird kommen. Wie auf den Stufen eines Amphitheaters werden die Völker sich um Deutschland herumgruppieren, um die großen Kampfspiele zu betrachten. Ich rate euch, ihr Franzosen, verhaltet euch alsdann sehr stille, und beileibe! hütet euch zu applaudieren. Wir könnten euch leicht mißverstehen und euch, in unserer unhöflichen Art, etwas barsch zur Ruhe verweisen; denn wenn wir früherhin, in unserem servil verdrossenen Zustande, euch manchmal überwältigen konnten, so vermöchten wir es noch weit eher im Übermute des Freiheitsrausches. Ihr wißt ja selber, was man in einem solchen Zustande vermag – und ihr seid nichtg mehr in einem solchen Zustande. Nehmt euch in ahct! Ich meine es gut mit euch, und deshalb sage ich euch die bittere Wahrheit. Ihr habt von dem befreiten Deutschland mehr zu befürchten als von der ganzen Heiligen Allianz mitsamt allen Kroaten und Kosaken. Denn erstens liebt man euch nicht in Deutschland welches fast unbegreiflich ist, da ihr doch so liebenswürdig seid und euch bei eurer Anwesenheit in Deutschland soviel Mühe gegeben habt, wenigstens der bessern und schönern Hälfte des deutschen Volks zu gefallen. Und wenn diese Hälfte euch auch liebte, so ist es doch eben diejenige Hälfte, die keine Waffen trägt und deren Freundschaft euch also wenig frommt. Was man eigentlich gegen euch vorbringt, habe ich nie begreifen können. Einst, im Bierkeller zu Göttingen, äußerte ein junger Altdeutscher, daß man Rache an den Franzosen nehmen müsse für Konradin von Staufen, den sie zu Neapel geköpft. Ihr habt das gewiß längst vergessen. Wir aber vergessen nichts. Ihr seht, wenn wir mal Lust bekommen, mit euch anzubinden, so wird es uns nicht an triftigen Gründen fehlen. Jedenfalls rate ich euch daher, auf eurer Hut zu sein. Es mag in Deutschland vorgehen, was da wolle, es mag der Kronprinz von Preußen oder der Doktor Wirth zur Herrschaft gelangen, haltet euch immer gerüstet, bleibt ruhig auf eurem Posten stehen, das Gewehr im Arm. Ich meine es gut mit euch, und es hat mich schier erschreckt, als ich jüngst vernahm, eure Minister beabsichtigten, Frankreich zu entwaffnen. –

Da ihr, trotz eurer jetzigen Romantik, geborne Klassiker seid, so kennt ihr den Olymp. Unter den nackten Göttern und Göttinnen, die sich dort, bei Nektar und Ambrosia, erlustigen, seht ihr eine Göttin, die, obgleich umgeben von solcher Freude und Kurzweil, dennoch immer einen Panzer trägt und den Helm auf dem Kopf und den Speer in der Hand behält.

Es ist die Göttin der Weisheit.

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