Artikel VIII

Paris, 27. Mai 1832

Casimir Périer hat Frankreich erniedrigt, um die Börsenkurse zu heben. Er wollte die Freiheit von Europa verkaufen um den Preis eines kurzen schmählichen Friedens für Frankreich. Er hat den Sbirren der Knechtschaft und dem Schlechtesten in uns selber, dem Eigennutze, Vorschub geleistet, so daß Tausende der edelsten Menschen zugrunde gingen durch Kummer und Elend und Schimpf und Selbstentwürdigung. Er hat die Toten in den Juliusgräbern lächerlich gemacht, und er hat den Lebenden so entsetzlich das Leben verleidet, daß sie selbst diese Toten beneiden mußten. Er hat das heilige Feuer gelöscht, die Tempel geschlossen, die Götter gekränkt, die Herzen gebrochen. Und dennoch würde ich dafür stimmen, daß Casimir Périer beigesetzt werde in das Pantheon, in das große Haus der Ehre, welches die goldne Aufschrift führt: »Den großen Männern das dankbare Vaterland.« Denn Casimir Périer war ein großer Mann; er besaß seltene Talente und seltene Willenskraft, und was er tat, tat er in gutem Glauben, daß es dem Vaterlande nutze, und er tat es mit Aufopferung seiner Ruhe, seines Glücks und seines Lebens. Das ist es eben, nicht für den Nutzen und den Erfolg ihrer Taten muß das Vaterland seinen großen Männern danken, sondern für den Willen und die Aufopferung, die sie dabei bekundet. Selbst wenn sie gar nichts gewollt und getan hätten für das Vaterland, müßte dieses seine großen Männer nach ihrem Tode ehren; denn sie haben es durch ihre Größe verherrlicht. Wie die Sterne eine Zierde des Himmels sind, so zieren große Menschen ihre Heimat, ja die ganze Erde. Die Herzen großer Menschen sind aber die Sterne der Erde, und ich glaube, wenn man von oben herabsähe auf unsern Planeten, würden uns diese Herzen wie klare Lichter, gleich den Sternen des Himmels, entgegenstrahlen. Vielleicht von so hohem Standpunkte würde man erkennen, wieviel herrliche Sterne auf dieser Erde zerstreut sind, wie viele derselben in obskuren Wüsten unbekannt und einsam leuchten, wie schöngestirnt unser deutsches Vaterland, wie glänzend, wie strahlend Frankreich ist, diese Milchstraße großer Menschenherzen!

Frankreich hat in der letzten Zeit viele Sterne erster Größe verloren. Viele Helden aus der Revolutions- und Kaiserzeit hat die Cholera hingerafft. Viele bedeutende Staatsmänner, worunter Martignac der ausgezeichnetste, sind durch andere Krankheiten gestorben. Die Freunde der Wissenschaft betrauerten besonders den Tod Champollions, der so viele ägyptische Könige erfunden hat, und den Tod Cuviers, der so viele andere große Tiere entdeckt, die gar nicht mehr existieren, und unserer alten Mutter Erde aufs ungalanteste nachgewiesen hat, daß sie viele tausend Jahre älter ist, als wofür sie sich bisher ausgegeben. »Läh tähte sanne won!« (Les têtes s’en vont) quäkte Herr Sebastiani, als er den Tod Pérsiers erfuhr, und auch er werde bald sterben, quäkte er hinzu.

Der Tod Pérsiers hat hier geringere Sensation erregt, als zu erwarten stand. Nicht einmal auf der Börse. Ich konnte nicht umhin, an dem Tage, wo Périer gestorben, nach der Place de la Bourse zu gehen. Da stand der große Marmortempel, wo Périer wie ein Gott und sein Wort wie ein Orakel verehrt worden, und ich fühlte an die Säulen, die hundert kolossalen Säulen, die draußen ragen, und sie waren alle unbewegt und kalt, wie die Herzen jener Menschen, für welche Périer soviel getan hat. O der trübseligen Zwerge! Nie wird wieder ein Riese sich für sie aufopfern und, um ihre Zwerginteressen zu fördern, seine großen Brüder verlassen. Diese Kleinen mögen immerhin spotten über die Riesen, die, arm und ungeschlacht, auf den Bergen sitzen, während sie, die Kleinen, begünstigt durch ihre Statur, in die engen Gruben der Berge hineinkriechen und dort die edlen Metalle hervorklopfen oder den noch kleineren Gnomen, den Metallariis, abgewinnen können. Steigt nur immer hinab in eure Gruben, haltet euch nur fest an der Leiter, und kümmert euch nicht darum, daß die Sprossen immer schmutziger werden, je tiefer ihr hinabsteigt zu den kostbarsten Stollen des Reichtums!

Ich ärgere mich jedesmal, wenn ich die Börse betrete, das schöne Marmorhaus, erbaut im edelsten griechischen Stile und geweiht dem nichtswürdigsten Geschäfte, dem Staatspapierenschacher. Es ist das schönste Gebäude von Paris; Napoleon hat es bauen lassen. In demselben Stile und Maßstabe ließ er einen Tempel des Ruhms bauen. Ach, der Tempel des Ruhms ist nicht fertig geworden; die Bourbonen verwandelten ihn in eine Kirche und weihten diese der reuigen Magdalene; aber die Börse steht fertig in ihrem vollendetsten Glanze, und ihrem Einflusse ist es wohl zuzuschreiben, daß ihre edlere Nebenbuhlerin, der Tempel des Ruhms, noch immer unvollendet und noch immer, in schmählichster Verhöhnung, der reuigen Magdalene geweiht bleibt. Hier, in dem ungeheuren Raume der hochgewölbten Börsenhalle, hier ist es, wo der Staatspapierenschacher, mit allen seinen grellen Gestalten und Mißtönen, wogend und brausend sich bewegt, wie ein Meer des Eigennutzes, wo aus den wüsten Menschenwellen die großen Bankiers gleich Haifischen hervorschnappen, wo ein Ungetüm das andere verschlingt und wo oben auf der Galerie, gleich lauernden Raubvögeln auf einer Meerklippe, sogar spekulierende Damen bemerkbar sind. Hier ist es jedoch, wo die Interessen wohnen, die in dieser Zeit über Krieg und Frieden entscheiden.

Daher ist die Börse auch für uns Publizisten so wichtig. Es ist aber nicht leicht, die Natur jener Interessen, nach jedem einwirkenden Ereignisse, genau zu begreifen und die Folgen danach würdigen zu können. Der Kurs der Staatspapiere und des Diskontos ist freilich ein politischer Thermometer, aber man würde sich irren, wenn man glaubte, dieser Thermometer zeige den Siegesgrad der einen oder der anderen großen Fragen, die jetzt die Menschheit bewegen. Das Steigen und Fallen der Kurse beweist nicht das Steigen oder Fallen der liberalen oder servilen Partei, sondern die größere oder geringere Hoffnung, die man hegt für die Pazifikation Europas, für die Erhaltung des Bestehenden oder vielmehr für die Sicherung der Verhältnisse, wovon die Auszahlung der Staatsschuldzinsen abhängt.

In dieser beschränkten Auffassung, bei allen möglichen Vorkommenheiten, sind die Börsenspekulanten bewunderungswürdig. Ungestört von allen geistigen Aufregungen, haben sie ihren Sinn allein auf alles Faktische gewendet, und fast mit tierischem Gefühle, wie Wetterfrösche, erkennen sie, ob irgendein Ereignis, das scheinbar beruhigend aussieht, nicht eine Quelle künftiger Stürme sein wird oder ob ein großes Mißgeschick nicht am Ende dazu diene, die Ruhe zu konsolidieren. Bei dem Falle Warschaus frug man nicht: Wieviel Unheil wird für die Menschheit dadurch entstehen?, sondern: Wird der Sieg des Kantschus die Unruhestifter, d.h. die Freunde der Freiheit, entmutigen? Durch die Bejahung dieser Frage stieg der Kurs. Erhielte man heute an der Börse plötzlich die telegraphische Nachricht, daß Herr Talleyrand an eine Vergeltung nach dem Tode glaube, so würden die französischen Staatspapiere gleich um zehn Prozent fallen; denn man könnte fürchten, er werde sich mit Gott zu versöhnen suchen und dem Ludwig Philipp und dem ganzen Justemilieu entsagen und sie sakrifizieren und die schöne Ruhe, deren wir jetzt genießen, aufs Spiel setzen. Weder Sein noch Nichtsein, sondern Ruhe oder Unruhe ist die große Frage der Börse. Danach richtet sich auch der Diskonto. In unruhiger Zeit ist das Geld ängstlich, zieht sich in die Kisten der Reichen, wie in eine Festung, zurück, hält sich eingezogen; der Diskonto steigt. In ruhiger Zeit wird das Geld wieder sorglos, bietet sich preis, zeigt sich öffentlich, ist sehr herablassend; der Diskonto ist niedrig. So ein alter Louisdor hat mehr Verstand als ein Mensch und weiß am besten, ob es Krieg oder Frieden gibt. Vielleicht durch den guten Umgang mit Geld haben die Leute der Börse ebenfalls eine Art von politischem Instinkte bekommen, und während in der letzten Zeit die tiefsten Denker nur Krieg erwarteten, blieben sie ganz ruhig und glaubten an die Erhaltung des Friedens. Frug man einen derselben nach seinen Gründen, so ließ er sich, wie Sir John, keine Gründe abzwingen, sondern behauptete immer: »Das ist meine Idee.«

In dieser Idee ist die Börse seitdem sehr erstarkt, und nicht einmal der Tod Pérsiers konnte sie auf eine andere Idee bringen. Freilich, sie war längst auf diesen Fall vorbereitet, und zudem bildet man sich ein, sein Friedenssystem überlebe ihn und stehe fest durch den Willen des Königs. Aber diese gänzliche Indifferenz bei der Todesnachricht Pérsiers hat mich widerwärtig berührt. Anstandshalber hätte die Börse doch wenigstens durch eine kleine Baisse ihre Betrübnis an den Tag legen müssen. Aber nein, nicht einmal ein achtel Prozent, nicht einmal ein achtel Trauerprozent sind die Staatspapiere gefallen bei dem Tode Casimir Pérsers, des großen Bankierministers!

Bei Pérsiers Begräbnis zeigte sich wie bei seinem Tode die kühlste Indifferenz. Es war ein Schauspiel wie jedes andere; das Wetter war schön, und Hunderttausende von Menschen waren auf den Beinen, um den Leichenzug zu sehen, der sich lang und gleichgültig, über die Boulevards nach Père-Lachaise dahinzog. Auf vielen Gesichtern ein Lächeln, auf andern die laueste Werkeltagsstimmung, auf den meisten nur Ennui. Unzählig viel Militär, wie es sich kaum ziemte für den Friedensheld des Entwaffnungssystems. Viel Nationalgarden und Gendarmen. Dabei auch die Kanoniere mit ihren Kanonen, welche letztere mit Recht trauern konnten, denn sie hatten gute Tage unter Périer, gleichsam eine Sinekur. Das Volk betrachtete alles mit einer seltsamen Apathie; es zeigte weder Haß noch Liebe; der Feind der Begeisterung wurde begraben, und Gleichgültigkeit bildete den Leichenzug. Die einzigen wahrhaft Betrübten unter den Leidtragenden waren die beiden Söhne des Verstorbenen, die in langen Trauermänteln und mit blassen Gesichtern hinter dem Leichenwagen gingen. Es sind zwei junge Menschen, etwa in den Zwanzigen, untersetzt, etwas ründlich, von einem Äußern, das vielmehr Wohlhabenheit als Geist verrät; ich sah sie diesen Winter auf allen Bällen, lustig und frischbäckig. Auf dem Sarge lagen dreifarbige Fahnen, mit schwarzem Krepp umflort. Die dreifarbige Fahne hätte just nicht zu trauern brauchen bei Casimir Pérsiers Tod. Wie ein schweigender Vorwurf lag sie traurig auf seinem Sarg, die Fahne der Freiheit, die durch seine Schuld so viele Beleidigungen erlitten. Wie der Anblick dieser Fahne, so rührte mich auch der Anblick des alten Lafayette bei dem Leichenzuge Pérsiers, des abtrünnigen Mannes, der doch einst so glorreich mit ihm gekämpft unter jener Fahne.

Meine Nachbarn, die dem Zuge zuschauten, sprachen von dem Leichenbegängnisse Benjamin Constants. Da ich erst ein Jahr in Paris bin, so kenne ich die Betrübnis, die damals das Volk an den Tag legte, nur aus der Beschreibung. Ich kann mir jedoch von solchem Volksschmerz eine Vorstellung machen, da ich kurz nachher dem Begräbnisse des ehemaligen Bischofs von Blois, des Konventionel Grégoire, zugesehen. Da waren keine hohen Beamten, keine Infanterie und Kavallerie, keine leeren Trauerwagen voll Hoflakaien, keine Kanonen, keine Gesandten mit bunten Livreen, kein offizieller Pomp. Aber das Volk weinte, Schmerz lag auf allen Gesichtern, und obgleich ein starker Regen wie mit Eimern vom Himmel herabgoß, waren doch alle Häupter unbedeckt, und das Volk spannte sich vor den Leichenwagen und zog ihn eigenhändig nach dem Montparnasse. Grégoire, ein wahrer Priester, stritt sein ganzes Leben hindurch für die Freiheit und Gleichheit der Menschen jeder Farbe und jedes Bekenntnisses; er ward immer gehaßt und verfolgt von den Feinden des Volks, und das Volk liebte ihn und weinte, als er starb.

Zwischen zwei bis drei Uhr ging der Leichenzug Périers über die Boulevards; als ich um halb acht von Tische kam, begegnete ich den Soldaten und Wagen, die vom Kirchhofe zurückkehrten. Die Wagen rollten jetzt rasch und heiter; die Trauerflöre waren von der dreifarbigen Fahne abgenommen; diese und die Harnische der Kürassiere glänzten im lustigsten Sonnenschein; die roten Trompeter, auf weißen Rossen dahintrabend, bliesen lustig die Marseillaise; das Volk, bunt geputzt und lachend, tänzelte nach den Theatern; der Himmel, der lange umwölkt gewesen, war jetzt so lieblich blau, so sonnenduftig; die Bäume glänzten so grünvergnügt; die Cholera und Casimir Périer waren vergessen, und es war Frühling.

Nun ist der Leib begraben, aber das System lebt noch. Oder ist es wirklich wahr, daß jenes System nicht eine Schöpfung Pérsiers ist, sondern des Königs? Einige Philippisten haben diese Meinung zuerst geäußert, damit man der selbständigen Kraft des Königs vertraue; damit man nicht wähne, er stehe ratlos an dem Grabe seines Beschützers; damit man an der Aufrechthaltung des bisherigen Systems nicht zweifle. Viele Feinde des Königs bemächtigen sich jetzt dieser Meinung; es kommt ihnen ganz erwünscht, daß man jenes unpopuläre System früher als den 13. März datiert und ihm einen allerhöchsten Stifter zuschreibt, dem dadurch die allerhöchste Verantwortlichkeit erwächst. Freunde und Feinde vereinigen sich hier manchmal, um die Wahrheit zu verstümmeln. Entweder schneiden sie ihr die Beine ab oder ziehen sie so in die Länge, daß sie so dünn wird wie eine Lüge. Der Parteigeist ist ein Prokrustes, der die Wahrheit schlecht bettet. Ich glaube nicht daß Périer bei dem sogenannten Systeme vom 13. März nur seinen ehrlichen Namen hergeopfert und daß Ludwig Philipp der eigentliche Vater sei. Er leugnet vielleicht die Vaterschaft bei diesem bedenklichen Kinde, ebenso wie jener Bauerbursche, der naiv hinzusetzte: »Mais pour dire la vérité, je n’y ai pas nui.« Alle Beleidigungen, die Frankreich bisher erdulden mußte, kommen jetzt auf Rechnung des Königs. Der Fußtritt, den der kranke Löwe noch zuletzt in Rom, von der Eselin des Herrn, erhalten hat, erbittert die Franzosen aufs unleidlichste. Man tut ihm aber unrecht; Ludwig Philipp läßt ungern eine Beleidigung hingehen und möchte sich gerne schlagen, nur nicht mit jedem; z.B. er würde sich nicht gern mit Rußland schlagen, aber sehr gern mit den Preußen, mit denen er sich schon bei Valmy geschlagen und die er daher nicht sehr zu fürchten scheint. Man will nämlich nie Furcht an ihm bemerkt haben, wenn von Preußen und dessen bedrohlicher Rittertümlichkeit die Rede ist. Ludwig Philipp Orleans, der Enkel des heiligen Ludwig, der Sprößling des ältesten Königstammes, der größte Edelmann der Christenheit, pflegt dann jovial bürgerlich zu scherzen, wie es doch betrübend sei, daß die uckermärk’sche Kamarilla so gar vornehm und adelstolz auf ihn, den armen Bürgerkönig, herabsehe.

Ich kann nicht umhin, hier zu erwähnen, daß man niemals an Ludwig Philipp den Grandseigneur merkt und daß in der Tat das französische Volk keinen bürgerlicheren Mann zum Könige wählen konnte. Ebensowenig liegt ihm daran, ein legitimer König zu sein, und, wie man sagt, die Guizotsche Erfindung der Quasilegitimität war gar nicht nach seinem Geschmack. Er beneidet Heinrich V. nicht im mindesten ob des Vorzugs der Legitimität und ist durchaus nicht geneigt, deshalb mit ihm zu unterhandeln oder gar ihm Geld dafür zu bieten; aber Ludwig Philipp ist nun einmal der Meinung, daß er das Bürgerkönigtum erfunden habe, er hat ein Patent auf diese Erfindung bekommen; er verdient damit jährlich achtzehn Millionen, eine Summe, die das Einkommen der Pariser Spielhäuser fast übertrifft, und er möchte solch einträgliches Geschäft als ein Monopol für sich und seine Nachkommen behalten. Schon im vorigen Artikel habe ich angedeutet, wie die Erhaltung jenes Königmonopols dem Ludwig Philipp über alles am Herzen liegt und wie, in Berücksichtigung solcher menschlichen Denkungsweise, seine Usurpation der Präsidentur im Konseil zu entschuldigen ist. Noch immer hat er sich, der Tat nach, nicht in die gebührenden Grenzen seiner konstitutionellen Befugnis zurückgezogen, obgleich er, der Form nach, nicht mehr zu präsidieren wagt. Die eigentliche Streitfrage ist noch immer nicht geschlichtet und wird sich wohl bis zur Bildung eines neuen Ministeriums hinzerren. Was aber die Schwäche der Regierung am meisten offenbart, das ist eben, daß nicht das innere Landesbedürfnis, sondern ausländische Ereignisse die Erhaltung, Erneuerung oder Umgestaltung des französischen Ministeriums bedingen. Solche Abhängigkeit von fremdländischen Interessen zeigte sich betrübsam und offenkundig genug während der letzten Vorfallenheiten in England. Jedes Gerücht, das uns in dieser letzten Zeit von dort zuwehte, brachte hier eine neue Ministerkombination in Vorschlag und Beratung. Man dachte viel an Odilon-Barrot, und man war auf gutem Wege, sogar an Mauguin zu denken. Als man das britische Staatssteuer in Wellingtons Händen sah, verlor man ganz den Kopf, und man war schon im Begriff, des militärischen Gleichgewichts halber, den Marschall Soult zum ersten Minister zu machen.

Die Freiheit von England und Frankreich wäre alsdann unter das Kommando zweier alten Soldaten gekommen, die, allem selbständigen Bürgertume fremd oder gar feindlich, nie etwas andres gelernt haben, als sklavisch zu gehorchen oder despotisch zu befehlen. Soult und Wellington sind ihrem Charakter nach bloße Condottieri, nur daß ersterer in einer edlern Schule das Waffenhandwerk gelernt hat und ebensosehr nach Ruhm wie nach Sold dürstet. Nichts Geringeres als eine Krone sollte ihm einst als Beute zufallen, und, wie man mir versichert, Soult war einige Tage lang König von Portugal unter dem Namen Nicolo I., König der Algarven. Die Laune seines strengen Oberherrn erlaubte ihm nicht, diesen königlichen Spaß länger zu treiben. Aber er kann es gewiß nicht vergessen: er hat einst mit vollen Ohren den süßen Majestätstitel eingesogen, mit berauschten Augen hat er die Menschen, in untertänigster Haltung, vor sich knien sehen, auf seinen gnädigen Händen fühlt er noch die brennenden portugiesischen Lippen – und ihm sollte die Freiheit Frankreichs anvertraut werden! Über den andern, über Mylord Wellington, brauche ich wohl nichts zu sagen. Die letzten Begebenheiten haben bewiesen, daß ich in meinen frühern Schriften noch immer zu milde von ihm gesprochen. Man hat, verblendet durch seine täppischen Siege, nie geglaubt, daß er eigentlich einfältig sei; aber auch das haben die jüngsten Ereignisse bewiesen. Er ist dumm wie alle Menschen, die kein Herz haben. Denn die Gedanken kommen nicht aus dem Kopfe, sondern aus dem Herzen. Lobt ihn immerhin, feile Hofpoeten und reimende Schmeichler des toryschen Hochmuts! Besinge ihn immerhin, kaledonischer Barde, bankerottes Gespenst mit der bleiernen Harfe, deren Saiten von Spinnweb! Besingt ihn, fromme Laureaten, bezahlte Heldensänger, und zumal besingt seine letzten Heldentaten! Nie hat ein Sterblicher vor aller Welt Augen sich in so kläglicher Blöße gezeigt. Fast einstimmig hat ganz England, eine Jury von zwanzig Millionen freier Bürger, sein Schuldig ausgesprochen über den armen Sünder, der, wie ein gemeiner Dieb, nächtlicherweile und mit Hülfe listiger Hehlerinnen die Kronjuwelen des souveränen Volks, seine Freiheit und seine Rechte, einstecken wollte. Leset den »Morning Chronicle«, die »Times« und sogar jene Sprecher, die sonst so gemäßigt sind, und staunt ob der scharfrichterlichen Worte, womit sie den Sieger von Waterloo gestäupt und gebrandmarkt. Sein Name ist ein Schimpf geworden. Durch die feigsten Höflingskünste soll es gelungen sein, ihm auf einige Tage die Gewalt in Händen zu spielen, die er doch nicht auszuüben wagte. Leigh Hunt vergleicht ihn deshalb mit einem greisen Lüstling, der ein Mädchen verführen wollte, welches, in solcher Bedrängnis, eine Freundin um Rat frug und zur Antwort erhielt: »Laß ihn nur gewähren, und er wird außer der Sünde seines bösen Willens auch noch die Schande der Ohnmacht auf sich laden.«

Ich habe immer diesen Mann gehaßt, aber ich dachte nie, daß er so verächtlich sei. Ich habe überhaupt von denen, die ich hasse, immer größer gedacht, als sie es verdienten. Und ich gestehe, daß ich den Tories von England mehr Mut und Kraft und großsinnige Aufopferung zutraute, als sie jetzt, wo es not tat, bewiesen haben. Ja, ich habe mich geirrt in diesem hohen Adel von England, ich glaubte, sie würden, wie stolze Römer, die Äcker, worauf der Feind kampiert, nicht geringeren Preises wie sonst verkaufen; sie würden auf ihren kurulischen Stühlen die Feinde erwarten – nein! ein panischer Schrecken ergriff sie, als sie sahen, daß John Bull etwas ernsthaft sich gebärdete, und die Äcker mitsamt den rotten boroughs werden jetzt wohlfeiler ausgeboten, und die Zahl der kurulischen Stühle wird vermehrt, damit auch die Feinde gefälligst Platz nehmen. Die Tories vertrauen nicht mehr ihrer eigenen Kraft; sie glauben nicht mehr an sich selbst – ihre Macht ist gebrochen. Freilich, die Whigs sind ebenfalls Aristokraten, Lord Grey ist ebenso adelsüchtig wie Lord Wellington; aber es wird der englischen Aristokratie wie der französischen ergehen: der eine Arm schneidet den andern ab.

Es ist unbegreiflich, daß die Tories, auf einen nächtlichen Streich ihrer Königin rechnend, so sehr erschraken, als dieser gelang und das Volk sich überall mit lautem Protest dagegen erhob. Dies war ja vorauszusehen, wenn man den Charakter der Engländer und ihre gesetzlichen Widerstandsmittel in Anschlag brachte. Das Urteil über die Reformbill stand fest bei jedem im Volke. Alles Nachdenken darüber war ein Faktum geworden. Überhaupt haben die Engländer, wo es Handeln gilt, den Vorteil, daß sie, als freie Menschen immer befugt, sich frei auszusprechen, über jede Frage ein Urteil in Bereitschaft haben. Sie urteilen gleichsam mehr, als sie denken. Wir Deutsche hingegen, wir denken immer, vor lauter Denken kommen wir zu keinem Urteil; auch ist es nicht immer ratsam, sich auszusprechen; den einen hält die Furcht vor dem Mißfallen des Herrn Polizeidirektors, den andern die Bescheidenheit oder gar die Blödigkeit davon zurück, ein Urteil zu fällen; viele deutsche Denker sind ins Grab gestiegen, ohne über irgendeine große Frage ein eigenes Urteil ausgesprochen zu haben. Die Engländer sind hingegen bestimmt, praktisch, alles Geistige verfestet sich bei ihnen, so daß ihre Gedanken, ihr Leben und sie selbst eine einzige Tatsache werden, deren Rechte unabweisbar. Ja, sie sind »brutal wie eine Tatsache« und widerstehen materiell. Ein Deutscher mit seinen Gedanken, seinen Ideen, die weich wie das Gehirn, woraus sie hervorgegangen, ist gleichsam selbst nur eine Idee, und wenn diese der Regierung mißfällt, so schickt man sie auf die Festung. So saßen sechzig Ideen in Köpenick eingesperrt, und niemand vermißte sie; die Bierbrauer brauten ihr Bier nach wie vor; die Almanachspressen druckten ihre Kunstnovellen nach wie vor. Zu jener tatsächlichen Widerstandsnatur der Engländer, jenem unbeugsamen Eigensinn bei abgeurteilten Fragen, kommt noch die gesetzliche Sicherheit, womit sie handeln können. Wir vermögen uns keinen Begriff davon zu machen, wie weit die englische Opposition, die Gegnerin der Regierung innerhalb und außerhalb des Parlaments, auf legalem Wege vorwärtsschreiten darf. Die Tage von Wilkes begreift man erst, wenn man England selbst gesehen hat. Die Reisenden, die uns die englische Freiheit schildern wollen, geben uns in dieser Absicht eine Aufzählung von Gesetzen. Aber die Gesetze sind nicht die Freiheit selbst, sondern nur die Grenzen derselben. Man hat auf dem Kontinente keinen Begriff davon, wieviel intensive Freiheit zuweilen in jenen Grenzen zusammengedrängt ist, und man hat noch viel weniger einen Begriff von der Faulheit und Schläfrigkeit der Grenzwächter. Nur wo sie Schutz geben sollen gegen Willkür der Gewalthaber, sind jene Grenzen fest und wachsam gehütet. Wenn sie überschritten werden von den Gewalthabern, dann steht ganz England auf, wie ein einziger Mann, und die Willkür wird zurückgetrieben. Ja, diese Leute warten nicht einmal, bis die Freiheit verletzt worden, sondern wo sie nur im geringsten bedroht ist, erheben sie sich gewaltig, mit Worten und Flinten. Die Franzosen des Julius sind nicht früher aufgestanden, als bis die ersten Keulenschläge der Willkür, die Ordonnanzen, ihnen aufs Haupt niederfielen. Die Engländer dieses Maimonds haben nicht den ersten Schlag abgewartet; es war ihnen schon genug, daß dem berühmten Scharfrichter, der schon in andern Ländern die Freiheit hingerichtet, das Schwert in Händen gegeben worden.

Es sind wunderliche Käuze, diese Engländer. Ich kann sie nicht leiden. Sie sind erstens langweilig, und dann sind sie ungesellig, eigensüchtig, sie quäken wie die Frösche, sie sind geborne Feinde aller guten Musik, sie gehen in die Kirche mit vergoldeten Gebetbüchern, und sie verachten uns Deutsche, weil wir Sauerkraut essen. Aber als es der englischen Aristokratie gelang, »das deutsche Weib« (the nasty German frow) durch die Hofbastardschaft in ihr Interesse zu ziehen; als König Wilhelm, der noch des Abends an Lord Grey versprach, soviel neue Pairs zu ernennen, als zum Durchsetzen der Reformbill nötig sei, umgestimmt durch die Königin der Nacht, des andern Morgens sein Wort brach; als Wellington und seine Tories mit ihren libertiziden Händen die Staatsgewalt ergriffen: da waren jene Engländer plötzlich gar nicht mehr langweilig, sondern sehr interessant; sie waren gar nicht mehr ungesellig, sondern sie vereinigten sich hunderttausendweis; sie wurden sehr gemeinsinnig; ihre Worte waren gar nicht mehr so quäkend, sondern voll des kühnsten Wohllauts, sie sprachen Dinge, die hinreißender klangen als die Melodien von Rossini und Meyerbeer, und sie sprachen gar nicht gebetbücherlich fromm von den Priestern der Kirche sondern sie berieten sich ganz freigeistig, »ob sie nicht die Bischöfe zum Henker jagen und König Wilhelm mitsamt seiner Sauerkrautsippschaft nach Hannover zurückschicken sollten«.

Ich habe, als ich früher in England war, über vieles gelacht, aber am herzlichsten über den Lord Mayor, den eigentlichen Bürgermeister des Weichbilds von London der, als eine Ruine des mittelalterlichen Kommunewesens, sich in all seiner Perückenmajestät und breiten Zunftwürde erhalten hat. Ich sah ihn in der Gesellschaft seiner Aldermänner; das sind die gravitätischen Vorstände der Bürgerschaft, Gevatter Schneider und Handschuhmacher, meistens dicke Krämer, rote Beefsteakgesichter, lebendige Porterkrüge, aber nüchtern und sehr reich durch Fleiß und Sparsamkeit, so daß viele darunter, wie man mir versichert, über eine Million Pfund Sterling in der Englischen Bank liegen haben. Die Englische Bank ist ein großes Gebäude in Thread-needle-Street; und würde in England eine Revolution ausbrechen, so kann die Bank in die größte Gefahr geraten, und die reichen Bürger von London könnten ihr Vermögen verlieren und in einer Stunde zu Bettlern werden. Nichtsdestoweniger, als König Wilhelm sein Wort brach und die Freiheit von England gefährdet stand, da hat der Lord Mayor von London seine große Perücke aufgesetzt, und mit seinen dicken Aldermännern machte er sich auf den Weg, und sie sahen dabei so sichermütig, so amtsruhig aus, als gingen sie zu einem feierlichen Gastmahl in Guildhall; sie gingen aber nach dem Hause der Gemeinen und protestierten dort aufs entschlossenste gegen das neue Regiment und wiedersagten dem König, im Fall er es nicht widerriefe, und wollten lieber durch eine Revolution Leib und Gut aufs Spiel setzen, als den Untergang der englischen Freiheit gestatten. Es sind wunderliche Käuze, diese Engländer!

Ich werde eines Mannes, den ich auf der linken Seite des Sprechers im englischen Unterhause sitzen sah, nie vergessen; denn nie hat mir ein Mensch mehr als dieser mißfallen. Er sitzt dort noch immer. Es ist eine untersetzte, stämmige Figur mit einem großen, viereckigen Kopfe, der mit unangenehm aufgesträubten rötlichen Haaren bedeckt ist. Das über und über gerötete, breitbäckige Gesicht ist ordinär, regelmäßig unedel; nüchterne, wohlfeile Augen; karg zugemessene Nase; eine große Strecke von da bis zum Munde, und dieser kann keine drei Worte sprechen, ohne daß eine Zahl dazwischenläuft oder wenigstens von Geld die Rede ist. Es liegt in seinem ganzen Wesen etwas Knickrichtes, Filziges, Schäbiges; kurz, es ist der echte Sohn Schottlands, Herr Joseph Hume. Man sollte diese Gestalt vor jedem Rechenbuche in Kupfer stechen. Er gehörte immer zur Opposition; die englischen Minister haben immer besondere Angst vor ihm, wenn Geldsummen besprochen werden. Sogar als Canning Minister wurde, blieb er auf der Oppositionsbank sitzen, und wenn Canning in seinen Reden eine Zahl zu nennen hatte, frug er jedesmal in leisem Tone den neben ihm sitzenden Huskisson »How much?«, und wenn dieser ihm die Zahl souffliert hatte, sprach er sie laut aus, indem er fast lächelnd Joseph Hume dabei ansah; nie hat mir ein Mensch mehr mißfallen als dieser. Als aber König Wilhelm sein Wort brach, da erhob sich Joseph Hume hoch und heldenmütig wie ein Gott der Freiheit, und er sprach Worte, die so gewaltig und so erhaben läuteten wie die Glocke von Sankt Paul, und es war freilich wieder von Geld die Rede, und er erklärte, »daß man keine Steuern bezahlen solle«, und das Parlament stimmte ein in den Antrag seines großen Bürgers.

Das war es, das entschied; die gesetzliche Verweigerung der Abgaben schreckte die Feinde der Freiheit. Sie wagten nicht den Kampf mit einem einigen Volke, das Leib und Gut aufs Spiel setzte. Sie hatten freilich noch immer ihre Soldaten und ihre Guineen. Aber man traute nicht mehr den roten Knechten, obgleich sie bisher dem Wellingtonschen Stocke so prügeltreu gehorcht. Man vertraute nicht mehr der Ergebenheit erkaufter Wortführer; denn selbst Englands Nobility merkt jetzt, »daß nicht alles in der Welt feil ist und daß man auch am Ende nicht Geld genug hat, alles zu bezahlen«. Die Tories gaben nach. Es war in der Tat das Feigste, aber auch das Klügste. Wie kam es aber, daß sie das einsahen? Haben sie etwa unter den Steinen, womit man ihnen die Fenster einwarf, zufällig den Stein der Weisen gefunden?

Artikel IX

Paris, 16. Junius 1832

John Bull verlangt jetzt eine wohlfeile Regierung und eine wohlfeile Religion (cheap government, cheap religion) und will nicht mehr alle Früchte seiner Arbeit hergeben, damit die ganze Sippschaft jener Herren, die seine Staatsinteressen verwalten oder ihm die christliche Demut predigen, im stolzesten Überfluß schwelgt. Er hat vor ihrer Macht nicht mehr soviel Ehrfurcht wie sonst, und auch John Bull hat gemerkt: La force des grands n’est que dans la tête des petits. Der Zauber ist gebrochen, seitdem die englische Nobility ihre eigene Schwäche offenbart hat. Man fürchtet sie nicht mehr, man sieht ein, sie besteht aus schwachen Menschen wie wir andere. Als der erste Spanier fiel und die Mexikaner merkten, daß die weißen Götter, die sie mit Blitz und Donner bewaffnet sahen, ebenfalls sterblich seien, wäre diesen der Kampf schier schlecht bekommen, hätten die Feuergewehre nicht den Ausschlag gegeben. Unsere Feinde aber haben nicht diesen Vorteil; Berthold Schwarz hat das Pulver für uns alle erfunden. Vergebens scherzt die Klerisei: Gebt dem Cäsar, was des Cäsars ist. Unsere Antwort ist: Während achtzehn Jahrhunderten haben wir dem Cäsar immer viel zuviel gegeben; was übriggeblieben, das ist jetzt für uns. –

Seit die Reformbill zum Gesetze erhoben ist, sind die Aristokraten plötzlich so großmütig geworden, daß sie behaupten, nicht bloß wer zehn Pfund Sterling Steuer bezahle, sondern jeder Engländer, sogar der ärmste, habe das Recht, bei der Wahl eines Parlamentsdeputierten seine Stimme zu geben. Sie möchten lieber abhängig werden von dem niedrigsten Bettler- und Lumpengesindel als von jenem wohlhabenden Mittelstand, der nicht so leicht zu bestechen ist und der für sie auch keine so tiefe Sympathie fühlt wie der Pöbel. Letzterer ist jenen Hochgeborenen wenigstens wahlverwandt; sie haben beide, der Adel und der Pöbel, den größten Abscheu vor gewerbfleißiger Tätigkeit; sie streben vielmehr nach Eroberung des fremden Eigentums oder nach Geschenken und Trinkgeldern für gelegentliche Lohndienerei; Schuldenmachen ist durchaus nicht unter ihrer Würde; der Bettler und der Lord verachten die bürgerliche Ehre; sie haben eine gleiche Unverschämtheit, wenn sie hungrig sind, und sie stimmen ganz überein in ihrem Hasse gegen den wohlhabenden Mittelstand. Die Fabel erzählt: Die obersten Sprossen einer Leiter sprachen einst hochmütig zu den untersten: »Glaubt nicht, daß ihr uns gleich seid, ihr steckt unten im Kote, während wir oben frei emporragen, die Hierarchie der Sprossen ist von der Natur eingeführt, sie ist von der Zeit geheiligt, sie ist legitim«; ein Philosoph aber, welcher vorüberging und diese hochadelige Sprache hörte, lächelte und drehte die Leiter herum. Sehr oft geschieht dieses im Leben, und dann zeigt sich, daß die hohen und die niedrigen Sprossen der gesellschaftlichen Leiter in derselben Lage eine gleiche Gesinnung beurkunden. Die vornehmen Emigranten, die im Auslande in Misere gerieten, wurden ganz gemeine Bettler in Gefühl und Gesinnung, während das korsikanische Lumpengesindel, das ihren Platz in Frankreich einnahm, sich so frech, so hochnäsig, so hoffärtig spreizte, als wären sie die älteste Noblesse.

Wie sehr den Freunden der Freiheit jenes Bündnis der Noblesse und des Pöbels gefährlich ist, zeigt sich am widerwärtigsten auf der Pyrenäischen Halbinsel. Hier, wie auch in einigen Provinzen von Westfrankreich und Süddeutschland, segnet die katholische Priesterschaft diese heilige Allianz. Auch die Priester der protestantischen Kirche sind überall bemüht, das schöne Verhältnis zwischen dem Volk und den Machthabern (d.h. zwischen dem Pöbel und der Aristokratie) zu befördern, damit die Gottlosen (die Liberalen) nicht die Obergewalt gewinnen. Denn sie urteilen sehr richtig: Wer sich frevelhaft seiner Vernunft bedient und die Vorrechte der adeligen Geburt leugnet, der zweifelt am Ende auch an den heiligsten Lehren der Religion und glaubt nicht mehr an die Erbsünde, an den Satan, an die Erlösung, an die Himmelfahrt, er geht nicht mehr nach dem Tisch des Herren und gibt dann auch den Dienern des Herren keine Abendmahlstrinkgelder oder sonstige Gebühr, wovon ihre Subsistenz und also das Heil der Welt abhängt. Die Aristokraten aber haben ihrerseits eingesehen, daß das Christentum eine sehr nützliche Religion ist, daß derjenige, der an die Erbsünde glaubt, auch die Erbprivilegien nicht leugnen wird, daß die Hölle eine sehr gute Anstalt ist die Menschen in Furcht zu halten, und daß jemand, der seinen Gott frißt, sehr viel vertragen kann. Diese vornehmen Leute waren freilich einst selbst sehr gottlos und haben durch die Auflösung der Sitten den Umsturz des alten Regimes befördert. Aber sie haben sich gebessert, und wenigstens sehen sie ein, daß man dem Volke ein gutes Beispiel geben muß. Nachdem die alte Orgie ein so schlechtes Ende genommen und auf den süßesten Sündenrausch die bitterste Not gefolgt war, haben die edlen Herren ihre schlüpfrigen Romane mit Erbauungsbüchern vertauscht, und sie sind sehr devot geworden und keusch, und sie wollen dem Volk ein gutes Beispiel geben. Auch die edlen Damen haben sich, mit verwischter Röte auf den Wangen, von dem Boden der Sünde wieder erhoben und bringen ihre zerzausten Frisuren und ihre zerknitterten Röcke wieder in Ordnung und predigen Tugend und Anständigkeit und Christentum und wollen dem Volke ein gutes Beispiel geben.

(Ich habe hier einige Stücke ausscheiden müssen, die allzusehr jenem Moderantismus huldigten, der in dieser Zeit der Reaktion nicht mehr rühmlich und passend ist. Ich gebe dafür eine nachträglich geschriebene Note, die ich dem Schlusse dieses Artikels anfüge.)

Ich liebe die Erinnerung der früheren Revolutionskämpfe und der Helden, die sie gekämpft, ich verehre diese ebenso hoch, wie es nur immer die Jugend Frankreichs vermag, ja, ich habe noch vor den Juliustagen den Robespierre und den Sanktum Justum und den großen Berg bewundert – aber ich möchte dennoch nicht unter dem Regimente solcher Erhabenen leben, ich würde es nicht aushalten können, alle Tage guillotiniert zu werden, und niemand hat es aushalten können, und die französische Republik konnte nur siegen und siegend verbluten. Es ist keine Inkonsequenz, daß ich diese Republik enthusiastisch liebe, ohne im geringsten die Wiedereinführung dieser Regierungsform in Frankreich und noch weniger eine deutsche Übersetzung derselben zu wünschen. Ja, man könnte sogar, ohne inkonsequent zu sein, zu gleicher Zeit wünschen, daß in Frankreich die Republik wieder eingeführt und daß in Deutschland hingegen der Monarchismus erhalten bleibe. In der Tat, wem die Sicherung der Siege, die für das demokratische Prinzip erfochten worden, mehr als alle andere Interessen am Herzen liegt, dürfte leicht in solchen Fall geraten.

Hier berühre ich die große Streitfrage, worüber jetzt in Frankreich so blutig und bitter gestritten wird, und ich muß die Gründe anführen, weshalb so viele Freunde der Freiheit immer noch der gegenwärtigen Regierung anhängen und warum andere den Umsturz derselben und die Wiedereinführung der Republik verlangen. Jene, die Philippisten, sagen: Frankreich, welches nur monarchisch regiert werden könne, habe an Ludwig Philipp den geeignetsten König; er sei ein sicherer Schützer der erlangten Freiheit und Gleichheit, da er selber in seinen Gesinnungen und Sitten vernünftig und bürgerlich ist; er könne nicht, wie die vorige Dynastie, einen Groll im Herzen tragen gegen die Revolution, da sein Vater und er selber daran teilgenommen; er könne das Volk nicht an die vorige Dynastie verraten, da er sie als Verwandter inniger als andere hassen muß; er könne mit den übrigen Fürsten in Frieden bleiben, da diese, seiner hohen Geburt halber ihm seine Illegitimität zugute halten, statt daß sie gleich den Krieg erklärt hätten, wenn ein bloßer Roturier auf den französischen Thron gesetzt oder gar die Republik proklamiert worden wäre; und doch sei der Frieden nötig für das Glück Frankreichs. Dagegen behaupten die Republikaner: Das stille Glück des Friedens sei gewiß ein schönes Gut, es habe jedoch keinen Wert ohne die Freiheit; in dieser Gesinnung hätten ihre Väter die Bastille gestürmt und Ludwig Capet das Haupt abgeschlagen und mit der ganzen Aristokratie Europas Krieg geführt; dieser Krieg sei noch nicht zu Ende, es sei nur Waffenstillstand, die europäische Aristokratie hege noch immer den tiefsten Groll gegen Frankreich, es sei eine Blutfeindschaft, die nur mit der Vernichtung der einen oder der andern Macht aufhöre; Ludwig Philipp aber sei ein König, die Erhaltung seiner Krone sei ihm die Hauptsache, er verständige und verschwägere sich mit Königen, und hin- und hergezerrt durch allerlei Hausverhältnisse und zur leidigsten Halbheit verdammt, sei er ein unzulänglicher Vertreter jener heiligsten Interessen, die einst nur die Republik am kräftigsten vertreten konnte und derenthalber die Wiedereinführung der Republik eine Notwendigkeit sei.

Wer in Frankreich keine teueren Güter besitzt, die durch den Krieg zugrunde gehen können, mag man leicht eine Sympathie für jene Kampflustigen empfinden, die dem Siege des demokratischen Prinzips das stille Glück des Lebens aufopfern, Gut und Blut in die Schanze schlagen und so lange fechten wollen, bis die Aristokratie in ganz Europa vernichtet ist. Da zu Europa auch Deutschland gehört, so hegen viele Deutsche jene Sympathie für die französischen Republikaner; aber wie man oft zu weit geht, so gestaltet sie sich bei manchen zu einer Vorliebe für die republikanische Form selbst, und da sehen wir eine Erscheinung, die kaum begreifbar, nämlich deutsche Republikaner. Daß Polen und Italiener, die ebenso wie die deutschen Freiheitsfreunde von den französischen Republikanern mehr Heil erwarten als von dem Justemilieu und sie daher mehr lieben, jetzt auch für die republikanische Regierungsform, die ihnen nicht ganz fremd ist, eine Vorliebe empfinden, das ist sehr natürlich. Aber deutsche Republikaner! man traut seinen Ohren kaum und seinen Augen, und doch sehen wir deren hier und in Deutschland.

Noch immer, wenn ich meine deutschen Republikaner betrachte, reibe ich mir die Augen und sage zu mir selber: Träumst du etwa? Lese ich gar die »Deutsche Tribüne« und ähnliche Blätter, so frage ich mich: Wer ist denn der große Dichter, der dies alles erfindet? Existiert der Doktor Wirth mit seinem blanken Ehrenschwert? Oder ist er nur ein Phantasiegebilde von Tieck oder Immermann? Dann aber fühle ich wohl, daß die Poesie sich nicht so hoch versteigt, daß unsere großen Poeten dennoch keine so bedeutende Charaktere darstellen können und daß der Doktor Wirth wirklich leibt und lebt, ein zwar irrender, aber tapferer Ritter der Freiheit, wie Deutschland deren wenige gesehen, seit den Tagen Ulrichs von Hutten.

Ist es wirklich wahr, daß das stille Traumland in lebendige Bewegung geraten? Wer hätte das vor dem Julius 1830 denken können! Goethe mit seinem Eiapopeia, die Pietisten mit ihrem langweiligen Gebetbücherton, die Mystiker mit ihrem Magnetismus hatten Deutschland völlig eingeschläfert, und weit und breit, regungslos, lag alles und schlief. Aber nur die Leiber waren schlafgebunden; die Seelen, die darin eingekerkert, behielten ein sonderbares Bewußtsein. Der Schreiber dieser Blätter wandelte damals, als junger Mensch, durch die deutschen Lande und betrachtete die schlafenden Menschen; ich sah den Schmerz auf ihren Gesichtern, ich studierte ihre Physiognomien, ich legte ihnen die Hand aufs Herz, und sie fingen an, nachtwandlerhaft im Schlafe zu sprechen, seltsam abgebrochene Reden, ihre geheimsten Gedanken enthüllend. Die Wächter des Volks, ihre goldenen Nachtmützen tief über die Ohren gezogen und tief eingehüllt in Schlafröcken von Hermelin, saßen auf roten Polsterstühlen und schliefen ebenfalls und schnarchten sogar. Wie ich so dahinwanderte, mit Ränzel und Stock, sprach ich oder sang ich laut vor mich hin, was ich den schlafenden Menschen auf den Gesichtern erspäht oder aus den seufzenden Herzen erlauscht hatte; – es war sehr still um mich her, und ich hörte nichts als das Echo meiner eigenen Worte. Seitdem, geweckt von den Kanonen der großen Woche ist Deutschland erwacht, und jeder, der bisher geschwiegen, will das Versäumte schnell wieder einholen, und das ist ein redseliger Lärm und ein Gepolter, und dabei wird Tabak geraucht, und aus den dunklen Dampfwolken droht ein schreckliches Gewitter. Das ist wie ein aufgeregtes Meer, und auf den hervorragenden Klippen stehen die Wortführer; die einen blasen mit vollen Backen in die Wellen hinein, und sie meinen sie hätten diesen Sturm erregt und je mehr sie bliesen, desto wütender heule die Windsbraut; die anderen sind ängstlich, sie hören die Staatsschiffe krachen, sie betrachten mit Schrecken das wilde Gewoge, und da sie aus ihren Schulbüchern wissen, daß man mit Öl das Meer besänftigen könne, so gießen sie ihre Studierlämpchen in die empörte Menschenflut, oder, prosaisch zu sprechen, sie schreiben ein versöhnendes Broschürchen und wundern sich, wenn das Mittel nicht hilft, und seufzen: »Oleum perdidi!«

Es ist leicht vorauszusehen, daß die Idee einer Republik, wie sie jetzt viele deutsche Geister erfaßt, keineswegs eine vorübergehende Grille ist. Den Doktor Wirth und den Siebenpfeiffer und Herrn Scharpff und Georg Fein aus Braunschweig und Grosse und Schüler und Savoye, man kann sie festsetzen, und man wird sie festsetzen; aber ihre Gedanken bleiben frei und schweben frei, wie Vögel, in den Lüften. Wie Vögel nisten sie in den Wipfeln deutscher Eichen, und vielleicht ein halb Jahrhundert lang sieht man und hört man nichts von ihnen, bis sie eines schönen Sommermorgens auf dem öffentlichen Markte zum Vorschein kommen, großgewachsen, gleich dem Adler des obersten Gottes, und mit Blitzen in den Krallen. Was ist denn ein halb oder gar ein ganzes Jahrhundert? Die Völker haben Zeit genug, sie sind ewig; nur die Könige sind sterblich.

Ich glaube nicht so bald an eine deutsche Revolution und noch viel weniger an eine deutsche Republik; letztere erlebe ich auf keinen Fall; aber ich bin überzeugt, wenn wir längst ruhig in unseren Gräbern vermodert sind, kämpft man in Deutschland mit Wort und Schwert für die Republik. Denn die Republik ist eine Idee, und noch nie haben die Deutschen eine Idee aufgegeben, ohne sie bis in allen ihren Konsequenzen durchgefochten zu haben. Wir Deutschen, die wir in unserer Kunstzeit die kleinste ästhetische Streitfrage, z.B. über das Sonett, gründlichst ausgestritten, wir sollten jetzt, wo unsere politische Periode beginnt, jene wichtigere Frage unerörtert lassen?

Zu solcher Polemik haben uns die Franzosen noch ganz besondere Waffen geliefert; denn wir haben beide, Franzosen und Deutsche, in der jüngsten Zeit viel voneinander gelernt; jene haben viel deutsche Philosophie und Poesie angenommen, wir dagegen die politischen Erfahrungen und den praktischen Sinn der Franzosen; beide Völker gleichen jenen Homerischen Heroen, die auf dem Schlachtfelde Waffen und Rüstungen wechseln als Zeichen der Freundschaft. Daher überhaupt diese große Veränderung, die jetzt mit den deutschen Schriftstellern vorgeht. In früheren Zeiten waren sie entweder Fakultätsgelehrte oder Poeten, sie kümmerten sich wenig um das Volk, für dieses schrieb keiner von beiden, und in dem philosophischen poetischen Deutschland blieb das Volk von der plumpsten Denkweise befangen, und wenn es etwa einmal mit seinen Obrigkeiten haderte, so war nur die Rede von rohen Tatsächlichkeiten, materiellen Nöten, Steuerlast, Maut, Wildschaden, Torsperre usw.; – während im praktischen Frankereich das Volk, welches von den Schriftstellern erzogen und geleitet wurde, viel mehr um ideelle Interessen, um philosophische Grundsätze, stritt. Im Freiheitskriege (lucus a non lucendo) benutzten die Regierungen eine Koppel Fakultätsgelehrte und Poeten, um für ihre Kroninteressen auf das Volk zu wirken, und dieses zeigte viel Empfänglichkeit, las den »Merkur« von Joseph Görres, sang die Lieder von E. M. Arndt, schmückte sich mit dem Laube seiner vaterländischen Eichen, bewaffnete sich, stellte sich begeistert in Reih und Glied, ließ sich »Sie« titulieren, landstürmte und focht und besiegte den Napoleon; – denn gegen die Dummheit kämpfen die Götter selbst vergebens. Jetzt wollen die deutschen Regierungen jene Koppel wieder benutzen. Aber diese hat unterdessen immer im dunkelen Loch angekettet gelegen und ist sehr räudig geworden, in übeln Geruch gekommen und hat nichts Neues gelernt und bellt noch immer in der alten Weise; das Volk hingegen hat unterdessen ganz andere Töne gehört, hohe, herrliche Töne von bürgerlicher Gleichheit, von Menschenrechten unveräußerlichen Menschenrechten, und mit lächelndem Mitleiden, wo nicht gar mit Verachtung, schaut es hinab auf die bekannten Kläffer, die mittelalterlichen Rüden, die getreuen Pudel und die frommen Möpse von 1814.

Nun freilich, die Töne von 1832 möchte ich nicht samt und sonders vertreten. Ich habe mich schon oben geäußert in betreff der befremdlichsten dieser Töne, nämlich über unsere deutschen Republikaner. Ich habe den zufälligen Umstand gezeigt, woraus ihre ganze Erscheinung hervorgegangen. Ich will hier durchaus nicht ihre Meinungen bekämpfen; das ist nicht meines Amtes, und dafür haben ja die Regierungen ihre besonderen Leute, die sie dafür besonders bezahlen. Aber ich kann nicht umhin, hier die Bemerkung auszusprechen: der Hauptirrtum der deutschen Republikaner entsteht dadurch, daß sie den Unterschied beider Länder nicht genau in Anschlag bringen, wenn sie auch für Deutschland jene republikanische Regierungsart wünschen, die vielleicht für Frankreich ganz passend sein möchte. Nicht wegen seiner geographischen Lage und des bewaffneten Einspruchs der Nachbarfürsten kann Deutschland keine Republik werden, wie jüngst der Großherzog von Baden behauptet hat. Vielmehr sind es eben jene geographischen Verhältnisse, die den deutschen Republikanern bei ihrer Argumentation zugute kämen, und was ausländische Gefahr betrifft, so wäre das vereinigte Deutschland die furchtbarste Macht der Welt, und ein Volk, welches sich unter servilsten Verhältnissen immer so vortrefflich schlug, würde, wenn es erst aus lauter Republikanern bestünde, sehr leicht die angedrohten Baschkiren und Kalmücken an Tapferkeit übertreffen. Aber Deutschland kann keine Republik sein, weil es seinem Wesen nach royalistisch ist. Frankreich ist, im Gegenteil, seinem Wesen nach republikanisch. Ich sage hiermit nicht, daß die Franzosen mehr republikanische Tugenden hätten als wir; nein, diese sind auch bei den Franzosen nicht im Überfluß vorhanden. Ich spreche nur von dem Wesen, von dem Charakter, wodurch der Republikanismus und der Royalismus sich nicht bloß voneinander unterscheiden, sondern sich auch als grundverschiedene Erscheinungen kundgeben und geltend machen.

Der Royalismus eines Volks besteht, dem Wesen nach, darin, daß es Autoritäten achtet, daß es an die Personen glaubt, die jene Autoritäten repräsentieren, daß es in dieser Zuversicht auch der Person selbst anhängt. Der Republikanismus eines Volks besteht, dem Wesen nach, darin, daß der Republikaner an keine Autorität glaubt, daß er nur die Gesetze hochachtet, daß er von den Vertretern derselben beständig Rechenschaft verlangt, sie mit Mißtrauen beobachtet, sie kontrolliert, daß er also nie den Personen anhängt und diese vielmehr, je höher sie aus dem Volke hervorragen, desto emsiger mit Widerspruch, Argwohn, Spott und Verfolgung niederzuhalten sucht.

Der Ostrazismus war in dieser Hinsicht die republikanischste Einrichtung, und jener Athener, welcher für die Verbannung des Aristides stimmte, »weil man ihn immer den Gerechten nenne«, war der echteste Republikaner. Er wollte nicht, daß die Tugend durch eine Person repräsentiert werde, daß die Person am Ende mehr gelte als die Gesetze, er fürchtete die Autorität eines Namens; – dieser Mann war der größte Bürger von Athen, und daß die Geschichte seinen eigenen Namen verschweigt, charakterisiert ihn am meisten. Ja, seitdem ich die französischen Republikaner, sowohl in Schriften als im Leben, studiere, erkenne ich überall als charakteristische Zeichen jenes Mißtrauen gegen die Person, jenen Haß gegen die Autorität eines Namens. Es ist nicht kleinliche Gleichheitssucht, weshalb jene Menschen die großen Namen hassen, nein, sie fürchten, daß die Träger solcher Namen ihn gegen die Freiheit mißbrauchen möchten oder vielleicht durch Schwäche und Nachgiebigkeit ihren Namen zum Schaden der Freiheit mißbrauchen lassen. Deshalb wurden in der Revolutionszeit so viele große populäre Freiheitsmänner hingerichtet, eben weil man, in gefährlichen Zuständen, einen schädlichen Einfluß ihrer Autorität befürchtete. Deshalb höre ich noch jetzt aus manchem Munde die republikanische Lehre, daß man alle liberalen Reputationen zugrunde richten müsse, denn diese übten, im entscheidenden Augenblick, den schädlichsten Einfluß, wie man es zuletzt bei Lafayette gesehen, dem man »die beste Republik« verdanke.

Vielleicht habe ich hier beiläufig die Ursache angedeutet, weshalb jetzt sowenig große Reputationen in Frankreich hervorragen; sie sind zum größten Teil schon zugrunde gerichtet. Von den allerhöchsten Personen bis zu den allerniedrigsten gibt es hier keine Autoritäten mehr. Von Ludwig Philipp I. bis zu Alexander, Chef des claqueurs, vom großen Talleyrand bis zu Vidocq, von Gaspar Debureau, dem berühmten Pierrot des Fünembülen-Theaters, bis hinab auf Hyazinth de Quelen, Erzbischof von Paris, von Monsieur Staub, maître tailleur, bis zu de Lamartine, dem frommen Böcklein, von Guizot bis Paul de Kock, von Cherubini bis Biffi, von Rossini bis zum kleinsten Maulaffi – keiner, von welchem Gewerbe er auch sei, hat hier ein unbestrittenes Ansehen. Aber nicht bloß der Glaube an Personen ist hier vernichtet, sondern auch der Glaube an alles, was existiert. Ja, in den meisten Fällen zweifelt man nicht einmal; denn der Zweifel selbst setzt ja einen Glauben voraus. Es gibt hier keine Atheisten; man hat für den lieben Gott nicht einmal so viel Achtung übrig, daß man sich die Mühe gäbe, ihn zu leugnen. Die alte Religion ist gründlich tot, sie ist bereits in Verwesung übergegangen, »die Mehrheit der Franzosen« will von diesem Leichnam nichts mehr wissen und hält das Schnupftuch vor der Nase, wenn vom Katholizismus die Rede ist. Die alte Moral ist ebenfalls tot, oder vielmehr, sie ist nur noch ein Gespenst, das nicht einmal des Nachts erscheint. Wahrlich, wenn ich dieses Volk betrachte, wie es zuweilen hervorstürmt und auf dem Tische, den man Altar nennt, die heiligen Puppen zerschlägt und von dem Stuhl, den man Thron nennt, den roten Sammet abreißt und neues Brot und neue Spiele verlangt und seine Lust daran hat, aus den eigenen Herzwunden das freche Lebensblut sprudeln zu sehen: dann will es mich bedünken, dieses Volk glaube nicht einmal an den Tod.

Bei solchen Ungläubigen wurzelt das Königtum nur noch in den kleinen Bedürfnissen der Eitelkeit, eine größere Gewalt aber treibt sie wider ihren Willen zur Republik. Diese Menschen, deren Bedürfnissen von Auszeichnung und Prunk nur die monarchische Regierungsform entspricht, sind dennoch, durch die Unvereinbarkeit ihres Wesens mit den Bedingnissen des Royalismus, zur Republik verdammt. Die Deutschen aber sind noch nicht in diesem Falle, der Glaube an Autoritäten ist noch nicht bei ihnen erloschen, und nichts Wesentliches drängt sie zur republikanischen Regierungsform. Sie sind dem Royalismus nicht entwachsen, die Ehrfurcht vor den Fürsten ist bei ihnen nicht gewaltsam gestört, sie haben nicht das Unglück eines 21. Januarii erlebt, sie glauben noch an Personen, sie glauben an Autoritäten, an eine hohe Obrigkeit, an die Polizei, an die heilige Dreifaltigkeit, an die »Hallesche Literaturzeitung«, an Löschpapier und Packpapier, am meisten aber an Pergament. Armer Wirth! du hast die Rechnung ohne die Gäste gemacht!

Der Schriftsteller, welcher eine soziale Revolution befördern will, darf immerhin seiner Zeit um ein Jahrhundert vorauseilen; der Tribun hingegen, welcher eine politische Revolution beabsichtigt, darf sich nicht allzuweit von den Massen entfernen. Überhaupt, in der Politik wie im Leben, muß man nur das Erreichbare wünschen.

Wenn ich oben von dem Republikanismus der Franzosen sprach, so hatte ich, wie schon erwähnt, mehr die unwillkürliche Richtung als den ausgesprochenen Willen des Volks im Sinne. Wie wenig, für den Augenblick, der ausgesprochene Wille des Volks den Republikanern günstig ist, hat sich den 5. und 6. Junius kundgegeben. Ich habe über diese denkwürdigen Tage schon hinlänglich kummervolle Berichte mitgeteilt, als daß ich mich einer ausführlichen Besprechung derselben nicht überheben dürfte. Auch sind die Akten darüber noch nicht geschlossen, und vielleicht geben uns die kriegsgerichtlichen Verhöre mehr Aufschluß über jene Tage, als wir bisher zu erlangen vermochten. Noch kennt man nicht die eigentlichen Anfänge des Streites, noch viel weniger die Zahl der Kämpfer. Die Philippisten sind dabei interessiert, die Sache als eine lang vorbereitete Verschwörung darzustellen und die Zahl ihrer Feinde zu übertreiben. Dadurch entschuldigen sie die jetzigen Gewaltmaßregeln der Regierung und gewinnen dadurch den Ruhm einer großen Kriegstat. Die Opposition hingegen behauptet, daß bei jenem Aufruhr nicht die mindeste Vorbereitung stattgefunden, daß die Republikaner ganz ohne Führer und ihre Zahl ganz gering gewesen. Dieses scheint die Wahrheit zu sein. Jedenfalls ist es jedoch für die Opposition ein großes Mißgeschick, daß, während sie in corpore versammelt war und gleichsam in Reih und Glied stand, jener mißlungene Revolutionsversuch stattgefunden. Hat aber die Opposition hierdurch an Ansehen verloren, so hat die Regierung dessen noch mehr eingebüßt durch die unbesonnene Erklärung des État de siège. Es ist, als habe sie zeigen wollen, daß sie, wenn es darauf ankomme, sich noch grandioser zu blamieren wisse als die Opposition. Ich glaube wirklich, daß die Tage vom 5. und 6. Junius als ein bloßes Ereignis zu betrachten sind, das nicht besonders vorbereitet war. Jener Lamarquesche Leichenzug sollte nur eine große Heerschau der Opposition sein. Aber die Versammlung so vieler streitbarer und streitsüchtiger Menschen geriet plötzlich in unwiderstehlichen Enthusiasmus, der Heilige Geist kam über sie zur unrechten Zeit, sie fingen an zur unrechten Zeit zu weissagen, und der Anblick der roten Fahne soll, wie ein Zauber, die Sinne verwirrt haben.

Es hat eine mystische Bewandtnis mit dieser roten, schwarz umfransten Fahne, worauf die schwarzen Worte »La liberté ou la mort!« geschrieben standen und die wie ein Banner der Todesweihe über alle Köpfe am Pont d’Austerlitz hervorragte. Mehrere Leute, die den geheimnisvollen Fahnenträger selbst gesehen haben, behaupten, es sei ein langer, magerer Mensch gewesen, mit einem langen Leichengesichte, starren Augen, geschlossenem Munde, über welchem ein schwarzer altspanischer Schnurrbart mit seinen Spitzen an jeder Seite weit hervorstach, eine unheimliche Figur, die auf einem großen schwarzen Klepper gespenstisch unbeweglich saß, während ringsumher der Kampf am leidenschaftlichsten wütete.

Den Gerüchten in betreff Lafayettes, die mit dieser Fahne in Verbindung stehen, wird jetzt von dessen Freunden aufs ängstlichste widersprochen. Er soll weder die rote Fahne noch die rote Mütze bekränzt haben. Der arme General sitzt zu Hause und weint über den schmerzlichen Ausgang jener Feier, wobei er wieder, wie bei den meisten Volksaufständen seit Beginn der Revolution, eine Rolle gespielt – immer sonderbarer mit fortgezogen durch die allgemeine Bewegung und in der guten Absicht, durch seine persönliche Gegenwart das Volk vor allzu großen Exzessen zu bewahren. Er gleicht dem Hofmeister, der seinem Zögling in die Frauenhäuser folgte, damit er sich dort nicht betrinke, und mit ihm ins Weinhaus ging, damit er wenigstens dort nicht spiele, und ihn sogar in die Spielhäuser begleitete, damit er ihn dort vor Duellen bewahre; – kam es aber zu einem ordentlichen Duell, dann hat der Alte selber sekundiert.

Wenn man auch voraussehen konnte, daß bei dem Lamarqueschen Begräbnisse, wo ein Heer von Unzufriedenen sich versammelte, einige Unruhen stattfinden würden, so glaubte doch niemand an den Ausbruch einer eigentlichen Insurrektion. Es war vielleicht der Gedanke, daß man jetzt so hübsch beisammen sei, was einige Republikaner veranlaßte, eine Insurrektion zu improvisieren. Der Augenblick war keineswegs ungünstig gewählt, eine allgemeine Begeisterung hervorzubringen und selbst die Zagenden zu entflammen. Es war ein Augenblick, der wenigstens das Gemüt gewaltsam aufregte und die gewöhnliche Werkeltagsstimmung und alle kleinen Besorgnisse und Bedenklichkeiten daraus verscheuchte. Schon auf den ruhigen Zuschauer mußte dieser Leichenzug einen großen Eindruck machen, sowohl durch die Zahl der Leidtragenden, die über hunderttausend betrug, als auch durch den dunkelmutigen Geist, der sich in ihren Mienen und Gebärden aussprach. Erhebend und doch zugleich beängstigend wirkte besonders der Anblick der Jugend aller hohen Schulen von Paris, der Amis du peuple und so vieler anderer Republikaner aus allen Ständen, die, mit furchtbarem Jubel die Luft erfüllend, gleich Bacchanten der Freiheit vorüberzogen, in den Händen belaubte Stäbe, die sie als ihre Thyrsen schwangen, grüne Weidenkränze um die kleinen Hüte, die Tracht brüderlich einfach, die Augen wie trunken von Tatenlust, Hals und Wangen rotflammend – ach! auf manchem dieser Gesichter bemerkte ich auch den melancholischen Schatten eines nahen Todes, wie er jungen Helden sehr leicht geweissagt werden kann. Wer diese Jünglinge sah, in ihrem übermütigen Freiheitsrausch, der fühlte wohl, daß viele derselben nicht lange leben würden. Es war auch ein trübes Vorbedeutnis, daß der Siegeswagen, dem jene bacchantische Jugend nachjubelte, keinen lebenden, sondern einen toten Triumphator trug.

Unglückseliger Lamarque! wieviel Blut hat deine Leichenfeier gekostet! Und es waren nicht gezwungene oder gedungene Gladiatoren, die sich niedermetzelten, um ein eitel Trauergepränge durch Kampfspiel zu erhöhen. Es war die blühend begeisterte Jugend, die ihr Blut hingab für die heiligsten Gefühle, für den großmütigsten Traum ihrer Seele. Es war das beste Blut Frankreichs, welches in der Rue Saint-Martin geflossen, und ich glaube nicht, daß man bei den Thermopylen tapferer gefochten als am Eingange der Gäßchen Saint-Merry und Aubry-des-Bouchers, wo sich endlich eine Handvoll von einigen sechzig Republikanern gegen 60000 Linientruppen und Nationalgarden verteidigten und sie zweimal zurückschlugen. Die alten Soldaten des Napoleon, welche sich auf Waffentaten so gut verstehen wie wir etwa auf christliche Dogmatik, Vermittlung der Extreme oder Kunstleistungen einer Mimin, behaupten, daß der Kampf auf der Rue Saint-Martin zu den größten Heldentaten der neueren Geschichte gehört. Die Republikaner taten Wunder der Tapferkeit, und die wenigen, die am Leben blieben, baten keineswegs um Schonung. Dieses bestätigen alle meine Nachforschungen, die ich, wie mein Amt es erheischt, gewissenhaft angestellt. Sie wurden größtenteils mit den Bajonetten erstochen, von den Nationalgardisten. Einige Republikaner traten, als aller Widerstand vergebens war, mit entblößter Brust ihren Feinden entgegen und ließen sich erschießen. Als das Eckhaus der Rue Saint-Merry eingenommen wurde, stieg ein Schüler der École d’Alfort mit der Fahne aufs Dach, rief sein »Vive la République!« und stürzte nieder, von Kugeln durchbohrt. In ein Haus, dessen erste Etage noch von den Republikanern behauptet wurde, drangen die Soldaten und brachen die Treppe ab; jene aber, die ihren Feinden nicht lebend in die Hände fallen wollten, haben sich selber umgebracht, und man eroberte nur ein Zimmer voll Leichen. In der Kirche Saint-Merry hat man mir diese Geschichte erzählt, und ich mußte mich dort an die Bildsäule des heiligen Sebastian anlehnen, um nicht vor innerer Bewegung umzusinken, und ich weinte wie ein Knabe. Alle Heldengeschichten, worüber ich als Knabe schon soviel geweint, traten mir dabei ins Gedächtnis, fürnehmlich aber dacht ich an Kleomenes, König von Sparta, und seine zwölf Gefährten, die durch die Straßen von Alexandrien rannten und das Volk zur Erkämpfung der Freiheit aufriefen und keine gleichgesinnten Herzen fanden und, um den Tyrannenknechten zu entgehen, sich selber töteten; der schöne Anteos war der letzte, noch einmal beugte er sich über den toten Kleomenes, den geliebten Freund, und küßte die geliebten Lippen und stürzte sich dann in sein Schwert.

Über die Zahl derer, die auf der Rue Saint-Martin gefochten, ist noch nichts Bestimmtes ermittelt. Ich glaube, daß anfangs gegen zweihundert Republikaner dort versammelt gewesen, die aber endlich, wie oben angedeutet, während des Tages vom 6. Juni auf sechzig zusammengeschmolzen waren. Kein einziger war dabei, der einen bekannten Namen trug oder den man früher als einen ausgezeichneten Kämpen des Republikanismus gekannt hätte. Es ist das wieder ein Zeichen, daß, wenn jetzt nicht viele Heldennamen in Frankreich besonders laut erklingen, keineswegs der Mangel an Helden daran schuld ist. Überhaupt scheint die Weltperiode vorbei zu sein, wo die Taten der einzelnen hervorragen; die Völker, die Parteien, die Massen selber sind die Helden der neuern Zeit; die moderne Tragödie unterscheidet sich von der antiken dadurch, daß jetzt die Chöre agieren und die eigentlichen Hauptrollen spielen, während die Götter, Heroen und Tyrannen, die früherhin die handelnden Personen waren, jetzt zu mäßigen Repräsentanten des Parteiwillens und der Volkstat herabsinken und zur schwatzenden Betrachtung hingestellt sind, als Thronredner, als Gastmahlpräsidenten, Landtagsabgeordnete, Minister, Tribüne usw. Die Tafelrunde des großen Ludwig Philipp, die ganze Opposition mit ihren comptes rendus, mit ihren Deputationen, die Herren Odilon-Barrot, Lafitte und Arago, wie passiv und geringselig erscheinen diese abgedroschenen renommierten Leute, diese scheinbaren Notabilitäten, wenn man sie mit den Helden der Rue Saint-Martin vergleicht, deren Namen niemand kennt, die gleichsam anonym gestorben sind.

Der bescheidene Tod dieser großen Unbekannten vermag nicht bloß uns eine wehmütige Rührung einzuflößen, sondern er ermutigt auch unsere Seele, als Zeugnis, daß viele tausend Menschen, die wir gar nicht kennen, bereit stehen, für die heilige Sache der Menschheit ihr Leben zu opfern. Die Despoten aber müssen von heimlichem Grauen erfaßt werden, bei dem Gedanken, daß eine solche unbekannte Schar von Todessüchtigen sie immer umringt gleich den vermummten Dienern einer heiligen Feme. Mit Recht fürchten sie Frankreich, die rote Erde der Freiheit!

Es ist ein Irrtum, wenn man etwa glaubt, daß die Helden der Rue Saint-Martin zu den unteren Volksklassen gehört oder gar zum Pöbel, wie man sich ausdrückt; nein, es waren meistens Studenten, schöne Jünglinge, von der École d’Alfort, Künstler, Journalisten, überhaupt Strebende, darunter auch einige Ouvriers, die unter der groben Jacke sehr feine Herzen trugen. Bei dem Kloster Saint-Merry scheinen nur junge Menschen gefochten zu haben; an andern Orten kämpften auch alte Leute. Unter den Gefangenen, die ich durch die Stadt führen sehen, befanden sich auch Greise, und besonders auffallend war mir die Miene eines alten Mannes, der, nebst einigen Schülern der École polytechnique, nach der Conciergerie gebracht wurde. Letztere gingen gebeugten Hauptes, düster und wüst, das Gemüt zerrissen, wie ihre Kleider; der Alte hingegen ging zwar ärmlich und altfränkisch, aber sorgfältig angezogen, mit abgeschabt strohgelbem Frack und dito Weste und Hose, zugeschnitten nach der neuesten Mode von 1793, mit einem großen dreieckigen Hut auf dem alten gepuderten Köpfchen, und das Gesicht so sorglos, so vergnügt fast, als ging’s zu einer Hochzeit; eine alte Frau lief hinter ihm drein, in der Hand einen Regenschirm, den sie ihm nachzubringen schien, und in jeder Falte ihres Gesichtes eine Todesangst, wie man sie wohl empfinden kann, wenn es heißt, irgendeiner unserer Lieben soll vor ein Kriegsgericht gestellt und binnen vierundzwanzig Stunden erschossen werden. Ich kann das Gesicht jenes alten Mannes gar nicht vergessen. Auf der Morgue sah ich den 8. Junius ebenfalls einen alten Mann, der mit Wunden bedeckt war und, wie ein neben mir stehender Nationalgarde mir versichert, ebenfalls als Republikaner sehr kompromittiert sei. Er lag aber auf den Bänken der Morgue. Letztere ist nämlich ein Gebäude, wo man die Leichen, die man auf der Straße oder in der Seine findet, hinbringt und ausstellt und wo man also die Angehörigen, die man vermißt, aufzusuchen pflegt.

An obenerwähntem Tage, den 8. Juni, begaben sich so viele Menschen nach der Morgue, daß man dort Queue machen mußte, wie vor der Großen Oper, wenn »Robert le Diable« gegeben wird. Ich mußte dort fast eine Stunde lang warten, bis ich Einlaß fand, und hatte Zeit genug, jenes trübsinnige Haus, das vielmehr einem großen Steinklumpen gleicht, ausführlich zu betrachten. Ich weiß nicht, was es bedeutet, daß eine gelbe Holzscheibe mit blauem Mittelgrund, wie eine große brasilianische Kokarde, vor dem Eingang hängt. Die Hausnummer ist 21, vingt-un. Drinnen war es melancholisch anzusehen, wie ängstlich einige Menschen die ausgestellten Toten betrachteten, immer fürchtend, denjenigen zu finden, den sie suchten. Es gab dort zwei entsetzliche Erkennungsszenen. Ein kleiner Junge erblickte seinen toten Bruder und blieb schweigend, wie angewurzelt, stehen. Ein junges Mädchen fand dort ihren toten Geliebten und fiel schreiend in Ohnmacht. Da ich sie kannte, hatte ich das traurige Geschäft, die Trostlose nach Hause zu führen. Sie gehörte zu einem Putzladen in meiner Nachbarschaft, wo acht junge Damen arbeiten, welche sämtlich Republikanerinnen sind. Ihre Liebhaber sind lauter junge Republikaner. Ich bin in diesem Hause immer der einzige Royalist.

Zwischennote zu Artikel IX

Geschrieben den 1. Oktober 1832

Die im vorstehenden Artikel unterdrückte Stelle bezog sich zunächst auf den deutschen Adel. Je mehr ich aber die neuesten Tageserscheinungen überdenke, desto wichtiger dünkt mir dies Thema, und ich muß mich nächstens zu einer gründlichen Besprechung desselben entschließen. Wahrlich, es geschieht nicht aus Privatgefühlen; ich glaube es in der jüngsten Zeit bewiesen zu haben, daß meine Befehdung nur die Prinzipien und nicht leiblich unmittelbar die Person der Gegner trifft. Die Enragés des Tages haben mich deshalb in der letzten Zeit als einen geheimen Bundesgenossen der Artistokraten verschrien, und wenn die Insurrektion vom 5. Junius nicht scheiterte, wäre es ihnen leicht gelungen, mir den Tod zu bereiten, den sie mir zugedacht. Ich verzeihte ihnen gern diese Narrheit, und nur in meinem Tagesbericht vom 7. Junius ist mir ein Wort darüber entschlüpft. – Der Parteigeist ist ein ebenso blindes wie rasendes Tier.

Es ist aber mit dem deutschen Adel eine sehr schlimme Sache. Alle Konstitutionen, selbst die beste, können uns nichts helfen, solange nicht das ganze Adeltum bis zur letzten Wurzel zerstört ist. Die armen Fürsten sind selbst in der größten Not, ihr schönster Wille ist fruchtlos, sie müssen ihren heiligsten Eiden zuwiderhandeln, sie sind gezwungen, der Sache des Volks entgegenzuwirken, mit einem Worte: sie können den beschworenen Konstitutionen nicht treu bleiben, solange sie nicht von jenen älteren Konstitutionen befreit sind, die ihnen der Adel, als er seine waffenherrliche Unabhängigkeit einbüßte, durch die seidenen Künste der Kurtisanerie abzugewinnen wußte; Konstitutionen, die als ungeschriebene Gewohnheitsrechte tiefer begründet sind als die gedrucktesten Löschpapierverfassungen; Konstitutionen, deren Kodex jeder Krautjunker auswendig weiß und deren Aufrechthaltung unter die besondere Obhut jeder alten Hofkatze gestellt ist; Konstitutionen, wovon auch der absoluteste König nicht das geringste Titelchen zu verletzen wagt – ich spreche von der Etikette.

Durch die Etikette liegen die Fürsten ganz in der Gewalt des Adels, sie sind unfrei, sie sind unzurechnungsfähig, und die Treulosigkeit, die einige derselben bei den letzten Ordonnanzen des Bundestags beurkundet, ist, wenn man sie billig beurteilt, nicht ihrem Willen, sondern ihren Verhältnissen beizumessen. Keine Konstitution sichert die Rechte des Volks, solange die Fürsten gefangenliegen in den Etiketten des Adels, der, sobald die Kasteninteressen ins Spiel kommen, alle Privatfeindschaften beiseite setzt und als Korps verbündet ist. Was vermag der einzelne, der Fürst, gegen jenes Korps, das in Intrigen geübt ist, das alle fürstlichen Schwächen kennt, das unter seinen Mitgliedern auch die nächsten Verwandten des Fürsten zählt, das ausschließlich um dessen Person sein darf, dergestalt, daß der Fürst seine Edelleute, selbst wenn er sie haßt, durchaus nicht von sich weisen kann, daß er ihren holden Anblick ertragen muß, daß er sich von ihnen ankleiden, die Hände waschen und lecken lassen muß, daß er mit ihnen essen, trinken und sprechen muß – denn sie sind hoffähig, durch Erbrang zu jenen Hofchargen bevorzugt, und alle Hofdamen würden sich empören und dem armen Fürsten sein eigenes Haus verleiden, wenn er nach seines Herzens Gefühlen handelte und nicht nach den Vorschriften der Etikette. So geschah es, daß König Wilhelm von England, ein wackerer, guter Fürst, durch die Ränke seiner noblen Umgebung, aufs kläglichste gezwungen ward, sein Wort zu brechen und seinen ehrlichen Namen zu opfern und der Achtung und des Vertrauens seines Volkes auf immer verlustig zu werden. So geschah es, daß einer der edelsten und geistreichsten Fürsten, die je einen Thron geziert, Ludwig von Bayern, der noch vor drei Jahren der Sache des Volkes so eifrig zugetan war und allen Unterjochungsversuchen seiner Noblesse so fest widerstand und ihre frondierende Insolenz und Verleumdungen so heldenmütig ertrug: daß dieser jetzt, müd und entkräftet, in ihre verräterische Arme sinkt und sich selber untreu wird! Armes Herz, das einst so ruhmsüchtig und stolz war, wie sehr muß dein Mut gebrochen sein, daß du, um von einigen störrigen Untertanen nicht mehr durch Widerrede inkommodiert zu werden, deine eigne unabhängige Oberherrschaft aufgabest und selbst ein untertäniger Vasall wurdest, Vasall deiner natürlichen Feinde, Vasall deiner Schwäger!

Ich wiederhole, alle geschriebene Konstitutionen können uns nichts helfen, solange wir das Adeltum nicht von Grund aus vernichten. Es ist nicht damit abgetan, daß man durch diskutierte, votierte und sanktionierte und promulgierte Gesetze die Privilegien des Adels annulliert; dieses ist an mehreren Orten geschehen, und dennoch herrschen dort noch immer die Adelsinteressen. Wir müssen die herkömmlichen Mißbräuche im fürstlichen Haushalt vertilgen, auch für das Hofgesinde eine neue Gesindeordnung einführen, die Etiketten zerbrechen und, um selbst frei zu werden, mit der Fürstenbefreiung, mit der Emanzipation der Könige, das Werk beginnen. Die alten Drachen müssen verscheucht werden von dem Quell der Macht. Wenn ihr dieses getan habt, seid wachsam, damit sie nicht nächtlicherweile wieder herankriechen und den Quell vergiften. Einst gehörten wir den Königen, jetzt gehören die Könige uns. Daher müssen wir sie auch selbst erziehen und nicht mehr jenen hochgeborenen Prinzenhofmeistern überlassen, die sie zu den Zwecken ihrer Kaste erziehen und an Leib und Seele verstümmeln. Nichts ist den Völkern gefährlicher als jene frühe Umjunkerung der Kronprinzen. Der beste Bürger werde Prinzenerzieher, durch die Wahl des Volks, und wer verrufenen Leumunds ist oder nur im geringsten bescholten, werde gesetzlich entfernt von der Person des jungen Fürsten. Drängt er sich dennoch hinzu, mit jener unverschämten Zudringlichkeit, die dem Adel in solchen Fällen eigen ist, so werde er gestäupt, auf dem Marktplatz, nach den schönsten Rhythmen, und mit rotem Eisen werde ihm das Metrum aufs Schulterblatt gedruckt. Wenn er etwa behauptet, er habe sich an die Person des jungen Fürsten gedrängt, um für geistreich und witzig gehalten zu werden, und wenn er einen dicken Bauch hat wie Sir John, so setze man ihn bloß ins Zuchthaus, aber wo die Weiber sitzen.

Indessen, es gibt auch weiße Raben.

Ich werde, wie ich schon in der Vorrede zu Kahldorfs Briefen an den Grafen Moltke angedeutet, diesen Gegenstand ausführlicher besprechen; eine Statistik des diplomatischen Korps, dem die Interessen der Völker anvertraut sind, wird dabei am interessantesten sein. Es werden Tabellen beigefügt werden, Verzeichnisse der verschiedenen Tugenden desselben, in den verschiedenen Hauptstädten. Man wird z.B. daraus ersehen, wie in einer der letztern immer der dritte Mann unter der edlen Genossenschaft entweder ein Spieler ist oder ein heimatloser Lohndiener oder ein Escroc oder der Ruffiano seiner eigenen Gattin oder der Gemahl seines Jockeis oder ein Allerweltsspion oder sonst ein adliger Taugenichts. Ich habe behufs dieser Statistik ein sehr gründliches Quellenstudium getrieben, und zwar an den Tischen des Königs Pharo und anderer Könige des Morgenlands, in den Soireen der schönsten Göttinnen des Tanzes und des Gesanges, in den Tempeln der Gourmandise und der Galanterie, kurz, in den vornehmsten Häusern Europas.

Ich muß in betreff des Grafen Moltke hier nachträglich erwähnen, daß derselbe Juli vorigen Jahres hier in Paris war und mich in einen Federkrieg über den Adel verwickeln wollte, um dem Publikum zu zeigen, daß ich seine Prinzipien mißverstanden oder willkürlich entstellt hätte. Es schien mir aber grade damals bedenklich, in meiner gewöhnlichen Weise ein Thema öffentlich zu erörtern, das die Tagesleidenschaften so furchtbar ansprechen mußte. Ich habe diese Besorgnisse dem Grafen mitgeteilt, und er war verständig genug, nichts gegen mich zu schreiben. Da ich ihn zuerst angegriffen, hätte ich seine Antwort nicht ignorieren dürfen, und eine Replik hätte wieder von meiner Seite erfolgen müssen. Wegen jener Einsicht verdient der Graf das beste Lob, das ich ihm hiermit zolle, und zwar um so bereitwilliger, da ich in ihm persönlich einen geistreichen und, was noch mehr sagen will, einen wohldenkenden Mann gefunden, der es wohl verdient hätte, in der Vorrede zu den Kahldorfschen Briefen nicht wie ein gewöhnlicher Adliger behandelt zu werden. Seitdem habe ich seine Schrift über Gewerbefreiheit gelesen, worin er, wie bei vielen anderen Fragen, den liberalsten Grundsätzen huldigt.

Es ist eine sonderbare Sache mit diesen Adligen! Die Besten unter ihnen können sich von ihren Geburtsinteressen nicht lossagen. Sie können in den meisten Fällen liberal denken, vielleicht noch unabhängig liberaler als Roturiers, sie können vielleicht mehr als diese die Freiheit lieben und Opfer dafür bringen – aber für bürgerliche Gleichheit sind sie sehr unempfänglich. Im Grunde ist kein Mensch ganz liberal, nur die Menschheit ist es ganz, da der eine das Stück Liberalismus besitzt, das dem anderen mangelt, und die Leute sich also in ihrer Gesamtheit aufs beste ergänzen. Der Graf Moltke ist gewiß der festesten Meinung, daß der Sklavenhandel etwas Widerrechtliches und Schändliches ist, und er stimmt gewiß für dessen Abschaffung. Mynheer van der Null hingegen, ein Sklavenhändler, den ich unter den Bohmchen zu Rotterdam kennengelernt, ist durchaus überzeugt, der Sklavenhandel sei etwas ganz Natürliches und Anständiges, das Vorrecht der Geburt aber, das Erbprivilegium, der Adel, sei etwas Ungerechtes und Widersinniges, welches jeder honette Staat ganz abschaffen müsse.

Daß ich im Julius 1831 mit dem Grafen Moltke, dem Champion des Adels, keinen Federkrieg führen wollte, wird jeder vernünftig fühlende Mensch zu würdigen wissen, wenn er die Natur der Bedrohnisse erwägt, die damals in Deutschland laut geworden.

Die Leidenschaften tobten wilder als je, und es galt damals, dem Jakobinismus ebenso kühn die Stirne zu bieten wie einst dem Absolutismus. Unbeweglich in meinen Grundsätzen, haben selbst die Ränke des Jakobinismus nicht vermocht, mich hier, zu Paris, in den dunkelen Strudel hineinzureißen, wo deutscher Unverstand mit französischem Leichtsinn rivalisierte. Ich habe keinen Teil genommen an der hiesigen deutschen Assoziation, außer daß ich ihr, bei einer Kollekte für die Unterstützung der freien Presse, einige Francs zollte; lange vor den Juniustagen habe ich den Vorstehern jener Assoziation aufs bestimmteste notifiziert, daß ich nicht mit derselben in weiterer Verbindung stehe. Ich kann daher nur mitleidig die Achsel zucken, wenn ich höre, daß die jesuitisch aristokratische Partei in Deutschland sich zu jener Zeit die größte Mühe gab, mich als einen der Enragés des Tages darzustellen, um mir bei deren Exzessen eine kompromittierende Solidarität aufzubürden.

Es war eine tolle Zeit, und ich hatte meine große Not mit meinen besten Freunden, und ich war sehr besorgt für meine schlimmsten Feinde. Ja, ihr teuern Feinde, ihr wißt nicht, wieviel Angst ich um euch ausgestanden habe. Es war schon die Rede davon, alle verräterische Junker, verleumderische Pfaffen und sonstige Schurken in Deutschland aufzuknüpfen. Wie durfte ich das leiden! Galt es nur, euch ein bißchen zu züchtigen, euch auf dem Schloßplatz zu Berlin oder auf dem Schrannenmarkt zu München in einem gelinden Versmaße mit Ruten zu streichen oder euch die trikolore Kokarde auf die Tonsur zu nageln oder sonst ein Späßchen mit euch zu treiben, das hätte ich schon hingehen lassen. Aber daß man euch geradezu umbringen wollte, das litt ich nicht. Euer Tod wäre ja für mich der größte Verlust gewesen. Ich hätte mir neue Feinde erwerben müssen, vielleicht unter honetten Leuten, welches einem Schriftsteller in den Augen des Publikums sehr schädlich ist. Nichts ist uns ersprießlicher, als wenn wir lauter schlechte Kerle zu Feinden haben. Der HERR hat mich unübersehbar reichlich mit dieser Sorte gesegnet, und ich bin froh, daß sie jetzt in Sicherheit sind. Ja, laßt uns ein »Te Metternich laudamus« singen, ihr teuern Feinde! Ihr waret in der größten Gefahr, gehenkt zu werden, und ich hätte euch dann auf immer verloren! Jetzt ist wieder alles still, alles wird beigelegt oder festgesetzt, die Bundesakte wird losgelassen, und die Patrioten werden eingesperrt, und wir sehen einer langen, süßen, sicheren Ruhe entgegen. Jetzt können wir uns wieder ungestört des alten schönen Verhältnisses erfreuen: ich geißle euch wieder nach wie vor, und ihr verleumdet mich wieder nach wie vor. Wie froh bin ich, euch noch so ungehenkt zu sehen! Euer Leben ist mir teurer als jemals. Ich kann mich bei eurem Anblick einer gewissen Rührung nicht erwehren. Ich bitte euch, schont eure Gesundheit; verschluckt nicht euer eigenes Gift, lügt und verleumdet lieber wo möglich noch mehr, als ihr zu tun pflegt, das erleichtert das fromme Herz; geht nicht so gebückt und gekrümmt, das schadet der Brust; geht mal ins Theater, wenn eine Raupachsche Tragödie gegeben wird, das heitert auf; versucht eine Abwechselung in euren Privatvergnügungen, besucht auch einmal ein schönes Mädchen; hütet euch aber vor des Seilers Töchterlein!

Ihr flattert jetzt wieder an einem langen Faden; aber wer weiß, eines frühen Morgens hängt ihr an einem kurzen Strick.

Beilage zu Artikel VI

»Siehe zu, die Grundsuppe des Wuchers, der Dieberei und der Räuberei sind unsere Großen und Herren, nehmen alle Kreaturen zum Eigentum, die Fische im Wasser, die Vögel in der Luft, das Gewächs auf Erden, alles muß ihr sein. (Jes. V.) Darüber lassen sie denn Gottes Gebot ausgehen unter die Armen und sprechen: ›Gott hat geboten, du sollt nicht stehlen‹; es dienet aber ihnen nicht. So sie nun alle Menschen verursachen, den armen Ackermann, Handwerkmann und alles, was da lebet, schinden und schaben (Mich. III.), so er sich dann vergreift an dem Allerheiligsten, so muß er henken. Da sagt dann der Doktor Lügner Amen. Die Herren machen das selber, daß ihnen der arme Mann feind wird. Die Ursach des Aufruhrs wollen sie nicht wegtun, wie kann es in der Länge gut werden? So ich das sage, werde ich aufrührisch sein, wohl hin.«

So sprach vor dreihundert Jahren Thomas Münzer, einer der heldenmütigsten und unglücklichsten Söhne des deutschen Vaterlandes, ein Prediger des Evangeliums, das, nach seiner Meinung, nicht bloß die Seligkeit im Himmel verhieß, sondern auch die Gleichheit und Brüderschaft der Menschen auf Erden befehle. Der Doktor Martinus Luther war anderer Meinung und verdammte solche aufrührerische Lehren, wodurch sein eigenes Werk, die Losreißung von Rom und die Begründung des neuen Bekenntnisses, gefährdet wurde; und vielleicht mehr aus Weltklugheit denn aus bösem Eifer schrieb er das unrühmliche Buch gegen die unglücklichen Bauern. Pietisten und servile Duckmäuser haben in jüngster Zeit dieses Buch wieder ins Leben gerufen und die neuen Abdrücke ins Land herum verbreitet, einerseits, um den hohen Protektoren zu zeigen, wie die reine lutherische Lehre den Absolutismus unterstütze, andererseits, um durch Luthers Autorität den Freiheitsenthusiasmus in Deutschland niederzudrücken. Aber ein heiligeres Zeugnis, das aus dem Evangelium hervorblutet, widerspricht der knechtischen Ausdeutung und vernichtet die irrige Autorität; Christus, der für die Gleichheit und Brüderschaft der Menschen gestorben ist, hat sein Wort nicht als Werkzeug des Absolutismus offenbart, und Luther hatte unrecht, und Thomas Münzer hatte recht. Er wurde enthauptet zu Mödlin. Seine Gefährten hatten ebenfalls recht, und sie wurden teils mit dem Schwerte hingerichtet, teils mit dem Stricke gehenkt, je nachdem sie adeliger oder bürgerlicher Abkunft waren. Markgraf Kasimir von Ansbach hat, noch außer solchen Hinrichtungen, auch fünfundachtzig Bauern die Augen ausstechen lassen, die nachher im Lande herumbettelten und ebenfalls recht hatten. Wie es in Oberöstreich und Schwaben den armen Bauern erging, wie überhaupt in Deutschland viele hunderttausend Bauern, die nichts als Menschenrechte und christliche Milde verlangten, abgeschlachtet und gewürgt wurden von ihren geistlichen und weltlichen Herren, ist männiglich bekannt. Aber auch letztere hatten recht, denn sie waren noch in der Fülle ihrer Kraft, und die Bauern wurden manchmal irre an sich selber, durch die Autoritäten eines Luthers und anderer Geistlichen, die es mit den Weltlichen hielten, und durch unzeitige Kontroverse über zweideutige Bibelstellen und weil sie manchmal Psalmen sangen, statt zu fechten.

Im Jahr der Gnade 1789 begann in Frankreich derselbe Kampf um Gleichheit und Brüderschaft, aus denselben Gründen, gegen dieselben Gewalthaber, nur daß diese durch die Zeit ihre Kraft verloren und das Volk an Kraft gewonnen und nicht mehr aus dem Evangelium, sondern aus der Philosophie seine Rechtsansprüche geschöpft hatte. Die feudalistischen und hierarchischen Institutionen, die Karl der Große in seinem großen Reiche begründet und die sich in den daraus hervorgegangenen Ländern mannigfaltig entwickelt, diese hatten in Frankreich ihre mächtigen Wurzeln geschlagen, jahrhundertelang kräftig geblüht und, wie alles in der Welt, endlich ihre Kraft verloren. Die Könige von Frankreich, verdrießlich ob ihrer Abhängigkeit von dem Adel und von der Geistlichkeit, welcher erstere sich ihnen gleich dünkte und welche letztere mehr als sie selbst das Volk beherrschte, hatten allmählich die Selbständigkeit jener beiden Mächte zu vernichten gewußt, und unter Ludwig XIV. war dieses stolze Werk vollendet. Statt eines kriegerischen Feudaladels, der die Könige einst beherrschte und schützte, kroch jetzt um die Stufen des Thrones ein schwächlicher Hofadel, dem nur die Zahl seiner Ahnen, nicht seiner Burgen und Mannen, Bedeutung verlieh; statt starrer, ultramontanischer Priester, die mit Beicht’ und Bann die Könige schreckten, aber auch das Volk im Zaume hielten, gab es jetzt eine gallikanische, sozusagen mediatisierte Kirche, deren Ämter man im Œil de bœuf von Versailles oder im Boudoir der Mätressen erschlich und deren Oberhäupter zu denselben Adligen gehörten, die als Hofdomestiken paradierten, so daß Abt- und Bischofskostüm, Pallium und Mitra, als eine andre Art von Hoflivree betrachtet werden konnte; – und ohngeachtet dieser Umwandlung behielt der Adel die Vorrechte, die er einst über das Volk ausgeübt; ja sein Hochmut gegen letzteres stieg, je mehr er gegen seinen königlichen Herren in Demut versank; er usurpierte, nach wie vor, alle Genüsse, drückte und beleidigte, nach wie vor; und dasselbe tat jene Geistlichkeit, die ihre Macht über die Geister längst verloren, aber ihre Zehnten, ihr Dreigöttermonopol, ihre Privilegien der Geistesunterdrückung und der kirchlichen Tücken noch bewahrt hatte. Was einst, im Bauernkrieg, die Lehrer des Evangeliums versucht, das taten die Philosophen jetzt in Frankreich, und mit besserem Erfolg; sie demonstrierten dem Volke die Usurpationen des Adels und der Kirche; sie zeigten ihm, daß beide kraftlos geworden; – und das Volk jubelte auf, und als am 14. Julius 1789 das Wetter sehr günstig war, begann das Volk das Werk seiner Befreiung, und wer am 14. Julius 1790 den Platz besuchte, wo die alte, dumpfe, mürrisch unangenehme Bastille gestanden hatte, fand dort, statt dieser, ein luftig lustiges Gebäude, mit der lachenden Aufschrift: »Ici on danse.«

Seit siebzehn Jahren sind viele Schriftsteller in Europa unablässig bemüht, die Gelehrten Frankreichs von dem Vorwurf zu befreien, als hätten sie den Ausbruch der französischen Revolution ganz besonders verursacht. Die jetzigen Gelehrten wollten wieder bei den Großen zu Gnaden aufgenommen werden, sie suchten wieder ihr weiches Plätzchen zu Füßen der Macht und gebärdeten sich dabei so servil unschuldig, daß man sie nicht mehr für Schlangen ansah, sondern für gewöhnliches Gewürme. Ich kann aber nicht umhin, der Wahrheit wegen zu gestehen, daß eben die Gelehrten des vorigen Jahrhunderts den Ausbruch der Revolution am meisten befördert und deren Charakter bestimmt haben. Ich rühme sie deshalb, wie man den Arzt rühmt, der eine schnelle Krisis herbeigeführt und die Natur der Krankheit, die tödlich werden konnte, durch seine Kunst gemildert hat. Ohne das Wort der Gelehrten hätte der hinsiechende Zustand Frankreichs noch unerquicklich länger gedauert; und die Revolution, die doch am Ende ausbrechen mußte, hätte sich minder edel gestaltet; sie wäre gemein und grausam geworden, statt daß sie jetzt nur tragisch und blutig ward; ja, was noch schlimmer ist, sie wäre vielleicht ins Lächerliche und Dumme ausgeartet, wenn nicht die materiellen Nöten einen idealen Ausdruck gewonnen hätten; – wie es leider nicht der Fall ist in jenen Ländern, wo nicht die Schriftsteller das Volk verleitet haben, eine Erklärung der Menschenrechte zu verlangen, und wo man eine Revolution macht, um keine Torsperre zu bezahlen oder um eine fürstliche Mätresse loszuwerden usw. Voltaire und Rousseau sind zwei Schriftsteller, die mehr als alle andere der Revolution vorgearbeitet, die späteren Bahnen derselben bestimmt haben und noch jetzt das französische Volk geistig leiten und beherrschen. Sogar die Feindschaft dieser beiden Schriftsteller hat wunderbar nachgewirkt; vielleicht war der Parteikampf unter den Revolutionsmännern selbst, bis auf diese Stunde, nur eine Fortsetzung eben dieser Feindschaft. (Vergleiche die Note a am Schluß.)

Dem Voltaire geschieht jedoch unrecht, wenn man behauptet, er sei nicht so begeistert gewesen wie Rousseau; er war nur etwas klüger und gewandter. Die Unbeholfenheit flüchtet sich immer in den Stoizismus und grollt lakonisch beim Anblick fremder Geschmeidigkeit. Alfieri macht dem Voltaire den Vorwurf, er habe als Philosoph gegen die Großen geschrieben, während er ihnen als Kammerherr die Fackel vortrug. Der düstere Piemonteser bemerkte nicht, daß Voltaire, indem er dienstbar den Großen die Fackel vortrug, auch damit zugleich ihre Blöße beleuchtete. Ich will aber Voltaire durchaus nicht von dem Vorwurf der Schmeichelei freisprechen, er und die meisten französischen Gelehrten krochen wie kleine Hunde zu den Füßen des Adels und leckten die goldenen Sporen und lächelten, wenn sie sich daran die Zunge zerrissen, und ließen sich mit Füßen treten. Wenn man aber die kleinen Hunde mit Füßen tritt, so tut das ihnen ebenso weh wie den großen Hunden. Der heimliche Haß der französischen Gelehrten gegen die Großen muß um so entsetzlicher gewesen sein, da sie außer den gelegentlichen Fußtritten auch viele wirkliche Wohltaten von ihnen genossen hatten. Garat erzählt von Chamfort, daß er tausend Taler, die Ersparnisse eines ganzen arbeitsamen Lebens, aus einem alten Lederbeutel hervorzog und freudig hingab, als, im Anfang der Revolution, zu einem revolutionären Zwecke Geld gesammelt wurde. Und Chamfort war geizig und war immer von den Großen protegiert worden.

Mehr aber noch als die Männer der Wissenschaft haben die Männer der Gewerbe den Sturz des alten Regimes befördert. Glaubten jene, die Gelehrten, daß an dessen Stelle das Regime der geistigen Kapazitäten beginne, so glaubten diese, die Industriellen, daß ihnen, dem faktisch mächtigsten und kräftigsten Teil des Volks, auch gesetzlich die Anerkenntnis ihrer hohen Bedeutung, und also gewiß jede bürgerliche Gleichstellung und Mitwirkung bei den Staatsgeschäften, gebühre. Und in der Tat, da die bisherigen Institutionen auf das alte Kriegswesen und den Kirchenglauben beruhten, welche beide kein wahres Leben mehr in sich trugen, so mußte die Gesellschaft auf die beiden neuen Gewalten basiert werden, worin eben die meiste Lebenskraft quoll, nämlich auf die Wissenschaft und die Industrie. Die Geistlichkeit, die geistig zurückgeblieben war, seit Erfindung der Buchdruckerei, und der Adel, der durch die Erfindung des Pulvers zugrunde gerichtet worden, hätten jetzt einsehen müssen, daß die Macht, die sie seit einem Jahrtausend ausgeübt, ihren stolzen, aber schwachen Händen entschwinde und in die verachteten, aber starken Hände der Gelehrten und Gewerbfleißigen übergehe; sie hätten einsehen müssen, daß sie die verlorene Macht nur in Gemeinschaft mit eben jenen Gelehrten und Gewerbfleißigen wiedergewinnen könnten; – sie hatten aber nicht diese Einsicht, sie wehrten sich töricht gegen das Unvermeidliche, ein schmerzlicher, widersinniger Kampf begann, die schleichende, windige Lüge und der morsche, kranke Stolz fochten gegen die eiserne Notwendigkeit, gegen Fallbeil und Wahrheit, gegen Leben und Begeistrung, und wir stehen jetzt noch auf der Walstätte.

Da war ein trübseliger Minister, respektabeler Bankier, guter Hausvater, guter Christ, guter Rechner, der Pantalon der Revolution, der glaubte steif und fest, das Defizit des Budgets sei der eigentliche Grund des Übels und des Streites; und er rechnete Tag und Nacht, um das Defizit zu heben, und vor lauter Zahlen sah er weder die Menschen noch ihre drohenden Mienen; doch hatte er in seiner Dummheit einen sehr guten Einfall, nämlich die Zusammenberufung der Notabeln. Ich sage, einen sehr guten Einfall, weil er der Freiheit zugute kam; ohne jenes Defizit hätte Frankreich sich noch länger im Zustande des mißbehaglichsten Siechtums hingeschleppt; jenes Defizit war in der Tat nicht mit Geld zu bezahlen, nämlich weil es die Krankheit zum Ausbruch trieb; jene Zusammenberufung der Notabeln beschleunigte die Krisis und also auch die künftige Genesung; und wenn einst die Büste Neckers ins Pantheon der Freiheit aufgestellt wird, wollen wir ihm eine Narrenkappe, bekränzt mit patriotischem Eichenlaub, aufs Haupt setzen. Wahrlich, ist es töricht, wenn man nur die Personen sieht in den Dingen, so ist es noch törichter, wenn man in den Dingen nur die Zahlen sieht. Es gibt aber Kleingeister, die aufs pfiffigste beide Irrtümer zu verschmelzen suchen, die sogar in den Personen die Zahlen suchen, womit sie uns die Dinge erklären wollen. Sie sind nicht damit zufrieden, den Julius Cäsar für die Ursache des Untergangs römischer Freiheit zu halten, sondern sie behaupten, der geniale Julius sei so verschuldet gewesen, daß er, um nicht selber eingesteckt zu werden, genötigt war, die ganze Welt mitsamt seinen Gläubigern einzustecken. Wenn ich nicht irre, so dient eine Stelle Plutarchs, wo dieser von Cäsars Schulden spricht, zur Basis einer solchen Argumentation. Bourienne, der kleine schmuckelnde Bourienne, der bestechliche Croupier beim Glückspiel des Kaiserreichs, die armselige arme Seele, hat irgendwo in seinen Memoiren angedeutet, daß es wohl Geldverlegenheit gewesen sein mag, was den Napoleon Bonaparte, im Anfange seiner Laufbahn, zu großen Unternehmungen angetrieben habe. In dieser Weise sind manche Tiefdenker nicht damit zufrieden, den Grafen Mirabeau für die Ursache des Untergangs der französischen Monarchie zu halten, sondern sie behaupten sogar, jener sei so sehr durch Geldnot und Schulden bedrängt gewesen, daß er sich nur durch den Umsturz des Vorhandenen habe helfen können. Ich will solche Absurdität nicht weiter besprechen; doch mußte ich sie erwähnen, weil sie eben in der letzten Zeit sich am blühendsten entfalten konnte. Mirabeau betrachtet man nämlich jetzt als den eigentlichen Repräsentanten jener ersten Phasis der Revolution, die mit der Nationalversammlung beginnt und schließt. Er ist als solcher ein Volksheld geworden, man bespricht ihn täglich, man erblickt ihn überall, gemalt und gemeißelt, man sieht ihn dargestellt auf allen französischen Theatern, in allen seinen Gestalten: arm und wild; liebend und hassend; lachend und knirschend; ein sorglos verschuldeter Gott, dem Himmel und Erde gehörte und der kapabel war, seinen letzten Fixstern und letzten Louisdor im Pharo zu verspielen; ein Simson, der die Staatssäulen niederreißt, um im stürzenden Gebäude seine mahnenden Philister zu verschütten; ein Herkules, der am Scheidewege sich mit beiden Damen verständigt und in den Armen des Lasters sich von den Anstrengungen der Tugend zu erholen weiß; »ein von Genie und Häßlichkeit strahlender Ariel-Kaliban«, den die Prosa der Liebe ernüchterte, wenn ihn die Poesie der Vernunft berauscht hatte; ein verklärter, anbetungswürdiger Wüstling der Freiheit; ein Zwitterwesen, das nur Jules Janin schildern konnte.

Eben durch die moralischen Widersprüche seines Charakters und Lebens ist Mirabeau der eigentliche Repräsentant seiner Zeit, die ebenfalls so liederlich und erhaben, so verschuldet und reich war, die ebenfalls, im Kerker sitzend, die schlüpfrigsten Romane, aber auch die edelsten Befreiungsbücher geschrieben und die nachher, obgleich belastet mit der alten Puderperücke und mit einem Stück von der alten, infamen Kette, als Herold des neuen Weltfrühlings auftrat und dem erblassenden Zeremonienmeister der Vergangenheit die kühnen Worte zurief: »Allez dire à votre maître que nous sommes ici par la puissance du peuple, et qu’on ne nous en arrachera que par la force des baïonnettes.« Mit diesen Worten beginnt die französische Revolution; kein Bürgerlicher hätte den Mut gehabt, sie auszusprechen, die Zunge der Roturiers und Vilains war noch gebunden von dem stummen Zauber des alten Gehorsams, und eben nur im Adel, in jener überfrechen Kaste, die niemals wahre Ehrfurcht vor den Königen fühlte, fand die neue Zeit ihr erstes Organ.

Ich kann nicht umhin zu erwähnen, daß man mir jüngst versichert, jene weltberühmten Worte Mirabeaus gehörten eigentlich dem Grafen Volney, der, neben ihm sitzend, sie ihm souffliert habe. Ich glaube nicht, daß diese Sage ganz grundlos erfunden sei, sie widerspricht durchaus nicht dem Charakter Mirabeaus, der die Ideen seiner Freunde ebenso gern wie ihr Geld borgte und der deswegen in vielen Memoiren, namentlich in den Brissotschen und in den jüngst erschienenen Memoiren von Dumont, entsetzlich verschrien wird. Manche seiner Zeitgenossen haben deshalb an der Größe seines Rednertalentes gezweifelt und ihm nur wirksame Saillies, Theatercoups der Tribüne, zugestanden. Es ist jetzt schwer, ihn in dieser Hinsicht zu beurteilen. Nach dem Zeugnis der Mitlebenden, die man noch über ihn befragen kann, lag der Zauber seiner Rede mehr in seiner persönlichen Erscheinung als in seinen Worten. Besonders wenn er leise sprach, ward man durchschauert von dem wunderbaren Laut seiner Stimme; man hörte die Schlangen zischen, die heimlich unter den oratorischen Blumen krochen. Kam er in Leidenschaft, war er unwiderstehlich. Von Frau von Staël erzählt man, daß sie auf der Galerie der Nationalversammlung saß, als Mirabeau die Tribüne bestieg, um gegen Necker zu sprechen. Es versteht sich, daß eine Tochter wie sie, die ihren Vater anbetete, mit Wut und Grimm gegen Mirabeau erfüllt war; aber diese feindlichen Gefühle schwanden, je länger sie ihn anhörte, und endlich, als das Gewitter seiner Rede mit schrecklichster Herrlichkeit aufstieg, als die vergifteten Blitze aus seinen Augen schossen, als die weltzerschmetternden Donner aus seiner Seele hervorgrollten – da lag Frau von Staël weit hinausgelehnt über der Balustrade der Galerie und applaudierte wie toll.

Aber bedeutsamer noch als das Rednertalent des Mannes war das, was er sagte. Dieses können wir jetzt am unparteiischsten beurteilen, und da sehen wir, daß Mirabeau seine Zeit am tiefsten begriffen hat, daß er nicht sowohl niederzureißen als auch aufzubauen wußte und daß er letzteres besser verstand als die großen Meister, die sich bis auf heutigen Tag an dem großen Werke abmühen. In den Schriften Mirabeaus finden wir die Hauptideen einer konstitutionellen Monarchie wie sie Frankreich bedurfte; wir entdecken den Grundriß, obgleich nur flüchtig und mit blassen Linien entworfen; und wahrlich, allen weisen und bangen Regenten Europas empfehle ich das Studium dieser Linien, dieser Staatshülfslinien, die das größte politische Genie unserer Zeit, mit prophetischer Einsicht und mathematischer Sicherheit, vorgezeichnet hat. Es wäre wichtig genug, wenn man Mirabeaus Schriften in dieser Hinsicht auch für Deutschland ganz besonders zu exploitieren suchte. Seine revolutionären, negierenden Gedanken haben leichtes Verständnis und schnelle Wirkung gefunden. Seine ebenso gewaltigen positiven, konstituierenden Gedanken sind weniger verstanden und wirksam geworden.

Am wenigsten verstand man Mirabeaus Vorliebe für das Königtum. Was er diesem an absoluter Gewalt abgewinnen wollte, das gedachte er ihm durch konstitutionelle Sicherung zu vergüten; ja, er gedachte die königliche Macht noch zu vermehren und zu verstärken, indem er den König aus den Händen der hohen Stände, die ihn durch Hofintrigen und Beichtstuhl faktisch beherrschten, gewaltsam riß und vielmehr in die Arme des dritten Standes hineindrängte. Mirabeau eben war der Verkünder jenes konstitutionellen Königtums, das nach meinem Bedünken der Wunsch jener Zeit war und das, mehr oder minder demokratisch formuliert, auch von der Gegenwart, von uns in Deutschland, verlangt wird.

Dieser konstitutionelle Royalismus war es, was dem Leumund des Grafen am meisten geschadet; denn die Revolutionäre, die ihn nicht begriffen, sahen darin einen Abfall und meinten, er habe die Revolution verkauft. Sie schmähten ihn alsdann um die Wette mit den Aristokraten, die ihn haßten, eben weil sie ihn begriffen, weil sie wußten, daß Mirabeau durch die Vernichtung der Privilegienwirtschaft das Königtum auf ihre Kosten retten und verjüngen wollte. Wie ihn aber die Misere der Privilegierten anwiderte, so mußte ihm auch die Roheit der meisten Demagogen fatal sein, um so mehr, da sie, in jener wahnwitzig debordierenden Weise, die wir wohl kennen, schon die Republik predigten. Es ist interessant, in den damaligen Blättern zu sehen, zu welchen sonderbaren Mitteln jene Demagogen, die gegen die Popularität des Mirabeau noch nicht öffentlich anzukämpfen wagten, ihre Zuflucht nahmen, um die monarchische Tendenz des großen Tribuns unwirksam zu machen. So z.B. als Mirabeau sich einmal ganz bestimmt royalistisch ausgesprochen hatte, wußten sich diese Leute nicht anders zu helfen, als indem sie aussprengten: da Mirabeau seine Reden öfters nicht selbst mache, sei es ihm passiert, daß er die Rede, die er von einem Freunde erhalten, vorher zu lesen vergessen und erst auf der Tribüne bemerkt habe, daß dieser ihm perfiderweise eine ganz royalistische Rede untergeschoben.

Ob es Mirabeau gelungen wäre, die Monarchie zu retten und neu zu begründen, darüber wird noch immer gestritten. Die einen sagen, er starb zu früh; die anderen sagen, er starb eben zur rechten Zeit. Er starb nicht an Gift; denn die Aristokratie hatte ihn eben damals nötig. Volksmänner vergiften nicht; der Giftbecher gehört zur alten Tragödie der Paläste. Mirabeau starb, weil er zwei Tänzerinnen, Mesdemoiselles Helisberg und Colomb, und eine Stunde vorher eine Trüffelpastete genossen hatte. – –

Note a

Der Kampf unter den Revolutionsmännern des Konvents war nichts anders als der geheime Groll des Rousseauischen Rigorismus gegen die Voltairesche Légèreté. Die echten Montagnards hegten ganz die Denk- und Gefühlsweise Rousseaus, und als sie die Dantonisten und Hébertisten zu gleicher Zeit guillotinierten, geschah es nicht sowohl, weil jene zu sehr den erschlaffenden Moderantismus predigten und diese hingegen im zügellosesten Sansculottismus ausarteten; wie mir jüngst ein alter Bergmann sagte: »parcequ’ils étaient tous des hommes pourris, frivoles, sans croyance et sans vertu.« Beim Umstürzen des Alten waren die wilden Revolutionsmänner ziemlich einig, als aber etwas Neues gebaut werden sollte, als das Positivste zur Sprache kam, da erwachten die natürlichen Antipathien. Der rousseauisch ernste Schwärmer Saint-Just haßte alsdann den heiteren, geistreichen Fanfaron Desmoulins. Der sittenreine, unbestechliche Robespierre haßte den sinnlichen, geldbefleckten Danton. Maximilian Robespierre heiligen Andenkens war die Inkarnation Rousseaus; er war tief religiös, er glaubte an Gott und Unsterblichkeit, er haßte die Voltaireschen Religionsspöttereien, die unwürdigen Possen eines Gobels, die Orgien der Atheisten und das laxe Treiben der Esprits, und er haßte vielleicht jeden, der witzig war und gern lachte.

Am 19. Thermidor siegte die kurz vorher unterdrückte Voltairesche Partei; unter dem Direktorium übte sie ihre Reaktionen gegen den Berg; späterhin, während dem Heldenspiel der Kaiserzeit und während der frommen christlichen Komödie der Restauration, konnte sie nur in untergeordneten Rollen sich geltend machen; aber wir sahen sie doch bis auf diese Stunde, mehr oder minder tätig, am Staatsruder stehen, und zwar repräsentiert von dem ehemaligen Bischof von Autun, Charles Maurice Talleyrand. Rousseaus Partei, unterdrückt seit jenem unglückseligen Tage des Thermidor, lebt arm, aber geistig und leiblich gesund in den Faubourgs St. Antoine und St. Marceau, sie lebt in der Gestalt eines Garnier-Pagès, eines Cavaignac und so vieler andern edlen Republikaner, die von Zeit zu Zeit als Blutzeugen auftreten, für das Evangelium der Freiheit. Ich bin nicht tugendhaft genug, um jemals dieser Partei mich anschließen zu können; ich hasse aber zu sehr das Laster, als daß ich sie jemals bekämpfen würde.

Tagesberichte

Vorbemerkung

Über die mißlungene Insurrektion vom 5. und 6. Junius, über diese so bedeutende und folgereiche Erscheinung wird man nie viel Wahres und Richtiges erfahren, sintemalen beide Parteien gleich interessiert waren, die bekannten Tatsachen zu entstellen und die unbekannten zu verhüllen. Die folgenden Tagesberichte, geschrieben angesichts der Begebenheiten, im Geräusch des Parteikampfs, und zwar immer kurz vor Abgang der Post, so schleunig als möglich, damit die Korrespondenten des siegenden Justemilieu nicht den Vorsprung gewönnen – diese flüchtigen Blätter teile ich hier mit, unverändert, insoweit sie auf die Insurrektion vom 5. Junius Bezug haben. Der Geschichtschreiber mag sie vielleicht einst um so gewissenhafter benutzen können, da er wenigstens sicher ist, daß sie nicht nach späteren Interessen verfertigt worden.

Wenn es auch für manche irrige Suppositionen, wie man sie in diesen Blättern findet, keines besonderen Widerrufs bedarf, so kann ich doch nicht umhin, eine einzige derselben zu berichtigen. Der General Lafayette hat nämlich seitdem öffentlich erklärt, daß er es nicht war, welcher am 5. Junius die rote Fahne und die Jakobinermütze bekränzt hat. Unser alter General hat sich, wie ich erst später erfahren, an jenem Tage ganz seiner würdig gezeigt. Eine leicht begreifliche Diskretion erlaubt mir nicht, in diesem Augenblick einige hierauf bezügliche Umstände zu berichten, die selbst den eingefleischtesten Jakobiner mit Rührung und Ehrfurcht vor Lafayette erfüllen müßten.

Man wird in diesen Blättern, wie im ganzen Buche, vielen widersprechenden Äußerungen begegnen, aber sie betreffen nie die Dinge, sondern immer die Personen. Über erstere muß unser Urteil feststehen, über letztere darf es täglich wechseln. So habe ich über das schlechte System, worin Ludwig Philipp wie in einem Sumpfe steckt, immer dieselbe Meinung ausgesprochen, aber über seine Person urteilte ich nicht immer in derselben Tonart. Im Beginn war ich gegen ihn gestimmt, weil ich ihn für einen Aristokraten hielt; später, als ich mich von seiner echten Bürgerlichkeit überzeugte, sprach ich schon von ihm viel besser; als er uns durch den État de siège erschreckte, ward ich wieder sehr aufgebracht gegen ihn; dies legte sich wieder nach den ersten Tagen, als wir sahen, daß der arme Ludwig Philipp nur in der Betäubung der eignen Angst jenen Mißgriff begangen; aber seitdem haben mir die Karlisten durch ihre Schmähungen eine wahre Vorliebe für die Person dieses Königs eingeflößt, und ich könnte diese noch in meinem Herzen steigern, wenn ich ihn mit….. vergleichen wollte.

Paris, 5. Juni

Der Leichenzug von General Lamarque, un convoi d’opposition, wie die Philippisten sagen, ist eben von der Madelaine nach dem Bastillenplatze gezogen; es waren mehr Leidtragende und Zuschauer als bei Casimir Pérsiers Begräbnis. Das Volk zog selbst den Leichenwagen. Besonders auffallend in dem Zuge waren die fremden Patrioten, deren Nationalfahnen in einer Reihe getragen wurden. Ich bemerkte darunter auch eine Fahne, deren Farben aus Schwarz, Karmosinrot und Gold bestanden. Um ein Uhr fiel ein starker Regen, der über eine halbe Stunde dauerte; trotzdem blieb eine unabsehbare Volksmenge auf den Boulevards, die meisten barhaupt. Als der Zug bis gegen das Variétés-Theater gelangt war und eben die Kolonne der Amis du peuple vorüberzog und mehrere derselben »Vive la République!« riefen, fiel es einem Polizeisergeanten ein, zu intervenieren; aber man stürzte über ihn her, zerbrach seinen Degen, und ein gräßlicher Tumult entstand; er ist nur mit Not gestillt worden. Der Anblick einer solchen Störnis, die einige hunderttausend Menschen in Bewegung gesetzt, war jedoch merkwürdig und bedenklich genug.

Paris, 6. Junius

Ich weiß nicht, ob ich in meinem gestrigen Briefe erwähnt habe, daß auf den Abend eine Emeute angesagt war. Als Lamarques Leichenzug über die Boulevards kam und der Auftritt beim Theater des Varietes stattfand, konnte man schon Schlimmes ahnen. Auf wessen Seite die Schuld, daß die Leidenschaft so fürchterlich ausbrach, ist schwer zu ermitteln. Die widersprechendsten Gerüchte herrschen noch immer über den Anfang der Feindseligkeiten, über die Ereignisse dieser Nacht und über die ganze Lage der Dinge. Nur ein Begebnis, welches mir von mehrern Seiten und aufs glaubwürdigste bestätigt wird, will ich hier erwähnen. Als Lafayette, dessen Anwesenheit bei dem Leichenzug überall Enthusiasmus erregt hatte, auf dem Platze, bei dem Pont d’Austerlitz, wo die Totenfeier stattfand, seine Leichenrede geendet hatte, drückte man ihm eine Immortellenkrone aufs Haupt. Zu gleicher Zeit ward auf eine ganz rote Fahne, welche schon vorher viel Aufmerksamkeit erregt, eine rote phrygische Mütze gesteckt, und ein Schüler der École polytechnique erhob sich auf den Schultern der Nebenstehenden, schwenkte seinen blanken Degen über jene rote Mütze und rief: »Vive la liberté!«, nach andrer Aussage: »Vive la République!« Lafayette soll alsdann seinen Immortellenkranz auf die rote Freiheitsmütze gesetzt haben; viele glaubwürdige Leute behaupten, sie hätten es mit eigenen Augen gesehen. Es ist möglich, daß er durch Zwang oder Überraschung diese symbolische Handlung getan; es ist aber auch möglich, daß eine dritte Hand dabei im Spiele war, ohne daß man es in dem großen Menschengedränge bemerken konnte. Nach dieser Manifestation, sagen einige, wollte man die bekränzte rote Mütze im Triumphe durch die Stadt tragen, und als die Munizipalgarden und Sergeants de ville bewaffneten Widerstand leisteten, habe der Kampf begonnen. Soviel ist gewiß, als Lafayette, ermüdet von dem vierstündigen Wege, sich in einen Fiaker setzte, hat das Volk die Pferde desselben ausgespannt und seinen alten treuesten Freund, mit eigenen Händen, unter ungeheurem Beifallruf, über die Boulevards gezogen. Viele Ouvriers hatten junge Bäume aus der Erde gerissen und liefen damit, wie Wilde, neben dem Wagen, der in jedem Augenblicke bedroht schien, durch das ungefüge Menschengedränge umgestürzt zu werden. Es sollen zwei Schüsse den Wagen getroffen haben; ich kann jedoch über diesen sonderbaren Umstand nichts Bestimmtes angeben.

Viele, die ich ob des Beginns der Feindseligkeiten befragt habe, behaupten, es habe bei dem Pont d’Austerlitz wegen der Leiche des toten Helden der blutige Hader begonnen, indem ein Teil der »Patrioten« den Sarg nach dem Pantheon bringen, ein anderer Teil ihn weiter nach dem nächsten Dorfe begleiten wollte und die Sergeants de ville und Munizipalgarden sich dergleichen Vorhaben widersetzten. So schlug man sich nun mit großer Erbitterung, wie einst vor dem Skäischen Tore um die Leiche des Patroklus. Auf der Place de la Bastille ist viel Blut geflossen. Um halb sieben Uhr kämpfte man schon an der Porte St. Denis, wo das Volk sich barrikadierte. Mehrere bedeutende Posten wurden genommen; die Nationalgarden, die solche besetzt hatten, widerstanden nur schwach und übergaben ihre Waffen. So bekam das Volk viele Gewehre. Auf der Place Notre Dame des Victoires fand ich großen Kampflärm; die »Patrioten« hatten drei Posten an der Bank besetzt. Als ich mich nach den Boulevards wandte, fand ich dort alle Butiken geschlossen, wenig Volk, darunter gar wenige Weiber, die doch sonst bei Emeuten sehr furchtlos ihre Schaulust befriedigen; es sah alles sehr ernsthaft aus. Linientruppen und Kürassiere zogen hin und her, Ordonnanzen mit besorgten Gesichtern sprengten vorüber, in der Ferne Schüsse und Pulverdampf. Das Wetter war nicht mehr trübe und gegen Abend sehr günstig. Die Sache schien für die Regierung sehr gefährlich, als es hieß, die Nationalgarden hätten sich für das Volk erklärt. Der Irrtum entstand dadurch, daß viele der »Patrioten« gestern die Uniform der Nationalgardisten trugen und die Nationalgarde wirklich einige Zeit unschlüssig war, welche Partei sie unterstützen sollte. Während dieser Nacht haben die Weiber wahrscheinlich ihren Männern demonstriert, daß man nur die Partei unterstützen müsse, die am meisten Sicherheit für Leib und Gut gewährt, und dessen gewähre Ludwig Philipp viel mehr als die Republikaner, die sehr arm und überhaupt für Handel und Gewerbe sehr schädlich seien; die Nationalgarde ist also heute ganz gegen die Republikaner; die Sache ist entschieden. »C’est un coup manqué«, sagt das Volk. Von allen Seiten kommen Linientruppen nach Paris. Auf der Place de la Concorde stehen sehr viele geladene Kanonen, ebenfalls auf der andern Seite der Tuilerien, auf dem Carrouselplatz. Der Bürgerkönig ist von Bürgerkanonen umringt; où peut-on être mieux qu’au sein de sa famille? Es ist jetzt vier Uhr, und es regnet stark. Dieses ist den »Patrioten« sehr ungünstig, die sich großenteils im Quartier St. Martin barrikadiert haben und wenig Zuhülfe erhalten. Sie sind von allen Seiten zerniert, und ich höre in diesem Augenblick den stärksten Kanonendonner. Ich vernahm, vor zwei Stunden hätte das Volk noch viele Siegeshoffnung gehabt, jetzt aber gelte es nur, heroisch zu sterben. Das werden viele. Da ich bei der Porte St. Denis wohne, habe ich die ganze Nacht schlaflos zugebracht; fast ununterbrochen dauerte das Schießen. Der Kanonendonner findet jetzt in meinem Herzen den kummervollsten Widerhall. Es ist eine unglückselige Begebenheit, die noch unglückseligere Folgen haben wird.

Paris, 7. Juni

Als ich gestern nach der Börse ging, um meinen Brief in den Postkasten zu werfen, stand das ganze Spekulantenvolk unter den Kolonnen, vor der breiten Börsentreppe. Da eben die Nachricht anlangte, daß die Niederlage der »Patrioten« gewiß sei, zog sich die süßeste Zufriedenheit über sämtliche Gesichter; man konnte sagen, die ganze Börse lächelte. Unter Kanonendonner gingen die Fonds um zehn Sous in die Höhe. Man schoß nämlich noch bis fünf Uhr; um sechs Uhr war der ganze Revolutionsversuch unterdrückt. Die Journale konnten also darüber schon heute soviel Belehrung mitteilen, als ihnen ratsam schien. Der »Constitutionnel« und die »Débats« scheinen die Hauptzüge der Ereignisse einigermaßen richtig getroffen zu haben. Nur das Kolorit und der Maßstab ist falsch. Ich komme eben von dem Schauplatze des gestrigen Kampfes, wo ich mich überzeugt habe, wie schwer es wäre, die ganze Wahrheit zu ermitteln. Dieser Schauplatz ist nämlich eine der größten und volkreichsten Straßen von Paris, die Rue St. Martin, die an der Pforte dieses Namens auf dem Boulevard beginnt und erst an der Seine, an dem Pont de Notre-Dame, aufhört. An beiden Enden der Straße hörte ich die Anzahl der »Patrioten« oder, wie sie heute heißen, der »Rebellen«, die sich dort geschlagen, auf fünfhundert bis tausend angeben; jedoch gegen die Mitte der Straße ward diese Angabe immer kleiner und schmolz endlich bis auf fünfzig. »Was ist Wahrheit!« sagt Pontius Pilatus.

Die Anzahl der Linientruppen ist leichter zu ermitteln; es sollen gestern (selbst dem »Journal des débats« zufolge) 40000 Mann schlagfertig in Paris gestanden haben. Rechnet man dazu wenigstens 20000 Nationalgarden, so schlug sich jene Handvoll Menschen gegen 60000 Mann. Einstimmig wird der Heldenmut dieser Tollkühnen gerühmt; sie sollen Wunder der Tapferkeit vollbracht haben. Sie riefen beständig: »Vive la Republiqué!«, und sie fanden kein Echo in der Brust des Volks. Hätten sie statt dessen »Vive Napoléon!« gerufen, so würde, wie man heute in allen Volksgruppen behauptet, die Linie schwerlich auf sie geschossen haben, und die große Menge der Ouvriers wäre ihnen zu Hülfe gekommen. Aber sie verschmähten die Lüge. Es waren die reinsten, jedoch keineswegs die klügsten Freunde der Freiheit. Und doch ist man heute albern genug, sie des Einverständnisses mit den Karlisten zu beschuldigen! Wahrlich, wer so todesmutig für den heiligen Irrtum seines Herzens stirbt, für den schönen Wahn einer idealischen Zukunft, der verbindet sich nicht mit jenem feigen Kot, den uns die Vergangenheit unter dem Namen Karlisten hinterlassen hat. Ich bin, bei Gott! kein Republikaner, ich weiß, wenn die Republikaner siegen, so schneiden sie mir die Kehle ab, und zwar, weil ich nicht auch alles bewundere, was sie bewundern; – aber dennoch, die nackten Tränen traten mir heute in die Augen, als ich die Orte betrat, die noch von ihrem Blute gerötet sind. Es wäre mir lieber gewesen, ich und alle meine Mitgemäßigten wären, statt jener Republikaner, gestorben.

Die Nationalgardisten freuen sich sehr ihres Sieges. In ihrer Siegestrunkenheit hätten sie gestern abend fast mir selber, der ich doch zu ihrer Partei gehöre, eine ganz ungesunde Kugel in den Leib gejagt; sie schossen nämlich heldenmütig auf jeden, der ihren Posten zu nahe kam. – Es war ein regnichter, sternloser, widerwärtiger Abend. Wenig Licht auf den Straßen, da fast alle Läden, ebenso wie den Tag über, geschlossen waren. Heute ist wieder alles in bunter Bewegung, und man sollte glauben, nichts wäre vorgegangen. Sogar auf der Straße St. Martin sind alle Läden geöffnet. Trotzdem daß man wegen des aufgerissenen Pflasters und der Reste der Barrikaden dort schwer passiert, wälzt sich jetzt aus Neugier eine ungeheure Menschenmasse durch die Straße, die sehr lang und ziemlich eng ist und deren Häuser ungeheuer hoch gebaut. Fast überall hat dort der Kanonendonner die Fensterscheiben zerbrochen, und überall sieht man die frischen Spuren der Kugeln; denn von beiden Seiten wurde mit Kanonen in die Straße hineingeschossen, bis die Republikaner sich in die Mitte derselben zusammengedrängt sahen. Gestern sagte man, in der Kirche St. Merry seien sie endlich von allen Seiten eingeschlossen gewesen. Diesem aber hörte ich am Orte selbst widersprechen. Ein etwas hervorragendes Haus, Café Leclerque geheißen und an der Ecke des Gäßchens St. Merry gelegen, scheint das Hauptquartier der Republikaner gewesen zu sein. Hier hielten sie sich am längsten; hier leisteten sie den letzten Widerstand. Sie verlangten keine Gnade und wurden meistens durch die Bajonette gejagt. Hier fielen die Schüler der Alfortschen Schule. Hier floß das glühendste Blut Frankreichs. – Man irrt jedoch, wenn man glaubt, daß die Republikaner aus lauter jungen Brauseköpfen bestanden. Viele alte Leute kämpften mit ihnen. Eine junge Frau, die ich bei der Kirche St. Merry sprach, klagte über den Tod ihres Großvaters, dieser habe sonst so friedlich gelebt, aber als er die rote Fahne gesehen und »Vive la Republiqué!« rufen hörte, sei er, mit einer alten Pike, zu den jungen Leuten gelaufen und mit ihnen gestorben. Armer Greis! er hörte den Kuhreigen »des Berges«, und die Erinnerung seiner ersten Freiheitsliebe erwachte, und er wollte noch einmal mitträumen den Traum der Jugend! Schlaft wohl!

Die Nachfolgen dieser gescheiterten Revolution sind vorauszusehen. Über tausend Menschen sind arretiert, darunter auch, wie man sagt, ein Deputierter, Garnier-Pagès. Die liberalen Journale werden unterdrückt. Das Krämertum frohlockt, der Egoismus gedeiht, und viele der besten Menschen müssen Trauer anlegen. Die Abschreckungstheorie wird noch mehr Opfer verlangen. Schon ist der Nationalgarde angst ob ihrer eignen Force; diese Helden erschrecken, wenn sie sich selbst in einem Spiegel sehen. Der König, der große, starke, mächtige Ludwig Philipp, wird viele Ehrenkreuze austeilen. Der bezahlte Witzbold wird die Freunde der Freiheit auch im Grabe schmähen, und letztere heißen jetzt Feinde der öffentlichen Ruhe, Mörder usw.

Ein Schneider, der heute morgen auf dem Vendômeplatze es wagte, die gute Absicht der Republikaner zu erwähnen, bekam Prügel von einer starken Frau, die wahrscheinlich seine eigne war. Das ist die Konterrevolution.

Paris, 8. Juni

Es scheint keine ganz rote, sondern eine rotschwarzgoldene Fahne gewesen zu sein, die Lafayette bei Lamarques Totenfeier mit Immortellen bekränzt hat. Diese fabelhafte Fahne die niemand kannte, hatten viele für eine republikanische gehalten. Ach, ich kannte sie sehr gut, ich dachte gleich: Du lieber Himmel! das sind ja unsre alten Burschenschaftsfarben, heute geschieht ein Unglück oder eine Dummheit. Leider geschah beides. Als die Dragoner, beim Beginn der Feindseligkeiten, auch auf die Deutschen einsprengten, die jener Fahne folgten, barrikadierten sich diese hinter die großen Holzbalken eines Schreinerhofs. Später retirierten sie sich nach dem Jardin des Plantes, und die Fahne, obgleich in sehr beschädigtem Zustand, ist gerettet. Den Franzosen, die mich über die Bedeutung dieser rotschwarzgoldenen Fahne befragt, habe ich gewissenhaft geantwortet, der Kaiser Rotbart, der seit vielen Jahrhunderten im Kyffhäuser wohnt, habe uns dieses Banner geschickt, als ein Zeichen, daß das alte große Traumreich noch existiert und daß er selbst kommen werde, mit Zepter und Schwert. Was mich betrifft, so glaube ich nicht, daß letzteres so bald geschieht; es flattern noch gar zu viele schwarze Raben um den Berg.

Hier, in Paris, gestalten sich die Verhältnisse minder traumhaft; auf allen Straßen Bajonette und wachsame Militärgesichter. Ich habe es anfangs nur für einen unbedeutenden Schreckschuß gehalten, daß man Paris in Belagerungsstand erklärt; es hieß, man würde diese Erklärung gleich wieder zurücknehmen. Aber als ich gestern nachmittags immer mehr und mehr Kanonen über die Rue Richelieu fahren sah, merkte ich, daß man die Niederlage der Republikaner benützen möchte, um andern Gegnern der Regierung, namentlich den Journalisten, an den Leib zu kommen. Es ist nun die Frage, ob der »gute Wille« auch mit hinlänglicher Kraft gepaart ist. Man exploitiert jetzt die Siegesbetäubung der Nationalgardisten, die in betreff der Republikaner an gewaltsamen Maßregeln teilgenommen und denen jetzt Ludwig Philipp wieder kameradschaftlich wie sonst die Hand drückt. Da man die Karlisten haßt und die Republikaner mißbilligt, so unterstützt das Volk den König als den Erhalter der Ordnung, und er ist so populär wie die liebe Notwendigkeit. Ja, ich habe »Vive le roi!« rufen hören, als der König über die Boulevards ritt; aber ich habe auch eine hohe Gestalt gesehen, die unfern des Faubourg Montmartre ihm kühn entgegentrat und »A bas Louis Philippe!« rief. Mehrere Reiter des königlichen Gefolges stiegen gleich von ihren Pferden, ergriffen jenen Protestanten und schleppten ihn mit sich fort.

Ich habe Paris nie so sonderbar schwül gesehen wie gestern abend. Trotz des schlechten Wetters waren die öffentlichen Orte mit Menschen gefüllt. In dem Garten des Palais Royal drängten sich die Gruppen der Politiker und sprachen leise, in der Tat sehr leise; denn man kann jetzt auf der Stelle vor ein Kriegsgericht gestellt und in vierundzwanzig Stunden erschossen werden. Ich fange an, mich nach dem Gerichtsschlendrian meines Deutschlands zurückzusehnen. Der gesetzlose Zustand, worin man sich jetzt hier befindet, ist widerwärtig; das ist ein fataleres Übel als die Cholera. Wie man früher, als letztere grassierte, durch die übertriebenen Angaben der Totenzahl geängstet wurde, so ängstigt man sich jetzt, wenn man von den ungeheuer vielen Arrestationen, wenn man von geheimen Füsilladen hört, wenn tausenderlei schwarze Gerüchte sich, wie gestern abend der Fall war, im Dunkeln bewegen. Heute, bei Tageslicht, ist man beruhigter. Man gesteht, daß man sich gestern geängstigt, und man ist vielmehr verdrießlich als furchtsam. Es herrscht jetzt ein Justemilieu-Terreur!

Die Journale sind gemäßigt in ihren Protestationen, jedoch keineswegs kleinlaut. Der »National« und der »Temps« sprechen furchtlos, wie freien Männern ziemt. Mehr, als heute in den Blättern steht, weiß ich über die neuesten Ereignisse nicht mitzuteilen. Man ist ruhig und läßt die Dinge ruhig herankommen. Die Regierung ist vielleicht erschrocken über die ungeheure Macht, die sie in ihren eigenen Händen sieht. Sie hat sich über die Gesetze erhoben; eine bedenkliche Stellung. Denn es heißt mit Recht: Qui est au-dessus de la loi, est hors de la loi. Das einzige, womit viele wahre Freiheitsfreunde die jetzigen gewaltsamen Maßregeln entschuldigen, ist die Notwendigkeit, daß die royauté démocratique im Innern erstarken müsse, um nach außen kräftiger zu handeln.

Paris, 10. Juni

Gestern war Paris ganz ruhig. Den Gerüchten von den vielen Füsilladen, noch vorgestern abend von den glaubwürdigsten Leuten verbreitet, wurde von denen, die der Regierung am nächsten stehen, aufs beruhigendste widersprochen. Nur eine große Anzahl von Verhaftungen wurde eingestanden. Dessen konnte man sich aber auch mit eignen Augen überzeugen; gestern, noch mehr aber vorgestern, sah man überall arretierte Personen von Liniensoldaten oder Kommunalgarden vorbeiführen. Das war zuweilen wie eine Prozession; alte und junge Menschen, in den kläglichsten Kostümen und begleitet von jammernden Angehörigen. Hieß es doch, jeder werde gleich vor ein Kriegsgericht gestellt und binnen vierundzwanzig Stunden erschossen, zu Vincennes. Überall sah man Volksgruppen vor den Häusern, wo Nachsuchungen geschahen. Dies war hauptsächlich der Fall in den Straßen, die der Schauplatz des Kampfes gewesen und wo sich viele der Kämpfer, als sie an ihrer Sache verzweifelten, verborgen hielten, bis irgendein Verräter sie aufspürte. Längs den Kais sah man das meiste Volksgewimmel, gaffend und schwatzend, besonders in der Nähe der Rue St. Martin, die noch immer mit Schaulustigen gefüllt ist, und um das Palais de Justice, wohin man viele Gefangene führte. Auch an der Morgue drängte man sich, um die dort ausgestellten Toten zu sehen; dort gab es die schmerzlichsten Erkennungsszenen. Die Stadt gewährte wirklich einen kummervollen Anblick; überall Volksgruppen mit Unglück auf den Gesichtern, patrouillierende Soldaten und Leichenzüge gefallener Nationalgardisten.

In der Sozietät ist man jedoch seit vorgestern nicht im mindesten bekümmert; man kennt seine Leute, und man weiß, daß das Justemilieu sich selbst sehr unbehaglich fühlt in der jetzigen Fülle seiner Gewalt. Es besitzt jetzt das große Richtschwert, aber es fehlt ihm die starke Hand, die dazu gehört. Bei dem mindesten Streich fürchtet es, sich selbst zu verletzen. Berauscht von dem Siege, den man zunächst dem Marschall Soult verdankte, ließ man sich zu militärischen Maßregeln verleiten, die jener alte Soldat, der noch voll von den Velleitäten der Kaiserzeit, vorgeschlagen haben soll. Nun steht dieser Mann auch faktisch an der Spitze des Ministerrats, und seine Kollegen und die übrigen Justemilieu-Leute fürchten, daß ihm jetzt auch die so eifrig ambitionierte Präsidentur anheimfalle. Man sucht daher ganz leise einzulenken und sich wieder aus dem Heroismus herauszuziehen; und dahin zielen die nachträglichen milden Definitionen, die man der Ordonnanz über die Erklärung des Belagerungszustandes jetzt nachschickt. Man kann es dem Justemilieu ansehen, wie es sich vor seiner eigenen Macht jetzt ängstigt und aus Angst sie krampfhaft in Händen hält und sie vielleicht nicht wieder losgibt, bis man ihm Pardon verspricht. Es wird vielleicht in der Verzweiflung einige unbedeutende Opfer fallenlassen; es wird sich vielleicht in den lächerlichsten Grimm hineinlügen, um seine Feinde zu erschrecken; es wird grauenhafte Dummheiten begehen; es wird – es ist unmöglich vorauszusehen, was nicht alles die Furcht vermag, wenn sie sich in den Herzen der Gewalthaber barrikadiert hat und sich rings von Tod und Spott zerniert sieht. Die Handlungen eines Furchtsamen, wie die eines Genies, liegen außerhalb aller Berechnung. Indessen, das höhere Publikum fühlt hier, daß der außergesetzliche Zustand, worein man es versetzt, nur eine Formel ist. Wo die Gesetze im Bewußtsein des Volks leben, kann die Regierung sie nicht durch eine plötzliche Ordonnanz vernichten. Man ist hier de facto seines Leibes und seines Eigentums immer noch sicherer als im übrigen Europa, mit Ausnahme Englands und Hollands. Obgleich Kriegsgerichte instituiert sind, herrscht hier noch immer mehr faktische Preßfreiheit, und die Journalisten schreiben hier über die Maßregeln der Regierung noch immer viel freier als in manchen Staaten des Kontinents, wo die Preßfreiheit durch papierne Gesetze sanktioniert ist.

Da die Post heute, Sonntag, schon diesen Mittag abgeht, kann ich über heute nichts mitteilen. Auf die Journale muß ich bloß verweisen. Ihr Ton ist weit wichtiger als das, was sie sagen. Übrigens sind sie gewiß wieder voll von Lügen. – Seit frühestem Morgen wird unaufhörlich getrommelt. Es ist heute große Revue. Mein Bedienter sagt mir, daß die Boulevards, überhaupt die ganze Strecke von der Barrière du Trône bis an die Barrière de l’Étoile mit Linientruppen und Nationalgarden bedeckt sind. Ludwig Philipp, der Vater des Vaterlandes, der Besieger der Catilinas vom 5. Juni, Cicero zu Pferde, der Feind der Guillotine und des Papiergeldes, der Erhalter des Lebens und der Butiken, der Bürgerkönig, wird sich in einigen Stunden seinem Volke zeigen; ein lautes Lebehoch wird ihn begrüßen; er wird sehr gerührt sein; er wird vielen die Hand drücken, und die Polizei wird es an besonderen Sicherheitsmaßregeln und an Extraenthusiasmus nicht fehlen lassen.

Paris, 11. Juni

Ein wunderschönes Wetter begünstigte die gestrige Heerschau. Auf den Boulevards, von der Barrière du Trône bis zur Barrière de l’Étoile, standen vielleicht 50000 Nationalgarden und Linientruppen, und eine unzählige Menge von Zuschauern war auf den Beinen oder an den Fenstern, neugierig erwartend, wie der König aussehen und das Volk ihn empfangen werde, nach so außerordentlichen Ereignissen. Um ein Uhr gelangten Se. Majestät mit Ihrem Generalstab in die Nähe der Porte Saint-Denis, wo ich auf einer umgestürzten Therme stand, um genauer beobachten zu können. Der König ritt nicht in der Mitte, sondern an der rechten Seite, wo Nationalgarden standen, und den ganzen Weg entlang lag er seitwärts vom Pferde herabgebeugt, um überall den Nationalgarden die Hand zu drücken; als er zwei Stunden später desselben Wegs zurückkehrte, ritt er an der linken Seite, wo er dasselbe Manöver fortsetzte, so daß ich mich nicht wundern würde, wenn er, infolge dieser schiefen Haltung, heute die größten Brustschmerzen empfindet oder sich gar eine Rippe verrenkt hat. Jene außerordentliche Geduld des Königs war wirklich unbegreifbar. Dabei mußte er beständig lächeln. Aber unter der dicken Freundlichkeit jenes Gesichtes, glaube ich, lag viel Kummer und Sorge. Der Anblick des Mannes hat mir tiefes Mitleid eingeflößt. Er hat sich sehr verändert, seit ich ihn diesen Winter auf einem Ball in den Tuilerien gesehen. Das Fleisch seines Gesichtes, damals rot und schwellend, war gestern schlaff und gelb, sein schwarzer Backenbart war jetzt ganz ergraut, so daß es aussieht, als wenn sogar seine Wangen sich seitdem geängstigt ob gegenwärtiger und künftiger Schläge des Schicksals; wenigstens war es ein Zeichen des Kummers, daß er nicht daran gedacht hat, seinen Backenbart schwarz zu färben. Der dreieckige Hut, der, mit ganzer Vorderbreite, ihm tief in die Stirne gedrückt saß, gab ihm außerdem ein sehr unglückliches Ansehen. Er bat gleichsam mit den Augen um Wohlwollen und Verzeihung. Wahrlich, diesem Mann war es nicht anzusehen, daß er uns alle in Belagerungsstand erklärt hat. Es regte sich daher auch nicht der mindeste Unwille gegen ihn, und ich muß bezeugen, daß großer Beifallruf ihn überall begrüßte; besonders haben ihm diejenigen, denen er die Hand gedrückt, ein rasendes Lebehoch nachgeschrien, und aus tausend Weibermäulern erscholl ein gellendes: »Vive le roi!« Ich sah eine alte Frau, die ihren Mann in die Rippen stieß, weil er nicht laut genug geschrien. Ein bitteres Gefühl ergriff mich, wenn ich dachte, daß das Volk, welches jetzt den armen händedrückenden Ludwig Philipp umjubelt, dieselben Franzosen sind, die so oft den Napoleon Bonaparte vorbeireiten sahen mit seinem marmornen Cäsargesicht und seinen unbewegten Augen und »unnahbaren« Händen.

Nachdem Ludwig Philipp die Heerschau gehalten oder vielmehr das Heer betastet hatte, um sich zu überzeugen, daß es wirklich existiert, dauerte der militärische Lärm noch mehrere Stunden. Die verschiedenen Korps schrien sich beständig Komplimente zu, wenn sie aneinander vorübermarschierten. »Vive la ligne!« rief die Nationalgarde, und jene schrie dagegen »Vive la Garde nationale!« Sie fraternisierten. Man sah einzelne Liniensoldaten und Nationalgarden in symbolischer Umarmung; ebenso, als symbolische Handlung, teilten sie miteinander ihre Würste, ihr Brot und ihren Wein. Es ereignete sich nicht die geringste Unordnung.

Ich kann nicht umhin zu erwähnen, daß der Ruf: »Vive la liberté!« der häufigste war, und wenn diese Worte von so vielen tausend bewaffneten Leuten aus voller Brust hervorgejauchzt wurden, fühlte man sich ganz heiter beruhigt, trotz des Belagerungsstandes und der instituierten Kriegsgerichte. Aber das ist es eben, Ludwig Philipp wird sich nie selbstwillig der öffentlichen Meinung entgegenstellen, er wird immer ihre dringendsten Gebote zu erlauschen suchen und immer darnach handeln. Das ist die wichtige Bedeutung der gestrigen Revue. Ludwig Philipp fühlte das Bedürfnis, das Volk in Masse zu sehen, um sich zu überzeugen, daß es ihm seine Kanonenschüsse und Ordonnanzen nicht übelgenommen und ihn nicht für einen argen Gewaltkönig hält und kein sonstiges Mißverständnis stattfindet. Das Volk wollte sich aber auch seinen Ludwig Philipp genau betrachten, um sich zu überzeugen, daß er noch immer der untertänige Höfling seines souveränen Willens ist und ihm noch immer gehorsam und ergeben geblieben. Man konnte deshalb ebenfalls sagen, das Volk habe den König die Revue passieren lassen, es habe Königschau gehalten und habe bei dessen Manöver seine allerhöchste Zufriedenheit geäußert.

Paris, 12. Juni

Die große Revue war gestern das allgemeine Tagesgespräch. Die Gemäßigten sahen darin das beste Einverständnis zwischen dem König und den Bürgern. Viele erfahrne Leute wollen jedoch diesem schönen Bunde nicht trauen und weissagen ein Zerwürfnis, das leicht stattfinden kann, sobald einmal die Interessen des Thrones mit den Interessen der Butike in Konflikt geraten. Jetzt freilich stützen sie sich wechselseitig, und König und Bürger sind miteinander zufrieden. Wie man mir erzählt, war die Place Vendôme vorgestern nachmittag der Schauplatz, wo man jene schöne Übereinstimmung am besten bemerken konnte; der König war erheitert durch den Jubel, womit er auf den Boulevards empfangen worden; und als die Kolonnen der Nationalgarden ihm vorbeidefilierten, traten einzelne derselben, ohne Umstände, aus der Reihe hervor, reichten auch ihm die Hand, sagten ihm dabei ein freundliches Wort oder sagten ihm bündigst ihre Meinung über die letzten Ereignisse oder erklärten ihm unumwunden, daß sie ihn unterstützen werden, solange er seine Macht nicht mißbrauche. Daß dieses nie geschehe, daß er nur die Unruhestifter unterdrücken wolle, daß er die Freiheit und Gleichheit der Franzosen um so kräftiger verfechten werde, beteuerte Ludwig Philipp aufs heiligste, und sein Wort begründete vieles Vertrauen. Ich habe der Unparteilichkeit wegen diese Umstände nachträglich erwähnen müssen. Ja, ich gestehe es, das mißtrauende Herz ward mir dadurch etwas besänftigt.

Die Oppositionsjournale scheinen fast die vorgestrigen Vorgänge ignorieren zu wollen. Überhaupt ist ihr Ton sehr merkwürdig. Es ist eine Art des Ansichhaltens, wie es furchtbaren Ausbrüchen vorherzugehen pflegt. Sie scheinen nur die Aufhebung der Ordonnanz über den Belagerungsstand abwarten zu wollen. Der Ton jedes Journals bekundet, in welchem Grade es bei den letzten Ereignissen kompromittiert ist. Die »Tribune« muß ganz schweigen, denn diese ist am meisten bloßgestellt. Der »National« ist es ebenfalls, aber nicht in so hohem Grade, und er darf schon mehr und freier sprechen. Der »Temps«, der am stärksten und kühnsten sich gegen die Ordonnanz des Belagerungsstandes erhoben hat, steht gar nicht schlecht mit einigen Rädelsführern des Justemilieu und ist viel mehr geschützt als Sarrut und Carrel; aber wir wollen uns durch solche Berücksichtigung nicht abhalten lassen, den Herrn Coste als einen der besten Bürger Frankreichs zu loben, ob der männlichen großen Worte, womit er sich in bedrängtester Zeit gegen die Ungesetzlichkeit und die Willkür der Regierung ausgesprochen hat. – Herr Sarrut ist arretiert; Herrn Carrel sucht man überall. Gegen Carrel ist man wohl am meisten aufgebracht. Man glaubte nämlich allgemein, Herr Carrel stände an der Spitze der Volksbewegung vom 5. Juni. Das große Gebäude in der Rue du Croissant, wo die Druckerei und die Bureaux des »National«, hielt man für das Hauptquartier, und gegen zweitausend Personen, worunter viele von hoher Bedeutung, sind dorthin gegangen, um sich und ihren Anhang zu jeder Mithülfe anzubieten. Es ist aber ganz gewiß, daß Carrel alle solche Anträge abgelehnt und vorausgesagt, daß die beabsichtigte Revolution mißlinge, weil man sie nicht gehörig vorbereitet; weil man sich der Sympathie des Volks nicht versichert; weil man der nötigsten Hülfsmittel entbehre; weil man nicht einmal die agierenden Personen kenne usw. Und in der Tat, nie gab es eine Empörung, die schlechter eingeleitet worden, und bis auf diese Stunde weiß man noch nicht, wie sie entstanden ist und sich gestaltet hat. Jemand, der in der Rue St. Martin mitgefochten, versichert: Als die Republikaner, die sich dort eingeschlossen fanden, einander betrachteten, hat keiner den andern gekannt, und nur Zufall hat alle diese Menschen, die sich ganz fremd waren, zusammengebracht. Sie lernten sich jedoch schnell kennen, als sie sich gemeinschaftlich schlugen, und die meisten starben als herzinnig vertraute Waffenbrüder. So hat man auch bis auf diese Stunde noch nicht ermitteln können, wie es mit der Heimführung Lafayettes eigentlich zugegangen ist. Ein Wohlunterrichteter hat mir gestern versichert, die Regierung, die dem Lamarqueschen Leichenbegängnisse mißtraute und deshalb auch ihre Dragoner in Bereitschaft hielt, habe der Polizei Order gegeben, bei etwanigem Ausbruche von Revolte sich immer gleich des Lafayettes zu bemächtigen, damit dieser nicht in die Hände der Empörer gerate und durch das Ansehen seines Namens sie unterstützen könne; als nun die ersten Schüsse fielen, haben einige Polizeiagenten, als Ouvriers verkleidet, den armen Lafayette gewaltsam in eine Kutsche geschoben, und andere ebenfalls verkleidete Polizeiagenten haben sich davor gespannt und ihn unter lautem »Vive Lafayette!« im Triumphe davongeschleppt.

Wenn man jetzt die Republikaner sprechen hört, so gestehen sie, daß am 6. Juni das Unglück ihrer Freunde ihnen viel geschadet, daß aber tags darauf die Torheit ihrer Feinde, nämlich die Ordonnanz über den Belagerungsstand der Stadt Paris, ihnen desto mehr genutzt hat. Sie behaupten, daß der 5. und 6. Juni nur als Vorpostengefecht zu betrachten sei, daß keiner von den Notabilitäten der republikanischen Partei dabeigewesen und daß ihnen aus dem vergossenen Blute viele neue Mitkämpfer erwüchsen. Was ich oben erwähnt, scheint diese Behauptung einigermaßen zu unterstützen. Die Partei, die der »National« repräsentiert und die von der perfiden »Gazette de France« als doktrinäre Republikaner bezeichnet wird, nahm an jenen Begebenheiten keinen Teil, und die Häuptlinge der Partei der »Tribune«, die Montagnards, sind ebenfalls nicht dabei zum Vorschein gekommen.

Paris, 17. Juni

Man macht sich jetzt in der Ferne gewiß die sonderbarsten Vorstellungen von dem hiesigen Zustande, wenn man die letzten Vorfälle, den noch unaufgehobenen État de siège und die schroffe Gegeneinanderstellung der Parteien, bedenkt. Und doch sehen wir diesen Augenblick hier so wenig Veränderung, daß wir uns eben über diesen Mangel an ungewöhnlichen Erscheinungen am meisten wundern müssen. Diese Bemerkung ist die Hauptsache, die ich mitzuteilen habe, und dieser negative Inhalt meines Briefes wird gewiß manche irrige Voraussetzungen berichtigen.

Es ist hier ganz still. Die Kriegsgerichte instruieren mit grimmiger Miene. Bis jetzt ist noch keine Katze erschossen. Man lacht, man spöttelt, man witzelt über den Belagerungszustand, über die Tapferkeit der Nationalgarde, über die Weisheit der Regierung. Was ich gleich vorausgesagt habe, ist richtig eingetroffen: das Justemilieu weiß nicht, wie es sich wieder aus dem Heroismus herausziehen soll, und die Belagerten betrachten mit Schadenfreude diesen verzweifelten Zustand der Belagerer. Diese möchten gern so barbarisch als möglich aussehen; sie wühlen im Archiv der barbarischsten Zeiten, um Greuelgesetze wieder ins Leben zu rufen, und es gelingt ihnen nur, sich lächerlich zu machen.

Die geputzten Menschengruppen, die in den Gärten des Palais Royal, der Tuilerien und des Luxemburg spazierengehen und die stille Sommerkühle einatmen oder den idyllischen Spielen der kleinen Kinder zuschauen oder in sonstig umfriedeter Ruhe sich erlustigen, diese bilden, ohne es zu wissen, die heiterste Satire auf jenen Belagerungszustand, welcher gesetzlich existiert. Damit das Publikum nur einigermaßen daran glaube, werden mit dem größten Ernst überall Haussuchungen gehalten, Kranke werden aus ihren Betten aufgestört, und man wühlt nach, ob nicht etwa eine Flinte darin versteckt liegt oder gar eine Tüte mit Pulver. – Am meisten werden die armen Fremden belästigt, die des Belagerungszustandes wegen sich nach der Préfecture de Police begehen müssen, um neue Aufenthaltserlaubnisse nachzusuchen. Sie müssen dort pro forma allerlei Interrogationen ausstehen. Viele Franzosen aus der Provinz, besonders Studenten, müssen auf der Polizei einen Revers unterschreiben, daß sie während ihres Aufenthalts in Paris nichts gegen die Regierung von Ludwig Philipp unternehmen wollten. Viele haben lieber die Stadt verlassen, als daß sie diese Unterschrift gaben. Andere unterschrieben nur, nachdem man ihnen erlaubte hinzuzusetzen, daß sie ihrer Gesinnung nach Republikaner seien. Jene polizeiliche Vorsichtsmaßregel haben gewiß die Doktrinäre nach dem Beispiele deutscher Universitäten eingeführt.

Man arretiert noch immer, zuweilen die heterogensten Leute und unter den heterogensten Vorwänden; die einen wegen Teilnahme an der republikanischen Revolte, andere wegen einer neuentdeckten bonapartistischen Verschwörung; gestern arretierte man sogar drei karlistische Pairs, worunter Don Chateaubriand, der Ritter von der traurigen Gestalt, der beste Schriftsteller und größte Narr von Frankreich. Die Gefängnisse sind überfüllt. In Saint-Pélagie allein sitzen politischer Anklagen halber über 600 Gefangene. Von einem meiner Freunde, der wegen Schulden sich dort befindet und ein großes Werk schreibt, in welchem er beweist, daß Saint-Pélagie von den Pelasgern gestiftet worden, erhielt ich gestern einen Brief, worin er sehr klagt über den Lärm, der ihn jetzt umgebe und in seinen gelehrten Untersuchungen gestört habe. Der größte Übermut herrscht unter den Gefangenen von Saint- Auf die Mauer des Hofes haben sie eine ungeheuer große Birne gezeichnet und darüber ein Beil.

Ich kann bei Erwähnung der Birne nicht umhin zu bemerken, daß die Bilderläden durchaus keine Notiz genommen von unserem Belagerungszustande. Die Birne, und wieder die Birne, ist dort auf Karikaturen zu schauen. Die auffallendste ist wohl die Darstellung der Place de la Concorde mit dem Monument, das der Charte gewidmet ist; auf letzterm, welches die Gestalt eines Altars hat, liegt eine ungeheure Birne mit den Gesichtszügen des Königs. – Dem Gemüt eines Deutschen wird dergleichen auf die Länge lästig und widrig. Jene ewigen Spöttereien, gemalt und gedruckt, erregen vielmehr bei mir eine gewisse Sympathie für Ludwig Philipp. Er ist wahrhaft zu bedauern, jetzt mehr als je. Er ist gütig und milde von Natur und wird jetzt gewiß von den Kriegsgerichten dazu verurteilt, strenge zu sein. Dabei fühlt er, daß Exekutionen weder helfen noch abschrecken, besonders nachdem die Cholera vor einigen Wochen über 35000 Menschen durch die schrecklichsten Martern hingerichtet. Grausamkeiten werden aber den Gewalthabern eher verziehen als die Verletzung hergebrachter Rechtsbegriffe, wie sie namentlich in der rückwirkenden Kraft der Belagerungserklärung liegt. Deshalb hat jene Androhung von kriegsgerichtlicher Strenge den Republikanern einen so superieuren Ton eingeflößt, und ihre Gegner erscheinen dadurch jetzt so klein.

Paris, 7. Juli

Eine Abspannung, wie sie nach großen Aufregungen einzutreten pflegt, ist hier in diesem Augenblicke bemerkbar. Überall graue Mißlaune, Vergrämnis, Müdigkeit, aufgesperrte Männer, die teils gähnen, teils ohnmächtig die Zähne weisen. Der Beschluß des Kassationshofes hat unserem sonderbaren Belagerungszustande fast lustspielartig ein Ende gemacht. Es ist über diese unvorhergesehene Katastrophe so viel gelacht worden, daß man der Regierung ihren verfehlten Coup d’état fast verzieh. Mit welchem Ergötzen lasen wir an den Straßenecken die Proklamation des Herrn Montalivet, worin er sich gleichsam bei den Parisern bedankte, daß sie von dem État de siège sowenig Notiz genommen und sich unterdessen durchaus nicht in ihren Vergnügungen stören lassen! Ich glaube nicht, daß Beaumarchais dieses Aktenstück besser geschrieben hätte. Wahrlich, die jetzige Regierung tut viel für die Aufheiterung des Volks!

Zu gleicher Zeit amüsierten sich die Franzosen mit einem sonderbaren Puzzlespiel. Letzteres ist bekanntlich ein chinesischer Zeitvertreib, und man hat dabei die Aufgabe zu lösen, daß man mit einigen schiefen und eckigen Stückchen Holz eine bestimmte Figur zusammensetzen könne. Nach den Regeln dieses Spiels beschäftigte man sich nun in den hiesigen Salons, ein neues Ministerium zusammenzusetzen, und man hat keine Idee davon, welche schiefe und eckige Personagen nebeneinandergestellt wurden und wie alle diese hölzernen Kombinationen dennoch keine honette Gesamtfigur bildeten. –

Über Dupins Mißlichkeiten, in betreff einer Ministerwahl, haben die Journale viel Sonderbares geschwatzt, doch nicht immer ohne Grund. Es ist wahr, daß er mit dem König etwas hart zusammengeraten und sie sich beide einmal mit wechselseitigem Unmute getrennt. Auch ist es wahr, daß Lord Granville die Veranlassung gewesen. Aber die Sache verhält sich folgendermaßen: Herr Dupin hatte früher dem König Ludwig Philipp sein Wort gegeben, daß er, sobald dieser es verlange, die Präsidentur des Konseils annehmen werde. Lord Granville, dem es nicht genehm ist, einen solchen bürgerlichen Mann an der Spitze der Regierung zu sehen, und der sich, im Geiste seiner Kaste, einen noblern Premierminister wünscht, soll gegen Ludwig Philipp einige ernsthafte Bedenklichkeiten über die Kapazität des Herrn Dupin geäußert haben. Als der König solche Reden dem Herrn Dupin wiedererzählte, wurde dieser so unwirsch, geriet in so unziemliche Äußerungen, daß zwischen ihm und dem König ein Zerwürfnis entstand. Eine Menge kleiner Intrigen durchkreuzt diese Begebenheit. Indessen die Macht der Dinge wird viele Mißhelligkeiten lösen; Dupin ist, sobald die Kammer wieder ihre Debatten beginnt, der einzig mögliche Minister des Justemilieu; nur er vermag der Opposition parlamentarischen Widerstand zu leisten, und wahrlich, die Regierung wird genugsam Rede stehen müssen.

Bis jetzt ist Ludwig Philipp noch immer sein eigener Premierminister. Dieses bekundet sich schon dadurch, daß man alle Regierungsakte ihm selber zuschreibt und nicht Herrn Montalivet, von welchem kaum die Rede ist, ja, welcher nicht einmal gehabt wird. Merkwürdig ist die Umwandlung, die sich seit der Revolte vom 5. und 6. Juni in den Ansichten des Königs gebildet zu haben scheint. Er hält sich nämlich jetzt für ganz stark; er glaubt auf die große Masse der Nation bestimmt rechnen zu können; er glaubt der Mann der Notwendigkeit zu sein, dem sich, bei ausländischen Anfeindungen, die Nation unbedingt anschließen werde, und er scheint deshalb den Krieg nicht mehr so ängstlich wie sonst zu fürchten. Die patriotische Partei bildet freilich die Minorität, und diese mißtraut ihm; sie fürchtet mit Recht, daß er gegen die Fremden minder feindlich gestimmt sei als gegen die Einheimischen. Jene bedrohen nur seine Krone, diese sein Leben. Daß letzteres wirklich geschieht, weiß der König. In der Tat, wenn man berücksichtigt, daß Ludwig Philipp von der blutigsten Böswilligkeit seiner Gegner in tiefster Seele überzeugt ist, so muß man über seine Mäßigung erstaunen. Er hat freilich durch die Erklärung des État de siège eine unverantwortliche Illegalität sich zuschulden kommen lassen; aber man kann doch nicht sagen, daß er seine Macht unwürdigerweise mißbraucht habe. Er hat vielmehr alle, die ihn persönlich beleidigt hatten, großmütigst verschont, während er nur diejenigen, die seiner Regierung sich feindlich entgegengesetzt, niederzuhalten oder vielmehr zu entwaffnen suchte. Trotz alles Mißmuts, den man gegen den König Ludwig Philipp hegen mag, will sich mir doch die Überzeugung aufdrängen, als sei der Mensch Ludwig Philipp ungewöhnlich edelmütig und großsinnig. Seine Hauptleidenschaft scheint die Bausucht zu sein. Ich war gestern in den Tuilerien; überall wird dort gebaut, über und unter der Erde; Zimmerwände werden eingerissen, große Keller werden ausgegraben, und das ist ein beständiger Klipp-Klapp. Der König, welcher mit seiner ganzen Familie in St. Cloud wohnt, kommt täglich nach Paris und betrachtet dann zuerst die Fortschritte der Bauten in den Tuilerien. Diese stehen jetzt fast ganz leer; nur das Ministerkonseil wird dort gehalten. Oh, wenn alle Blutstropfen sprechen könnten, wie es in den Kindermärchen geschieht, so würde man dort manchmal guten Rat vernehmen; denn in jedem Zimmer dieses tragischen Hauses ist belehrendes Blut geflossen.

Paris, 15. Juli

Der vierzehnte Julius ist ruhig vorübergegangen, ohne daß die von der Polizei angekündigte Emeute irgendwo zum Vorscheine kam. Es war aber auch ein so heißer Tag, es lag eine so drückende Schwüle auf ganz Paris, daß jene Ankündigung nicht einmal die gehörige Anzahl Neugieriger nach den gewöhnlichen Tummelorten der Emeuten locken konnte. Nur auf dem großen Inauguralplatze der Revolution, wo einst an diesem Tage die Bastille zerstört wurde, zeigten sich viele Gruppen von Menschen, die in der grellsten Mittagshitze ruhig ausharrten und sich gleichsam aus Patriotismus von der Juliussonne braten ließen. Es hieß früherhin, daß man am 14. Juli die alten Bastillenstürmer, die noch am Leben sind und die jetzt eine Pension bekommen, auf diesem Platze öffentlich belorbeeren wollte. Dem Lafayette war bei dieser Feier eine Hauptrolle zugedacht. Aber durch die Affären vom 5. und 6. Juni mag dieses Projekt rückgängig geworden sein; auch scheint Lafayette in diesem Jahre nach keinen neuen Triumphzügen zu verlangen. Vielleicht gab’s unter den Gruppen auf dem Bastillenplatze mehr Polizei als Menschen; denn es wurden bitterböse Bemerkungen so laut geäußert, wie nur verkleidete Mouchards sie auszusprechen pflegen. Ludwig Philipp, hieß es, sei ein Verräter, die Nationalgarden seien Verräter, die Deputierten seien Verräter, nur die Juliussonne meine es noch ehrlich. Und in der Tat, sie tat das Ihrige und durchglühte uns mit ihren Strahlen, daß es fast nicht zum Aushalten war. Was mich betrifft, ich machte in der starken Hitze die Bemerkung, daß die Bastille ein sehr kühles Gebäude gewesen sein muß und gewiß im Sommer einen sehr angenehmen Schatten gegeben hat. Als sie zerstört wurde, saßen dort fünf Personen gefangen. Jetzt gibt’s aber zehn Staatsgefängnisse, und in St. Pélagie allein sitzen über 600 Staatsgefangene. St. Pélagie soll sehr ungesund sein und ist sehr eng gebaut. Es geht aber lustig dort zu; die Republikaner und die Karlisten halten sich zwar voneinander getrennt, rufen sich jedoch beständig lustige Witze zu und lachen und jubeln. Jene, die Republikaner, tragen rote Jakobinermützen; diese, die Karlisten, tragen grüne Mützen mit einer weißen Lilienquaste; jene schreien beständig »Vive la Republiqué!«, diese schreien »Vive Henri V!« Gemeinschaftlicher Beifallsruf erschallt, wenn jemand mit wilder Wut auf Ludwig Philipp losschimpft. Dieses geschieht um so unumwundener, da in St. Pélagie kein Gefangener weder arretiert noch festgesetzt werden kann. Die meisten Hitzköpfe, die sonst bei jedem Anlasse gleich tumultuieren, sitzen jetzt dort in Gewahrsam, und der Polizei konnte es daher seitdem nicht gelingen, eine etwas ergiebige Emeute hervorzubringen. Die Republikaner werden sich vorderhand sehr hüten, Gewaltsames zu versuchen. Auch haben sie keine Waffen; die Desarmierung ist sehr gründlich betrieben worden. –

Heute ist der Namenstag des jungen Heinrich, und man erwartet einige karlistische Exzesse. Eine Proklamation zugunsten Heinrichs V. wurde gestern abend durch Chiffonniers und verkleidete Priester verbreitet. Es heißt darin, er werde Frankreich glücklich machen und vor der Fremden Invasion beschützen; nächstes Jahr ist er mündig, indem nämlich die französischen Könige schon mit 13 Jahren mündig werden und ihre höchste Ausbildung erlangt haben. Auf jener Proklamation ist der junge Heinrich zum erstenmal dargestellt mit Zepter und Krone; bisher sah man ihn immer in der Tracht eines Pilgers oder eines Bergschotten, der Felsen erklimmt oder einer armen Bettelfrau seine Börse in die Hand drückt usw. Es ist jedoch von dieser Misere wenig Bedrohliches zu erwarten. Die Karlisten sind auch sehr niedergeschlagenen Mutes. Die Tollkühnheit der Herzogin von Berry hat ihnen viel geschadet. Vergebens hatten die Häupter der Pariser Karlisten den Herrn Berryer an die Herzogin abgeschickt, um sie zur Heimkehr nach Holyrood zu vermögen. Vergebens hat Ludwig Philipp durch seine Agenten dasselbe zu bewirken gesucht. Vergebens wurde sie von fremden Gesandten um Gottes willen beschworen, ihr Treiben für den Augenblick aufzugeben. Alle Vernunftgründe, Drohungen und Bitten haben diese halsstarrige Frau nicht zur Abreise bewegen können. Sie ist noch immer in der Vendée. Obgleich aller Mittel entblößt und nirgends mehr Unterstützung findend, will sie nicht weichen. Der Schlüssel des Rätsels ist, daß dumme oder kluge Priester sie fanatisiert und ihr eingeredet haben, es werde ihrem Kinde Segen bringen, wenn sie jetzt für dessen Sache stürbe. Und nun sucht sie den Tod mit religiöser Martyrsucht und schwärmerischer Mutterliebe.

Wenn sich hier auf den öffentlichen Plätzen keine Bewegungen zeigen, so bekundet sich desto mehr Unruhe in der Gesellschaft. Zunächst sind es die deutschen Angelegenheiten, die Beschlüsse des Bundestags, welche alle Geister aufgeregt. Da werden nun über Deutschland die unsinnigsten Urteile gefällt. Die Franzosen in ihrem leichtfertigen Irrtume meinen, die Fürsten unterdrückten die Freiheit, und sie sehen nicht ein, daß nur der Anarchie unter den deutschen Liberalen ein Ende gemacht werden soll und daß überhaupt die Einigkeit und das Heil des deutschen Volks befördert wird. Schon den 2. Junius hat der »Temps« von den sechs Artikeln des Bundestagsbeschlusses eine Inhaltsanzeige geliefert. Ein bekannter Pietist hatte hier noch früher Auszüge jenes Beschlusses in der Tasche herumgetragen und durch die Mitteilung derselben viele Herzen erbaut.

Ludwig Philipp ist noch immer der Meinung, daß er stark sei. »Seht, wie stark wir sind!« ist in den Tuilerien der Refrain jeder Rede. Wie ein Kranker immer von Gesundheit spricht und nicht genug zu rühmen weiß, daß er gut verdaue, daß er ohne Krämpfe auf den Beinen stehen könne, daß er ganz bequem Atem schöpfe usw., so sprechen jene Leute unaufhörlich von Stärke und von der Kraft, die sie bei den verschiedenen Bedrohnissen schon entwickelt und noch zu entwickeln vermögen. Da kommen nun täglich die Diplomaten aufs Schloß und fühlen ihnen den Puls und lassen sich die Zunge zeigen, betrachten sorgfältig den Urin und schicken dann ihren Höfen das politische Sanitätsbulletin. Bei den fremden Bevollmächtigten ist es ja ebenfalls eine ewige Frage: »Ist Ludwig Philipp stark oder schwach?« Im erstern Falle können ihre Herren daheim jede Maßregel ruhig beschließen und ausführen; im andern Falle, wo ein Umsturz der französischen Regierung und Krieg zu befürchten stände, dürften sie nichts Unmildes zu Hause unternehmen. – Jene große Frage, ob Ludwig Philipp schwach oder stark ist, mag schwer zu entscheiden sein. Aber leicht ist es einzusehen, daß die Franzosen selbst in diesem Augenblicke durchaus nicht schwach sind. Im Herzen der Völker haben sie neue Alliierte gefunden, während ihre Gegner jetzt eben nicht auf der Höhe der Popularität stehen. Sie haben unsichtbare Geisterheere zu Kampfgenossen, und dabei sind ihre eigenen leiblichen Armeen im blühendsten Zustande. Die französische Jugend ist so kriegslustig und begeistert wie 1792. Mit lustiger Musik ziehen die jungen Konskribierten durch die Stadt und tragen auf den Hüten flatternde Bänder und Blumen und die Nummer, die sie gezogen, welche gleichsam ihr Großes Los. Und dabei werden Freiheitslieder gesungen und Märsche getrommelt vom Jahre 90.

Aus der Normandie

Havre, 1. August

Ob Ludwig Philipp stark oder schwach ist, scheint wirklich die Hauptfrage zu sein, deren Lösung ebensosehr die Völker wie die Machthaber interessiert. Ich hielt sie daher beständig im Sinne während meiner Exkursion durch die nördlichen Provinzen Frankreichs. Dennoch erfuhr ich, die öffentliche Stimmung betreffend, so viel Widersprechendes, daß ich über jene Frage nicht viel Gründlicheres mitteilen kann als diejenigen, die in den Tuilerien, oder vielmehr in St. Cloud, ihre Weisheit holen. Die Nordfranzosen, namentlich die schlauen Normannen, sind überhaupt nicht so leicht geneigt, sich unverhohlen auszusprechen, wie die Leute im Lande Oc. Oder ist es schon ein Zeichen von Mißvergnügen, daß jener Teil der Bürger im Lande Oui, die nur für das Landesinteresse besorgt sind, meistens ein ernstes Stillschweigen beobachten, sobald man sie über letzteres befragt? Nur die Jugend, welche für Ideeninteressen begeistert ist, äußert sich unverschleiert über das, wie sie glaubt, unvermeidliche Nahen einer Republik; und die Karlisten, welche einem Personeninteresse zugetan sind, insinuieren auf alle mögliche Weise ihren Haß gegen die jetzigen Gewalthaber, die sie mit den übertriebensten Farben schildern und deren Sturz sie als ganz gewiß, fast bis auf Tag und Stunde, voraussagen. Die Karlisten sind in hiesiger Gegend ziemlich zahlreich. Dieses erklärt sich dadurch, daß hier noch ein besonderes Interesse vorhanden ist, nämlich eine Vorliebe für einige Glieder der gefallenen Dynastie, die in dieser Gegend den Sommer zuzubringen pflegten und sich hie und da beliebt zu machen wußten. Namentlich tat dieses die Herzogin von Berry. Die Abenteuer derselben sind daher das Tagesgespräch in dieser Provinz, und die Priester der katholischen Kirche erfinden noch obendrein die gottseligsten Legenden zur Verherrlichung der politischen Madonna und der gebenedeiten Frucht ihres Leibes. In frühern Zeiten waren die Priester keineswegs so besonders mit dem kirchlichen Eifer der Herzogin zufrieden, und eben indem letztere manchmal das priesterliche Mißfallen erregte, erwarb sie sich die Gunst des Volkes. »Die kleine nette Frau ist durchaus nicht so bigott wie die andern«, hieß es damals, »seht, wie weltlich kokett sie bei der Prozession einherschlendert und das Gebetbuch ganz gleichgültig in der Hand trägt und die Kerze so spielend niedrig hält, daß das Wachs auf die Atlasschleppe ihrer Schwägerin, der brummig devoten Angoulême, niederträufelt!« Diese Zeiten sind vorbei, die rosige Heiterkeit ist erblichen auf den Wangen der armen Karoline, sie ist fromm geworden wie die andern und trägt die Kerze ganz so gläubig, wie die Priester es begehren, und sie entzündet damit den Bürgerkrieg im schönen Frankreich, wie die Priester es begehren.

Ich kann nicht umhin zu bemerken, daß der Einfluß der katholischen Geistlichen in dieser Provinz größer ist, als man es in Paris glaubt. Bei Leichenzügen sieht man sie hier in ihren Kirchentrachten, mit Kreuzen und Fahnen und melancholisch singend, durch die Straßen wandeln, ein Anblick, der schier befremdlich, wenn man aus der Hauptstadt kommt, wo dergleichen von der Polizei oder vielmehr von dem Volke streng untersagt ist. Solang ich in Paris war, habe ich nie einen Geistlichen in seiner Amtstracht auf der Straße gesehen; bei keinem einzigen von den vielen tausend Leichenbegängnissen, die in der Cholerazeit mir vorüberzogen, sah ich die Kirche weder durch ihre Diener noch durch ihre Symbole repräsentiert. Viele wollen jedoch behaupten, daß auch in Paris die Religion wieder still auflebe. Es ist wahr, wenigstens die französisch-katholische Gemeinde des Abbé Chatel nimmt täglich zu; der Saal desselben auf der Rue Clichy ist schon zu eng geworden für die Menge der Gläubigen, und seit einiger Zeit hält er den katholischen Gottesdienst in dem großen Gebäude auf dem Boulevard Bonne-Nouvelle, worin früherhin Herr Martin die Tiere seiner Menagerie sehen lassen und worauf jetzt mit großen Buchstaben die Aufschrift steht: Église catholique et apostolique.

Diejenigen Nordfranzosen, die weder von der Republik noch von dem Mirakelknaben etwas wissen wollen, sondern nur den Wohlstand Frankreichs wünschen, sind just keine allzu eifrige Anhänger von Ludwig Philipp, rühmen ihn auch eben nicht wegen seiner Offenherzigkeit und Gradheit, aber sie sind durchdrungen von der Überzeugung, daß er der Mann der Notwendigkeit sei; daß man sein Ansehen unterstützen müsse insofern die öffentliche Ruhe dadurch erhalten werde; daß die Unterdrückung aller Emeuten für den Handel heilsam sei und daß man überhaupt, damit der Handel nicht ganz stocke, jede neue Revolution und gar den Krieg vermeiden müsse. Letzteren fürchten sie nur wegen des Handels, der schon jetzt in einem kläglichen Zustande. Sie fürchten den Krieg nicht des Krieges wegen, denn sie sind Franzosen, als ruhmsüchtig und kampflustig von Geblüt, und obendrein sind sie von größerem und stärkerem Gliederbau als die Südfranzosen und Übertreffen diese vielleicht, wo Festigkeit und hartnäckige Ausdauer verlangt wird. Ist das eine Folge der Beimischung von germanischer Rasse? Sie gleichen ihren großen gewaltigen Pferden, die ebenso tüchtig zum mutigen Trab wie zum Lasttragen und Überwinden aller Mühseligkeiten der Witterung und des Weges. Diese Menschen fürchten weder Österreicher noch Russen, weder Preußen noch Baschkiren. Sie sind weder Anhänger noch Gegner von Ludwig Philipp. Sobald es Krieg gibt, folgen sie der dreifarbigen Fahne, gleichviel, wer diese trägt.

Ich glaube wirklich, sobald Krieg erklärt würde, sind die innern Zwistigkeiten der Franzosen, auf eine oder die andere Art, durch Nachgiebigkeit oder Gewalt, schnell geschlichtet, und Frankreich ist eine gewaltige, einige Macht, die aller Welt die Spitze bieten kann. Die Stärke oder Schwäche von Ludwig Philipp ist alsdann kein Gegenstand der Kontroverse. Er ist alsdann entweder stark oder gar nichts mehr. Die Frage, ob er stark oder schwach, gilt nur für die Erhaltung des Friedenszustandes, und nur in dieser Hinsicht ist sie wichtig für auswärtige Mächte. Ich erhielt von mehreren Seiten die Antwort: »Le parti du roi est très nombreux, mais il n’est pas fort.« Ich glaube, diese Worte geben viel Stoff zum Nachdenken. Zunächst liegt darin die schmerzliche Andeutung, daß die Regierung selbst nur einer Partei und allen Parteiinteressen unterworfen sei. Der König ist hier nicht mehr die erhabene Obergewalt, die von der Höhe des Thrones dem Kampfe der Parteien ruhig zuschaut und sie im heilsamen Gleichgewichte zu halten weiß; nein, er ist selbst herabgestiegen in die Arena. Odilon-Barrot, Mauguin, Carrel, Pagès, Cavaignac dünken sich vielleicht nur durch die Zufälligkeit der momentanen Gewalt von ihm unterschieden. Das ist die trübselige Folge davon, daß der König die Präsidentur des Konseils sich selbst zuteilte. Jetzt kann Ludwig Philipp nicht das vorhandene Regierungssystem ändern, ohne daß er alsdann in Widerspruch mit seiner Partei und sich selbst fiele. So kam es, daß ihn die Presse gleich dem ersten Chef einer Partei behandelt, in ihm selber alle Regierungsfehler rügt, jedes ministerielle Wort seiner eigenen Zunge zuschreibt und in dem Bürgerkönige nur den Königminister sieht. Wenn die Götterbilder von ihren erhabenen Postamenten herabsteigen, dann entweicht die heilige Ehrfurcht, die wir ihnen zollten, und wir richten sie nach ihren Taten und Worten, als wären sie unseresgleichen.

Was die Andeutung betrifft, daß die Partei des Königs zwar zahlreich, aber nicht stark sei, so ist damit freilich nichts Neues gesagt, es ist dieses eine längst bekannte Wahrheit; aber bemerkenswert ist es, daß auch das Volk diese Entdeckung gemacht, daß es nicht wie gewöhnlich die Köpfe zählt, sondern die Hände, und daß es genau unterscheidet die, welche Beifall klatschen, und die, welche zum Schwerte greifen. Das Volk hat sich seine Leute genau betrachtet und weiß sehr gut, daß die Partei des Königs aus folgenden drei Klassen besteht: nämlich aus Handels- und Besitzleuten, welche für ihre Buden und Güter besorgt sind, aus Kampfmüden, welche überhaupt Ruhe haben möchten, und aus Bangherzigen, welche die Herrschaft des Schreckens befürchten. Diese königliche Partei, mit Eigentum bepackt, verdrießlich ob jeder Störnis in ihrer Behaglichkeit, diese Majorität steht einer Minorität gegenüber, die wenig Bagage zu schleppen hat und dabei unruhsüchtig über alle Maßen ist, ohne in ihrem wilden, schrankenlosen Ideengange den Schrecken anders als wie einen Bundesgenossen zu betrachten.

Trotz der großen Kopfzahl, trotz des Triumphes vom 6. Junius zweifelt das Volk an der Stärke des Justemilieu. Es ist aber immer bedenklich, wenn eine Regierung nicht stark scheint in den Augen des Volks. Es lockt dann jeden, seine Kraft daran zu versuchen; ein dämonisch dunkler Drang treibt die Menschen, daran zu rütteln. Das ist das Geheimnis der Revolution.

Dieppe, 20. August

Man hat keinen Begriff davon, welchen Eindruck der Tod des jungen Napoleon bei den untern Klassen des französischen Volks hervorgebracht. Schon das sentimentale Bulletin, welches der »Temps« über sein allmähliches Dahinsterben vor etwa sechs Wochen geliefert und welches, besonders abgedruckt, in Paris für einen Sou herumverkauft wurde, hat dort in allen Carrefours die äußerste Betrübnis erregt. Sogar junge Republikaner sah ich weinen; die alten jedoch schienen nicht sehr gerührt, und von einem derselben hörte ich mit Befremdung die verdrießliche Äußerung: »Ne pleurez pas, c’était le fils de l’homme qui a fait mitrailler le peuple le 13 Vendémiaire.« Es ist sonderbar, wenn jemanden ein Mißgeschick trifft, so erinnern wir uns unwillkürlich irgendeiner alten Unbill, die uns von seiner Seite widerfahren und woran wir vielleicht seit undenklicher Zeit nicht gedacht haben. – Ganz unbedingt verehrt man den Kaiser auf dem Lande; da hängt in jeder Hütte das Porträt »des Mannes«, und zwar, wie die »Quotidienne« bemerkt, an derselben Wand, wo das Porträt des Haussohnes hängen würde, wäre er nicht von jenem Manne auf einem seiner hundert Schlachtfelder hingeopfert worden. Der Ärger entlockt zuweilen der »Quotidienne« die ehrlichsten Bemerkungen, und darüber ärgert sich dann die jesuitisch feinere »Gazette«; das ist ihre hauptsächliche politische Verschiedenheit.

Ich bereiste den größten Teil der nordfranzösischen Küstengegenden, während die Nachricht von dem Tode des jungen Napoleon sich dort verbreitete. Ich fand deshalb überall, wohin ich kam, eine wunderbare Trauer unter den Leuten. Sie fühlten einen reinen Schmerz, der nicht in dem Eigennutze des Tages wurzelte, sondern in den liebsten Erinnerungen einer glorreichen Vergangenheit. Besonders unter den schönen Normanninnen war großes Klagen um den frühen Tod des jungen Heldensohnes.

Ja, in allen Hütten hängt das Bild des Kaisers. Überall fand ich es mit Trauerblumen bekränzt, wie Heilandsbilder in der Karwoche. Viele Soldaten trugen Flor. Ein alter Stelzfuß reichte mir wehmütig die Hand mit den Worten: »A présent tout est fini.«

Freilich, für jene Bonapartisten, die an eine kaiserliche Auferstehung des Fleisches glaubten, ist alles zu Ende. Napoleon ist ihnen nur noch ein Name, wie etwa Alexander von Mazedonien, dessen Leibeserbe in gleicher Weise früh verblichen. Aber für die Bonapartisten, die an eine Auferstehung des Geistes geglaubt, erblüht jetzt die beste Hoffnung. Der Bonapartismus ist für diese nicht eine Überlieferung der Macht durch Zeugung und Erstgeburt; nein, ihr Bonapartismus ist jetzt gleichsam von aller tierischen Beimischung gereinigt, er ist ihnen die Idee einer Alleinherrschaft der höchsten Kraft, angewendet zum Besten des Volks, und wer diese Kraft hat und sie so anwendet, den nennen sie Napoleon II. Wie Cäsar der bloßen Herrschergewalt seinen Namen gab, so gibt Napoleon seinen Namen einem neuen Cäsartume, wozu nur derjenige berechtigt ist, der die höchste Fähigkeit und den besten Willen besitzt.

In gewisser Hinsicht war Napoleon ein saintsimonistischer Kaiser; wie er selbst vermöge seiner geistigen Superiorität zur Obergewalt befugt war, so beförderte er nur die Herrschaft der Kapazitäten und erzielte die physische und moralische Wohlfahrt der zahlreichern und ärmern Klassen. Er herrschte weniger zum Besten des dritten Standes, des Mittelstandes, des Justemilieu, als vielmehr zum Besten der Männer, deren Vermögen nur in Herz und Hand besteht; und gar seine Armee war eine Hierarchie, deren Ehrenstufen nur durch Eigenwert und Fähigkeit erstiegen wurden. Der geringste Bauernsohn konnte dort, ebensogut wie der Junker aus dem ältesten Hause, die höchsten Würden erlangen und Gold und Sterne erwerben. Darum hängt des Kaisers Bild in der Hütte jedes Landmannes, an derselben Wand, wo das Bild des eigenen Sohnes hängen würde, wenn dieser nicht auf irgendeinem Schlachtfelde gefallen wäre, ehe er zum General avanciert oder gar zum Herzog oder zum König, wie so mancher arme Bursche, der durch Mut und Talent sich so hoch emporschwingen konnte – als der Kaiser noch regierte. In dem Bilde desselben verehrt vielleicht mancher nur die verblichene Hoffnung seiner eigenen Herrlichkeit.

Am öftersten fand ich in den Bauerhäusern das Bild des Kaisers, wie er zu Jaffa das Lazarett besucht und wie er zu St. Helena auf dem Todbette liegt. Beide Darstellungen tragen auffallende Ähnlichkeit mit den Heiligenbildern jener christlichen Religion, die jetzt in Frankreich erloschen ist. Auf dem einen Bilde gleicht Napoleon einem Heilande, von dessen Berührung die Pestkranken zu genesen scheinen; auf dem andern Bilde stirbt er gleichsam den Tod der Sühne.

Wir, die wir von einer andern Symbolik befangen sind, wir sehen in Napoleons Martyrtod auf St. Helena keine Versöhnung in dem angedeuteten Sinne, der Kaiser büßte dort für den schlimmsten seiner Irrtümer, für die Treulosigkeit, die er gegen die Revolution, seine Mutter, begangen. Die Geschichte hatte längst gezeigt, wie die Vermählung zwischen dem Sohne der Revolution und der Tochter der Vergangenheit nimmermehr gedeihen konnte – und jetzt sehen wir auch, wie die einzige Frucht solcher Ehe nicht lange zu leben vermochte und kläglich dahinstarb.

In betreff der Erbschaft des Verstorbenen sind die Meinungen sehr geteilt. Die Freunde von Ludwig Philipp glauben, daß jetzt die verwaisten Bonapartisten sich ihnen anschließen werden; doch zweifle ich, ob die Männer des Krieges und des Ruhmes so schnell ins friedliche Justemilieu übergehen können. Die Karlisten glauben, daß die Bonapartisten jetzt dem alleinigen Prätendenten, Heinrich V., huldigen werden; ich weiß wahrlich nicht, ob ich in den Hoffnungen dieser Menschen mehr ihre Torheit oder ihre Insolenz bewundern soll. Die Republikaner scheinen noch am meisten imstande zu sein, die Bonapartisten an sich zu ziehen; aber wenn es einst leicht war, aus den ungekämmtesten Sansculotten die brillantesten Imperialisten zu machen, so mag es jetzt schwer sein, die entgegengesetzte Umwandlung zu bewerkstelligen.

Man bedauert, daß die teuern Reliquien, wie das Schwert des Kaisers, der Mantel von Marengo, der welthistorische dreieckige Hut u. dgl. m., welche, gemäß dem Testamente von St. Helena, dem jungen Reichstadt überliefert worden, nicht Frankreich anheimfallen. Jede der französischen Parteien könnte ein Stück aus diesem Nachlasse sehr gut brauchen. Und wahrlich, wenn ich darüber zu verfügen hätte, so sollte die Verteilung folgendermaßen stattfinden: Den Republikanern würde ich das Schwert des Kaisers überliefern, dieweil sie noch die einzigen sind, die es zu gebrauchen verständen. Den Herren vom Justemilieu würde ich den Mantel von Marengo zukommen lassen; und, in der Tat, sie bedürfen eines solchen Mantels, um ihre ruhmlose Blöße damit zu bedecken. Den Karlisten gebe ich des Kaisers Hut, der freilich für solche Köpfe nicht sehr passend ist, aber ihnen doch zugute kommen kann, wenn sie nächstens wieder aufs Haupt geschlagen werden; ja, ich gebe ihnen auch die kaiserlichen Stiefel, die sie ebenfalls brauchen können, wenn sie nächstens wieder davonlaufen müssen. Was aber den Stock betrifft, womit der Kaiser bei Jena spazierengegangen, so zweifle ich, ob derselbe sich unter der herzoglich Reichstädtischen Verlassenschaft befindet, und ich glaube, die Franzosen haben ihn noch immer in Händen.

Nächst dem Tode des jungen Napoleon hörte ich die Fahrten der Herzogin von Berry in diesen Provinzen am meisten besprechen. Die Abenteuer dieser Frau werden hier so poetisch erzählt, daß man glaubt, die Enkel der Fabliauxdichter hätten sie in müßiger Laune ersonnen. Dann gab auch die Hochzeit von Compiègne sehr viel Stoff zur Unterhaltung; ich könnte eine Insektensammlung von schlechten Witzen mitteilen, die ich in einem karlistischen Schlosse darüber debitieren hörte. Z.B. einer der Festredner in Compiègne soll bemerkt haben, in Compiègne sei die Jungfrau von Orleans gefangen worden, und es füge sich jetzt, daß wieder in Compiègne einer Jungfrau von Orleans Fesseln angelegt würden. – Obgleich in allen französischen Blättern aufs prunkhafteste erzählt wird, daß der Zusammenfluß von Fremden hier sehr groß und überhaupt das Badeleben in Dieppe dieses Jahr sehr brillant sei, so habe ich doch an Ort und Stelle das Gegenteil gefunden. Es sind hier vielleicht keine fünfzig eigentliche Badegäste, alles ist trist und betrübt, und das Bad, das durch die Herzogin von Berry, die alle Sommer hieher kam, einst so mächtig emporblühte, ist auf immer zugrunde gegangen. Da viele Menschen dieser Stadt hiedurch in bitterste Armut versinken und den Sturz der Bourbone als die Quelle ihres Unglücks betrachten, so ist es begreiflich, daß man hier viele enragierte Karlisten findet. Dennoch würde man Dieppe verleumden, wenn man annähme, daß mehr als ein Vierteil seiner Bewohner aus Anhängern der vorigen Dynastie bestände. Nirgends zeigen die Nationalgarden mehr Patriotismus als hier, alle sind hier gleich beim ersten Trommelschlage versammelt, wenn exerziert werden soll; alle sind hier ganz uniformiert, welches letztere von besonderem Eifer zeugt. Das Napoleonsfest wurde dieser Tage mit auffallendem Enthusiasmus gefeiert.

Ludwig Philipp wird hier im allgemeinen weder geliebt noch gehaßt. Man betrachtet seine Erhaltung als notwendig für das Glück Frankreichs; für sein Regiment ist man nicht sonderlich begeistert. Die Franzosen sind allgemein durch die freie Presse so wohlunterrichtet über die wahre Lage der Dinge, sie sind so politisch aufgeklärt, daß sie kleine Übel mit Geduld ertragen, um größeren nicht anheimzufallen. Gegen den persönlichen Charakter des Königs hat man wenig einzuwenden; man hält ihn für einen ehrenwerten Mann.

Rouen, 17. September

Ich schreibe diese Zeilen in der ehemaligen Residenz der Herzoge von der Normandie, in der altertümlichen Stadt, wo noch so viele steinerne Urkunden uns an die Geschichte jenes Volkes erinnern, das wegen seiner ehemaligen Heldenfahrten und Abenteuerlichkeit und wegen seiner jetzigen Prozeßsucht und Erwerblist so berühmt ist. In jener Burg dort hauste Robert der Teufel, den Meyerbeer in Musik gesetzt auf jenem Marktplatze verbrannte man die Pucelle, das großmütige Mädchen, das Schiller und Voltaire besungen; in jenem Dome liegt das Herz des Richard, des tapfern Königs, den man selber Löwenherz, Cœur de lion, genannt hat; diesem Boden entsproßten die Sieger von Hastings, die Söhne Tancreds und so viele andre Blumen normannischer Ritterschaft – aber diese gehen uns heute alle nichts an, wir beschäftigen uns hier vielmehr mit der Frage: Hat Ludwig Philipps friedsames System Wurzel geschlagen in dem kriegerischen Boden der Normandie? Ist das neue Bürgerkönigtum gut oder schlecht gebettet in der alten Heldenwiege der englischen und italienischen Aristokratie, in dem Lande der Normannen? Diese Frage glaube ich heute aufs kürzeste beantworten zu können: Die großen Grundbesitzer, meistens Adel, sind karlistisch gesinnt, die wohlhabenden Gewerbsleute und Landbauer sind philippistisch, und die untere Volksmenge verachtet und haßt die Bourbonen und liebt, geringernteils, die gigantischen Erinnerungen der Republik, größernteils den glänzenden Heroismus der Kaiserzeit. Die Karlisten, wie jede unterdrückte Partei, sind tätiger als die Philippisten, die sich gesichert fühlen, und zu ihrem Lobe mag es gesagt sein, daß sie auch größere Opfer bringen, nämlich Geldopfer. Die Karlisten, die nie an ihrem einstigen Siege zweifeln und überzeugt sind, daß ihnen die Zukunft alle Opfer der Gegenwart tausendfach vergütet, geben ihren letzten Sou her, wenn ihr Parteiinteresse dadurch gefördert scheint; es liegt überhaupt im Charakter dieser Klasse daß sie des eignen Gutes weniger achtet, als sie nach fremdem Eigentum lüstern ist (sui profusus, alieni appetens). Habsucht und Verschwendung sind Geschwister. Der Roturier, der nicht durch Hofdienst, Mätressengunst, süße Rede und leichtes Spiel, sondern durch schwere, saure Arbeit seine irdischen Güter zu erwerben pflegt, hält fester an dem Erworbenen.

Indessen, die guten Bürger der Normandie haben die Einsicht gewonnen, daß die Journale, womit die Karlisten auf die öffentliche Meinung zu wirken suchen, der Sicherheit des Staats und ihrer eignen Besitztümer sehr gefährlich seien, und sie sind der Meinung, daß man durch dasselbe Mittel, durch die Presse, jene Umtriebe vereiteln müsse. In diesem Sinne hat man unlängst die »Estafette du Havre« gestiftet, eine sanftmütige Justemilieu-Zeitung, die der ehrsamen Kaufmannschaft in Havre sehr viel Geld kostet und woran auch mehrere Pariser arbeiten, namentlich Monsieur de Salvandy, ein kleiner, geschmeidiger, wäßrichter Geist in einem langen, steifen, trockenen Körper (Goethe hat ihn gelobt). Bis jetzt ist jenes Journal die einzige Gegenmine, die den Karlisten in der Normandie gegraben worden; letztere hingegen sind unermüdlich und errichten überall ihre Zeitschriften, ihre Festungen der Lüge, woran der Freiheitsgeist seine Kräfte zersplittern soll, bis Entsatz kommt von Osten. Diese Zeitschriften sind mehr oder minder im Geiste der »Gazette de France« und der »Quotidienne« abgefaßt; letztere werden außerdem aufs tätigste unter das Volk verbreitet. Beide Blätter sind schön und geistreich und anziehend geschrieben, dabei sind sie tief boshaft, perfid, voll nützlicher Belehrung, voll ergötzlicher Schadenfreude, und ihre adeligen Kolporteurs, die sie oft gratis austeilen, ja vielleicht den Lesern manchmal noch Geld dazugeben, finden natürlicherweise größern Absatz als sanftmütige Justemilieu-Zeitungen. Ich kann diese beiden Blätter nicht genug empfehlen, da ich, von einem höhern Standpunkte, sie durchaus nicht schädlich achte für die Sache der Wahrheit; sie fördern diese vielmehr dadurch, daß sie die Kämpfer, die im Kampfe zuweilen ermüden, zu neuer Tatkraft anstacheln. Jene zwei Journale sind die wahren Repräsentanten jener Leute, die, wenn ihre Sache unterliegt, sich an den Personen rächen; es ist ein uraltes Verhältnis, wir treten ihnen auf den Kopf, und sie stechen uns in die Ferse. Nur muß man zum Lobe der »Quotidienne« erwähnen, daß sie zwar ebensowohl wie die »Gazette« eine Schlange ist, daß sie aber ihre Böswilligkeit minder verbirgt; daß ihr Erbgroll sich in jedem Worte verrät; daß sie eine Art Klapperschlange ist, die, wenn sie herankriecht, mit ihrer Klapper vor sich selber warnt. Die »Gazette« hat leider keine solche Klapper. Die »Gazette« spricht zuweilen gegen ihre eigenen Prinzipien, um den Sieg derselben indirekt zu bewirken; die »Quotidienne«, in ihrer Hitze, opfert lieber den Sieg, als daß sie sich solcher kalten Selbstverleugnung unterwürfe. Die »Gazette« hat die Ruhe des Jesuitismus, der sich nicht von Meinungswut verwirren läßt, welches um so leichter ist, da der Jesuitismus eigentlich keine Gesinnung, sondern nur ein Metier ist; in der »Quotidienne« hingegen brüten und wüten hochfahrende Junker und grimmige Mönche, schlecht vermummt in ritterlicher Loyalität und christlicher Liebe. Diesen letztern Charakter trägt auch die karlistische Zeitschrift, die unter dem Titel »Gazette de la Normandie« hier in Rouen erscheint. Es ist darin ein süßliches Geklage über die gute alte Zeit, die leider verschwunden mit ihren chevaleresken Gestalten, mit ihren Kreuzzügen, Turnieren, Wappenherolden, ehrsamen Bürgern, frommen Nonnen, minniglichen Damen, Troubadouren und sonstigen Gemütlichkeiten, so daß man erinnert wird an die feudalistischen Romane eines berühmten deutschen Dichters, in dessen Kopf mehr Blumen als Gedanken blühten, dessen Herz aber voller Liebe war; – bei dem Redakteur der »Gazette de la Normandie« ist hingegen der Kopf voll von krassem Obskurantismus, und sein Herz ist voll Gift und Galle. Dieser Redakteur ist ein gewisser Vicomte Walsh, ein langer gräulicher Blondin, von etwa sechzig Jahren. Ich sah ihn in Dieppe, wo er zu einem Karlistenkonzilium eingeladen war und von der ganzen nobeln Sippschaft sehr fetiert wurde. Geschwätzig, wie sie sind, hat jedoch ein kleines Karlistchen mir zugeflüstert: »C’est un fameux compère«; er ist eigentlich nicht von gutem französischem Adel; sein Vater, ein Irländer von Geburt, war in französischem Kriegsdienste beim Ausbruche der Revolution, und als er emigrierte und die Konfiskation seiner Güter verhindern wollte, verkaufte er sie zum Scheine seinem Sohne; als aber der alte Mann später nach Frankreich zurückkehrte und von dem Sohne seine Güter zurückverlangte, leugnete dieser den Scheinkauf, behauptete, der Verkauf der Güter habe in vollgültigem Ernste stattgefunden, und behielt somit das Vermögen seines geprellten Vaters und seiner armen Schwester; diese wurde Hofdame bei Madame (der Herzogin von Berry), und ihres Bruders Begeisterung für Madame hat seinen Grund sowohl in der Eitelkeit als im Eigennutze; denn – »Ich wußte genug.«

Man kann sich schwerlich einen Begriff davon machen, mit welcher perfiden Konsequenz die Regierung der jetzigen Gewalthaber von den Karlisten untergraben wird. Ob mit Erfolg, muß die Zeit lehren. Wie ihnen kein Mensch zu schlecht, wenn sie ihn zu ihren Zwecken gebrauchen können, so ist ihnen auch kein Mittel zu schlecht. Neben jenen kanonischen Journalen, die ich oben bezeichnet, wirken die Karlisten auch durch die mündliche Überlieferung aller möglichen Verleumdung, durch die Tradition. Diese schwarze Propaganda sucht den guten Leumund der jetzigen Gewalthaber, namentlich des Königs, aufs gründlichste zu verderben. Die Lügen, die in dieser Absicht geschmiedet werden, sind zuweilen ebenso abscheulich wie absurd. »Immer verleumden, immer verleumden, es bleibt was kleben!« war schon der Wahlspruch der saubern Lehrer.

In einer karlistischen Gesellschaft zu Dieppe sagte mir ein junger Priester: »Wenn Sie Ihren Landsleuten Bericht abstatten, müssen Sie der Wahrheit noch etwas nachhelfen, damit, wenn der Krieg ausbricht und Ludwig Philipp vielleicht noch immer an der Spitze der französischen Regierung stehen geblieben, die Deutschen ihn desto stärker hassen und mit desto größerer Begeisterung gegen ihn fechten.« Auf meine Frage, ob uns der Sieg auch ganz gewiß sei, lächelte jener fast mitleidig und versicherte mir: die Deutschen seien das tapferste Volk, und man werde ihnen nur einen geringen Scheinwiderstand leisten; der Norden sowie der Süden sei der rechtmäßigen Dynastie ganz ergeben; Heinrich V. und Madame seien, gleich einem kleinen Heiland und einer Muttergottes, allgemein verehrt; das sei die Religion des Volks; über kurz oder lang komme dieser legitime Glaubenseifer besonders in der Normandie zum öffentlichen Ausbruche. – Während der Mann Gottes sich solchermaßen aussprach, erhob sich plötzlich vor dem Hause, worin wir uns befanden, ein ungeheurer Lärm; es wirbelten die Trommeln, Trompeten erklangen, die Marseiller Hymne erscholl so laut, daß die Fensterscheiben zitterten, und aus vollen Kehlen drang der Jubelruf: »Vive Louis Philippe! A bas les Carlistes! Les Carlistes à la lanterne!« Das geschah um ein Uhr in der Nacht, und die ganze Gesellschaft erschrak sehr. Auch ich war erschrocken, denn ich dachte an das Sprichwort: Mitgefangen, mitgehangen. Aber es war nur ein Spaß der Diepper Nationalgarden. Diese hatten erfahren, daß Ludwig Philipp im Schlosse Eu angekommen sei, und sie faßten auf der Stelle den Beschluß, dorthin zu marschieren, um den König zu begrüßen; vor ihrer Abreise wollten sie aber die armen Karlisten in Schrecken setzen, und sie machten den entsetzlichsten Lärm vor den Häusern derselben und sangen dort wie wahnsinnig die Marseiller Hymne, jenes »Dies irae, dies illa« der neuen Kirche, das zunächst den Karlisten ihren jüngsten Gerichtstag verkündet.

Da ich mich bald darauf ebenfalls nach Eu begab, so kann ich als Augenzeuge berichten, daß es keine angeordnete Begeisterung war, womit die Nationalgarden dort den König umjubelten. Er ließ sie die Revue passieren, war sehr vergnügt über die unverhohlene Freude, womit sie ihn anlachten, und ich kann nicht leugnen, daß in dieser Zeit des Zwiespalts und des Mißtrauens solches Bild der Eintracht sehr erbaulich war. Es waren freie, bewehrte Bürger, die ohne Scheu ihrem Könige ins Auge sahen, mit den Waffen in der Hand ihm ihre Ehrfurcht bezeugten und zuweilen mit männlichem Handschlage ihm Treue und Gehorsam zusagten. Ludwig Philipp nämlich, wie sich von selbst versteht, gab jedem die Hand. – Über dieses Händedrücken mokieren sich die Karlisten noch am meisten, und ich gestehe gern, der Haß macht sie zuweilen witzig, wenn sie jene »messéante popularité des poignées de main« persiflieren. So sah ich in dem Schlosse, dessen ich schon früher erwähnt, en petit comité eine Posse aufführen, wo aufs ergötzlichste dargestellt war, wie Fip I., König der Philister (épiciers), seinem Sohne Großkuken (grand poulot) Unterricht in der Staatswissenschaft gibt und ihn väterlich belehrt: er solle sich nicht von den Theoretikern verleiten lassen, das Bürgerkönigtum in der Volkssouveränetät zu sehen, noch viel weniger in der Aufrechthaltung der Charte; er solle sich weder an das Geschwätz der Rechten noch der Linken kehren; es komme nicht darauf an, ob Frankreich im Innern frei und im Auslande geehrt sei, noch viel weniger, ob der Thron mit republikanischen Institutionen barrikadiert oder von erblichen Pairs gestützt werde; weder die oktroyierten Worte noch die heroischen Taten seien von großer Wichtigkeit; das Bürgerkönigtum und die ganze Regierungskunst bestehe darin, daß man jedem Lump die Hand drücke. Und nun zeigt er die verschiedenen Handgriffe, wie man den Leuten die Hand drückt, in allen Positionen, zu Fuß, zu Pferd, wenn man durch ihre Reihen galoppiert, wenn sie vorbeidefilieren usw. Großkuken ist gelehrig, macht diese Regierungskunststücke aufs beste nach; ja, er sagt, er wolle die Erfindung des Bürgerkönigtums noch verbessern und jedesmal, wenn er einem Bürger die Hand drücke, ihn auch fragen: »Wie geht’s, mon vieux cochon?« oder, was synonym sei: »Wie geht’s, citoyen?« – »Ja, das ist synonym«, sagt dann der König ganz trocken, und die Karlisten lachten. Hernach will sich Großkuken im Händedrücken üben, zuerst an einer Grisette, nachher am Baron Louis; er macht aber jetzt alles zu plump, zerdrückt den Leuten die Finger; dabei fehlt es nicht an Verhöhnung und Verleumdung jener wohlbekannten Leute, die wir einst, vor der Juliusrevolution, als Lichter des Liberalismus feierten und die wir seitdem so gern als Servile herabwürdigen. Bin ich aber sonst dem Justemilieu nicht sehr gewogen, so regte sich doch in meinem Gemüte eine gewisse Pietät gegen die einst Hochverehrten; es regte sich wieder die alte Neigung, als ich sie geschmäht sah von jenen schlechtern Menschen. Ja, wie derjenige, der sich in der Tiefe eines dunkeln Brunnens befindet, am hellen, lichten Tage die Sterne des Himmels schauen kann, so habe ich, als ich in eine obskure Karlistengesellschaft hinabgestiegen war, wieder klar und rein die Verdienste der Justemilieu-Leute anerkennen können; ich fühle wieder die ehemalige Verehrung für den ehemaligen Herzog von Orleans, für die Doktrinäre, für einen Guizot, einen Thiers, einen Royer-Collard und für einen Dupin und andre Sterne, die durch das überflammende Tageslicht der Juliussonne ihren Glanz verloren haben.

Es ist dann und wann nützlich, die Dinge von solch einem tiefen, statt von einem hohen Standpunkte zu betrachten. Zunächst lernen wir die Personen unparteiischer beurteilen, wenn wir auch die Sache hassen, deren Repräsentanten sie sind; wir lernen die Menschen des Justemilleu von dem Systeme desselben unterscheiden. Dieses letztere ist schlecht, nach unserer Ansicht, aber die Personen verdienen noch immer unsere Achtung, namentlich der Mann, dessen Stellung die schwierigste in Europa ist und der jetzt nur in dem Gedanken vom 13. März die Möglichkeit seiner Existenz sieht; dieser Erhaltungstrieb ist sehr menschlich. Sind wir gar unter Karlisten geraten und hören wir diesen Mann beständig schmähen, so steigt er in unserer Achtung, indem wir bemerken, daß jene an Ludwig Philipp eben dasjenige tadeln, was wir noch am liebsten an ihm sehen, und daß sie eben dasjenige, was uns an ihm mißfällt, noch am liebsten goutieren. Wenn er in den Augen der Karlisten das Verdienst hat, ein Bourbon zu sein, so erscheint uns dieses Verdienst im Gegenteil als eine levis nota. Aber es wäre Unrecht, wenn wir ihn und seine Familie nicht von der ältern Linie der Bourbonen aufs rühmendste unterschieden. Das Haus Orleans hat sich dem französischen Volke so bestimmt angeschlossen, daß es gemeinschaftlich mit demselben regeneriert wurde; daß es aus dem schrecklichen Reinigungsbade der Revolution, ebenso wie das französische Volk, gesäubert und gebessert, geheilt und verbürgerlicht hervorging; – während die ältern Bourbonen, die an jener Verjüngung nicht teilnahmen, noch ganz zu jener ältern, kranken Generation gehören, die Crébillon, Laclos und Louvet uns in ihrem heitersten Sündenglanze und in ihrer blühenden Verwesung so gut geschildert haben. Das wieder jung gewordene Frankreich konnte dieser Dynastie, diesen Revenants der Vergangenheit, nimmer angehören; das erheuchelte Leben wurde täglich unheimlicher; die Bekehrung nach dem Tode war ein widerwärtiger Anblick; die parfümierte Fäulnis beleidigte jede honette Nase; und eines schönen Juliusmorgens, als der gallische Hahn krähte, mußten diese Gespenster wieder entfliehen. Ludwig Philipp aber und die Seinigen sind gesund und lebendig, es sind blühende Kinder des jungen Frankreichs, keuschen Geistes, frischen Leibes und von bürgerlich guten Sitten. Eben jene Bürgerlichkeit, die den Karlisten an Ludwig Philipp so sehr mißfällt, hebt ihn in unserer Achtung. Ich kann mich trotz des besten Willens nicht so ganz des Parteigeistes entäußern, um richtig zu beurteilen, wie weit es ihm mit dem Bürgerkönigtume ernst ist. Die große Jury der Geschichte wird entscheiden, ob er es ehrlich gemeint hat. In diesem Falle sind die Poignées de main gar nicht lächerlich, und der männliche Handschlag wird vielleicht ein Symbol des neuen Bürgerkönigtums, wie das knechtische Knien ein Symbol der feudalistischen Souveränetät geworden war. Ludwig Philipp, wenn er Thron und ehrliche Gesinnung bewahrt und seinen Kindern überliefert kann in der Geschichte einen großen Namen hinterlassen, nicht bloß als Stifter einer neuen Dynastie, sondern sogar als Stifter eines neuen Herrschertums, das der Welt eine andere Gestalt gibt – als der erste Bürgerkönig Ludwig Philipp, wenn er Thron und ehrliche Gesinnung bewahrt –, aber das ist ja eben die große Frage.

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