Artikel IV

Paris, 1. März

Die Vorgänge in England nehmen seit einiger Zeit mehr als jemals unsere Aufmerksamkeit in Anspruch. Wir müssen es uns endlich gestehen, daß die offene Feindschaft der absoluten Könige uns minder gefährlich ist als des konstitutionellen John Bulls zweideutige Freundschaft. Die völkermeuchelnden Umtriebe der englischen Aristokratie treten bedrohlich genug ans offizielle Tageslicht, und der Nebel von London verhüllt nur noch spärlich die feinen Schlingen und Knoten, die das konferenzliche Protokollgespinst mit den parlamentarischen Fangfäden verknüpfen. Die Diplomatie hat dort tätiger als jemals ihre geburtstümlichen Interessen wahrgenommen und emsiger als jemals das verderblichste Gewebe gesponnen, und Herr v. Talleyrand scheint zugleich Spinne und Fliege zu sein. Ist der alte Diplomat nicht mehr so schlau wie weiland, als er, ein zweiter Hephaistos, den gewaltigen Kriegsgott selbst in seinem feingeschmiedeten Netzwerk gefangen? Oder erging’s ihm diesmal wie dem überklugen Meister Merlin, der sich in dem eigenen Zauber verstrickt und wortgefesselt und selbstgebannt im Grabe liegt? Aber warum hat man eben Hrn. v. Talleyrand auf einen Posten gestellt, der für die Interessen der Juliusrevolution der wichtigste und wo vielmehr die unbeugsame Gradheit eines unbescholtenen Bürgers nötig war? Ich will damit nicht ausdrücklich sagen, der alte, glatte ehemalige Bischof von Autun sei nicht ehrlich. Im Gegenteil, den Eid, den er jetzt geschworen hat, den hält er gewiß, denn er ist der dreizehnte. Wir haben freilich keine andere Garantie seiner Ehrlichkeit, aber sie ist hinreichend; denn noch nie hat ein ehrlicher Mann zum dreizehntenmal seinen Eid gebrochen. Außerdem versichert man, daß Ludwig Philipp in der Abschiedsaudienz noch aus Vorsorge zu ihm gesagt habe: »Herr v. Talleyrand, was man Ihnen auch bieten mag, ich gebe Ihnen immer das Doppelte.« Indessen, bei treulosen Menschen gäbe das dennoch keine Sicherheit; denn im Charakter der Treulosigkeit liegt es, daß sie sich selbst nicht treu bleibt und daß man auch nicht einmal durch Befriedigung des Eigennutzes auf sie rechnen kann.

Das Schlimmste ist, daß die Franzosen sich London als ein andres Paris, das Westend als ein andres St.-Germain-Viertel denken, daß sie britische Reformers für verbrüderte Liberale und die Parlamente für eine Pairs- und Deputiertenkammer ansehen, kurz, daß sie alle englischen Vorhandenheiten nach französischem Maßstabe messen und beurteilen. Dadurch entstehen Irrtümer, wofür sie vielleicht in der Folge schwer büßen müssen. Beide Völker haben einen allzu schroff entgegengesetzten Charakter, als daß sie sich einander verstehen könnten, und die Verhältnisse in beiden Ländern sind zu ursprünglich verschieden, als daß sie sich miteinander vergleichen ließen. Und vollends in politischer Beziehung! Die »Nachträge zu den Reisebildern« enthalten hierüber manche Belehrungen, die aus der unmittelbaren Anschauung geschöpft sind, und auf diese muß ich hier verweisen, um Wiederholungen zu vermeiden. Auch auf die trefflichen »Briefe eines Verstorbenen« will ich hier nochmals hindeuten, obgleich das poetische Gemüt des Verfassers in das starre Britentum mehr geistige Bewegung hineingeschaut, als wohl grundwirklich darin zu finden sein möchte. England müßte man eigentlich im Stile eines Handbuchs der höhern Mechanik beschreiben, ungefähr wie eine ungeheuer komplizierte Fabrik, wie ein sausendes, brausendes, stockendes, stampfendes und verdrießlich schnurrendes Maschinenwesen, wo die blankgescheuerten Utilitätsräder sich um alt verrostete historische Jahrzahlen drehen. Mit Recht sagen die St. Simonisten, England sei die Hand und Frankreich das Herz der Welt. Ach! dieses große Weltherz müßte verbluten, wenn es, auf britische Generosität rechnend, einmal Hülfe verlangte von der kalten, hölzernen Nachbarhand. Ich denke mir das egoistische England nicht als einen fetten, wohlhabenden Bierwanst, wie man ihn auf Karikaturen sieht, sondern, nach der Beschreibung eines Satirikers, in der Gestalt eines langen, magern, knöchernen Hagestolzes, der sich einen abgerissenen Knopf an die Hosen wieder annäht, und zwar mit einem Zwirnfaden, an dessen Ende als Knäul die Weltkugel hängt – er schneidet aber ruhig den Faden ab, wo er ihn nicht mehr braucht, und läßt ruhig die ganze Welt in den Abgrund fallen.

Die Franzosen meinen, das englische Volk hege Freiheitswünsche gleich den ihrigen, es ringe, ebenso wie sie, gegen die Usurpationen einer Aristokratie, und daher gäben nicht bloß viele äußern, sondern auch viele innern Interessen die Bürgschaft einer engen Allianz. Aber sie wissen nicht, daß das englische Volk selbst durchaus aristokratisch ist, daß es nur in engsinniger Korporationsweise seine Freiheit oder vielmehr seine verbrieften vorrechtlichen Freiheiten verlangt und daß die französische, allgemein menschentümliche Freiheit, deren die ganze Welt nach den Urkunden der Vernunft teilhaftig werden soll, ihrem tiefsten Wesen nach den Engländern verhaßt ist. Sie kennen nur eine englische Freiheit, eine historisch-englische Freiheit, die entweder den königl. großbritannischen Untertanen patentiert wird oder auf ein altes Gesetz, etwa aus der Zeit der Königin Anna, basiert ist. Burke, der die Geister zu burken suchte und das Leben selbst an die Anatomie der Geschichte verhandelte, dieser machte der französischen Revolution zum hauptsächlichen Vorwurfe, daß sie sich nicht wie die englische aus alten Institutionen herausgebildet, und er kann nicht begreifen, daß ein Staat ohne Nobility bestehen könne. Englands Nobility ist aber auch etwas ganz anderes als die französische Noblesse, und sie verdient, daß ich ihr unterscheidendes Lob ausspreche. Der englische Adel stellte sich dem Absolutismus der Könige immer entgegen, in Gemeinschaft mit dem Volke, um dessen Rechte nebst den seinigen zu behaupten; der französische Adel hingegen ergab sich den Königen auf Gnade und Ungnade; seit Mazarin widerstrebte er nicht mehr ihrer Gewalt, er suchte nur daran Teil zu gewinnen, durch geschmeidigen Hofdienst, und in untertänigster Handlangergemeinschaft mit den Königen drückte und verriet er das Volk. Unbewußt hat sich der französische Adel für die frühere Unterdrückung an den Königen gerächt, indem er sie zu entnervender Sittenlosigkeit verführte und sie fast blödsinnig schmeichelte. Freilich er selber, geschwächt und entgeistet, mußte dadurch zugleich mit dem ältern Königtume zugrunde gehen, der 10. August fand in den Tuilerien nur ein greisenhaft abgelebtes Volk mit gebrechlichen Galanteriedegen, und nicht einmal ein Mann, nur eine Frau war es, die mit Mut und Kraft zur Gegenwehr aufforderte; – – aber auch diese letzte Dame des französischen Rittertums, die letzte Repräsentantin des hinsterbenden alten Regimes, auch sie sollte nicht in so holder Jugendgestalt ins Grab sinken, und eine einzige Nacht hat schneeweiß gefärbt die blonden Locken der schönen Antoinette.

Anders erging es dem englischen Adel. Dieser hat seine Kraft erhalten, er wurzelt im Volke, dem gesunden Boden, der die jüngern Söhne der Nobility als edle Schößlinge aufnimmt und durch diese, die eigentliche Gentry, mit dem Adel selbst, der Nobility, verbunden bleibt. Dabei ist der englische Adel voll Patriotismus, er hat bisher, mit unerlogenem Eifer, das alte England wahrhaftig repräsentiert, und jene Lords, die soviel kosten, haben auch, wenn es not tat, dem Vaterlande Opfer gebracht. Es ist wahr, sie sind hochmütig, mehr noch als der Adel auf dem Kontinente, der seinen Hochmut zur Schau trägt und sich äußerlich vom Volke auszeichnet durch Kostüme, Bänder, schlechtes Französisch, Wappen, Sterne und sonstige Spielereien; der englische Adel verachtet den Bürgerstand zu sehr, als daß er es für nötig hielte, ihm durch äußere Mittel zu imponieren, die bunten Zeichen der Macht öffentlich zur Schau zu tragen; im Gegenteile, wie Götter inkognito sieht man den englischen Adel, schlicht bürgerlich gekleidet und daher unbemerkt, in den Straßen, Routs und Theatern Londons; mit seinen feudalistischen Dekorationen und sonstigem Prachtflitterstaate bekleidet er sich nur bei Hoffesten und altherkömmlichen Hofzeremonien. Daher bewahrt er auch bei dem Volke mehr Ehrfurcht als unsere Kontinentalgötter, die so wohlbekannt mit allen ihren Attributen umherlaufen. Auf der Waterloobrücke zu London hörte ich einst, wie ein Knabe zu dem andern sagte: »Have you ever seen a nobleman?« (»Hast du je einen Edelmann gesehen?«), worauf der andere antwortete: »No, but I have seen the coach of the Lord Mayor.« (»Nein, aber ich habe die Kutsche des Lord Mayors gesehen.«). Diese Kutsche ist nämlich ein abenteuerlich großer Kasten, überreich vergoldet, fabelhaft bunt bemalt, mit einem rotsammetnen, steifgoldenen Haarbeutelkutscher auf dem Bock und drei dito Haarbeutellakaien hinten auf dem Schlage. Wenn das englische Volk jetzt mit seinem Adel hadert, so geschieht das nicht der bürgerlichen Gleichheit wegen, woran es nicht denkt, am wenigsten der bürgerlichen Freiheit wegen, deren es vollauf genießt, sondern wegen barer Geldinteressen; indem der Adel, im Besitze aller Sinekuren, geistlichen Pfründen und übereinträglicher Ämter, frech und üppig schwelgt, während der größte Teil des Volks, überlastet mit Abgaben, im tiefsten Elende schmachtet und verhungert. Daher verlangt es eine Parlamentsreform, und die adeligen Beförderer derselben haben wahrlich nicht im Sinne, sie zu etwas anderem zu benutzen als zu materiellen Verbesserungen.

Ja, der Adel von England ist noch immer mit dem Volke verbundener als mit den Königen, von denen er sich immer unabhängig zu erhalten gewußt, im Gegensatze zu dem französischen Adel. Er lieh den Königen nur sein Schwert und sein Wort, jedoch an dem Privatleben derselben, in Lust und Lüsten, nahm er nur gleichgültig vertraulichen Anteil. Dies gilt sogar von den verdorbensten Zeiten. Hamilton in seinen »Memoiren des Duc de Grammont« gibt ein anschauliches Bild dieses Verhältnisses. Solcherweise, bis auf die letzte Zeit, blieb der englische Adel zwar der Etikette nach handküssend und kniend, jedoch faktisch auf gleichheitlichem Fuße mit den Königen, denen er sich ernsthaft genug widersetzte, sobald sie seine Vorrechte antasten oder sich seinem Einflusse entziehen wollten. Dieses letztere geschah vor einigen Jahren am offenkundigsten, als Canning Minister wurde; zur Zeit des Mittelalters wären die englischen Barone in einem solchen Falle behelmt und gepanzert, mit dem Schwerte in der Faust und im Geleite ihrer Lehnsmannen, aufs Schloß des Königs gestiegen und hätten mit ironischer Demut, mit bewaffneter Courtoisie ihren Willen ertrotzt. In unserm Jahrhunderte mußten sie zu minder rittertümlichen Mitteln ihre Zuflucht nehmen, und wie männiglich bekannt, suchten die Edelleute, die damals das Ministerium bildeten, dem Könige dadurch zu imponieren, daß sie unvermutet und in perfid abgekarteter Weise sämtlich ihre Demissionen gaben. Die Folgen sind ebenfalls hinlänglich bekannt, Georg IV. stützte sich alsdann auf George Canning, den heiligen Georg von England, der nahe daran war, den mächtigsten Lindwurm der Erde niederzuschlagen. Nach ihm kam Lord Goderich mit seinem rotbäckig behaglichen Gesichte und affektiert heftigem Advokatentone und ließ bald die überlieferte Lanze aus den schwachen Händen fallen, so daß der arme König sich wieder auf Gnade und Ungnade seinen alten Baronen übergeben mußte und der Feldherr der Heiligen Allianz wieder den Kommandostab erhielt. Ich habe an einem andern Orte nachgewiesen, warum kein liberaler Minister in England etwas besonders Gutes bewirken kann und deshalb abtreten muß, um jenen Hochtories Platz zu machen, die eine große Verbesserungsbill natürlicherweise um so leichter durchsetzen, da sie den parlamentarischen Widerstand ihrer eigenen Halsstarrigkeit nicht zu besiegen brauchen. Der Teufel hat von jeher die besten Kirchen gebaut. Wellington erfocht jene Emanzipation, wofür Canning vergebens kämpfte, und vielleicht ist er auch der Mann, der dazu bestimmt ist, jene Reformbill durchzusetzen, woran Lord Grey wahrscheinlich scheitert. Ich glaube an dessen baldigen Sturz, und dann gelangen wieder ans Regiment jene unversöhnlichsten Aristokraten, die seit vierzig Jahren das französische Volk, als den Repräsentanten der demokratischen Ideen, auf Tod und Leben befehden. Diesmal wird freilich der alte Groll den materiellen Interessen nachgestellt werden, und den gefährlichern Feind im Osten und seine Anhängsel wird man gern von französischen Waffen bekämpft sehen. Um so mehr, da sich die Feinde alsdann wechselseitig schwächen. Ja, die Engländer werden den gallischen Hahn noch besonders anspornen zum Kampfe mit den absoluten Adlern, und sie werden schaubegierig mit ihren langen Hälsen über den Kanal herüberschauen und applaudieren, wie im Cockpit, und ob des Ausgangs des Kampfes viele tausend Guineen verwetten.

Werden die Götter dort oben im blauen Zelte ebenso gleichgültig dieses Schauspiel betrachten? Werden sie, Engländer des Himmels, unbekümmert ob unseres Hülferufs und unseres Verblutens, herzlos und mit bleiernem Blick auf den Todeskampf der Völker herabschauen? Oder hat der Dichter recht, welcher behauptet hat, so wie wir die Affen hassen, weil sie von allen Säugetieren uns selber am ähnlichsten schauen und dadurch unsern Stolz kränken, so seien den Göttern auch die Menschen verhaßt, die, nach ihrem eigenen Bildnisse erschaffen, mit ihnen selber soviel beleidigende Ähnlichkeit haben; so daß die Götter, je größer, schöner, gottgleicher die Menschen sind, sie desto grimmiger durch Mißgeschick verfolgen und zugrunde richten, während sie die kleinen, häßlichen, säugetierlicheren Menschen gnädigst verschonen und im Glücke gedeihen lassen. Wenn diese letzte traurige Ansicht wahr ist, so sind freilich die Franzosen ihrem Untergange näher als andere! Ach, möge das Ende ihres Kaisers noch frühzeitig die Franzosen belehren, was von dem Großsinn Englands zu erwarten ist! Hat der »Bellerophon« diese Chimäre nicht längst entführt? Möge Frankreich sich niemals auf England verlassen wie Polen auf Frankreich!

Sollte sich jedoch das Entsetzliche begeben und Frankreich, das Mutterland der Zivilisation und der Freiheit, ginge verloren durch Leichtsinn und Verrat und die potsdämische Junkersprache schnarrte wieder durch die Straßen von Paris und schmutzige Teutonenstiefel befleckten wieder den heiligen Boden der Boulevards und der Palais Royal röche wieder nach Juchten – – – dann gäbe es einen Mann in der Welt, der elender wäre, als jemals ein Mensch gewesen, einen Mann, der durch seinen kläglichen, krämerhaften Kleinsinn das Verderben des Vaterlandes verschuldet hätte und alle Schlangen der Reue im Herzen und alle Flüche der Menschheit auf dem Haupte trüge. Die Verdammten in der Hölle würden sich alsdann, um sich einander zu trösten, die Qualen dieses Mannes erzählen, die Qualen des Casimir Périer.

Welch eine schauerliche Verantwortlichkeit lastet auf diesem einzigen Manne! Ein Grauen erfaßt mich jedesmal, wenn ich in seine Nähe trete. Wie gebannt von einem unheimlichen Zauber, stand ich jüngst eine Stunde lang neben ihm und betrachtete diese trübe Gestalt, die sich zwischen den Völkern und der Sonne des Julius so kühn gestellt hat. Wenn dieser Mann fällt, dachte ich, hat die große Sonnenfinsternis ein Ende, und die dreifarbige Fahne auf dem Pantheon erglänzt wieder begeistert, und die Freiheitsbäume erblühen wieder! Dieser Mann ist der Atlas, der die Börse und das Haus Orleans und das ganze europäische Staatengebäude auf seinen Schultern trägt, und wenn er fällt, so fällt die ganze Bude, worin man die edelsten Hoffnungen der Menschheit verschachert, und es fallen die Wechseltische und die Kurse und die Eigensucht und die Gemeinheit!

Es ist nicht so ganz uneigentlich, wenn man ihn einen Atlas nennt, Périer ist ein ungewöhnlich großer, breitschultriger Mann von starkem Knochenbau und gewaltig stämmigem Ansehen. Man hat gewöhnlich irrige Begriffe von seinem Äußern, teils, weil die Journale beständig von seiner Kränklichkeit reden, um ihn, der durchaus gesund und Präsident des Konseils bleiben will, zu irritieren, teils auch, weil man von seiner Irritation selbst die übertriebensten Anekdoten erzählt und die Leidenschaftlichkeit, womit man ihn auf der Rednerbühne agieren sieht, als seinen gewöhnlichen Zustand betrachtet. Aber der Mann ist ein ganz anderer, sobald man ihn in seiner Häuslichkeit, in Gesellschaft, überhaupt in einem befriedeten Zustande erblickt. Dann gewinnt sein Gesicht statt des begeistert erhöhten oder erniedrigten Ausdrucks, den ihm die Tribüne verleiht, eine wahrhaft imposante Würde, seine Gestalt erhebt sich noch männlich schöner und edler, und man betrachtet ihn mit Wohlgefallen, besonders solange er nicht spricht. In dieser Hinsicht ist er ganz das Gegenteil der Femme du bureau im Café Colbert, die fast unschön erscheint, solange sie schweigt, deren Gesicht aber von Holdseligkeit überstrahlt wird, sobald sie zum Sprechen den Mund öffnet. Nur daß Périer, wenn er lange schweigt und andere mit Bedächtigkeit anhört, die dünnen Lippen tief einwärts zieht und der Mund dadurch wie eine Grube im Gesichte anzuschauen ist. Dann pflegt er auch mit dem horchend gebeugten Haupte leise auf und nieder zu nicken wie einer, der zu sagen scheint: das wird sich schon geben. Seine Stirne ist hoch und scheint es um so mehr, da das Vorderhaupt nur mit wenigen Haaren bedeckt ist. Diese sind grau, beinahe weiß, glatt anliegend und bedecken nur spärlich den übrigen Teil des Kopfes, dessen Wölbung schön und ebenmäßig und woran die kleinen Ohren fast anmutig genannt werden können. Das Kinn ist aber kurz und ordinär. Wild und wüst hängt das schwarze Buschwerk seiner Braunen herab bis zu den tiefen Augenhöhlen, worin die kleinen dunkeln Augen tief versteckt auf der Lauer liegen; nur zuweilen blitzt es da hervor wie ein Stilett. Die Farbe des Gesichts ist graugelblich, das gewöhnliche Kolorit der Sorge und Verdrossenheit, und es irren allerlei wunderliche Falten darüber hin, die zwar nicht gemein sind, aber auch nicht edel, vielleicht Justemilieu –, anständig grämliche Justemilieu-Falten. Man will dem Manne das Bankierhafte anmerken, sogar in seiner Haltung das Kaufmännische herausfinden, und einer meiner Freunde gibt vor, daß er immer in Versuchung gerate, ihn über den jetzigen Preis des Kaffees oder den Stand des Diskontos zu befragen. »Wenn man aber von jemandem weiß, daß er blind ist«, sagt Lichtenberg, »so glaubt man es ihm von hinten ansehen zu können.« Ich finde in der ganzen Erscheinung Casimir Périers freilich nichts, was an Adel der Geburt erinnert, aber in seinem Wesen liegt viel von schöner Ausbildung der Bürgerlichkeit, wie man sie bei Männern findet, die mit den tatsächlichsten Staatssorgen belastet sind und sich mit chevaleresken Manieren und sonstigem Toilettengeschäfte nicht viel befassen können.

Nach seinen Reden kann man Périer noch am besten beurteilen, es ist das auch seine beste Seite, wenigstens während der Restaurationsperiode, wo er, einer der besten Sprecher der Opposition, gegen windiges Pfaffen- und Schranzentum den edelsten Krieg führte. Ich weiß nicht, ob er damals schon so körperlich ungestüm war wie jetzt; ich las damals nur seine Reden, die, ein Muster von Haltung und Würde, auch zugleich so ruhig und besonnen waren, daß ich ihn für einen ganz alten Mann hielt. In diesen Reden herrschte die strengste Logik, es war darin etwas Starres, starre Vernunftgründe nebeneinander grad aufgerichtet, gleich unzerbrechbar eisernen Stangen, und dahinter lauschte manchmal eine leise Wehmut, wie eine blasse Nonne hinter klösterlichem Sprachgitter. Die starren Vernunftgründe, die eisernen Stangen sind in seinen Reden geblieben, aber jetzt schaut man dahinter nur einen unmächtigen Zorn, der wie ein wildes Tier hin und her springt.

Viele der neuesten Reden Périers, welche Gesetzentwürfe besprechen, wie z.B. über die Pairie, sind nicht von ihm selbst abgefaßt; zu solchen großen Ausarbeitungen fehlt es dem Minister an Zeit. Er muß jetzt täglich reizbarer, kleinlicher und leidenschaftlicher in seinen eigenen Reden werden, je bedenklicher, würdeloser und unedler das System ist, das er zu verteidigen hat. Was ihm in der öffentlichen Meinung am förderlichsten, das ist seine Stellung neben Herrn Sebastiani, dem alten koketten Menschen mit dem aschgrauen Herzen und dem gelben Gesichte, worauf noch manchmal ein Stückchen Röte zu schauen, wie bei herbstlichen Bäumen, aus deren gelbem Laubwerk einige grellrote Blätter hervorgrinsen. Wahrlich, es gibt nichts Widerwärtigeres als diese aufgeblasene Nichtigkeit, die, obgleich für krank erklärt, noch oft in die Kammer kommt und sich auf die Ministerbank setzt, ein fades Lächeln um die Lippen und eine Dummheit auf der Zunge. Ich kann kaum begreifen, daß dieses wohl gantierte, niedlich chaussierte, schwächliche Männlein mit verschwimmenden Vapeuräuglein jemals große Dinge verrichten konnte, im Felde und im Rate, wie uns die Berichterstatter des russischen Rückzuges und der türkischen Gesandtschaft erzählen. Seine ganze Wissenschaft besteht jetzt nur noch aus einigen altabgenutzten Diplomatenstückchen, die in seinem blechernen Gehirne beständig klappern. Seine eigentlich politischen Ideen gleichen dem großen Riemen, welchen Karthagos Königin aus einer Kuhhaut schnitt und womit sie ein ganzes Land umspannte; der Ideenkreis des guten Mannes ist groß, umfaßt viel Land, aber er ist dennoch von Leder. Périer sagte einst von ihm: »Er hat eine große Idee von sich selbst, und das ist die einzige Idee, die er hat.«

Ich habe den Kupido der Kaiserperiode, wie man Sebastiani genannt, neben dem Herkules der Justemilieu-Zeit, wie man Périer bezeichnet, nur deshalb hingestellt, damit dieser in völliger Größe erscheine. Wahrlich, ich möchte ihn lieber vergrößern als verkleinern, und dennoch kann ich nicht umhin zu gestehen, daß bei seinem Anblicke mir eine Gestalt ins Gedächtnis heraufsteigt, woneben er ebenso klein erscheint wie Sebastiani neben ihm. Ist es der Geist der Satire, der an die Gegensätze erinnert? Oder hat Casimir Périer wirklich eine Ähnlichkeit mit dem größten Minister, der jemals England regierte, mit George Canning? Aber auch andere Leute gestehen, daß er sonderbarerweise an diesen erinnere und irgendeine verborgene Verwandtschaft zwischen beiden vorhanden sei.

Vielleicht in der Bürgerlichkeit der Geburt und der Erscheinung, in der Schwierigkeit der Lage, in der unerschütterlichen Tatkraft und im Widerstande gegen feudalaristokratischen Ankampf zeigt sich jene Ähnlichkeit zwischen Périer und Canning. Nimmermehr in ihrer Laufbahn und entfalteten Gesinnung. Ersterer, geboren und erzogen auf den weichen Polstern des Reichtums, konnte ruhig seine besten Neigungen entwickeln und ruhig teilnehmen an jener wohlhabenden Opposition, die der Bürgerstand während der Restaurationszeit gegen Aristokratie und Jesuitenschaft führte. Der andere hingegen, George Canning, geboren von unglücklichen Eltern, war das arme Kind einer armen Mutter, die ihn des Tags über traurig und weinend pflegte und des Abends, um Brot für ihn zu verdienen, aufs Theater steigen und Komödie spielen und lachen mußte; späterhin, aus dem kleinen Elend der Armut in das größere Elend einer glänzenden Abhängigkeit übergehend, erduldete er die Unterstützung eines Oheims und die Gönnerschaft eines hohen Adels.

Unterschieden sich aber beide Männer durch die Lage, worein das Glück sie versetzt und lange Zeit erhalten hatte, so unterschieden sie sich noch mehr durch die Gesinnung, die sie offenbarten, als sie den Gipfel der Macht erreicht, wo endlich, frei von allem Zwange, das große Wort des Lebens ausgesprochen werden konnte. Casimir Périer, der nie abhängig gewesen, der immer die goldenen Mittel besaß, die Gefühle der Freiheit in sich zu erhalten, auszubilden, zu erhöhen: dieser wurde plötzlich kleinsinnig und krämerhaft; er beugte sich, seine Kräfte mißkennend, vor jenen Mächtigen, die er vernichten konnte, und bettelte um den Frieden, den er nur als Gnade gewähren durfte: er verletzt jetzt die Gastfreundschaft und beleidigt das heiligste Unglück, und, ein verkehrter Prometheus, stiehlt er den Menschen das Licht, um es den Göttern wiederzugeben. George Canning hingegen, weiland Gladiator im Dienste der Tories, als er endlich die Ketten der Geistessklaverei abschütteln konnte, erhob er sich in aller Majestät seines angebornen Bürgertums, und zum Entsetzen seiner ehemaligen Gönner, ein Spartakus von Downing Street, proklamierte er die bürgerliche und kirchliche Freiheit für alle Völker und gewann für England alle liberalen Herzen und hierdurch die Obermacht in Europa.

Es war damals eine dunkle Zeit in Deutschland, nichts als Eulen, Zensuredikte, Kerkerduft, Entsagungsromane, Wachtparaden, Frömmelei und Blödsinn; als nun der Lichtschein der Canningschen Worte zu uns herüberleuchtete, jauchzten die wenigen Herzen, die noch Hoffnung fühlten, und was den Schreiber dieser Blätter betrifft, er küßte Abschied von seinen Lieben und Liebsten und stieg zu Schiff und fuhr gen London, um den Canning zu sehen und zu hören. Da saß ich nun ganze Tage auf der Galerie der St.-Stephans-Kapelle und lebte in seinem Anblicke und trank die Worte seines Mundes, und mein Herz war berauscht. Er war mittlerer Gestalt, ein schöner Mann, edel geformtes, klares Gesicht, sehr hohe Stirne, etwas Glatze, wohlwollend gewölbte Lippen, sanfte, überzeugende Augen, heftig genug in seinen Bewegungen, wenn er zuweilen auf den blechernen Kasten schlug, der vor ihm auf dem Aktentische lag, aber in der Leidenschaft immer anstandvoll, würdig, gentlemanlike. Worin glich also seine äußere Erscheinung dem Casimir Périer? Ich weiß nicht, aber es will mich bedünken, als sei dessen Kopfbildung, obgleich derber und größer, der Canningschen auffallend ähnlich. Eine gewisse Krankhaftigkeit, Überreizung und Abspannung, die wir bei Canning sahen, ist auch bei Périer auffallend und mahnte eben an jenen. Was Talent betrifft, so konnten sich wohl beide die Waage halten. Nur daß Canning das Schwerste mit einer gewissen Leichtigkeit vollbrachte, gleich dem Odysseus, der den gewaltigen Bogen so leicht spannte, als habe er die Saiten einer Leier aufgezogen; Périer hingegen zeigt bei der geringfügigsten Handlung eine gewisse Schwerfälligkeit, er entfaltet bei der unbedeutendsten Maßregel alle seine Kräfte, alle seine geistige und weltliche Kavallerie und Infanterie, und wenn er die gelindesten Saiten aufziehen will, gebärdet er sich dabei so anstrengungsvoll, als spannte er den Bogen des Odysseus. Seine Reden habe ich oben charakterisiert. Canning war ebenfalls einer der größten Redner seiner Zeit. Nur warf man ihm vor, daß er zu geblümt, zu geschmückt spreche. Aber diesen Vorwurf verdiente er gewiß nur in seiner frühern Periode, als er noch, in abhängiger Stellung, keine eigne Meinung aussprechen durfte und er daher statt dessen nur oratorische Blumen, geistige Arabesken und brillante Witze geben konnte. Seine Rede war damals kein Schwert, sondern nur die Scheide desselben, und zwar eine sehr kostbare Scheide, woran das getriebene Goldblumenwerk und die eingelegten Edelsteine aufs reichste blitzten. Aus dieser Scheide zog er späterhin die grade, schmucklose Stahlklinge hervor, und das funkelte noch herrlicher und war doch scharf und schneidend genug. Noch sehe ich die greinenden Gesichter, die ihm gegenübersaßen, besonders den lächerlichen Sir Thomas Lethbridge, der ihn mit großem Pathos fragte, ob er auch schon die Mitglieder seines Ministeriums gewählt habe – worauf George Canning sich ruhig erhob, als wolle er eine lange Rede halten, und, mit parodiertem Pathos Yes sagend, sich gleich wieder niedersetzte, so daß das ganze Haus vom Gelächter erdröhnte. Es war damals ein wunderlicher Anblick, fast die ganze frühere Opposition saß hinter dem Minister, namentlich der wackere Russell, der unermüdliche Brougham, der gelehrte Mackintosh, Cam Hobhouse mit seinem verstürmt wüsten Gesichte, der edle, spitznäsige Robert Wilson und gar Francis Burdett, die begeistert lange donquichottliche Gestalt, dessen liebes Herz ein unverwelklicher Baumgarten liberaler Gedanken ist und dessen magere Knie damals, wie Cobbett sagte, den Rücken Cannings berührten. Diese Zeit wird mir ewig im Gedächtnisse blühen, und nimmermehr vergesse ich die Stunde, als ich George Canning über die Rechte der Völker sprechen hörte und jene Befreiungsworte vernahm, die wie heilige Donner über die ganze Erde rollten und in der Hütte des Mexikaners wie des Hindu ein tröstendes Echo zurückließen. »That is my thunder!« konnte Canning damals sagen. Seine schöne, volle, tiefsinnige Stimme drang wehmütig kraftvoll aus der kranken Brust, und es waren klare, entschleierte, todbekräftigte Scheideworte eines Sterbenden. Einige Tage vorher war seine Mutter gestorben, und die Trauerkleidung, die er deshalb trug, erhöhte die Feierlichkeit seiner Erscheinung. Ich sehe ihn noch in einem schwarzen Oberrocke und mit seinen schwarzen Handschuhen. Diese betrachtete er manchmal, während er sprach, und wenn er dabei besonders nachsinnend aussah, dann dachte ich: Jetzt denkt er vielleicht an seine tote Mutter und an ihr langes Elend und an das Elend des übrigen armen Volkes, das im reichen England verhungert, und diese Handschuhe sind dessen Garantien, daß Canning weiß, wie ihm zumute ist, und ihm helfen will. In der Heftigkeit der Rede riß er einmal einen jener Handschuhe von der Hand, und ich glaubte schon, er wollte ihn der ganzen hohen Aristokratie von England vor die Füße werfen, als den schwarzen Fehdehandschuh der beleidigten Menschheit.

Wenn ihn jene Aristokratie gerade nicht ermordet hat, ebensowenig wie jenen von St. Helena, der an einem Magenkrebse gestorben, so hat sie ihm doch genug kleine vergiftete Nadeln ins Herz gestochen. Man erzählte mir z.B., Canning erhielt in jener Zeit, als er eben ins Parlament ging, einen mit wohlbekanntem Wappen versiegelten Brief, den er erst im Sitzungssaale öffnete und worin er einen alten Komödienzettel fand, auf welchem der Name seiner verstorbenen Mutter unter dem Personale der Schauspieler gedruckt war. Bald darauf starb Canning, und jetzt, seit fünf Jahren, schläft er in Westminster neben Fox und Sheridan, und über den Mund, der so Großes und Gewaltiges gesprochen, zieht vielleicht eine Spinne ihr blödsinnig schweigendes Gewebe. Auch Georg IV. schläft jetzt dort in der Reihe seiner Väter und Vorfahren, die in steinernen Abbildungen auf den Grabmälern ausgestreckt liegen, das steinerne Haupt auf steinernen Kissen, Weltkugel und Zepter in der Hand; und rings um sie her, in hohen Särgen, liegt Englands Aristokratie, die vornehmen Herzöge und Bischöfe, Lords und Barone, die sich im Tode wie im Leben um die Könige drängen; und wer sie dort schauen will in Westminster, zahlt einen Schilling und sechs Pence. Dieses Geld empfängt ein armer, kleiner Aufseher, dessen Erwerbszweig es ist, die toten, hohen Herrschaften sehen zu lassen, und der dabei ihre Namen und Taten hinschnattert, als wenn er ein Wachsfigurenkabinett zeigte. Ich sehe gern dergleichen, indem ich mich dann überzeuge, daß die Großen der Erde nicht unsterblich sind, mein Schilling und sechs Pence hat mich nicht gereut, und als ich Westminster verließ, sagte ich zu dem Aufseher: »Ich bin mit deiner Exhibition zufrieden, ich wollte dir aber gern das Doppelte zahlen, wenn die Sammlung vollständig wäre.«

Das ist es. Solange Englands Aristokraten nicht sämtlich zu ihren Vätern versammelt sind, solange die Sammlung in Westminster nicht vollständig ist, bleibt der Kampf der Völker gegen Bevorrechtung der Geburt noch immer unentschieden, und Frankreichs Bürgerallianz mit England bleibt zweifelhaft.

Artikel V

Paris, 25. März 1832

Der Feldzug nach Belgien, die Blockade von Lissabon und die Einnahme von Ancona sind die drei charakteristischen Heldentaten, womit das Justemilieu nach außen seine Kraft, seine Weisheit und seine Herrlichkeit geltend gemacht; im Innern pflückte es ebenso rühmliche Lorbeeren unter den Pfeilern des Palais Royal, zu Lyon und zu Grenoble. Nie stand Frankreich so tief in den Augen des Auslandes, nicht einmal zur Zeit der Pompadour und der Dubarry. Man merkt jetzt, daß es noch etwas Kläglicheres gibt als eine Mätressenherrschaft. In dem Boudoir einer galanten Dame ist noch immer mehr Ehre zu finden als in dem Comptoir eines Bankiers. Sogar in der Betstube Karls X. hat man nicht so ganz und gar der Nationalwürde vergessen, und von dort aus eroberte man Algier. Diese Eroberung soll, damit die Demütigung vollständig sei, jetzt aufgegeben werden. Diesen letzten Fetzen von Frankreichs Ehre opfert man dem Trugbilde einer Allianz mit England. Als ob die imaginäre Hoffnung derselben nicht schon genug gekostet habe! Dieser Allianz halber werden sich die Franzosen auch auf der Zitadelle von Ancona blamieren müssen, wie auf den Ebenen von Belgien und unter den Mauern von Lissabon.

Im Innern sind die Beengnisse und Zerrissenheiten nachgerade so unleidlich geworden, daß sogar ein Deutscher die Geduld verlieren könnte. Die Franzosen gleichen jetzt jenen Verdammten in Dantes Hölle, denen ihr dermaliger Zustand so unerträglich geworden, daß sie nur diesem entzogen zu werden wünschen, und sollten sie auch dadurch in einen noch schlechtern Zustand geraten. So erklärt es sich, daß den Republikanern das legitime Regime und den Legitimisten die Republik viel wünschenswerter geworden als der Sumpf, der in der Mitte liegt und worin sie eben jetzt stecken. Die gemeinsame Qual verbindet sie. Sie haben nicht denselben Himmel, aber dieselbe Hölle, und da ist Heulen und Zähneklappern – Vive la République! Vive Henri V!

Die Anhänger des Ministeriums, d.h. Angestellte, Bankiers, Gutsbesitzer und Boutiquiers, erhöhen das allgemeine Mißbehagen noch durch die lächelnden Versicherungen, daß wir ja alle im ruhigsten Zustande leben, daß das Thermometer des Volksglücks, der Staatspapierkurs, gestiegen und daß wir diesen Winter in Paris mehr Bälle als jemals und die Oper in ihrer höchsten Blüte gesehen haben. Dieses war wirklich der Fall; denn jene Leute haben ja die Mittel, Bälle zu geben, und da tanzten sie nun, um zu zeigen, daß Frankreich glücklich sei; sie tanzten für ihr System, für den Frieden, für die Ruhe Europas; sie wollten die Kurse in die Höhe tanzen, sie tanzten à la hausse. Freilich manchmal, während den erfreulichsten Entrechats, brachte das diplomatische Korps allerlei Hiobsdepeschen aus Belgien, Spanien, England und Italien; aber man ließ keine Bestürzung merken und tanzte verzweiflungsvoll lustig weiter; ungefähr wie Aline, Königin von Golkonda, ihre scheinbar fröhlichen Tänze fortsetzt, wenn auch das Chor der Eunuchen mit einer Schreckensnachricht nach der andern heranquäkt. Wie gesagt, die Leute tanzten für ihre Renten, je gemäßigter sie gesinnt waren, desto leidenschaftlicher tanzten sie, und die dicksten, moralischsten Bankiers tanzten den verruchten Nonnenwalzer aus »Robert le Diable«, der berühmten Oper. – Meyerbeer hat das Unerhörte erreicht, indem er die flatterhaften Pariser einen ganzen Winter lang zu fesseln gewußt; noch immer strömt alles nach der Académie de musique, um »Robert le Diable« zu sehen; aber die enthusiastischen Meyerbeerianer mögen mir verzeihen, wenn ich glaube, daß mancher nicht bloß von der Musik angezogen wird, sondern auch von der politischen Bedeutung der Oper! Robert le Diable, der Sohn eines Teufels, der so verrucht war wie Philipp Egalité, und einer Fürstin, die so fromm war wie die Tochter Penthièvres, wird von dem Geiste seines Vaters zum Bösen, zur Revolution, und von dem Geiste seiner Mutter zum Guten, zum alten Regime, hingezogen, in seinem Gemüte kämpfen die beiden angeborenen Naturen, er schwebt in der Mitte zwischen den beiden Prinzipien, er ist Justemilieu; – vergebens wollen ihn die Wolfschluchtstimmen der Hölle ins Mouvement ziehen, vergebens verlocken ihn – die Geister der Konvention, die als revolutionäre Nonnen aus dem Grabe steigen, vergebens gibt Robespierre in der Gestalt der Mademoiselle Taglioni ihm die Akkolade: er widersteht allen Anfechtungen, allen Verführungen, ihn leitet die Liebe zu einer Prinzessin beider Sizilien, die sehr fromm ist, und auch er wird fromm, und wir erblicken ihn am Ende im Schoße der Kirche, umsummt von Pfaffen und umnebelt von Weihrauch. Ich kann nicht umhin zu bemerken, daß bei der ersten Vorstellung dieser Oper durch ein Versehen des Maschinisten das Brett der Versenkung, worin der alte Vater Teufel zur Hölle fuhr, ungeschlossen geblieben und daß der Teufel Sohn, als er zufällig darauf trat, ebenfalls hinabsank. – Da in der Deputiertenkammer von dieser Oper soviel gesprochen worden, so war die Erwähnung derselben keineswegs diesen Blättern unangemessen. Die gesellschaftlichen Erscheinungen sind hier durchaus nicht politisch unwichtig, und ich begreife jetzt sehr gut, wie Napoleon in Moskau sich damit beschäftigen konnte, das Reglement für die Pariser Theater auszuarbeiten. – – Auf letztere hatte die Regierung während des verflossenen Faschings ihr besonderes Augenmerk, wie denn überhaupt diese Zeit um so mehr ihre Aufmerksamkeit in Anspruch nahm, da man sogar die Maskenfreiheit fürchtete und besonders am Mardigras eine Emeute erwartete. Wie leicht ein Mummenschanz dazu Gelegenheit geben kann, hat sich in Grenoble erwiesen. Voriges Jahr ward der Mardigras durch Demolierung des erzbischöflichen Palastes gefeiert.

Da dieser Winter der erste war, den ich in Paris zubrachte, so kann ich nicht entscheiden, ob der Karneval dieses Jahr so brillant gewesen, wie die Regierung prahlt, oder ob er so trist aussah, wie die Opposition klagt. Sogar bei solchen Außendingen kann man der Wahrheit hier nicht auf die Spur kommen. Alle Parteien suchen zu täuschen, und selbst den eigenen Augen darf man nicht trauen. Einer meiner Freunde, ein Justemillionär, hatte die Güte, letzten Mardigras mich in Paris herumzuführen und mir durch den Augenschein zu zeigen, wie glücklich und heiter das Volk sei. Er ließ an jenem Tage auch alle seine Bedienten ausgehen und befahl ihnen ausdrücklich, sich recht viel Vergnügen zu machen. Vergnügt faßte er meinen Arm und rannte vergnügt mit mir durch die Straßen und lachte zuweilen recht laut. An der Porte St. Martin, auf dem feuchten Pflaster, lag ein todblasser, röchelnder Mensch, von welchem die umstehenden Gaffer behaupteten, er sterbe vor Hunger. Mein Begleiter aber versicherte mir, daß dieser Mensch alle Tage auf einer andern Straße vor Hunger sterbe und daß er davon lebe, indem ihn nämlich die Karlisten dafür bezahlten, durch solches Schauspiel das Volk gegen die Regierung zu verhetzen. Dieses Handwerk muß jedoch schlecht bezahlt werden, da viele dabei wirklich vor Hunger sterben. Es ist eine eigene Sache mit dem Verhungern; man würde hier täglich viele tausend Menschen in diesem Zustand sehen, wenn sie es nur längere Zeit darin aushalten könnten. So aber, gewöhnlich nach drei Tagen, welche ohne Nahrung verbracht worden, sterben die armen Hungerleider, einer nach dem andern, und sie werden still eingescharrt, und man bemerkt sie kaum.

»Sehen Sie, wie glücklich das Volk ist«, bemerkte mein Begleiter, indem er mir die vielen Wagen voll Masken zeigte, die laut jubelten und die lustigsten Narreteien trieben. Die Boulevards gewährten wirklich einen überaus ergötzlich bunten Anblick, und ich dachte an das alte Sprüchwort: »Wenn der liebe Gott sich im Himmel langweilt, dann öffnet er das Fenster und betrachtet die Boulevards von Paris.« Nur wollte es mich bedünken, als sei dabei mehr Gendarmerie aufgestellt, als zu einem harmlosen Vergnügen eben notwendig gewesen. Ein Republikaner, der mir begegnete, verdarb mir den Spaß, indem er mir versicherte, die meisten Masken, die sich am lustigsten gebärdeten, habe die Polizei eigens dafür bezahlt, damit man nicht klage, das Volk sei nicht mehr vergnügt. Inwieweit dieses wahr sein mag, will ich nicht bestimmen; die maskierten Männer und Weiber schienen sich ganz von innen heraus zu belustigen, und wenn die Polizei sie noch besonders dafür bezahlte, so war das sehr artig von der Polizei. Was ihre Einwirkung besonders verraten konnte, waren die Gespräche der maskierten gemeinen Kerle und öffentlichen Dirnen, die in ertrödelten Hoftrachten, mit Schönpflästerchen auf den geschminkten Gesichtern, die Vornehmheit der vorigen Regierung parodistisch nachäfften, sich mit karlistischen Namen titulierten und sich dabei so hoffärtig fächerten und spreizten, daß ich mich unwillkürlich der hohen Festivitäten erinnerte, die ich als Knabe die Ehre hatte, von der Galerie herab zu betrachten; nur daß die Pariser Poissarden ein besseres Französisch sprachen als die Kavaliere und gnädigen Fräulein meines Vaterlandes.

Um diesem letztern Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, gestehe ich, daß der diesjährige Bœuf-gras gar kein Aufsehen in Deutschland gemacht haben würde. Ein Deutscher mußte über diesen unbedeutenden Ochsen lächeln, ob dessen Größe man sich hier besonders wunderte. Mit Anspielungen auf diesen armen Ochsen waren eine Woche lang die kleinen Blätter gefüllt; daß er gros, gras et bête gewesen, war ein stehender Witz, und in Karikaturen parodierte man auf die gehässigste Weise den Zug dieses quasi-fetten Ochsen. Schon hieß es, man würde dieses Jahr den Zug verbieten; aber man besann sich eines Besseren. Von so vielen überlieferten Volksspäßen ist fast allein der Zug des Bœuf-gras in Frankreich übriggeblieben. Den absoluten Thron, den Parc-des-cerfs, das Christentum, die Bastille und andere ähnliche Institute aus der guten alten Zeit hat die Revolution niedergerissen; der Ochs allein ist geblieben. Darum wird er auch im Triumphe durch die Stadt geführt, bekränzt mit Blumen und umgeben von Metzgerknechten, die meistens mit Helm und Harnischen bekleidet sind und die diesen eisernen Plunder von den verstorbenen Rittern als nächste Wahlverwandte geerbt haben. Es ist sehr leicht, die Bedeutung der öffentlichen Mummereien einzusehen. Schwerer ist es, die geheime Maskerade zu durchschauen, die hier in allen Verhältnissen zu finden ist. Dieser größere Karneval beginnt mit dem ersten Januar und endigt mit dem einunddreißigsten Dezember. Die glänzendsten Redouten desselben sieht man im Palais Bourbon, im Luxemburg und in den Tuilerien. Nicht bloß in der Deputiertenkammer, sondern auch in der Pairskammer und im königlichen Kabinette spielt man jetzt eine heillose Komödie, die vielleicht tragisch enden wird. Die Oppositionsmänner, welche nur die Komödie der Restaurationszeit fortsetzen, sind vermummte Republikaner, die mit sichtbarer Ironie oder mit auffallendem Widerwillen als Komparsen des Königtums agieren. Die Pairs spielen jetzt die Rolle von unerblichen, durch Verdienst berufenen Amtsleuten; wenn man ihnen aber hinter die Maske schaut, so sieht man meistens die wohlbekannten noblen Gesichter; und wie modern sie sich auch kostümieren, so sind sie doch immer die Erben der alten Aristokratie, und sie tragen sogar die Namen, die an die alte Misere erinnern, so daß man darunter sogar einen Dreux-Brézé findet, von dem der »National« sagt, er sei nur dadurch ausgezeichnet, daß einmal einem seiner Vorfahren eine gute Antwort gegeben worden. Was Ludwig Philipp betrifft, so spielt er noch immer seinen roi-citoyen und trägt noch immer das dazugehörige Bürgerkostüm; unter seinem bescheidenen Filzhute trägt er jedoch, wie männiglich weiß, eine ganz unmaßgebliche Krone von gewöhnlichem Zuschnitte, und in seinem Regenschirme verbirgt er das absoluteste Zepter. Nur wenn die liebsten Interessen zur Sprache kommen oder wenn einer mit dem gehörigen Stichworte die Leidenschaften aufreizt, dann vergessen die Leute ihre einstudierte Rolle und offenbaren ihre Persönlichkeit. Jene Interessen sind zunächst die des Geldes, und diese müssen allen andern weichen, wie man bei den Diskussionen über das Budget wahrnehmen konnte… Die Stichworte, bei denen in der Deputiertenkammer die republikanische Gesinnung sich verriet, sind bekannt. Nicht so unbedeutend und zufällig, wie man etwa in Deutschland glaubt, waren die Diskussionen über das Wort sujet. Letzteres hat schon im Beginne der französischen Revolution Veranlassung zu Expektorationen gegeben, wobei sich die republikanische Tendenz der Zeit aussprach. Wie leidenschaftlich tobte man, als einst dem armen Ludwig XVI. in einer Rede dieses Wort entschlüpfte. Ich habe zur Vergleichung mit der Gegenwart die damaligen Journale in dieser Beziehung nachgelesen; der Ton von 1790 ist nicht verhallt, sondern nur veredelt. Die Philippisten sind nicht so ganz arglos, wenn sie durch Stichworte oberwähnter Art die Opposition in Leidenschaft bringen. Voriges Jahr hütete man sich wohl, die Tuilerien mit dem Namen Château zu benennen, und der »Moniteur« erhielt ausdrücklich die Weisung, sich des Wortes Palais zu bedienen. Später nahm man es nicht mehr so genau. Jetzt wagt man schon mehr, und die »Débats« sprechen von dem Hofe, la cour! »Wir gehen mit großen Schritten zur Restauration zurück!« klagte mir ein allzu ängstlicher Freund, als er las, daß die Schwester des Königs »Madame« tituliert worden. Dieser Argwohn grenzt fast ans Lächerliche. »Wir gehen noch weiter zurück als zur Restauration!« rief jüngst derselbe Freund, vor Schrecken erbleichend. Er hatte in einer gewissen Soiree etwas Entsetzliches gesehen, nämlich eine schöne junge Dame mit Puder in den Haaren. Ehrlich gestanden, es sah gut aus; die blonden Locken waren wie von leisem Frosthauch angereift, und die warmen frischen Blumen schauten um so rührend lieblicher daraus hervor.

»Der 21. Januar« war, in ähnlicher Weise, das Stichwort, wobei sich in der Pairskammer die vermummten Erbleidenschaften und der krasseste Aristokratismus enthüllten. Was ich längst vorausgesehen, geschah; auch parlamentarisch gebärdete sich die Aristokratie, als sei sie besonders bevorrechtet, den Tod Ludwigs XVI. zu bejammern, und sie verhöhnte das französische Volk durch die Beschönigung jenes Bußtagsgesetzes, wodurch der eingesetzte Statthalter der Heiligen Allianz, Ludwig XVIII., dem ganzen französischen Volke, wie einem Verbrecher, eine Pönitenz auferlegt hatte. Der 21. Januar war der Tag, wo das regizide Volk, zum Abschrecken der umstehenden Nachbarvölker, in Sack und Asche und mit der Kerze in der Hand vor Notre-Dame stehen sollte. Mit Recht stimmten die Deputierten für die Aufhebung eines Gesetzes, welches mehr dazu diente, die Franzosen zu demütigen, als sie zu trösten ob des Nationalunglücks, das sie am 21. Januar 1793 betroffen hat. Indem die Pairskammer die Aufhebung jenes Gesetzes verwarf, verriet sie ihren unversöhnlichen Groll gegen das neue Frankreich und entlarvte sie alle ihre adelige Vendetta gegen die Kinder der Revolution und gegen die Revolution selbst. Minder für die nächsten Interessen des Tages als vielmehr gegen die Grundsätze der Revolution kämpfen jetzt die lebenslänglichen Herren des Luxemburg. Daher verwarfen sie nicht den Briquevilleschen Gesetzesvorschlag; sie verleugneten ihre Ehre und unterdrückten ihre grimmigste Abneigung. Jener Gesetzesvorschlag betraf ja nicht im geringsten die Grundsätze der Revolution. Aber das Gesetz wegen Ehescheidung, das darf nicht angenommen werden, denn es ist durchaus revolutionärer Natur, wie jeder christkatholische Edelmann begreifen wird.

Das Schisma, das bei solcher Gelegenheit zwischen der Deputiertenkammer und der Pairie entsteht, wird die unerquicklichsten Erscheinungen hervorbringen. Man sagt, der König beginne schon die Bedeutung dieses Schismas in seiner ganzen Trostlosigkeit einzusehen. Das ist nun die Folge jener Halbheit, jenes Schwankens zwischen Himmel und Hölle, jenes Robert-le-Diableschen Justemilieu-Wesens. Ludwig Philipp sollte sich vorsehen, daß er nicht einmal unversehens auf das versinkende Brett gerät. Er steht auf einem sehr unsichern Boden. Er hat durch eigene Schuld seine beste Stütze verloren. Er beging den gewöhnlichen Mißgriff zagender Menschen, die mit ihren Feinden gut stehen wollen und es daher mit ihren Freunden verderben. Er kajolierte die Aristokratie, die ihn haßt, und beleidigte das Volk, das seine beste Stütze war. Seine Sympathie für die Erblichkeit der Pairschaft hat ihm die gleichheitssüchtigen Herzen vieler Franzosen entfremdet, und seine Nöten mit den Lebenslänglichen werden ihnen ein schadenfrohes Ergötzen gewähren. Nur wenn die Frage aufs Tapet kommt, »was die Juliusrevolution bedeutet habe«, verfliegt der scherzende Mißmut, und der düstere Groll bricht hervor in bedrohlichen Reden. Das ist das gewaltigste jener Stichworte, wobei die verborgene Leidenschaft ans Tageslicht tritt und die Parteien ihre Masken gänzlich fallen lassen. Ich glaube, man könnte die Toten der großen Woche, die unter den Mauern des Louvres begraben liegen, aus ihrem Schlafe wecken, wenn man sie früge, ob die Männer der Juliusrevolution wirklich nichts anderes gewollt haben, als was die Opposition in der Kammer während der Restaurationszeit ausgesprochen hat. Dieses nämlich war die Definition, welche die Ministeriellen bei den jüngsten Debatten von der Juliusrevolution gegeben haben. Wie kläglich diese Erklärung in sich selbst zerfällt, ergibt sich schon daraus, daß die Opposition seitdem eingestanden, daß sie während der ganzen Restaurationszeit Komödie gespielt hat. Wie kann also hier von bestimmten Manifestationen die Rede sein? Auch was das Volk in den drei Tagen während des Kanonendonners gerufen, war nicht der bestimmte Ausdruck seines Willens, wie nachträglich die Philippisten behauptet haben. Der Ruf »Vive la Charte!«, den man nachher als den allgemeinen Wunsch, die Charte beizubehalten, interpretierte, war damals nichts anderes als ein Losungswort, als eine Tagesparole, deren man sich nur als signe de ralliement bediente. Man darf den Ausdrücken, die das Volk in solchen Fällen gebraucht, keine allzu bestimmte Bedeutung verleihen. Dies gilt von allen Revolutionen, die das Volk gemacht. Die »Männer des andern Morgens« kommen immer hintendrein und klauben Worte. Sie finden nur das tötende Wort, nicht den lebendig machenden Geist. Diesem, nicht jenem muß man nachforschen. Denn das Volk versteht sich ebensowenig auf Worte, wie es sich durch Worte verständlich machen kann. Es versteht nur Tatsachen, nur Fakta, und spricht durch solche. Ein solches Faktum war die Juliusrevolution, und dieses besteht nicht einzig darin, daß Karl X. aus den Tuilerien nach Holyrood gejagt worden und Ludwig Philipp sich dort einquartiert hat; solch bloße Personalveränderung wäre nur wichtig für den Portier jenes Palastes. Das Volk, indem es Karl X. verjagte, sah in ihm nur den Repräsentanten der Aristokratie, wie er sich sein ganzes Leben hindurch gezeigt hat, seit 1788, wo er, als Fürst vom Geblüte, in einer Vorstellung an Ludwig XVI. förmlich ausgesprochen, daß ein Fürst vor allem Edelmann sei, als solcher naturgemäß dem Korps des Adels angehöre und daher dessen Rechte vor allen andern Interessen verteidigen müsse; in Ludwig Philipp sah aber das Volk einen Mann, dessen Vater schon, sogar in seinem Namen, die bürgerliche Gleichheit der Menschen anerkannt hat, einen Mann, der selbst bei Valmy und Jemappes für die Freiheit gefochten, der von seiner frühesten Jugend an bis jetzt die Worte Freiheit und Gleichheit im Munde geführt und sich, in Opposition gegen die eigene Sippschaft, als einen Repräsentanten der Demokratie dargegeben hat.

Wie herrlich leuchtete dieser Mann im Glanze der Juliussonne, die sein Haupt wie mit einer Glorie umstrahlte und selbst auf seine Fehler so viel heiteres Licht streute, daß sie noch mehr als seine Tugenden blendeten. »Valmy und Jemappes!« war damals der patriotische Refrain aller seiner Reden; er streichelte die dreifarbige Fahne wie eine wiedergefundene Geliebte; er stand auf dem Balkone des Palais Royal und schlug mit der Hand den Takt zu der Marseillaise, die unten das Volk jubelte; und er war ganz der Sohn der Gleichheit, fils d’Égalité, der Soldat tricolore der Freiheit, wie er sich von Delavigne in der Parisienne besingen lassen und wie er sich von Horace Vernet malen lassen auf jenen Gemälden, die in den Gemächern des Palais Royal immer besonders bedeutungsvoll zur Schau gestanden. In diesen Gemächern hatte das Volk während der Restauration immer freien Zutritt; und da wandelte es herum des Sonntags und bewunderte, wie bürgerlich alles dort aussah, im Gegensatze zu den Tuilerien, wo kein armer Bürgersmann so leicht hinkommen durfte; und mit besonderer Vorliebe betrachtete man das Gemälde, worauf Ludwig Philipp abgebildet ist, wie er in der Schweiz als Schullehrer vor der Weltkugel steht und den Knaben in der Geographie Unterricht erteilt. Die guten Leute dachten wunder, wieviel er selbst dabei gelernt haben müsse! Jetzt sagt man, Ludwig Philipp habe damals nichts anderes gelernt als faire bonne mine à mauvais jeu und allzu große Schätzung des Geldes. Die Glorie seines Hauptes ist verschwunden, und der Unmut erblickt darin nur eine Birne.

Die Birne ist noch immer stehender Volkswitz in Spottblättern und Karikaturen. Jene, namentlich »Le Revenant«, »Les Cancans«, »Le Brid-Oison«, »La Mode«, und wie das karlistische Ungeziefer sonst heißen mag, mißhandeln den König mit einer Unverschämtheit, die um so widerwärtiger ist, da man wohl weiß, daß das edle Faubourg solche Blätter bezahlt. Man sagt, die Königin lese sie oft und weine darüber; die arme Frau erhält diese Blätter durch den unermüdlichen Diensteifer jener schlimmsten Feinde, die unter dem Namen »die guten Freunde« in jedem großen Hause zu finden sind. Die Birne ist, wie gesagt, ein stehender Witz geworden, und Hunderte von Karikaturen, worauf man sie erblickt, sind überall ausgehängt. Hier sieht man Périer auf der Rednerbühne, in der Hand die Birne, die er den Umsitzenden anpreist und an den Meistbietenden für achtzehn Millionen losschlägt. Dort wieder liegt eine ungeheuer große Birne gleich einem Alp auf der Brust des schlafenden Lafayette, der, wie an der Zimmerwand angedeutet steht, von der besten Republik träumt. Dann sieht man auch Périer und Sebastiani, jener als Pierrot, dieser als dreifarbiger Harlekin gekleidet, durch den tiefsten Kot waten und auf den Schultern eine Querstange tragen, woran eine ungeheuere Birne hängt. Den jungen Heinrich sieht man als frommen Wallfahrter in Pilgertracht, mit Muschelhut und Stab, woran oben eine Birne hängt, gleich einem abgeschnittenen Kopfe.

Ich will wahrlich den Unfug dieser Fratzenbilder nicht vertreten, am allerwenigsten, wenn sie die Person des Fürsten selbst betreffen. Ihre unaufhörliche Menge ist aber eine Volksstimme und bedeutet etwas. Einigermaßen verzeihlich werden solche Karikaturen, wenn sie, keine bloße Beleidigung der Persönlichkeit beabsichtigend, nur die Täuschung rügen, die man gegen das Volk verübt. Dann ist auch ihre Wirkung grenzenlos. Seit eine Karikatur erschienen ist, worauf ein dreifarbiger Papagei dargestellt ist, der auf jede Frage, die man an ihn richtete, abwechselnd »Valmy« oder »Jemappes« antwortet, seitdem hütet sich Ludwig Philipp, diese Worte so wiederholentlich wie sonst vorzubringen. Er fühlt wohl, in diesen Worten lag immer ein Versprechen, und wer sie im Munde führte, durfte keine Quasilegitimität nachsuchen, durfte keine aristokratischen Institutionen beibehalten, durfte nicht auf diese Weise den Frieden erflehen, durfte nicht Frankreich ungestraft beleidigen lassen, durfte nicht die Freiheit der übrigen Welt ihren Henkern preisgeben. Ludwig Philipp mußte vielmehr auf das Vertrauen des Volkes den Thron stützen, den er dem Vertrauen des Volkes verdankte. Er mußte ihn mit republikanischen Institutionen umgeben, wie er gelobt, nach dem Zeugnis des unbescholtensten Bürgers beider Welten. Die Lügen der Charte mußten vernichtet, Valmy und Jemappes aber mußten eine Wahrheit werden. Ludwig Philipp mußte erfüllen, was sein ganzes Leben symbolisch versprochen hatte. Wie einst in der Schweiz mußte er wieder als Schulmeister vor die Weltkugel treten und öffentlich erklären: »Seht diese hübschen Länder, die Menschen darin sind alle frei, sind alle gleich, und wenn ihr Kleinen das nicht im Gedächtnisse behaltet, bekommt ihr die Rute.« Ja, Ludwig Philipp mußte an die Spitze der europäischen Freiheit treten, die Interessen derselben mit seinen eigenen verschmelzen, sich selbst und die Freiheit identifizieren, und wie einer seiner Vorgänger ein kühnes »L’état c’est moi!« aussprach, so mußte er mit noch größerem Selbstbewußtsein ausrufen: »La liberté c’est moi!«

Er hat es nicht getan. Wir wollen nun die Folgen abwarten. Sie sind unausbleiblich, und nur über die Länge der Zeit läßt sich nichts Bestimmtes voraussagen. Vor den schönen Frühlingstagen wird gewarnt. Die Karlisten meinen, erst im Herbste werde der neue Thron zusammenbrechen; geschehe es nicht, so werde er sich alsdann noch vier bis fünf Jahre halten. Die Republikaner wollen sich auf bestimmte Prophezeiungen nicht mehr einlassen. »Genug«, sagen sie, »die Zukunft gehört uns.« Und darin haben sie vielleicht recht. Obgleich sie bis jetzt immer die Düpes der Karlisten und Bonapartisten gewesen, so mag doch die Zeit kommen, wo die Tätigkeit dieser beiden Parteien nur den Interessen der Republikaner gefrommt haben wird. Sie rechnen auch auf diese Tätigkeit der Karlisten und Bonapartisten um so mehr, da sie selbst weder durch Geld noch durch Sympathie die Massen in Bewegung setzen können. Das Geld aber fließt jetzt in goldenen Strömen aus dem Faubourg St. Germain, und was feil ist, wird gekauft. Leider ist dessen zu Paris immer viel am Markte, und man glaubt, daß die Karlisten in diesem Monate große Fortschritte gemacht. Viele Männer, die immer großen Einfluß auf das Volk aus, geübt, sollen gewonnen sein. Die frommen Umtriebe der Schwarzröckchen in den Provinzen sind bekannt; das schleicht und zischt überall herum und lügt im Namen Gottes. Überall wird das Bild des Mirakeljungen aufgestellt, und man sieht ihn in den sentimentalsten Posituren. Hier liegt er auf den Knien und betet für das Heil Frankreichs und seiner unglücklichen Untertanen sehr rührend; dort klettert er auf den Bergen Schottlands, gekleidet in hochländischer Tracht, ohne Beinkleider. »Mâtin!« sagte ein Ouvrier, der mit mir dieses Bild an einem Kupferstichladen betrachtete, »on le représente sans culotte, mais nous savons bien qu’il est jésuite.« Auf einem ähnlichen Bild ist er weinend mit seinem Schwesterchen dargestellt, und darunter stellen gefühlvolle Verse: »Oh! que j’ai douce souvenance – de ce beau pays de mon enfance« usw. Lieder und Gedichte, die den jungen Heinrich feiern, zirkulieren in großer Anzahl, und sie werden gut bezahlt. Wie es einst in England eine jakobitische Poesie gab, so gibt es jetzt hier eine karlistische.

Indessen, die bonapartistische Poesie ist weit bedeutender und wichtiger und bedrohlicher für die Regierung. Es gibt keine Grisette in Paris, die nicht Bérangers Lieder singt und fühlt. Das Volk versteht am besten diese bonapartistische Poesie, und darauf spekulieren die Dichter, und auf die Dichter spekulieren wieder andere Leute. Victor Hugo schreibt jetzt ein großes Heldengedicht auf den alten Napoleon, und die väterlichen Verwandten des jungen Napoleons stehen in Briefwechsel mit ebensolchen Volksdichtern, die als Tyrtäen des Bonapartismus bekannt sind und deren begeisternde Leier man zur rechten Zeit zu benutzen hofft. Man ist nämlich der Meinung, daß der Sohn des Mannes nur zu erscheinen brauche, um der jetzigen Regierung ein Ende zu machen. Man weiß, daß der Name Napoleon das Volk hinreißt und die Armee entwaffnet. Die besonnenen, echten Demokraten sind jedoch keineswegs geneigt, in die allgemeine Huldigung einzustimmen. Der Name Napoleon ist ihnen freilich lieb und wert, weil er fast synonym geworden mit dem Ruhme Frankreichs und dem Siege der dreifarbigen Fahne. In Napoleoneschen sie den Sohn der Revolution; in dem jungen Reichstadt sehen sie nur den Sohn eines Kaisers, durch dessen Anerkennung sie dem Prinzipe der Legitimität huldigen würden. Dieses wäre jedenfalls eine lächerliche Inkonsequenz. Ebenso lächerlich ist die Meinung, daß der Sohn, wenn er auch nicht die Größe seines Vaters erreiche, doch gewiß nicht ganz aus der Art geschlagen und immer ein kleiner Napoleon sei. Ein kleiner Napoleon! Als ob die Vendômesäule nicht eben durch ihre Größe unsere Bewunderung erregte. Eben weil sie so groß ist und stark, will sich das Volk an sie lehnen in dieser vagen, schwankenden Zeit, wo die Vendômesäule das einzige in Frankreich ist, was fest steht.

Um diese Säule drehen sich alle Gedanken des Volkes. Sie ist sein unverwüstliches eisernes Geschichtsbuch, und es liest darauf seine eigenen Heldentaten. Besonders aber lebt in seiner Erinnerung die schmähliche Art, wie von den Deutschen das Standbild dieser Säule mißhandelt worden, wie man dem armen Kaiser die Füße abgesägt, wie man ihm, gleich einem Diebe, einen Strick um den Hals gebunden und ihn herabgerissen von seiner Höhe. Die guten Deutschen haben ihre Schuldigkeit getan. Jeder hat seine Sendung auf dieser Erde, unbewußt erfüllt er sie und hinterläßt ein Symbol dieser Erfüllung. So sollte Napoleon in allen Ländern den Sieg der Revolution erfechten; aber uneingedenk dieser Sendung, wollte er durch den Sieg sich selbst verherrlichen, und egoistisch erhaben stellte er sein eigenes Bild auf die erbeuteten Trophäen der Revolution, auf die zusammengegossenen Kanonen der Vendômesäule. Da hatten die Deutschen nun die Sendung, die Revolution zu rächen und den Imperator wieder herabzureißen von der usurpierten Höhe, von der Höhe der Vendômesäule. Nur der dreifarbigen Fahne gebührt dieser Platz, und seit den Juliustagen flattert sie dort siegreich und verheißend. Wenn man in der Folge den Napoleon wieder hinaufsetzt auf die Vendômesäule, so steht er dort nicht mehr als Imperator, als Cäsar, sondern als ein durch Unglück gesühnter und durch Tod gereinigter Repräsentant der Revolution, als ein Sinnbild der siegenden Volksgewalt.

Da ich eben von dem jungen Napoleon und dem jungen Heinrich gesprochen, so muß ich auch des jungen Herzogs von Orleans Erwähnung tun. In den Bilderladen sieht man sie hier gewöhnlich nebeneinander hängen, und unsere Pamphletisten diskutieren beständig diese drei sonderbaren Legitimitäten. Daß letztere auch außerdem ein Hauptthema des öffentlichen Geschwätzes sind, versteht sich von selbst. Es ist zu weitläufig und unfruchtbar, als daß ich es auch hier erörtern möchte. Jede Auskunft über die persönlichen Eigenschaften des Herzogs von Orleans scheint mir wichtiger zu sein, da sich an die Persönlichkeit des jungen Fürsten so viele Interessen der nächsten Wirklichkeit knüpfen. Die praktischere Frage ist nicht, ob er das Recht hat, den Thron zu besteigen, sondern ob er die Kraft dazu hat, ob seine Partei dieser Kraft vertrauen darf und was, da er in jedem Falle eine wichtige Rolle spielen muß, von seinem Charakter zu erwarten steht. Über letztern sind aber die Meinungen verschieden, ja entgegengesetzt. Die einen sagen, der Herzog von Orleans sei gänzlich borniert, geistesblöde, stumpfsinnig, sogar in seiner Familie heiße er grand poulot, dabei sei er dennoch mit absolutistischen Neigungen behaftet, manchmal bekomme er sogar Anfälle von Herrschwut, so habe er z.B. halsstarrig darauf bestanden, daß ihn sein Vater zur Zeit der Ouvrier-Emeuten nach Lyon gehen lasse, denn sonst käme ihm der Herzog von Reichstadt zuvor usw. Andere hingegen sagen, Se. Königliche Hoheit der Kronprinz sei lauter Herzensgüte, Wohlgesinnung und Bescheidenheit; er sei ein sehr vernünftiger junger Mensch, der die angemessenste Erziehung und den besten Unterricht genossen; er sei voll Mut, Ehrgefühl und Freiheitsliebe, wie er denn oft seinem Vater ein liberaleres System dringend anrate; er sei ganz ohne Falsch und Groll, er sei die Liebenswürdigkeit selbst und räche sich an seinen Feinden am liebsten dadurch, daß er ihnen beim Tanze die hübschen Mädchen wegkapere. Ich brauche wohl nicht zu sagen, daß solch wohlwollendes Urteil von den Anhängern der Dynastie, das böswillige aber von deren Gegnern herrührt. Diesen ist ebensowenig wie jenen zu trauen.

Ich kann also über den jungen Fürsten nichts Bestimmtes mitteilen, als was ich selbst gesehen habe, nämlich wie sein Äußeres beschaffen ist. Hier muß ich, der Wahrheit gemäß, eingestehen, er sieht gut aus. Eine etwas längliche, nicht eigentlich magere, sondern vielmehr stakige Gestalt; ein länglicher, schmaler Kopf an einem langen Halse; ebenfalls längliche, aber ganz regelmäßige, edle Gesichtszüge; brave, freie Stirne; gerade gutgemessene Nase; ein schöner, frischer Mund mit sanftgewölbten, bittenden Lippen; kleine, bläuliche, sonderbar unbedeutende, gedankenlose Augen, die wie kleine Dreiecke geformt sind; braunes Haar und ein lichtblonder Backenbart, der, unter dem Kinne fortlaufend, fast wie ein goldner Rahmen das rosig gesunde, blühende Jünglingsgesicht umschließt. Ich glaube in den Lineamenten dieser Gestalt viel Zukunft lesen zu können, jedoch nicht allzu heitere Zukunft. Glücklichstenfalls geht dieser junge Mensch einem sehr großen Martyrtume entgegen; er soll König werden. Wenn er auch mit dem Geiste die Dinge nicht durchschaut, so scheint er sie doch instinktartig zu ahnen; die tierische Natur, sozusagen der Leib, scheint von trüber Vorahnung befangen zu sein, und daher offenbart sich eine gewisse Melancholie in seinem äußern Wesen. Trübsam träumerisch läßt er zuweilen das schmale längliche Haupt von dem langen Halse herabhängen. Der Gang ist schläfrig und hinzögernd, wie der eines Menschen, der immer noch zu früh zu kommen glaubt. Seine Sprache ist schleppend oder in kurzen Lauten abgebrochen, wie im Halbschlummer. Hierin liegt jene angedeutete Melancholie oder vielmehr die melancholische Signatur der Zukunft. Übrigens hat sein Äußeres etwas schlicht Bürgerliches. Diese Eigenschaft tritt vielleicht um so bedeutender hervor, da man bei seinem Bruder, dem Herzog von Nemours, das Gegenteil zu bemerken glaubt. Dieser ist ein hübscher, sehr gescheiter Junge; schlank, aber nicht groß; äußerst zart gebaut; weißes nettes Gesichtchen; geistreich leicht hingeworfener Blick; etwas bourbonisch gebogene Nase; ein feiner Blondin von einem altadeligen Ansehen. Es sind nicht die anmaßenden Züge eines hannöverischen Krautjunkers, sondern eine gewisse Vornehmheit des Erscheinens und des Gehabens, wie sie nur unter dem gebildetsten hohen Adel gefunden wird. Da diese Sorte täglich an Zahl abnimmt oder durch Mesalliancen ausartet, so ist das aristokratische Aussehen des Herzogs von Nemours sehr bemerkbar. Bei seinem Anblicke hörte ich mal jemand sagen: »Dieses Gesicht wird in einigen Jahren großes Aufsehen in Amerika machen.«

Artikel VI

Paris, 19. April 1832

Nicht den Werkstätten der Parteien will ich ihren banalen Maßstab entborgen, um Menschen und Dinge damit zu messen, noch viel weniger will ich Wert und Größe derselben nach träumenden Privatgefühlen bestimmen, sondern ich will soviel als möglich parteilos das Verständnis der Gegenwart befördern und den Schlüssel der lärmenden Tagesrätsel zunächst in der Vergangenheit suchen. Die Salons lügen, die Gräber sind wahr. Aber ach! die Toten, die kalten Sprecher der Geschichte, reden vergebens zur tobenden Menge, die nur die Sprache der Leidenschaft versteht.

Freilich, nicht vorsätzlich lügen die Salons. Die Gesellschaft der Gewalthaber glaubt wirklich an die ewige Dauer ihrer Macht, wenn auch die Annalen der Welthistorie und das feurige Menetekel der Tagesblätter und sogar die laute Volksstimme auf der Straße ihre Warnungen aussprechen. Auch die Oppositionskoterien lügen eigentlich nicht mit Absicht; sie glauben ganz bestimmt zu siegen, wie überhaupt die Menschen immer das glauben, was sie wünschen; sie berauschen sich im Champagner ihrer Hoffnungen; jedes Mißgeschick deuten sie als ein notwendiges Ereignis, das sie dem Ziele desto näher bringe; am Vorabende ihres Untergangs strahlt ihre Zuversicht am brillantesten, und der Gerichtsbote, der ihnen ihre Niederlage gesetzlich ankündigt, findet sie gewöhnlich im Streite über die Verteilung der Bärenhaut. Daher die einseitigen Irrtümer, denen man nicht entgehen kann, wenn man der einen oder der andern Partei nahesteht; jede täuscht uns, ohne es zu wollen, und wir vertrauen am liebsten unsern gleichgesinnten Freunden. Sind wir selber vielleicht so indifferenter Natur, daß wir, ohne sonderliche Vorneigung, mit allen Parteien beständig verkehren, so verwirrt uns die süffisante Sicherheit, die wir bei jeder Partei erblicken, und unser Urteil wird aufs unerquicklichste neutralisiert. Indifferentisten solcher Art, die selbst ohne eigene Meinung sind, ohne Teilnahme an den Interessen der Zeit, und die nur erlauschen wollen, was eigentlich vorgehe, und daher das Geschwätze aller Salons erhorchen und die Chronique scandaleuse jeder Partei bei der andern aufgabeln, solchen Indifferentisten begegnet’s wohl, daß sie überall nur Personen und keine Dinge oder vielmehr in den Dingen nur die Personen sehen, daß sie den Untergang der erstern prophezeien, weil sie die Schwäche der letztern erkannt haben, und daß sie dadurch ihre respektiven Kommittenten zu den bedenklichsten Irrnissen und Fehlgriffen verleiten.

Ich kann nicht umhin, auf das Mißverhältnis, das jetzt in Frankreich zwischen den Dingen (d.h. den geistigen und materiellen Interessen) und den Personen (d.h. den Repräsentanten dieser Interessen) stattfindet, hier besonders aufmerksam zu machen. Dies war ganz anders zu Ende des vorigen Jahrhunderts, wo die Menschen noch kolossal bis zur Höhe der Dinge hinaufragten, so daß sie in den Revolutionsgeschichten gleichsam das heroische Zeitalter bilden und als solches jetzt von unsrer republikanischen Jugend gefeiert und geliebt werden. Oder täuscht uns in dieser Hinsicht derselbe Irrtum, den wir bei Madame Roland finden, die in ihren »Memoiren« gar bitter klagt, daß unter den Männern ihrer Zeit kein einziger bedeutend sei? Die arme Frau kannte nicht ihre eigene Größe und merkte daher nicht, daß ihre Zeitgenossen schon groß genug waren, wenn sie ihr selbst nichts an geistiger Statur nachgaben. Das ganze französische Volk ist jetzt so gewaltig in die Höhe gewachsen, daß wir vielleicht ungerecht sind gegen seine öffentlichen Repräsentanten, die nicht sonderlich aus der Menge hervorragen, aber darum doch nicht klein genannt werden dürfen. Man kann jetzt vor lauter Wald die Bäume nicht sehen. In Deutschland erblicken wir das Gegenteil, eine überreichliche Menge Krüppelholz und Zwergtannen und dazwischen hie und da eine Rieseneiche, deren Haupt sich bis in die Wolken erhebt – während unten am Stamme die Würmer nagen.

Der heutige Tag ist ein Resultat des gestrigen. Was dieser gewollt hat, müssen wir erforschen, wenn wir zu wissen wünschen, was jener will. Die Revolution ist eine und dieselbe; nicht, wie uns die Doktrinäre einreden möchten, nicht für die Charte schlug man sich in der großen Woche, sondern für dieselben Revolutionsinteressen, denen man seit vierzig Jahren das beste Blut Frankreichs geopfert hatte. Damit man aber den Schreiber dieser Blätter nicht für einen jener Prädikanten ansehe, die unter Revolution nur Umwälzung und wieder Umwälzung verstehen und die zufälligen Erscheinungen für das Wesentliche der Revolution halten, will ich, so genau als möglich, den Hauptbegriff feststellen.

Wenn die Geistesbildung und die daraus entstandenen Sitten und Bedürfnisse eines Volks nicht mehr im Einklange sind mit den alten Staatsinstitutionen, so tritt es mit diesen in einen Notkampf, der die Umgestaltung derselben zur Folge hat und eine Revolution genannt wird. Solange die Revolution nicht vollendet ist, solange jene Umgestaltung der Institutionen nicht ganz mit der Geistesbildung und den daraus hervorgegangenen Sitten und Bedürfnissen des Volks übereinstimmt, so lange ist gleichsam das Staatssiechtum nicht völlig geheilt, und das krank überreizte Volk wird zwar manchmal in die schlaffe Ruhe der Abspannung versinken, wird aber bald wieder in Fieberhitze geraten, die festesten Bandagen und die gutmütigste Scharpie von den alten Wunden abreißen, die edelsten Krankenwärter zum Fenster hinauswerfen und sich so lange, schmerzhaft und mißbehaglich, hin und her wälzen, bis es sich in die angemessenen Institutionen von selbst hineingefunden haben wird.

Die Fragen, ob Frankreich jetzt zur Ruhe gelangt oder ob wir neuen Staatsveränderungen entgegensehen, und endlich, welch ein Ende das alles nehmen wird, diese Fragen sollten eigentlicher lauten: Was trieb die Franzosen, eine Revolution zu beginnen, und haben sie das erreicht, was sie bedurften? Die Beantwortung dieser Fragen zu befördern, will ich den Beginn der Revolution in meinen nächsten Artikeln besprechen. Es ist dieses ein doppelt nützliches Geschäft, da, indem man die Gegenwart durch die Vergangenheit zu erklären sucht, zu gleicher Zeit offenbar wird, wie diese, die Vergangenheit, erst durch jene, die Gegenwart, ihr eigentlichstes Verständnis findet und jeder neue Tag ein neues Licht auf sie wirft, wovon unsere bisherigen Handbuchschreiber keine Ahnung hatten. Diese glaubten, die Akten der Revolutionsgeschichte seien geschlossen, und sie hatten schon über Menschen und Dinge ihr letztes Urteil gefällt: da brüllten plötzlich die Kanonen der großen Woche, und die Göttinger Fakultät merkte, daß von ihrem akademischen Spruchkollegium an eine höhere Instanz appelliert worden und daß nicht bloß die französische Spezialrevolution noch nicht vollendet sei, sondern daß erst die weit umfassendere Universalrevolution ihren Anfang genommen habe. Wie mußten sie erschrecken, diese friedlichen Leute, als sie eines frühen Morgens die Köpfe zum Fenster hinaussteckten und den Umsturz des Staates und ihrer Kompendien erblickten und trotz der Schlafmützen die Töne der Marseiller Hymne in ihre Ohren drangen. Wahrlich, daß 1830 die dreifarbige Fahne einige Tage lang auf den Türmen von Göttingen flatterte, das war ein burschikoser Spaß, den sich die Weltgeschichte gegen das hochgelahrte Philistertum der Georgia Augusta erlaubt hat. In dieser allzu ernsten Zeit bedarf es wohl solcher aufheiternden Erscheinungen.

Soviel zur Bevorwortung eines Artikels, der sich mit vergangenheitlichen Beleuchtungen beschäftigen mag. Die Gegenwart ist in diesem Augenblicke das Wichtigere, und das Thema, das sie mir zur Besprechung darbietet, ist von der Art, daß überhaupt jedes Weiterschreiben davon abhängt.

(Ich will ein Fragment des Artikels, der hier angekündigt worden, in der Beilage mitteilen. In einem nächsten Buche mag dann die später geschriebene Ergänzung nachfolgen. Ich wurde in dieser Arbeit viel gestört, zumeist durch das grauenhafte Schreien meines Nachbars, welcher an der Cholera starb. Überhaupt muß ich bemerken, daß die damaligen Umstände auch auf die folgenden Blätter mißlich eingewirkt; ich bin mir zwar nicht bewußt, die mindeste Unruhe empfunden zu haben, aber es ist doch sehr störsam, wenn einem beständig das Sichelwetzen des Todes allzu vernehmbar ans Ohr klingt. Ein mehr körperliches als geistiges Unbehagen, dessen man sich doch nicht erwehren konnte, würde mich mit den andern Fremden ebenfalls von hier verscheucht haben; aber mein bester Freund lag hier krank darnieder. Ich bemerke dieses, damit man mein Zurückbleiben in Paris für keine Bravade ansehe. Nur ein Tor konnte sich darin gefallen, der Cholera zu trotzen. Es war eine Schreckenszeit, weit schauerlicher als die frühere, da die Hinrichtungen so rasch und so geheimnisvoll stattfanden. Es war ein verlarvter Henker, der mit einer unsichtbaren Guillotine ambulante durch Paris zog. »Wir werden einer nach dem andern in den Sack gesteckt!« sagte seufzend mein Bedienter jeden Morgen, wenn er mir die Zahl der Toten oder das Verscheiden eines Bekannten meldete. Das Wort »in den Sack stecken« war gar keine Redefigur; es fehlte bald an Särgen, und der größte Teil der Toten wurde in Säcken beerdigt. Als ich vorige Woche einem öffentlichen Gebäude vorbeiging und in der geräumigen Halle das lustige Volk sah, die springend munteren Französchen, die niedlichen Plaudertaschen von Französinnen, die dort lachend und schäkernd ihre Einkäufe machten, da erinnerte ich mich, daß hier während der Cholerazeit, hoch aufeinandergeschichtet, viele hundert weiße Säcke standen, die lauter Leichname enthielten, und daß man hier sehr wenige, aber desto fatalere Stimmen hörte, nämlich wie die Leichenwächter mit unheimlicher Gleichgültigkeit ihre Säcke den Totengräbern zuzählten und diese wieder, während sie solche auf ihre Karren luden, gedämpfteren Tones die Zahl wiederholten oder gar sich grell laut beklagten, man habe ihnen einen Sack zuwenig geliefert, wobei nicht selten ein sonderbares Gezänk entstand. Ich erinnere mich, daß zwei kleine Knäbchen mit betrübter Miene neben mir standen und der eine mich frug, ob ich ihm nicht sagen könne, in welchem Sacke sein Vater sei.

Die folgende Mitteilung hat vielleicht das Verdienst, daß sie gleichsam ein Bulletin ist, welches auf dem Schlachtfelde selbst, und zwar während der Schlacht geschrieben worden und daher unverfälscht die Farbe des Augenblicks trägt. Thukydides, der Historienschreiber, und Boccaccio, der Novellist, haben uns freilich bessere Darstellungen dieser Art hinterlassen; aber ich zweifle, ob sie genug Gemütsruhe besessen hätten, während die Cholera ihrer Zeit am entsetzlichsten um sie her wütete, sie gleich, als schleunigen Artikel für die Allgemeine Zeitung von Korinth oder Pisa, so schön und meisterhaft zu beschreiben.

Ich werde bei den folgenden Blättern einem Grundsatz treu bleiben, den ich auch bei dem ganzen Buche ausübe, nämlich: daß ich nichts an diesen Artikeln ändere, daß ich sie ganz so abdrucken lasse, wie ich sie ursprünglich geschrieben, daß ich nur hie und da irgendein Wort einschalte oder ausmerze, wenn dergleichen in meiner Erinnerung dem ursprünglichen Manuskript entspricht. Solche kleine Reminiszenzen kann ich nicht abweisen, aber sie sind sehr selten, sehr geringfügig und betreffen nie eigentliche Irrtümer, falsche Prophezeiungen und schiefe Ansichten, die hier nicht fehlen dürfen, da sie zur Geschichte der Zeit gehören. Die Ereignisse selbst bilden immer die beste Berichtigung.)

Ich rede von der Cholera, die seitdem hier herrscht, und zwar unumschränkt, und die, ohne Rücksicht auf Stand und Gesinnung, tausendweise ihre Opfer niederwirft.

Man hatte jener Pestilenz um so sorgloser entgegengesehn, da aus London die Nachricht angelangt war, daß sie verhältnismäßig nur wenige hingerafft. Es schien anfänglich sogar darauf abgesehen zu sein, sie zu verhöhnen, und man meinte, die Cholera werde, ebensowenig wie jede andere große Reputation, sich hier in Ansehn erhalten können. Da war es nun der guten Cholera nicht zu verdenken, daß sie, aus Furcht vor dem Ridikül, zu einem Mittel griff, welches schon Robespierre und Napoleon als probat befunden, daß sie nämlich, um sich in Respekt zu setzen, das Volk dezimiert. Bei dem großen Elende, das hier herrscht, bei der kolossalen Unsauberkeit, die nicht bloß bei den ärmern Klassen zu finden ist, bei der Reizbarkeit des Volks überhaupt, bei seinem grenzenlosen Leichtsinne, bei dem gänzlichen Mangel an Vorkehrungen und Vorsichtsmaßregeln mußte die Cholera hier rascher und furchtbarer als anderswo um sich greifen. Ihre Ankunft war den 29. März offiziell bekanntgemacht worden, und da dieses der Tag des Demi-carême und das Wetter sonnig und lieblich war, so tummelten sich die Pariser um so lustiger auf den Boulevards, wo man sogar Masken erblickte, die, in karikierter Mißfarbigkeit und Ungestalt, die Furcht vor der Cholera und die Krankheit selbst verspotteten. Desselben Abends waren die Redouten besuchter als jemals; übermütiges Gelächter überjauchzte fast die lauteste Musik, man erhitzte sich beim Chahut, einem nicht sehr zweideutigen Tanze, man schluckte dabei allerlei Eis und sonstig kaltes Getrinke: als plötzlich der lustigste der Arlequine eine allzu große Kühle in den Beinen verspürte und die Maske abnahm und zu aller Welt Verwunderung ein veilchenblaues Gesicht zum Vorschein kam. Man merkte bald, daß solches kein Spaß sei, und das Gelächter verstummte, und mehrere Wagen voll Menschen fuhr man von der Redoute gleich nach dem Hôtel-Dieu, dem Zentralhospitale, wo sie, in ihren abenteuerlichen Maskenkleidern anlangend, gleich verschieden. Da man in der ersten Bestürzung an Ansteckung glaubte und die ältern Gäste des Hôtel-Dieu ein gräßliches Angstgeschrei erhoben, so sind jene Toten, wie man sagt, so schnell beerdigt worden, daß man ihnen nicht einmal die buntscheckigen Narrenkleider auszog, und lustig, wie sie gelebt haben, liegen sie auch lustig im Grabe.

Nichts gleicht der Verwirrung, womit jetzt plötzlich Sicherungsanstalten getroffen wurden. Es bildete sich eine Commission sanitaire, es wurden überall Bureaux de secours eingerichtet, und die Verordnung in betreff der Salubrité publique sollte schleunigst in Wirksamkeit treten. Da kollidierte man zuerst mit den Interessen einiger tausend Menschen, die den öffentlichen Schmutz als ihre Domäne betrachten. Dieses sind die sogenannten Chiffonniers, die von dem Kehricht, der sich des Tags über vor den Häusern in den Kotwinkeln aufhäuft, ihren Lebensunterhalt ziehen. Mit großen Spitzkörben auf dem Rücken und einem Hakenstock in der Hand, schlendern diese Menschen, bleiche Schmutzgestalten, durch die Straßen und wissen mancherlei, was noch brauchbar ist, aus dem Kehricht aufzugabeln und zu verkaufen. Als nun die Polizei, damit der Kot nicht lange auf den Straßen liegenbleibe, die Säuberung derselben in Entreprise gab und der Kehricht, auf Karren verladen, unmittelbar zur Stadt hinausgebracht ward aufs freie Feld, wo es den Chiffonniers freistehen sollte, nach Herzenslust darin herumzufischen: da klagten diese Menschen, daß sie, wo nicht ganz brotlos, doch wenigstens in ihrem Erwerbe geschmälert worden, daß dieser Erwerb ein verjährtes Recht sei, gleichsam ein Eigentum, dessen man sie nicht nach Willkür berauben könne. Es ist sonderbar, daß die Beweistümer, die sie in dieser Hinsicht vorbrachten, ganz dieselben sind, die auch unsere Krautjunker, Zunftherren, Gildemeister, Zehntenprediger, Fakultätsgenossen und sonstige Vorrechtsbeflissene vorzubringen pflegen, wenn die alten Mißbräuche, wovon sie Nutzen ziehen, der Kehricht des Mittelalters, endlich fortgeräumt werden sollen, damit durch den verjährten Moder und Dunst unser jetziges Leben nicht verpestet werde. Als ihre Protestationen nichts halfen, suchten die Chiffonniers gewalttätig die Reinigungsreform zu hintertreiben; sie versuchten eine kleine Konterrevolution, und zwar in Verbindung mit alten Weibern, den Revendeuses, denen man verboten hatte, das übelriechende Zeug, daß sie größtenteils von den Chiffonniers erhandeln, längs den Kais zum Wiederverkaufe auszukramen. Da sahen wir nun die widerwärtigste Emeute: Die neuen Reinigungskarren wurden zerschlagen und in die Seine geschmissen; die Chiffonniers barrikadierten sich bei der Porte St. Denis; mit ihren groben Regenschirmen fochten die alten Trödelweiber auf dem Châtelet; der Generalmarsch erscholl; Casimir Périer ließ seine Myrmidonen aus ihren Butiken heraustrommeln; der Bürgerthron zitterte; die Rente fiel; die Karlisten jauchzten. Letztere hatten endlich ihre natürlichsten Alliierten gefunden, Lumpensammler und alte Trödelweiber, die sich jetzt mit denselben Prinzipien geltend machten, als Verfechter des Herkömmlichen, der überlieferten Erbkehrichtsinteressen, der Verfaultheiten aller Art.

Als die Emeute der Chiffonniers durch bewaffnete Macht gedämpft worden und die Cholera noch immer nicht so wütend um sich griff, wie gewisse Leute es wünschten, die bei jeder Volksnot und Volksaufregung, wenn auch nicht den Sieg ihrer eigenen Sache, doch wenigstens den Untergang der jetzigen Regierung erhoffen, da vernahm man plötzlich das Gerücht, die vielen Menschen, die so rasch zur Erde bestattet würden, stürben nicht durch eine Krankheit, sondern durch Gift. Gift, hieß es, habe man in alle Lebensmittel zu streuen gewußt, auf den Gemüsemärkten, bei den Bäckern, bei den Fleischern, bei den Weinhändlern. Je wunderlicher die Erzählungen lauteten, desto begieriger wurden sie vom Volke aufgegriffen, und selbst die kopfschüttelnden Zweifler mußten ihnen Glauben schenken, als des Polizeipräfekten Bekanntmachung erschien. Die Polizei, welcher hier wie überall weniger daran gelegen ist, die Verbrechen zu vereiteln, als vielmehr, sie gewußt zu haben, wollte entweder mit ihrer allgemeinen Wissenschaft prahlen, oder sie gedachte, bei jenen Vergiftungsgerüchten, sie mögen wahr oder falsch sein, wenigstens von der Regierung jeden Argwohn abzuwenden: genug, durch ihre unglückselige Bekanntmachung, worin sie ausdrücklich sagte, daß sie den Giftmischern auf der Spur sei, ward das böse Gerücht offiziell bestätigt, und ganz Paris geriet in die grauenhafteste Todesbestürzung.

»Das ist unerhört«, schrien die ältesten Leute, die selbst in den grimmigsten Revolutionszeiten keine solche Frevel erfahren hatten. »Franzosen, wir sind entehrt!« riefen die Männer und schlugen sich vor die Stirne. Die Weiber mit ihren kleinen Kindern, die sie angstvoll an ihr Herz drückten, weinten bitterlich und jammerten, daß die unschuldigen Würmchen in ihren Armen stürben. Die armen Leute wagten weder zu essen noch zu trinken und rangen die Hände vor Schmerz und Wut. Es war, als ob die Welt unterginge. Besonders an den Straßenecken, wo die rotangestrichenen Weinläden stehen, sammelten und berieten sich die Gruppen, und dort war es meistens, wo man die Menschen, die verdächtig aussahen, durchsuchte, und wehe ihnen, wenn man irgend etwas Verdächtiges in ihren Taschen fand! Wie wilde Tiere, wie Rasende fiel dann das Volk über sie her. Sehr viele retteten sich durch Geistesgegenwart; viele wurden durch die Entschlossenheit der Kommunalgarden, die an jenem Tage überall herumpatrouillierten, der Gefahr entrissen; andere wurden schwer verwundet und verstümmelt; sechs Menschen wurden aufs unbarmherzigste ermordet. Es gibt keinen gräßlichern Anblick als solchen Volkszorn, wenn er nach Blut lechzt und seine wehrlosen Opfer hinwürgt. Dann wälzt sich durch die Straßen ein dunkles Menschenmeer, worin hie und da die Ouvriers in Hemdärmeln, wie weiße Sturzwellen, hervorschäumen, und das heult und braust, gnadenlos, heidnisch, dämonisch. An der Straße St. Denis hörte ich den altberühmten Ruf »A la lanterne!«, und mit Wut erzählten mir einige Stimmen, man hänge einen Giftmischer. Die einen sagten, er sei ein Karlist, man habe ein brevet du lis in seiner Tasche gefunden; die andern sagten, es sei ein Priester, ein solcher sei alles fähig. Auf der Straße Vaugirard, wo man zwei Menschen, die ein weißes Pulver bei sich gehabt, ermordete, sah ich einen dieser Unglücklichen, als er noch etwas röchelte und eben die alten Weiber ihre Holzschuhe von den Füßen zogen und ihn damit so lange auf den Kopf schlugen, bis er tot war. Er war ganz nackt und blutrünstig zerschlagen und zerquetscht; nicht bloß die Kleider, sondern auch die Haare, die Scham, die Lippen und die Nase waren ihm abgerissen, und ein wüster Mensch band dem Leichname einen Strick um die Füße und schleifte ihn damit durch die Straße, während er beständig schrie: »Voilà le Choléra-morbus!« Ein wunderschönes, wutblasses Weibsbild mit entblößten Brüsten und blutbedeckten Händen stand dabei und gab dem Leichname, als er ihr nahe kam, noch einen Tritt mit dem Fuße. Sie lachte und bat mich, ihrem zärtlichen Handwerke einige Francs zu zollen, damit sie sich dafür ein schwarzes Trauerkleid kaufe; denn ihre Mutter sei vor einigen Stunden gestorben, an Gift.

Des andern Tags ergab sich aus den öffentlichen Blättern, daß die unglücklichen Menschen, die man so grausam ermordet hatte, ganz unschuldig gewesen, daß die verdächtigen Pulver, die man bei ihnen gefunden, entweder aus Kampfer oder Chlorüre oder sonstigen Schutzmitteln gegen die Cholera bestanden und daß die vorgeblich Vergifteten ganz natürlich an der herrschenden Seuche gestorben waren. Das hiesige Volk, das, wie das Volk überall, rasch in Leidenschaft geratend, zu Greueln verleitet werden kann, kehrt jedoch ebenso rasch zur Milde zurück und bereut mit rührendem Kummer seine Untat, wenn es die Stimme der Besonnenheit vernimmt. Mit solcher Stimme haben die Journale gleich des andern Morgens das Volk zu beschwichtigen und zu besänftigen gewußt, und es mag als ein Triumph der Presse signalisiert werden, daß sie imstande war, dem Unheile, welches die Polizei angerichtet, so schnell Einhalt zu tun. Rügen muß ich hier das Benehmen einiger Leute, die eben nicht zur untern Klasse gehören und sich doch vom Unwillen so weit hinreißen ließen, daß sie die Partei der Karlisten öffentlich der Giftmischerei bezüchtigten. So weit darf die Leidenschaft uns nie führen; wahrlich, ich würde mich sehr lange bedenken, ehe ich gegen meine giftigsten Feinde solche gräßliche Beschuldigung ausspräche. Mit Recht, in dieser Hinsicht, beklagten sich die Karlisten. Nur daß sie dabei so laut schimpfend sich gebärdeten, könnte mir Argwohn einflößen; das ist sonst nicht die Sprache der Unschuld. Aber es hat nach der Überzeugung der Bestunterrichteten gar keine Vergiftung stattgefunden. Man hat vielleicht Scheinvergiftungen angezettelt, man hat vielleicht wirklich einige Elende gedungen, die allerlei unschädliche Pulver auf die Lebensmittel streuten, um das Volk in Unruhe zu setzen und aufzureizen; war dieses letztere der Fall, so muß man dem Volke sein tumultuarisches Verfahren nicht zu hoch anrechnen, um so mehr, da es nicht aus Privathaß entstand, sondern »im Interesse des allgemeinen Wohls, ganz nach den Prinzipien der Abschreckungstheorie«. Ja, die Karlisten waren vielleicht in die Grube gestürzt, die sie der Regierung gegraben; nicht dieser, noch viel weniger den Republikanern wurden die Vergiftungen allgemein zugeschrieben, sondern jener Partei, »die immer durch die Waffen besiegt, durch feige Mittel sich immer wieder erhob, die immer nur durch das Unglück Frankreichs zu Glück und Macht gelangte und die jetzt, die Hülfe der Kosaken entbehrend, wohl leichtlich zu gewöhnlichem Gifte ihre Zuflucht nehmen konnte«. So ungefähr äußerte sich der »Constitutionnel«.

Was ich selbst an dem Tage, wo jene Totschläge stattfanden, an besonderer Einsicht gewann, das war die Überzeugung, daß die Macht der ältern Bourbone nie und nimmermehr in Frankreich gedeihen wird. Ich hatte aus den verschiedenen Menschengruppen die merkwürdigsten Worte gehört; ich hatte tief hinabgeschaut in das Herz des Volkes; es kennt seine Leute.

Seitdem ist hier alles ruhig; l’ordre règne à Paris, würde Horatius Sebastiani sagen. Eine Totenstille herrscht in ganz Paris. Ein steinerner Ernst liegt auf allen Gesichtern. Mehrere Abende lang sah man sogar auf den Boulevards wenig Menschen, und diese eilten einander schnell vorüber, die Hand oder ein Tuch vor dem Munde. Die Theater sind wie ausgestorben. Wenn ich in einen Salon trete, sind die Leute verwundert, mich noch in Paris zu sehen, da ich doch hier keine notwendigen Geschäfte habe. Die meisten Fremden, namentlich meine Landsleute, sind gleich abgereist. Gehorsame Eltern hatten von ihren Kindern Befehl erhalten, schleunigst nach Hause zu kommen. Gottesfürchtige Söhne erfüllten unverzüglich die zärtliche Bitte ihrer lieben Eltern, die ihre Rückkehr in die Heimat wünschten; ehre Vater und Mutter, damit du lange lebest auf Erden! Bei andern erwachte plötzlich eine unendliche Sehnsucht nach dem teuern Vaterlande, nach den romantischen Gauen des ehrwürdigen Rheins, nach den geliebten Bergen, nach dem holdseligen Schwaben, dem Lande der frommen Minne, der Frauentreue, der gemütlichen Lieder und der gesündern Luft. Man sagt, auf dem Hôtel-de-ville seien seitdem über 120000 Pässe ausgegeben worden. Obgleich die Cholera sichtbar zunächst die ärmere Klasse angriff, so haben doch die Reichen gleich die Flucht ergriffen. Gewissen Parvenüs war es nicht zu verdenken, daß sie flohen; denn sie dachten wohl, die Cholera, die weit her aus Asien komme, weiß nicht, daß wir in der letzten Zeit viel Geld an der Börse verdient haben, und sie hält uns vielleicht noch für einen armen Lump und läßt uns ins Gras beißen. Herr Aguado, einer der reichsten Bankiers und Ritter der Ehrenlegion, war Feldmarschall bei jener großen Retirade. Der Ritter soll beständig mit wahnsinniger Angst zum Kutschenfenster hinausgesehen und seinen blauen Bedienten, der hintenauf stand, für den leibhaftigen Tod, den Choléra-morbus, gehalten haben.

Das Volk murrte bitter, als es sah, wie die Reichen flohen und bepackt mit Ärzten und Apotheken sich nach gesündern Gegenden retteten. Mit Unmut sah der Arme, daß das Geld auch ein Schutzmittel gegen den Tod geworden. Der größte Teil des Justemilieu und der Hautefinance ist seitdem ebenfalls davongegangen und lebt auf seinen Schlössern. Die eigentlichen Repräsentanten des Reichtums, die Herren von Rothschild, sind jedoch ruhig in Paris geblieben, hierdurch beurkundend, daß sie nicht bloß in Geldgeschäften großartig und kühn sind. Auch Casimir Périer zeigte sich großartig und kühn, indem er nach dem Ausbruche der Cholera das Hôtel-Dieu besuchte; sogar seine Gegner mußte es betrüben, daß er in der Folge dessen, bei seiner bekannten Reizbarkeit, selbst von der Cholera ergriffen worden. Er ist ihr jedoch nicht unterlegen, denn er selber ist eine schlimmere Krankheit. Auch der junge Kronprinz, der Herzog von Orleans, welcher in Begleitung Périers das Hospital besuchte, verdient die schönste Anerkennung. Die ganze königliche Familie hat sich in dieser trostlosen Zeit ebenfalls rühmlich bewiesen. Beim Ausbruche der Cholera versammelte die gute Königin ihre Freunde und Diener und verteilte unter ihnen Leibbinden von Flanell, die sie meistens selbst verfertigt hat. Die Sitten der alten Chevalerie sind nicht erloschen; sie sind nur ins Bürgerliche umgewandelt; hohe Damen versehen ihre Kämpen jetzt mit minder poetischen, aber gesündern Schärpen. Wir leben ja nicht mehr in den alten Helm- und Harnischzeiten des kriegerischen Rittertums, sondern in der friedlichen Bürgerzeit der warmen Leibbinden und Unterjacken; wir leben nicht mehr im eisernen Zeitalter, sondern im flanellenen. Flanell ist wirklich jetzt der beste Panzer gegen die Angriffe des schlimmsten Feindes, gegen die Cholera. »Venus würde heutzutage«, sagt »Figaro«, »einen Gürtel von Flanell tragen.« Ich selbst stecke bis am Halse in Flanell und dünke mich dadurch cholerafest. Auch der König trägt jetzt eine Leibbinde vom besten Bürgerflanell.

Ich darf nicht unerwähnt lassen, daß er, der Bürgerkönig, bei dem allgemeinen Unglücke viel Geld für die armen Bürger hergegeben und sich bürgerlich mitfühlend und edel benommen hat. – Da ich mal im Zuge bin, will ich auch den Erzbischof von Paris loben, welcher ebenfalls im Hôtel-Dieu, nachdem der Kronprinz und Périer dort ihren Besuch abgestattet, die Kranken zu trösten kam. Er hatte längst prophezeit, daß Gott die Cholera als Strafgericht schicken werde, um ein Volk zu züchtigen, »welches den allerchristlichsten König fortgejagt und das katholische Religionsprivilegium in der Charte abgeschafft hat«. Jetzt, wo der Zorn Gottes die Sünder heimsucht, will Herr von Quelen sein Gebet zum Himmel schicken und Gnade erflehen, wenigstens für die Unschuldigen; denn es sterben auch viele Karlisten. Außerdem hat Herr von Quelen, der Erzbischof, sein Schloß Conflans angeboten zur Errichtung eines Hospitals. Die Regierung hat aber dieses Anerbieten abgelehnt, da dieses Schloß in wüstem, zerstörtem Zustande ist und die Reparaturen zuviel kosten würden. Außerdem hatte der Erzbischof verlangt, daß man ihm in diesem Hospitale freie Hand lassen müsse. Man durfte aber die Seelen der armen Kranken, deren Leiber schon an einem schrecklichen Übel litten, nicht den quälenden Rettungsversuchen aussetzen, die der Erzbischof und seine geistlichen Gehülfen beabsichtigten; man wollte die verstockten Revolutionssünder lieber ohne Mahnung an ewige Verdammnis und Höllenqual, ohne Beicht’ und Ölung, an der bloßen Cholera sterben lassen. Obgleich man behauptet, daß der Katholizismus eine passende Religion sei für so unglückliche Zeiten wie die jetzigen, so wollen doch die Franzosen sich nicht mehr dazu bequemen, aus Furcht, sie würden diese Krankheitsreligion alsdann auch in glücklichen Tagen behalten müssen.

Es gehen jetzt viele verkleidete Priester im Volke herum und behaupten, ein geweihter Rosenkranz sei ein Schutzmittel gegen die Cholera. Die Saint-Simonisten rechnen zu den Vorzügen ihrer Religion, daß kein Saint-Simonist an der herrschenden Krankheit sterben könne; denn da der Fortschritt ein Naturgesetz sei und der soziale Fortschritt im Saint-Simonismus liege, so dürfe, solange die Zahl seiner Apostel noch unzureichend ist, keiner von denselben sterben. Die Bonapartisten behaupten, wenn man die Cholera an sich verspüre, so solle man gleich zur Vendômesäule hinaufschauen, man bleibe alsdann am Leben. So hat jeder seinen Glauben in dieser Zeit der Not. Was mich betrifft, ich glaube an Flanell. Gute Diät kann auch nicht schaden, nur muß man wieder nicht zuwenig essen, wie gewisse Leute, die des Nachts die Leibschmerzen des Hungers für Cholera halten. Es ist spaßhaft, wenn man sieht, mit welcher Poltronerie die Leute jetzt bei Tische sitzen und die menschenfreundlichsten Gerichte mit Mißtrauen betrachten und tief seufzend die besten Bissen hinunterschlucken. Man soll, haben ihnen die Ärzte gesagt, keine Furcht haben und jeden Ärger vermeiden; nun aber fürchten sie, daß sie sich mal unversehens ärgern möchten, und ärgern sich wieder, daß sie deshalb Furcht hatten. Sie sind jetzt die Liebe selbst und gebrauchen oft das Wort mon Dieu, und ihre Stimme ist hingehaucht milde wie die einer Wöchnerin. Dabei riechen sie wie ambulante Apotheken, fühlen sich oft nach dem Bauche, und mit zitternden Augen fragen sie jede Stunde nach der Zahl der Toten. Daß man diese Zahl nie genau wußte, oder vielmehr, daß man von der Unrichtigkeit der angegebenen Zahl überzeugt war, füllte die Gemüter mit vagem Schrecken und steigerte die Angst ins Unermeßliche. In der Tat, die Journale haben seitdem eingestanden, daß in einem Tage, nämlich den 10. April, an die zweitausend Menschen gestorben sind. Das Volk ließ sich nicht offiziell täuschen und klagte beständig, daß mehr Menschen stürben, als man angebe. Mein Barbier erzählte mir, daß eine alte Frau auf dem Faubourg Montmartre die ganze Nacht am Fenster sitzen geblieben, um die Leichen zu zählen, die man vorbeitrüge; sie habe dreihundert Leichen gezählt, worauf sie selbst, als der Morgen anbrach, von dem Froste und den Krämpfen der Cholera ergriffen ward und bald verschied. Wo man nur hinsah auf den Straßen, erblickte man Leichenzüge oder, was noch melancholischer aussieht, Leichenwagen, denen niemand folgte. Da die vorhandenen Leichenwagen nicht zureichten, mußte man allerlei andere Fuhrwerke gebrauchen, die, mit schwarzem Tuch überzogen, abenteuerlich genug aussahen. Auch daran fehlte es zuletzt, und ich sah Särge in Fiakern fortbringen; man legte sie in die Mitte, so daß aus den offenen Seitentüren die beiden Enden herausstanden. Widerwärtig war es anzuschauen, wenn die großen Möbelwagen, die man beim Ausziehen gebraucht, jetzt gleichsam als Totenomnibusse, als omnibus mortuis, herumfuhren und sich in den verschiedenen Straßen die Särge aufladen ließen und sie dutzendweise zur Ruhestätte brachten.

Die Nähe eines Kirchhofs, wo die Leichenzüge zusammentrafen, gewährte erst recht den trostlosesten Anblick. Als ich einen guten Bekannten besuchen wollte und eben zur rechten Zeit kam, wo man seine Leiche auflud, erfaßte mich die trübe Grille, eine Ehre, die er mir mal erwiesen, zu erwidern, und ich nahm eine Kutsche und begleitete ihn nach Père-Lachaise. Hier nun, in der Nähe dieses Kirchhofs, hielt plötzlich mein Kutscher still, und als ich, aus meinen Träumen erwachend mich umsah, erblickte ich nichts als Himmel und Särge. Ich war unter einige hundert Leichenwagen geraten, die vor dem engen Kirchhofstore gleichsam Queue machten, und in dieser schwarzen Umgebung, unfähig mich herauszuziehen, mußte ich einige Stunden ausdauern. Aus Langerweile frug ich den Kutscher nach dem Namen meiner Nachbarleiche, und, wehmütiger Zufall! er nannte mir da eine junge Frau, deren Wagen einige Monate vorher, als ich zu Lointier nach einem Balle fuhr, in ähnlicher Weise einige Zeit neben dem meinigen stillehalten mußte. Nur daß die junge Frau damals mit ihrem hastigen Blumenköpfchen und lebhaften Mondscheingesichtchen öfters zum Kutschenfenster hinausblickte und über die Verzögerung ihre holdeste Mißlaune ausdrückte. Jetzt war sie sehr still und vielleicht blau. Manchmal jedoch, wenn die Trauerpferde an den Leichenwagen sich schaudernd unruhig bewegten, wollte es mich bedünken, als regte sich die Ungeduld in den Toten selbst, als seien sie des Wartens müde, als hätten sie Eile, ins Grab zu kommen; und wie nun gar an dem Kirchhofstore ein Kutscher dem andern vorauseilen wollte und der Zug in Unordnung geriet, die Gendarmen mit blanken Säbeln dazwischenfahren, hie und da ein Schreien und Fluchen entstand, einige Wagen umstürzten, die Särge auseinanderfielen, die Leichen hervorkamen: da glaubte ich die entsetzlichste aller Emeuten zu sehen, eine Totenemeute.

Ich will, um die Gemüter zu schonen, hier nicht erzählen, was ich auf dem Père-Lachaise gesehen habe. Genug, gefesteter Mann wie ich bin, konnte ich mich doch des tiefsten Grauens nicht erwehren. Man kann an den Sterbebetten das Sterben lernen und nachher mit heiterer Ruhe den Tod erwarten, aber das Begrabenwerden unter die Choleraleichen, in die Kalkgräber, das kann man nicht lernen. Ich rettete mich so rasch als möglich auf den höchsten Hügel des Kirchhofs, wo man die Stadt so schön vor sich liegen sieht. Eben war die Sonne untergegangen, ihre letzten Strahlen schienen wehmütig Abschied zu nehmen, die Nebel der Dämmerung umhüllten wie weiße Laken das kranke Paris, und ich weinte bitterlich über die unglückliche Stadt, die Stadt der Freiheit, der Begeisterung und des Martyrtums, die Heilandstadt, die für die weltliche Erlösung der Menschheit schon soviel gelitten!

Artikel VII

Paris, 12. Mai 1832

Die geschichtlichen Rückblicke, die der vorige Artikel angekündigt, müssen vertagt werden. Die Gegenwart hat sich unterdessen so herbe geltend gemacht, daß man sich wenig mit der Vergangenheit beschäftigen konnte. – Das große allgemeine Übel, die Cholera, entweicht zwar allmählich, aber es hinterläßt viel Betrübung und Bekümmernis. Die Sonne scheint zwar lustig genug, die Menschen gehen wieder lustig spazieren und kosen und lächeln; aber die vielen schwarzen Trauerkleider, die man überall sieht, lassen keine rechte Heiterkeit in unserem Gemüte aufkommen. Eine krankhafte Wehmut scheint jetzt im ganzen Volke zu herrschen, wie bei Leuten, die ein schweres Siechtum überstanden. Nicht bloß auf der Regierung, sondern auch auf der Opposition liegt eine fast sentimentale Mattigkeit. Die Begeisterung des Hasses erlischt, die Herzen versumpfen, im Gehirne verblassen die Gedanken, man betrachtet einander gutmütig gähnend, man ist nicht mehr böse aufeinander, man wird sanftlebig, liebsam, vertröstet, christlich; deutsche Pietisten könnten jetzt hier gute Geschäfte machen.

Man hatte früher wunder geglaubt, wie schnell sich die Dinge ändern würden, wenn Casimir Périer sie nicht mehr leite. Aber es scheint, als sei unterdessen das Übel inkurabel geworden; nicht einmal durch den Tod Persers kann der Staat genesen.

Daß Périer durch die Cholera fällt, durch ein Weltunglück, dem weder Kraft noch Klugheit widerstehen kann, muß auch seine abgesagtesten Gegner mißstimmen. Der allgemeine Feind hat sich in ihre Bundesgenossenschaft gedrängt, und von solcher Seite kann ihnen auch die wirksamste Hülfeleistung nicht sehr behagen. Périer hingegen gewinnt dadurch die Sympathie der Menge, die plötzlich einsieht, daß er ein großer Mann war. Jetzt, wo er durch andere ersetzt werden soll, mußte diese Größe bemerkbar werden. Vermochte er auch nicht mit Leichtigkeit den Bogen des Odysseus zu spannen, so hätte er doch vielleicht, wo es not tat, mit Anstrengung aller seiner Spannkraft, das Werk vollbracht. Wenigstens können jetzt seine Freunde prahlen, er hätte, intervenierte nicht die Cholera, alle seine Vorsätze durchgeführt. Was wird aber aus Frankreich werden? Nun ja, Frankreich ist jene harrende Penelope, die täglich webt und täglich ihr Gewebe wieder zerstört, um nur Zeit zu gewinnen bis zur Ankunft des rechten Mannes. Wer ist dieser rechte Mann? Ich weiß es nicht. Aber ich weiß, er wird den großen Bogen spannen können, er wird den frechen Freiern den Schmaus verleiden, er wird sie mit tödlichen Bolzen bewirten, er wird die doktrinären Mägde, die mit ihnen allen gebuhlt haben, aufhängen, er wird das Haus säubern von der großen Unordnung und mit Hülfe der weisen Göttin eine bessere Wirtschaft einführen. Wie unser jetziger Zustand, wo die Schwäche regiert, ganz der Zeit des Direktoriums ähnelt, so werden wir auch unseren achtzehnten Brumaire erleben, und der rechte Mann wird plötzlich unter die erblassenden Machthaber treten und ihnen die Endschaft ihrer Regierung ankündigen. Man wird alsdann über Verletzung der Konstitution schreien, wie einst im Rate der Alten, als ebenfalls der rechte Mann kam, welcher das Haus säuberte. Aber wie dieser entrüstet ausrief: »Konstitution! Ihr wagt es noch euch auf die Konstitution zu berufen, ihr, die ihr sie verletzt habt am 18. Fructidor, verletzt am 22. Floréal, verletzt am 30. Prairial!«, so wird der rechte Mann auch jetzt Tag und Datum anzugeben wissen, wo die Justemilieu-Ministerien die Konstitution verletzt haben.

Wie wenig die Konstitution nicht bloß in die Gesinnung der Regierung, sondern auch des Volks eingedrungen, ergibt sich hier jedesmal, wenn die wichtigsten konstitutionellen Fragen zur Sprache kommen. Beide, Volk und Regierung, wollen die Konstitution nach ihren Privatgefühlen auslegen und ausbeuten. Das Volk wird hierzu mißleitet durch seine Schreiber und Sprecher, die entweder aus Unwissenheit oder Parteisucht die Begriffe zu verkehren suchen; die Regierung wird dazu mißleitet durch jene Fraktion der Aristokratie, die, aus Eigennutz ihr zugetan, den jetzigen Hof bildet und noch immer, wie unter der Restauration, das Repräsentativsystem als einen modernen Aberglauben betrachtet, woran das Volk nun einmal hänge, den man ihm auch nicht mit Gewalt rauben dürfe, den man jedoch unschädlich mache, wenn man den neuen Namen und Formen, ohne daß die Menge es merke, die alten Menschen und Wünsche unterschiebt. Nach den Begriffen solcher Leute ist derjenige der größte Minister, der mit den neuen konstitutionellen Formeln ebensoviel auszurichten vermag, wie man sonst mit den alten Formeln des alten Regimes durchzusetzen wußte. Ein solcher Minister war Villèle, an den man jedoch jetzt, als nämlich Périer erkrankte, nicht zu denken gewagt. Indessen man hatte Mut genug, an Decazes zu denken. Er wäre auch Minister geworden, wenn der neue Hof nicht gefürchtet hätte, daß er alsdann durch die Glieder des alten Hofes bald verdrängt würde. Man fürchtete, er möchte die ganze Restauration mit sich ins Ministerium bringen. Nächst Decazes hatte man Herrn Guizot besonders im Auge. Auch diesem wird viel zugetraut, wo es gilt, unter konstitutionellen Namen und Formen die absolutesten Gelüste zu verbergen. Denn dieser Quasivater der neuern Doktrinäre, dieser Verfasser einer englischen Geschichte und einer französischen Synonymik versteht aufs meisterhafteste, durch parlamentarische Beispiele aus England, die illegalsten Dinge mit einem ordre légal zu bekleiden und durch das plump gelehrte Wort den hochfliegenden Geist der Franzosen zu unterdrücken. Aber man sagt, während er mit dem Könige, welcher ihm ein Portefeuille antrug, etwas feurig sprach, habe er plötzlich die ignobelsten Wirkungen der Cholera verspürt, und schnell in der Rede abbrechend, sei er geschieden mit der Äußerung, er könne dem Drange der Zeit nicht widerstehen. Guizots Durchfall bei der Wahl eines neuen Ministers wird von andern noch komischer erzählt. Mit Dupin, den man immer als Pérsers Nachfolger betrachtet hatte und dem man viel Kraft und Mut zutraut, begannen jetzt die Unterhandlungen. Aber diese scheiterten ebenfalls, indem Dupin sich manche Beschränkungen nicht gefallen lassen wollte, die zunächst die Präsidentur des Konseils betrafen. Mit der erwähnten Präsidentur des Konseils hat es eine eigene Bewandtnis. Der König hat nämlich sich selber sehr oft diese Präsidentur zugeteilt, namentlich im Beginne seiner Regierung; dieses war für die Minister immer ein fataler Umstand, und die damaligen Mißhelligkeiten sind meistens daraus hervorgegangen. Périer allein hat sich solchen Eingriffen zu widersetzen gewußt; er entzog dadurch die Geschäfte dem allzu großen Einflusse des Hofes, der unter allen Regierungen die Könige lenkt; und man sagt, daß die Nachricht von Persers Krankheit nicht allen Freunden der Tuilerien unangenehm gewesen sei. Der König schien jetzt gerechtfertigt, wenn er selbst die Präsidentur des Konseils übernahm. Als solches offenkundig ward, entstand in Salons und Journalen die leidenschaftlichste Polemik über die Frage, ob der König das Recht habe, dem Konzil zu präsidieren.

Hiebei kam nun viel Schikane und noch mehr Unwissenheit zum Vorscheine. Da schwatzten die Leute, was sie nur jemals halb gehört und gar nicht verstanden hatten, und das rauschte und spritzte ihnen aus dem Munde wie ein politischer Wasserfall. Die Einsicht der meisten Journale war ebenfalls nicht von der brillantesten Art. Nur der »National« zeichnete sich aus. Man hörte auch wieder die alte Streitformel, die er in der letzten Zeit der Restauration vorgebracht hatte: »Le roi règne, mais ne gouverne pas.« Die dreiundeinhalb Menschen, die sich damals in Deutschland mit Politik beschäftigten, übersetzten diesen Satz, wenn ich nicht irre, mit den Worten: »Der König herrscht, aber er regiert nicht.« Ich bin jedoch gegen das Wort »herrschen«; es trägt nach meinen Gefühlen eine Färbung von Absolutismus. Und doch sollte eben dieser Satz den Unterschied beider Gewalten, der absoluten und der konstitutionellen, bezeichnen.

Worin besteht dieser Unterschied? Wer politisch reinen Herzens ist, darf auch jenseits des Rheins diese Frage aufs bestimmteste erörtern. Durch das absichtliche Umgehen derselben hat man eben auf der einen Seite dem kecksten Jakobinismus, auf der andern Seite dem feigsten Knechtsinn Vorschub geleistet.

Da die Theorie des Absolutismus, von dem verächtlichen, gelehrten Salmasius bis herunter auf den Herren Jarcke, der nicht gelehrt ist, meistens von verdächtigen Schriftstellern verteidigt worden, so hat die Verrufenheit der Anwälte über alle Maßen der Sache selber geschadet. Wer seinen ehrlichen Namen liebhat, darf kaum wagen, sie öffentlich zu verfechten, und wäre er noch so sehr von ihrer Vortrefflichkeit überzeugt. Und doch ist die Lehre von der absoluten Gewalt ebenso honett und ebenso vertretbar wie jede andere politische Meinung. Nichts ist widersinniger, als, wie jetzt so oft geschieht, den Absolutismus mit dem Despotismus zu verwechseln. Der Despot handelt nach der Willkür seiner Laune, der absolute Fürst handelt nach Einsicht und Pflichtgefühl. Das Charakteristische eines absoluten Königs ist hiebei, daß alles im Staate durch seinen Selbstwillen geschieht. Da aber nur wenige Menschen einen Selbstwillen haben, da vielmehr die meisten Menschen, ohne es zu wissen, nur das wollen, was ihre Umgebung will, so herrscht gewöhnlich diese an der Stelle der absoluten Könige. Die Umgebung eines Königs nennen wir Hof, und Höflinge sind es also, die in denjenigen absoluten Monarchien herrschen, wo die Fürsten nicht von allzu störrischer Natur und dadurch dem fremden Einflusse unzugänglich sind. Die Kunst der Höfe besteht darin, die sanften Fürsten so zu härten, daß sie eine Keule werden in der Hand des Höflings, und die wilden Fürsten so zu sänftigen, daß sie sich willig zu jedem Spiele, zu allen Posituren und Aktionen hergeben, wie die Löwen des Herrn Martin. Ach! fast auf dieselbe Weise, wie dieser den König der Tiere zu zähmen weiß, indem er nämlich des Nachts seinem Käfige naht, ihn mit dunkler Hand in menschliche Laster einweiht und nachher, am Tage, den Geschwächten ganz gehorsam findet: so wissen die Höflinge manchen König der Menschen, wenn er allzu strebsam und wild ist, durch entnervende Lüste zu zähmen, und sie beherrschen ihn durch Mätressen, Köche, Komödianten, üppige Musik, Tanz und sonstigen Sinnenrausch. Nur zu oft sind absolute Fürsten die abhängigsten Sklaven ihrer Umgebung, und könnte man die Stimme derjenigen vernehmen, die man in der öffentlichen Meinung am gehässigsten beurteilt sieht, so würde man vielleicht gerührt werden von den gerechtesten Klagen über unerhörte Verführungskünste und trübselige Verkehrung der menschlich schönsten Gefühle. Außerdem liegt in der unumschränkten Gewalt eine so schauerliche Macht der bösen Versuchung, daß nur die alleredelsten Menschen ihr widerstehen können. Wer keinem Gesetze unterworfen ist, der entbehrt der heilsamsten Schutzwehr; denn die Gesetze sollen uns nicht bloß gegen andere, sondern auch gegen uns selbst schützen. Der Glaube, daß ihre Macht ihnen von Gott verliehen sei, ist daher bei den absoluten Fürsten nicht nur verzeihlich, sondern auch notwendig. Ohne solchen Glauben wären sie die unglücklichsten der Sterblichen, die, ohne mehr als Menschen zu sein, sich der übermenschlichsten Versuchung und übermenschlichsten Verantwortlichkeit ausgesetzt hätten. Eben jener Glaube an ein göttliches Mandat gab den absoluten Königen, die wir in der Geschichte bewundern, eine Herrlichkeit, wozu das neuere Königtum sich nimmermehr erheben wird. Sie waren weltliche Vermittler, sie mußten zuweilen büßen für die Sünden ihrer Völker, sie waren zugleich Opfer und Opferpriester, sie waren heilig, sacer in der antiken Bedeutung der Todesweihe. So sehen wir Könige des Altertums, die in Pestzeiten mit ihrem eigenen Blute das Volk sühnten oder das allgemeine Unglück als eine Strafe für eigene Verschuldung betrachteten. Noch jetzt, wenn eine Sonnenfinsternis in China eintritt, erschrickt der Kaiser und denkt darüber nach, ob er etwa durch irgendeine Sünde solche allgemeine Verdüsterung verschuldet habe, und er tut Buße, damit sich für seine Untertanen der Himmel wieder lichte. Bei den Völkern, wo der Absolutismus noch in so heiliger Strenge herrscht, und das ist auch bei den nordwestlichen Nachbarn der Chinesen bis an die Elbe der Fall, würde es zu mißbilligen sein, wenn man ihnen die repräsentative Verfassungsdoktrin predigen wollte; ebenso tadelhaft ist es aber, wenn man im größten Teile des übrigen Europas, wo der Glaube an das göttliche Recht bei Fürsten und Völkern erloschen ist, den Absolutismus doziert. Indem ich das Wesen des Absolutismus dadurch bezeichnete, daß in der absoluten Monarchie der Selbstwille des Königs regiert, bezeichne ich das Wesen der repräsentativen, der konstitutionellen Monarchie um so leichter, wenn ich sage: diese unterscheide sich von jener dadurch, daß an die Stelle des königlichen Selbstwillens die Institution getreten ist. An die Stelle eines Selbstwillens, der leicht mißleitet werden kann, sehen wir hier eine Institution, ein System von Staatsgrundsätzen, die unveränderlich sind. Der König ist hier eine Art moralischer Person im juristischen Sinne, und er gehorcht jetzt weniger den Leidenschaften seiner physischen Umgebung als vielmehr den Bedürfnissen seines Volks, er handelt nicht mehr nach den losen Wünschen des Hofes, sondern nach festen Gesetzen. Deshalb sind die Höflinge in allen Ländern dem konstitutionellen Wesen heimlich oder gar öffentlich gram. Letzteres brach ihre vieltausendjährige Macht durch die tieferdachte, ingeniöse Einrichtung, daß der König gleichsam nur die Idee der Gewalt repräsentiert, daß er zwar seine Minister wählen könne, jedoch nicht er, sondern diese regieren, daß diese aber nur so lange regieren können, als sie im Sinne der Majorität der Volksvertreter regieren, indem letztere die Regierungsmittel, z.B. die Steuern, verweigern können. Dadurch, daß der König nicht selbst regiert, kann ihn auch, bei schlechter Regierung, der Volksunmut nicht unmittelbar treffen; dieser wird in konstitutionellen Staaten nur die Folge haben, daß der König andere, und zwar populäre Minister erwählt, von denen man ein besseres Regiment erwartet, statt daß in absoluten Staaten, wo der König selbst regiert, ihn unmittelbar selbst der Unmut des Volks trifft und dieses, um sich zu helfen, genötigt ist, den Staat umzustürzen. Dadurch, daß der König nicht selbst regiert, ist das Heil des Staates unabhängig von seiner Persönlichkeit, der Staat wird da nicht mehr durch jeden Zufall, durch jede allerhöchste oder allerniedrigste Leidenschaft gefährdet und gewinnt eine Sicherung, wovon die frühern Staatsweisen gar keine Ahnung hatten: denn von Xenophon bis Fénelon erschien ihnen die Erziehung eines Fürsten als die Hauptsache; sogar der große Aristoteles muß in seiner »Politik« darauf hinzielen, und der größere Plato weiß nichts Besseres vorzuschlagen, als die Philosophen auf den Thron zu setzen oder die Fürsten zu Philosophen zu machen. Dadurch, daß der König nicht selbst regiert, ist er auch nicht verantwortlich, ist er unverletzlich, inviolable, und nur seine Minister können wegen schlechter Regierung angeklagt, verurteilt und bestraft werden. Der Kommentator der englischen Konstitution, Blackstone, begeht einen Mißgriff, wenn er die Unverantwortlichkeit des Königs zu dessen Prärogativen zählt. Diese Ansicht schmeichelt einem Könige mehr, als sie ihm nützt. In den Ländern des politischen Protestantismus, in konstitutionellen Ländern, will man die Rechte der Fürsten vielmehr in der Vernunft begründet wissen, und diese gewährt hinlängliche Gründe für ihre Unverletzlichkeit, wenn man annimmt, daß sie nicht selbst handeln können und also deshalb nicht zurechnungsfähig, nicht verantwortlich, nicht bestrafbar sind, wie jeder, der nicht selbst handelt. Der Grundsatz »the king cannot do wrong« mag also insofern man die Unverantwortlichkeit darauf gründet, nur dadurch seine Gültigkeit erlangen, daß man hinzusetzt: because he does nothing. Aber an der Stelle des konstitutionellen Königs handeln die Minister, und daher sind diese verantwortlich. Sie handeln selbständig, dürfen jedes königliche Ansinnen, womit sie nicht übereinstimmen, geradezu abweisen und, im Fall dem Könige ihre Regierungsart mißfällt, sich ganz zurückziehen. Ohne solche Freiheit des Willens wäre die Verantwortlichkeit der Minister, die sie durch die Kontrasignatur bei jedem Regierungsakte sich aufbürden, eine heillose Ungerechtigkeit, eine Grausamkeit, ein Widersinn, es wäre gleichsam die Lehre vom Sündenbocke in das Staatsrecht eingeführt. Aus demselben Grund sind die Minister eines absoluten Fürsten ganz unverantwortlich, außer gegen diesen selbst; wie dieser nur Gott, so sind jene nur ihrem unumschränkten Herrn Rechenschaft schuldig. Sie sind nur seine untergebenen Gehülfen, seine getreuen Diener, und müssen ihm unbedingt gehorchen. Ihre Kontrasignatur dient nur, die Echtheit der Ausfertigung und der fürstlichen Unterschrift zu beglaubigen. Man hat freilich nach dem Tode der Fürsten viele solcher Minister angeklagt und verurteilt; aber immer mit Unrecht. Enguerrand de Marigny verteidigte sich in einem solchen Falle mit den rührenden Worten: »Wir als Minister sind nur wie Hände und Füße, wir müssen dem Haupte, dem Könige, gehorchen; dieses ist jetzt tot, und seine Gedanken liegen mit ihm im Grabe; wir können und wir dürfen nicht sprechen.«

Nach diesen wenigen Andeutungen über den Unterschied der beiden Gewalten, der absoluten und der konstitutionellen, wird es jedem einleuchtend sein, daß der Streit über die Präsidentur, wie er in den hiesigen Verhältnissen zum Vorscheine kam, minder die Frage betreffen sollte, ob der König das Konseil präsidieren darf, als vielmehr, inwiefern er es präsidieren darf. Es kommt nicht darauf an, daß ihm die Charte die Präsidentur nicht verbietet oder ein Paragraph derselben ihm solche sogar zu erlauben scheint; sondern es kommt darauf an, ob er nur honoris causa, zu seiner eigenen Belehrung, ganz passiv, ohne aktive Teilnahme präsidiert oder ob er als Präsident seinen Selbstwillen geltend macht in der Leitung und Ausführung der Staatsgeschäfte. Im ersten Falle mag es ihm immerhin erlaubt sein, sich täglich einige Stunden lang in der Gesellschaft von Herrn Barthe, Louis, Sebastiani usw. zu ennuyieren, im andern Falle muß ihm jedoch dieses Vergnügen streng verboten bleiben. In diesem letztern Falle würde er, durch seinen Selbstwillen regierend, sich dem absoluten Königtume nähern, wenigstens würde er selbst als ein verantwortlicher Minister betrachtet werden können. Ganz richtig behaupteten einige Journale, daß es unrecht wäre, wenn ein Mann, der auf dem Todbette läge, wie Périer, oder der nicht einmal seine Gesichtsmuskeln regieren könne, wie Sebastiani für die selbstwilligen Regierungsakte des Königs verantwortlich sein müsse. Das ist jedenfalls eine schlimme Streitfrage, die eine hinlänglich grelle Bedeutung hat; denn mancher erinnert sich dabei an das terroristische Wort: La responsabilité c’est la mort. Mit einer Inoffiziosität, die ich nicht billigen darf, wird bei dieser Gelegenheit, namentlich von dem »National«, die Verantwortlichkeit des Königs behauptet und infolgedessen seine Inviolabilität geleugnet. Dieses ist immer für Ludwig Philipp eine mißbehagliche Mahnung und dürfte wohl einiges Nachsinnen in seinem Haupte hervorbringen. Seine Freunde meinten, es wäre wünschenswert, daß er gar nichts tue, wobei nur im mindesten das Prinzip von der Inviolabilität zur Diskussion kommen und dadurch in der öffentlichen Meinung erschüttert werden könnte. Aber Ludwig Philipp, wenn wir seine Lage billig ermessen, möchte doch nicht unbedingt zu tadeln sein, daß er beim Regieren ein bißchen nachzuhelfen sucht. Er weiß, seine Minister sind keine Genies; das Fleisch ist willig, aber der Geist ist schwach. Die faktische Erhaltung seiner Macht scheint ihm die Hauptsache. Das Prinzip von der Inviolabilität muß für ihn nur ein sekundäres Interesse haben. Er weiß, daß Ludwig XVI., kopflosen Andenkens, ebenfalls inviolabel gewesen. Es hat überhaupt in Frankreich mit der Inviolabilität eine eigene Bewandtnis. Das Prinzip der Inviolabilität ist durchaus unverletzlich. Es gleicht dem Edelstein in dem Ringe des Don Louis Fernando Perez Akaiba, welcher Stein die wunderbare Eigenschaft hatte: wenn ein Mann, der ihn am Finger trug, vom höchsten Kirchturme herabfiel, so blieb der Stein unverletzt.

Um jedoch dem fatalen Mißstand einigermaßen abzuhelfen, hat Ludwig Philipp eine Interimspräsidentur gestiftet und den Herrn Montalivet damit bekleidet. Dieser wurde jetzt auch Minister des Innern, und an seiner Stelle wurde Herr Girod de L’Ain Minister des Kultus. Man braucht diese beiden Leute nur anzusehen, um mit Sicherheit behaupten zu können, daß sie keiner Selbständigkeit sich erfreuen und daß sie nur als kontrasignierende Hampelmänner agieren. Der eine, Monsieur le comte de Montalivet, ist ein wohlgeformter junger Mann, fast aussehend wie ein hübscher Schuljunge, den man durch ein Vergrößerungsglas sieht. Der andere, Herr Girod de L’Ain, zur Genüge bekannt als Präsident der Deputiertenkammer, wo er jederzeit durch Verlängerung oder Abkürzung der Sitzung gen die Interessen des Königs zu fördern gewußt, ist das Devouement selbst. Er ist ein untergesetzter Mann von weichem Fleische, gehäbigem Bäuchlein, steifsamen Beinchen, einem Herzen von Papiermaché, und er sieht aus wie ein Braunschweiger, der auf den Märkten mit Pfeifenköpfen handelt, oder auch wie ein Hausfreund, der den Kindern Brezeln mit bringt und die Hunde streichelt.

Vom Marschall Soult, dem Kriegsminister, will man wissen, oder vielmehr man weiß von ihm ganz genau, daß er unterdessen beständig intrigiert, um zur Präsidentur des Konseils zu gelangen. Letztere ist überhaupt das Ziel vieler Bestrebnisse im Ministerium selbst, und die Ränke, die sich dabei durchkreuzen, vereiteln nicht selten die besten Anordnungen, und es entstehen Gegnerschaft, Zwist und Zerwürfnisse, die scheinbar in der verschiedenen Meinung, eigentlich aber in der übereinstimmenden Eitelkeit ihren Grund haben. Jeder ehrgeizt nach der Präsidentur. Präsident des Konseils ist ein bestimmter Titel, der von den übrigen Ministern etwas allzu scharf scheidet. So z.B. bei der Frage von der Verantwortlichkeit der Minister gilt hier die Ansicht, daß der Präsident für Fehler in der Tendenz des Ministeriums, jeder andere Minister aber nur für die Fehler seines Departements verantwortlich sei. – Diese Unterscheidung und überhaupt die offizielle Ernennung eines Präsidenten des Konseils ist ein hemmendes und verwirrendes Gebrechen. Wir finden dieses nicht bei den Engländern, deren konstitutionelle Formen doch immer als Muster dienen; die Präsidentur, wenn ich nicht irre, existiert bei ihnen keineswegs als offizieller Titel. »Der erste Lord des Schatzes« ist zwar gewöhnlich Präsident, aber nicht als solcher. Der natürliche, wenn auch durch kein Gesetz bestimmte Präsident ist immer derjenige Minister, dem der König den Auftrag gegeben, ein Ministerium zu bilden, d.h. unter seinen Freunden und Bekannten diejenigen als Minister zu wählen, die mit ihm in politischer Meinung übereinstimmen und zugleich die Majorität im Parlamente haben würden. – Solchen Auftrag hat jetzt der Herzog von Wellington erhalten; Lord Grey und seine Whigs unterliegen – für den Augenblick.

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