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Entschuldigen Sie, wenn ich nicht in Tränen ausbreche

Das Röhren des Motors wirkte besser als ein Wecker. Meine Ankunft weckte alle auf. Bevor ich ins Haus ging, rannte ich zu den zerbrochenen Steinen im Garten und kratzte mit meinem Goldnugget über einen der größeren Steinbrocken so würde er auf mich nach dem Wandel, der, wie ich wusste, bald nötig sein würde, wie eine Art natürlicher Magnet wirken. Dann packte ich eilig fünf Pfund Steakfleisch aus dem Kühlschrank in einen verschließbaren Plastikbeutel und warf ihn auf die Veranda. Zusammen mit einer Tüte Snickers.

Ich schaffte es noch in mein Schlafzimmer und wieder hinaus, bevor Molly und Evan mir am Fuß der Treppe entgegenkamen und hinter mir herliefen, mich mit Fragen bombardierend, die ich ihnen nicht beantworten wollte. Dazu blieb mir schlicht keine Zeit. Aber Molly entdeckte die beiden Plastiktüten und die Fetisch-Halskette, die ich mir drinnen geholt hatte, und versperrte mir den Weg zurück zu meinem Bike. Ich überlegte, ob ich einfach durch das beschädigte Fenster springen sollte, stellte aber mit einem Blick darauf fest, dass es mit Sperrholz vernagelt war und Evan sich davor aufgebaut hatte, die Arme vor der Brust verschränkt, der rote Bart vom Schlaf zerzaust. Seufzend sah ich Molly in die Augen und ließ ein bisschen von Beast in mir aufsteigen. »Du weißt doch, dass du mich nicht einsperren kannst.«

Ihr weißes Nachthemd schmiegte sich an ihre runden Kurven, sie wirkte zu weich und feminin, um es mit mir aufnehmen zu können. Doch ihr Gesichtsausdruck sprach eine andere Sprache. Sie war fest entschlossen, mich aufzuhalten, falls ich versuchen sollte, an ihr vorbeizukommen. »Pech.« Als ich sie böse ansah, sagte sie: »Erst sagst du uns, was vor sich geht. Warum du « Ohne den Satz zu beenden, zeigte sie auf die Halskette.

»Es ist die erste Nacht des Vollmonds. Und ich glaube ich hoffe dass ich heute Nacht die Ritualstätte finden kann. Aber dazu muss ich jetzt gleich gehen.«

»Und du glaubst, wir lassen es dich mit schwarzer Magie aufnehmen, mit einem mächtigen Blutritual, ganz allein?«, fragte sie entsetzt, als sei ich von allen guten Geistern verlassen. »Jane Yellowrock. Jemand hat unsere Kinder entführt. Wenn du glaubst, du weißt, wo sie sind, dann kommen wir mit. Ob dir das gefällt oder nicht.« Ihr Gesicht wurde hart. »Und außerdem sind die Vampire, die unsere Kinder in der Gewalt haben, Hexen. Du wirst uns brauchen, um in die Rituale einzugreifen, ohne dass die ganze Energie verrücktspielt. Was ist denn?« fragte sie, als sie mein überraschtes Gesicht sah. »Wusstest du nicht, dass es gefährlich ist, ein magisches Ritual zu unterbrechen? Für diesen Kampf brauchst du unsere Hilfe. Auch, um unsere Kinder zu schützen.«

»Ich weiß«, grummelte ich und dachte an den Geruch des zerrissenen, gesprengten Schutzbanns. »Aber ihr behindert mich bei meiner Suche«, sagte ich, und gab ihr mit Blicken zu verstehen, dass ich in Katzengestalt sein würde. »Meine Leute werden in der Nähe sein. Mit Schusswaffen.«

»Die das Blutritual nicht stoppen können, dazu braucht man eine Explosion, die euch alle ohne Unterschied umhaut.«

»Mist.« Mein Plan hatte offenbar Lücken.

»Wir bleiben in der Nähe«, versuchte sie zu handeln, »bei den Leuten, mit denen du zusammenarbeitest. Außer Sichtweite. Wenn du die Stätte gefunden hast, rufst du uns mit dem Handy an. Dann kommen wir. Und wir können deine Waffen mitnehmen.«

»Warum soll sie denn nicht ihre Waf «

Mit einer einzigen Bewegung schnitt Molly ihrer Schwester das Wort ab, einem Handkantenschlag durch die Luft. »Unwichtig.« Evangelina verstummte. Sie war in dem Durchgang zur Küche aufgetaucht und verstellte mir damit einen weiteren Ausgang, ein Umstand, der Beast gar nicht behagte. Drei wütende Hexen hatten sie in die Ecke getrieben. Ihre Krallen fuhren aus und bohrten sich in meinen Geist. »Wo wirst du sein?«, fragte Molly.

Ich seufzte. Beast war nicht die Einzige, die sich wie in der Falle fühlte. Im übertragenen Sinn hatte Molly auch mich gerade in die Ecke gedrängt. Ich wusste, was passierte, wenn ein Zauber nicht so lief, wie geplant, wenn magische Energie die Grenzen des Rituals, das sie kontrollierte, durchbrach. Das konnte schlimm ausgehen. Und außerdem hatte sich herausgestellt, dass diese Energien mit meiner eigenen Magie auf nicht vorhersehbare Art kollidierten. Widerstrebend sagte ich: »Ich konzentriere mich auf ein Gebiet im New Orleans City Park namens Couturié Forest. Es misst über hundert Hektar, und ich werde querfeldein gehen. Ihr werdet mich niemals rechtzeitig finden.«

Ohne den Blick von mir zu nehmen, sagte Molly: »Evangelina?«

Ihre Schwester ging in ihrem langen Schlaf-Shirt an mir vorbei und reichte Molly etwas. Molly rieb mit dem Daumen über die Oberfläche und hielt es mir entgegen. Es war ein Kieselstein, auf den ein schwarzes Symbol gemalt war. Er war mit Silberdraht umwickelt und hing an einer Silberkette, die lang genug war, dass ich sie in meinen beiden Gestalten tragen konnte. »Häng dir das um den Hals. Für ungefähr eine halbe Stunde wirkt es wie ein Peilsender. Um es zu aktivieren, musst du die Rune zehn Sekunden lang zwischen Daumen und Zeigefinger halten, dann wissen wir ungefähr, wo du gerade bist. Wir werden dich finden.« Sie zeigte auf die Rune, die aussah wie in großes F, dessen Querstriche sich schräg nach unten neigten. »Ansuz. Eine Rune, die den sprachlichen Ausdruck und das Verständnis fördert, die Kommunikation.«

Ich stieß einen langen, enervierten Seufzer aus, zog mir aber die Kette über den Kopf. »Okay, na gut. Wartet auf mich in der Nähe der Fußballplätze bei dem Park. Aber wenn ihr verletzt oder erschossen werdet, werde ich dafür sorgen, dass ihr es bereut.«

Derek Lee und seine Männer erwarteten mich vor den ersten Häusern der Siedlung. Ihr schwarzer Van stand unter einer der wenigen funktionierenden Straßenlaternen. Die Seitentür glitt auf, als ich näher rollte. Die Abgase mischten sich mit dem Geruch von heißem Fastfood-Fett und Gras, der mir von drinnen entgegenschlug. Alle hatten sich mit den neusten Militär- und Paramilitärspielzeugen herausgeputzt. Meine eigene kleine Armee. Trotz meiner Besorgnis musste ich grinsen, als ich hielt und den Motor abstellte. »Alter. Ihre Leute sehen echt scharf aus.«

»Alter? Scharf?« Derek lachte mir vom Fahrersitz entgegen, seine Zähne schimmerten weiß im Mondlicht. »Mädchen, das ist ja so weiß.«

Ich lachte leise, und meine Anspannung legte sich ein wenig. »Nee, nee. Ich stamme aus einer versklavten, schwer unterdrückten, ausgebeuteten, belogenen und betrogenen Minderheit. Zweien sogar, wenn man noch mitzählt, dass ich eine Frau bin.«

»Entschuldigen Sie, wenn ich nicht in Tränen ausbreche.«

Seine Ironie gefiel mir, mein Lächeln wurde noch tiefer. Heute Nacht war ich für zu viele Menschen verantwortlich. Und ich wusste immer noch nicht, ob ich das Richtige tat. Seine schnippischen Erwiderungen erinnerten mich daran, dass wenigstens diese Männer auf sich selbst aufpassen konnten.

»Was steht an?«, fragte einer der Männer hinten im Wagen.

»Haben Sie sich die Bilder angesehen, die Sie mir heute nach dem Einsatz gebracht haben?«

»Haben wir.«

»Wir werden zwei Hexenkinder und eine erwachsene Hexe namens Bliss retten und vermutlich ein oder zwei Menschen, die bei Vollmond von Hexenvamps geopfert werden sollen. Blutmagie, schwarze Magie und geheime Waffen«, sagte ich und dachte an den Holzsplitter in dem Samtbeutel.

Die Männer lachten. Es klang anerkennend und tatendurstig. »Kein Problem. Solange keine Cops dabei sind, die den Spaß verderben könnten.«

»Keine Cops. Die haben woanders zu tun.« Dafür erntete ich ein Daumenhoch, und Derek warf mir ein kleines metallisches Gerät zu. Ich fing es mit einer Hand auf.

»GPS. Damit wir Sie finden können. Oder lassen Sie es da, wo Sie uns haben wollen, fallen, dann kommen wir dahin.«

»Praktisch.« Ich steckte es in meine Jackentasche. Meine Kumpel und ihre Jane-Finder. »Es findet im New Orleans City Park statt. Ihr wartet bei den Fußballplätzen auf meinen Anruf. Und, äh, eine Gruppe von Hexen wird zu euch stoßen.« Als sie die Gesichter verzogen, fügte ich hinzu: »Sie kommen dazu, um Schutzschilde gegen die magischen Energien zu errichten.«

»Hexen machen nichts als Ärger.«

Ich fand sein Gesicht ganz hinten im Van: Hicklin, der gut aussehende Typ, der mit der Verkäuferin geflirtet hatte. »Es sind die Eltern der entführten Kinder. Wollen Sie derjenige sein, der ihnen sagt, dass sie wieder gehen sollen?«

Er seufzte. »Nein. Aber sie denken nicht wie ein Soldat. Und nicht wie ein Schütze.«

»Dann sagen Sie Ihnen genau, was Sie als Schutzmaßnahmen brauchen. Und sollten sie sich weigern, können Sie sie immer noch nach Hause schicken.«

Hicklin schüttelte entrüstet den Kopf und zog die Tür zu. Viele Freunde machte ich mir heute nicht. Ich trat den Kickstart und steuerte die Maschine durch die dunklen Straßen. Erschöpfung legte sich auf meine Schultern wie eine schwere Decke, heiß und kratzig.

Der Mond stand noch hoch am Himmel, ein ferner weißer Ball, der mich rief, mein animalisches Ich. Ich gab Gas und beugte ich mich über den Lenker. Bis zum Morgen waren es nur noch wenige Stunden.

Hurrikan Ada war schon fast wieder vergessen. Dieses Mal würde es nicht so einfach sein, in den Park zu gelangen. Die Eingänge zu dem fünfhundert Hektar großen Gelände waren mit Toren gesichert, und die Wächter patrouillierten regelmäßig. Ich stellte mein Bike zwei Blocks vorher auf der Fillmore Street ab und schlüpfte dann doch unbemerkt an dem Wachmann in seinem Wachhäuschen vorbei. In den Schatten. Orientierte mich nach Geruch und Gefühl, fand den Wald. Verschwand zwischen den Bäumen. Es wäre geradezu romantisch gewesen, wären nicht die Waffen und das rohe Fleisch in der Plastiktüte gewesen und die Furcht, die ich wie einen harten Stein unter meinem Brustbein spürte.

In diesem Park gab es keine Felsen wie bei mir zu Hause in den Bergen der Appalachen, daher würde es schwer werden, sich zu wandeln. Aber nur so würde ich die Stätte der Blutmagie finden. Keine Zeit. Wenn es nicht schon zu spät war.

Ich spürte Beasts Fell unter meiner Haut, als sie sich unternehmungslustig streckte. Der Wald ist lieblich, dunkel, tief, doch ich muss tun, was ich versprach, und Meilen gehn, bevor ich schlaf, und Meilen gehn, bevor ich schlaf *, sendete ich ihr. Robert Frost. Eine der wenigen Dinge, die ich noch aus der Highschool wusste. Und eines von den noch selteneren Dingen, die Beast und ich beide mochten. Nach diesen Zeilen begann ich, mich zu entspannen, duckte mich unter einem Ast hindurch und verließ den Weg, um tiefer in den Wald einzudringen, mit Beasts Sinnen als Orientierungshilfe.

Es dauerte nicht lange, bis Beast mich kurz vor der Stelle zum Stehen brachte, wo ich die Vampirin geköpft hatte, die ich kurz vorher aus der noch von Ada regennassen Erde hatte auferstehen sehen. Der Wind war warm, feucht und launenhaft wie ein übermütiges, frustriertes Kind, dem man keinen Anlass gibt, seinen Ärger abzureagieren. Ich roch nur Pflanzen und Dünger, Abgase aus den Straßen der Umgebung, den sauren Geruch der Bayous, die sich um und durch den Park wanden.

Der Baumstamm, auf dem ich dem jungen weiblichen Rogue aufgelauert hatte, war immer noch da ein guter Platz, auch wenn die Äste abgesägt worden waren und sich an ihrer Stelle nur noch einige Häuflein aus Sägemehl und die vermischten Gerüche vieler Menschen fanden. Hier gefiel es mir, also legte ich die Steaks in einer Reihe nebeneinander auf den Baumstamm und entledigte mich meiner Waffen. Und zog die neuen Stiefel aus. Legte meine Kleider zusammen und auf den Stamm.

Die nackten Füße auf dem lehmigen Boden, atmete ich tief durch und zentrierte mich. Nahm den Park und die starken, uralten Bäume in mich auf. Die Gerüche wurden lebendig. Ich witterte kleine Tiere, einzelne Bäume, etwas Blumiges und Öliges. Während ich lauschte, wurde das Zischen, Rutschen, Gleiten, Klopfen und Trippeln von Tieren immer lauter. Das fast geräuschlose Flattern von Eulenflügeln. Die Geräusche der Menschen traten in den Hintergrund, und der Friede des Waldes glitt unter meine Haut.

Ich musste mich wandeln. Ich brauchte Sinne, die ich in meiner menschlichen Gestalt nicht hatte. Beasts Nachtsicht, ihr scharfes Gehör, ihren guten Geruchssinn, denn wie schon bei Sabinas Kapelle würde es auch hier mehr als eine Ritualstätte geben, und ich war auf der Suche nach einer bestimmten. Das bedeutete, ich musste die Waffen zurücklassen, die ich nur als Mensch anwenden konnte, wie Schusswaffen und Messer. Doch der Tausch war es wert.

Mit der Fetisch-Kette in der Hand setzte ich mich auf den Baumstamm und schloss die Augen, ließ den Wald auf mich wirken und kam zur Ruhe. Es war zwar nicht mein Wald, doch auch hier lebten Tiere, bohrten Pflanzen ihre Wurzeln tief in die Erde, war der Boden reich und fruchtbar durch die Jahre und den Wechsel der Zeiten und die Kraft des Mondes. Ich war so müde und benommen aus Schlafmangel, dass mir war, als würde sich der Boden unter meinen Füßen zur Seite neigen. Doch sobald ich mich gewandelt hatte, würde ich wieder fit sein, denn Beast war ausgeschlafener als ich.

Beast erhob sich, schaute durch meine Augen, presste sich gegen meine Haut. Es war Vollmond, sie wollte jagen. Töten. Große Katze sein.

Als ich zentriert war, Beast nah an der Oberfläche, unser beider Geist vereint wie unsere Seelen, die Kühle genießend, sah ich in die mit einem Reißverschluss verschlossene Ledertasche, um mich zu vergewissern, dass meine Pflöcke, die Derringer, das Handy und ein paar leichte Kleidungsstücke darin waren. Dieses Mal hängte ich sie mir nicht um den Hals, sondern verstaute sie in einem Rucksack zusammen mit meinen Vampkillern, ein paar zusätzlichen Pflöcken und einem Fläschchen mit Weihwasser. In die Seitentaschen schob ich das GPS-Gerät und die Samttasche mit dem Splitter aus dem Heiligen Kreuz. Als ich den Rucksack zumachte, kontrollierte ich zweimal, ob er auch wirklich zu war und meine Schätze nicht herausfallen konnten.

Mit einer solch großen Tasche auf dem Rücken hatte ich als Beast bisher noch nicht gejagt, ich hatte keine Ahnung, ob sie mich nicht behindern würde. Aber dies war auch das erste Mal, dass ich es mit drei geistig gesunden Hexen/Vamps gleichzeitig aufnehmen musste, also brauchte ich jede Hilfe, die ich bekommen konnte, falls ich sie fand und gezwungen war, allein anzugreifen. Ich rückte den Rucksack zurecht. Die Halskette mit dem Goldnugget und die neue Silberkette mit der Rune hingen um meinen Hals. Ich musste vorsichtig sein. Das Bild, wie Beast über den Riemen des Rucksacks stolperte und stürzte, erschien vor meinem geistigen Auge.

Beast knurrte, beleidigt, dass ich sie für so ungeschickt hielt.

Mit dem nackten Po auf der rauen Rinde, die Füße in den feuchten Boden gedrückt, nahm ich das Goldnugget in die Hand, hielt es fest und dachte an die Steine im Garten meines Hauses hier in New Orleans. Dachte an Beast.

Ich schloss die Augen. Entspannte mich. Lauschte dem Wind, dem Ruf des Mondes hoch über mir. Ich lauschte dem Schlag meines Herzens. Beast erhob sich, leise, gefährlich.

Ich verlangsamte meine Körperfunktionen, senkte meine Herzfrequenz, meinen Blutdruck, entspannte die Muskeln, als wollte ich einschlafen. Ich legte mich auf den Baum, Brust und Bauch rieben in der feuchten Luft über die raue Rinde.

Meine Gedanken wurden langsamer, ich sank tiefer, streifte mein Bewusstsein ab, konzentrierte mich einzig auf das Ziel dieser Jagd. Dieses Ziel prägte ich in die Unterseite meiner Haut, in die tief gelegenen Teile meines Unterbewusstseins, damit ich es nicht vergaß, wenn ich mich wandelte. Ich sank tiefer. Hinab in die Dunkelheit, in eine graue Welt aus Schatten, Blut und Ungewissheit und uralten, nebelhaften Erinnerungen. In der Ferne hörte ich Trommeln, roch Kräuter und Holzrauch, und der Nachtwind auf meiner Haut schien kühler zu werden. Im Hinabsinken verfestigten sich Erinnerungen, Erinnerungen, die sonst halb vergessen waren, sowohl meine als auch Beasts.

Wie man es mich vor so langer Zeit gelehrt hatte – sicher meine Eltern oder ein Schamane – spürte ich der inneren Schlange nach, die in den Knochen und Zähnen der Halskette verborgen war: die biegsame, gewundene Schlange tief in den Zellen, in den Resten von Knochenmark.

Vage dachte ich, dass es einfacher war, seit ich in der Schwitzhütte gewesen und durch das Wasser gegangen war. Viel einfacher, die Schlange zu finden, selbst so weit entfernt von meinen Bergen und meinem natürlichen Jagdgebiet. Die Schlange öffnete sich mir, Tausende, Millionen, alle identisch, gefangen in den Zellen der Fetisch-Halskette.

Ich griff nach der Schlange, die in den Tiefen aller Geschöpfe liegt. Und verlor mich darin. Wie Wasser in einem Fluss. Wie Flocken im Schnee, der als Lawine den Berghang hinunterrollt. Die Welt verblasste, Grau umgab mich, glitzernd und kalt. Und ich war an dem grauen Ort des Wandels.

Meine Atmung wurde tiefer. Mein Herzschlag beschleunigte sich. Und meine Knochen … verschoben sich. Meine Haut kräuselte sich. Mir wuchs Fell, lohfarben, grau und braun mit schwarzen Spitzen. Wie ein Messer fuhr der Schmerz zwischen Muskeln und Knochen. Meine Nasenlöcher blähten sich, sogen tief die Luft ein.

Jane ist fort. Ich hocke auf gefallenem Baum von früherer Jagd. Fand mein Gleichwicht. Nacht wird lebendig wundervoll, neue Gerüche, schwer in der Luft, kräftig, drehen sich wie Jane zu Trommeln und Musik. Erde, Vögel, kleine Beute, Bäume viele mehr als mehr-als-fünf Bäume aber Wald ist trotzdem klein; nicht wie mein Jagdgebiet in den Bergen. Hier nur ein winziges Fleckchen Jagdgebiet. Ich rieche Menschen, zu nah. Kaninchen. Opossum. Schimmel. Blut. Ich hechle. Horche auf Geräusche Autos, nicht fern, Musik näher, Stimmen, die sprechen, gedämpft.

Ziehe die Beine ganz eng an mich, geschmeidig und biegsam ich habe ihre Worte für mich behalten. Gute Worte, ich mag sie.

Hier gibt es kein hässliches menschengemachtes Licht, keine Schatten, die in meine Augen schneiden. Klare Nacht und Mond, hell. Mehr Sterne am Himmel als bei ihrem Bau. Guter Platz, um Beast zu werden. Ich strecke mich. Vorderbeine und Brust. Hinterbeine, Rücken, Bauch. Nehme vorsichtig mit meinen todbringenden Zähnen die Kette, die sie fallen gelassen hat. Fetisch. Knochen von großer Katze. Lege Fetisch auf ihre Kleider.

Springe vom Baum. Lande auf vier Tatzen, sicher. Prüfe den Wald in der Nacht. Keine Räuber. Keine Fleischdiebe. Schnüffle am Fraß. Huste entrüstet. Immer altes Fleisch. Tote Beute. Lang-kaltes Blut. Schwanzspitze zuckt, will jagen. Heißes Blut schmecken. Aber Bauch knurrt. Immer so nach dem Wandel. Hunger. Sie hat das dagelassen, als Gabe, um Beast zu besänftigen.

Ich fresse. Lange Eckzähne bohren sich in totes Fleisch. Fülle Magen. Kalter Fraß befriedigt nicht Bedürfnis zu jagen, aber jetzt gibt es Wichtigeres als Reh oder Kaninchen, Wichtigeres als Blut und Lust am Töten. Welpen retten. Vampire töten. Ich fresse, um stark zu sein. Schnell zu sein. Danach lecke ich Blut von Schnurrbart und Gesicht. Neue Tasche und Gold- und Silberketten stören, aber … brauche sie. Ihre Sachen.

Jage, ruft sie. Such die Welpen.

Feine Membranen in der Nase beben, dehnen sich, erschlaffen. Viele neue Gerüche, manche wertvoll, andere nicht. Das Wichtigste Witterung von Hexen und Vampiren im Wind. Hebe Nase in tanzenden Wind. Öffne das Maul. Mache langen Skrieeech-Laut, sauge die Gerüche ein. Suche Ort mit Vampirgeruch.

Nach einiger Zeit finde ich die Spur des Windes, des Geruchs. Tappe durch die Bäume, in den kleinen Wald. Boden ist feucht und reich an Lebewesen. Vögel rufen in dem kleinen Wald. Tappe, leise, folge dem Geruch von Magie und Vampiren. Jane ist diesen Weg schon einmal gegangen. Ich finde Pfad, der keiner ist, schlängelt sich durch Bäume.

Gerüche werden stärker, Menschen, Vampire und Magie. Gute Gerüche für die Jagd. Gute Beute. Licht in Bäumen vor mir. Spüre Schläge auf dem Boden, Beben, Geräusche. Wie Herzschläge, aber sind keine. Tief geduckt schleiche ich auf Katzenart näher, Hinterpfote immer dorthin, wo die Vorderpfote. Gucke durch Bäume. Dieselbe Stelle, wo der junge Rogue auferstanden ist.

Jane späht durch Beasts Augen. Sie sind zu demselben Ort zurückgekehrt? Das verstehe ich nicht. Ich wusste, dass sie in der Nähe waren, hätte aber nicht gedacht, dass sie hier sind. Das kommt mir zu einfach vor.

Menschen töricht. Beutedenken, denke ich geringschätzig. Dumme Menschen mit Menschenlicht in Bäumen. Stehlen Nachtsicht. Dumme Beute.

Ich kauere mich nieder und wir/ich schauen durch Bäume hindurch in offenen Kreis. Adriannas Blutdienerinnen, die Jane auf der Vampparty angegriffen haben, stoßen kleine Schaufeln in den Boden. Janes Überraschung drängt mich: richte dich auf, wie Katze auf Beinen. Ich bleibe geduckt. Kluger Jäger, guter Räuber.

Die Frauen sind klein mit krausem Haar, drahtig, Körper, die kein Fett bekommen. Fressen nicht gut. Sehnig. Eine hat dunkle Haut, und die andere ist blass, riecht nach Zwiebeln. Sie haben nur Schwarz an und ärmellose Hemden, die die Arme zum Kämpfen freilassen. Sie riechen nach Chemie, die summende Moskitos vertreibt, und sie schwitzen in der Nacht. Machen die Hexensymbole. Sina und Brigit, denkt Jane. Die den Kreis und das Pentagramm malen. Säcke mit Muscheln liegen in einer Schubkarre daneben. An die Bäume sind Kreuze genagelt. Silberkreuze wie die Male davor. Die Blutdiener sind fast fertig mit dem Kreis und Pentagramm.

»Wenn das funktioniert«, keucht Sina. »Dann helfe ich Adrianna, diesen Blutsauger zu töten. Das dunkle Recht der Könige, dass ich nicht lache. Er wird mich nicht mehr mit Gewalt dazu zwingen. Nie mehr.«

»Das hast du schon mehrfach gesagt. Und ich habe dir immer zugestimmt.«

Leo hat sie gezwungen, ihm ihr Blut zu geben, denkt Jane. Bei der Vampparty, während des Blutrausches.

Ich schnüffle, rieche Leo. Ja.

»Der verdammte Blutsauger, der Scheißkerl.«

»Halt den Mund und grab.«

Dann sprechen sie nicht mehr. Kopf tief, Schultern hoch, drehe mich und gehe um die Stätte herum, suche nach dem Pfad hinein. Menschen nehmen immer denselben Weg, wie Kaninchen. Finde Pfad, breit genug für Büffel. Folge ihm schnell, zurück, zurück, zurück durch Bäume, zu Straße im Park, über Brücke für Autos, an Sitzplätzen vorbei, wo viele Menschen sich in Herden versammeln, um Spielen zuzuschauen. Folge Witterung durch das Tor und hinaus auf die Straße. Schleiche durch Schatten. Zu Auto, das nah geparkt ist. Riecht nach Bier und Blut und Sex und Wut. Schaue zurück.

Sind sie hier entlanggekommen?

Ignoriere Janes dumme Frage. Sehe Straßenschild an. Präge es mir ein, für sie. Harrison Avenue. Auto wischt vorbei. Ich ducke mich in die Nacht, lautlos. Als es fort ist, bewege ich mich auf leisen Füßen zum Schatten des Tores.

Sehe ein anderes Auto die Straße entlangkommen. Langes schwarzes Auto, schwarze Fenster. Es wird langsamer. Es treibt den Wind vor sich her. Gestank von Vampir. Geruch von Welpen und Angst. Wut fließt durch mein Blut, schnell und heiß. Welpen! Habe Welpen gefunden!

Auto hält hinter Blutdiener-Auto. Vampire öffnen Türen. Vampire steigen aus. Tristan und Renée und ihr Bruder, denkt Jane. Andere Vampirgerüche. Manche kenne ich. Zwei, drei mehr. Mehr-als-fünf. Mehr-als-fünf zu töten. Soll ich sie jetzt töten?

Nein, sagte Jane. Zu viele, selbst für Große Katze. Wandle dich. Hol meine Ausrüstung. Hol Derek Lees Hilfe.

Beobachte, um zu sehen, wie viele Vampire hier sind. Wie viele zu töten sind. Mehr-als-fünf, zählt Jane. Angst sprudelt in ihr Herz.

Tappe durch Schatten, zurück zu dem kleinen Wald. Finde sicheren Platz unter niedriger Pflanze und beobachte den Kreis, beobachte die beiden arbeitenden Blutdienerinnen.

*Übersetzung von Lars Vollert, »Promises to keep / Poems Gedichte«. C. H. Beck Verlag, München 2011