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Ein Pflock für alle Fälle

In einem von Mischas winzigen Rückspiegeln sah ich einen Streifen Licht, gefolgt von einem kleinen roten Punkt. Ein Laservisier. Mist. Zwischen meinen Schulterblättern begann es zu jucken. Deswegen erhob ich meine Stimme und rief, so laut ich konnte: »Derek hat mir erzählt, dass er dachte, er sei in Sicherheit, als er zurück in die Staaten kam. Stattdessen fand er seine Gegend voller blutsaugender Vampire wieder. Um seine Familie zu schützen, war er gezwungen, wieder in den Krieg zu ziehen. Nach diesem Derek suche ich. Er kennt mich als die Indianerprinzessin.« Mir gefiel der Spitzname nicht besonders, aber Derek schien ihn lustig zu finden.

Meine Stimme ließ nach. Wenn Derek jetzt nicht kam und mir sicheres Geleit gab, steckte ich vermutlich in Schwierigkeiten. Zum zweiten Mal heute. Während die Sekunden dahinschlichen, wurde Beast wach. Minuten vergingen, und sie kamen mir vor wie Stunden. Ich begann in der schwülen Luft zu schwitzen, ein Tropfen rann langsam meine Seite hinunter. Mein Herz schlug ein wenig zu schnell, Angst sickerte in meinen Blutkreislauf. Ich hasste es, passiv zu sein. Und ich hasste es, hier mit gezogenen Waffen zu stehen und mein Schicksal zu erwarten.

Endlich hörte ich, wie sich eine Tür öffnete. Eine Stimme rief: »Das letzte Mal haben Sie Vamps in Partykleid und hohen Schuhen gejagt. Sieht aus, als hätten Sie dazugelernt, Prinzessin. Ihre Mama wäre sicher stolz auf Sie.«

Das Herz schlug mir bis zum Hals und legte einen kleinen Stepptanz hin. Ich schluckte und fand meine Stimme wieder. »Wenn ich je eine Mama gehabt hätte, vielleicht«, rief ich zurück.

»Ich dachte, Sie seien eine Indianerprinzessin«, sagte er und kam mit den bedächtigen Schritten eines Soldaten auf mich zu.

»Prinzessin meiner eigenen Ecke in einem Kinderheim«, sagte ich, leiser. »Von zwölf bis achtzehn. Jetzt bin ich immer noch Prinzessin in meinem eigenen Reich, aber das ist ein bisschen weit weg von hier. Haben Sie hier das Sagen?«

Er lachte leise. »In diesem Reich? Auf diesem hübschen, süß duftenden, sauberen und hübschen Fleckchen Erde? Was wollen Sie, Prinzessin?«

»Sicheres Geleit. Um den Schöpfer der Rogues, die wir getötet haben, zu jagen.«

Er lachte wieder, dieses Mal leiser, wissend und ein ganz kleines bisschen brutal. »Danke für das Geld das für die Köpfe der toten Vamps. Das kam sehr gelegen, wir brauchten mehr Munition. Um die, die danach kamen, zu töten.«

»Es sind noch mehr gekommen?«

»Sechs.« Er schnippte ein Feuerzeug an und streckte den Arm aus, um mich zu betrachten, bevor er es an seine Zigarette hielt halb Tabak, halb Gras, dem Geruch nach zu urteilen. Er sog die Luft durch das Papier und die Kräuter. Sein Gesicht wurde von der Flamme beleuchtet, die dunkle Haut war feucht vor Schweiß, das schwarze Hemd und die übrige dunkle Kleidung waren nicht richtig zu erkennen. Der Stahlkolben einer Handfeuerwaffe ragte aus dem Bund seiner Hose. Ich wartete, während er mich abschätzend im Licht der Flamme musterte. »Wir lagern die Köpfe in einer Kühltruhe mit Trockeneis, seit Ada durchgezogen ist. Auch die Crips stoßen vor, manche sagen, mithilfe eines Clans, der sich selbstständig gemacht hat. Unsere Vorräte und Munition sind bald aufgebraucht, aber Leo geht nicht an sein Handy. Und wir bekommen unser Kopfgeld nicht.«

»Ah«, sagte ich. Er wollte handeln. Ich spürte, wie Beast bei dem Gedanken an Verhandlungen die Zähne bleckte. Ihrer Meinung nach war es besser, erst zu kämpfen und dann zu reden über dem Blut und den Eingeweiden des Feindes. »Leo trauert um seinen toten Sohn.«

Derek prustete. Ich sagte: »Soweit die Toten noch sterben können. Aber er ist nicht er selbst.«

»Rogue?«

Ich dachte an die Gestalt in meinem kleinen Garten, an ihr Gesicht, die langen Zähne, die roten Augen. Ich dachte an die Uneinigkeit unter seinen Gefolgsleuten. »Noch nicht. Aber irgendetwas stimmt mit ihm nicht. Einer seiner Vasallen benutzte das Wort oder den Begriff ›Dolore‹. Wissen Sie, was das heißt? Oder wer das ist?« Derek schüttelte den Kopf. Ich sagte: »Tja. Ich auch nicht.«

»Ich kann dem Vampirrat von den Köpfen berichten. Damit Sie die Erlaubnis erhalten, mit den Leuten zu sprechen. Ich begleite Sie sogar, um ihnen zu sagen, dass sie Ihnen was schuldig sind. Als eine Art Emissärin.«

Derek blies Rauch in einem langen blassen Strom an mir vorbei. »Dazu braucht man Eier.« Er betrachtete mich von Kopf bis Fuß. »Haben Sie welche?«

Ich grinste und ließ Beast für einen Moment in meinen Augen schimmern. Ich weiß nicht, was er in der Dunkelheit sah, aber er nickte.

»Okay. Ich bin nicht daran interessiert, mit irgendwelchen Blutsaugern außer Leo zu sprechen, und jetzt gerade bin ich selbst auf ihn nicht besonders gut zu sprechen. Wie wäre es mit Folgendem: Sie reden mit ihnen, Sie machen den Deal, Sie behalten zwanzig Prozent, weil Sie die Verhandlung übernommen haben. Und Sie lassen unsere Namen aus dem Spiel.«

Also, das war interessant der Marine wollte anonym bleiben. »Gegenvorschlag: Ich nehme die Köpfe, sage, ich hätte sie erlegt, streiche das Kopfgeld ein, zwanzigtausend das Stück, behalte nichts davon, aber Sie garantieren mir sicheres Geleit, während ich jage. Und Sie helfen mir, wenn ich Hilfe brauche, wenn ich noch mehr jagen will. Schlagen Sie ein?«

Derek dachte einen Moment darüber nach. »Wir brauchen Gewehre. Wie das, das Sie da auf den Boden gerichtet haben.«

»Sie haben sechs Köpfe à zwanzig Riesen das Stück«, sagte ich. »Kaufen Sie sich ein eigenes.«

Derek lachte. »Ja, Sie haben Eier. Kann sein, dass Sie völlig durchgeknallt sind, aber Eier haben Sie. Okay. Ich schlage ein. Sie holen das meiste aus den Blutsaugern raus, und ich und meine Jungs sorgen dafür, dass Ihnen nichts passiert und helfen Ihnen bei der Jagd. Aber wenn Sie uns reinlegen, werden meine Jungs eine Kürbislaterne aus Ihnen schnitzen.« Ein hässliches Lächeln entblößte weiße Zähne. »Sie können mich über Handy erreichen. Meine Karte.«

Seine Karte? Ich unterdrückte ein halb hysterisches Kichern, als er mit zwei Fingern eine Karte aus seiner Brusttasche zupfte. Ich nahm sie entgegen und steckte sie in meine eigene, ohne zu versuchen, die Nummer im Dunkeln zu entziffern. Als ich ihm eine von meinen gab, hielt er sie an seine Feuerzeugflamme und lachte auf, als er mein Motto las. »›Ein Pflock für alle Fälle‹, was?« Das Feuerzeug ging aus. »Sie sind wirklich ein verrücktes Huhn.«

Ich lächelte nur und spürte, wie die Spannung, die in der Luft gelegen hatte, langsam verflog.

»Wenn der Rat ein Kopfgeld auf Leo aussetzt«, fügte er hinzu, »bin ich dabei. Verstanden?«

Ich war überrascht. »Ich dachte, Leo sei Ihr Freund.«

»Das ist er auch. Aber wenn der Mann zum Rogue wird, würde er wollen, dass man ihn ausschaltet. Das hat er mir selbst einmal gesagt, vor langer Zeit. Abgemacht, Indianerprinzessin?«

»Abgemacht, Derek Lee. Wie wäre es, wenn Sie ihrem Mann sagen, dass er das Gewehr senken soll, das er auf meinen Rücken gerichtet hat? Ich werde immer ganz kribbelig, wenn jemand mit einem Nachtsichtgerät und einem Laser auf mich zielt.«

Derek lachte. »Juwan«, rief er. »Twizzlers.«

Ich hoffte, dass »Twizzler« das Codewort für »alles in Ordnung« war, und entspannte mich leicht, als Beasts Intuition mir sagte, dass der Scharfschütze nicht mehr meine Wirbelsäule im Visier hatte. Ich wusste nicht, woher ich das wusste, aber es musste wohl etwas mit Beasts Jagdinstinkt zu tun haben.

»Ist nett, mit Ihnen Geschäfte zu machen, Prinzessin.«

»Dito, Derek.« Ich trat den Kickstarter durch, setzte mich und drehte die Maschine auf. Dann gab ich Gas. Über die Schulter rief ich zurück: »Ich fange an der Stelle an, wo wir die jungen Rogues erlegt haben. Da wird man doch nicht auf mich schießen, oder?«

Derek schüttelte den Kopf und hob zur Antwort den Daumen. Ich vermutete, das sollte heißen, dass mir keine Gefahr drohte, wenn ich mich dort umsah. Hoffentlich lag ich mit meiner Interpretation nicht falsch.

Mit vollkehlig dröhnendem Bike fuhr ich die dunklen, nassen Straßen entlang, während der Schweiß auf meinem Rücken trocknete.

Am besten jagte ich als Beast, aber ich wollte keine Zeit verlieren, indem ich zurückfuhr, um mich zu wandeln. Zu Hause fiel es mir am wenigsten schwer, selbst wenn dieses Zuhause nur vorübergehend gemietet war. Aber auch in Menschengestalt waren meine Sinne besser als die normaler Menschen, denn fast ein Jahrhundert hatte ich als Beast gelebt. So konnte ich auch von Mischas Sattel aus recht zuverlässig einer Duftspur folgen. Und es war gut, wenn ich einen Anfangspunkt hatte.

Ich steuerte den verlassenen Wohnblock an, wo ich erst vor ein paar Tagen einen jungen Rogue erlegt hatte. Mittlerweile war das Gebäude wieder bewohnt ob von den rechtmäßigen Besitzern, Mietern oder Hausbesetzern wusste ich nicht, und es war mir auch egal. Ich hoffte nur, dass Derek recht hatte und ich nicht erschossen würde, weil man mich für einen Eindringling hielt.

Mit brummendem Motor fuhr ich langsam durch die Gasse an den seitlichen Teil des Gebäudes vor, stellte den Motor aus und schlich mich nach hinten. Ada hatte den Blutgeruch fortgewaschen, aber unter dem Geruch von Dünger, Gras und Samen, Kindern und kleinem Hund witterte ich noch immer das scharfe Vampirblut. Ich sah mich noch ein wenig um, bis ich sicher sein konnte, dass ich mir den Geruch eingeprägt hatte, und folgte dann der Fährte zurück zu der Stelle, wo Derek und seine Jungs den Schöpfer der Frau getötet hatten, einen Jungen im Teenager-Alter, den jemand gewandelt und dann einfach frei herumlaufen gelassen hatte den Rogue, der eine Freundin von mir angegriffen und schwer verletzt zurückgelassen hatte. Hier war der Geruch stärker, denn ein wenig Vampblut war an die Backsteinwand gespritzt, hoch hinauf bis an eine Stelle, die vor dem Regen geschützt war. Dicht an der Wand, unter der Dachrinne, atmete ich den Geruch auf Katzenart durch Nase und Mund ein.

Und ich witterte noch einen anderen Vampir, ganz schwach nur. Den Schöpfer des Teenager-Rogues. Das letzte Mal, als ich hier gewesen war, hatte ich nicht danach gesucht, da war ich zu sehr damit beschäftigt gewesen, am Leben zu bleiben. Und der Geruch kam mir bekannt vor, auf eine »Das habe ich schon mal gerochen«-Art oder auf eine »Ich habe seine kleine Schwester gerochen«-Art.

Nach einigen langen, tiefen Atemzügen, um die ungleichen chemischen Substanzen und Pheromone in meinem Geruchsgedächtnis zu speichern, ging ich zurück zu Mischa, startete sie und begann, die Fährte zurückzuverfolgen. Ich rechnete damit, dass es schwierig sein würde, weil der Regen die Witterung stark verwaschen hatte, aber der junge Rogue war diesen Weg mehrmals gekommen und gegangen, und sein Geruch war an Bäumen und auf Veranden, Stellen, wo der Regen nicht hinkam. Ich kam nur langsam voran, aber schließlich verließ ich das Ghetto in Richtung Lake Pontchartrain.

Ich brauchte mehr als zwei Stunden, um dem Weg des männlichen Rogues zu folgen, bis er schließlich von der Filmore Avenue abzweigte, in eine waldige Gegend in der Nähe eines Sumpfes, einem Park mitten in New Orleans. Als ich ihn zu umfahren begann, begriff ich, dass der Park gar nicht so weit von meinem Ausgangspunkt im Ghetto entfernt war, doch das Gelände war so weitläufig, dass Beast sich gleich zu Hause fühlte. Ich hatte nichts von seiner Existenz gewusst, obwohl der Park den Gerüchen von Bäumen, Wasser und vielen Menschen nach zu schließen riesig war. Der Sturm hatte Äste auf die Wege geworfen und die Schilder heruntergerissen, aber schließlich fand ich eines, auf dem stand, dass er nicht sehr einfallsreich New Orleans City Park hieß.

Ich stellte Mischa ab und folgte meiner Nase über den vollgesogenen Boden eines Weges in ein Gebiet, das laut Schild Couturié Forest hieß. Hier waren die Bäume höher und älter, und ihre Äste bogen sich über den Weg, schützend und wachsam wie Wächter. Aber sicher bildete ich mir das nur ein.

Immer weiter der alten Fährte folgend, umging ich die heruntergefallenen Äste und das verwehte Gehölz auf den Wegen. Während ich durch den Wald wanderte, verstummten auch noch die wenigen Geräusche der Stadt, die nach dem Sturm wieder zum Leben erwacht war, bis ich nur noch das Auftreffen schwerer Regentropfen, das nasse Wispern des Windes in den Ästen über mir und das Knirschen von Zweigen und Schmatzen von Blättern und nasser Erde unter meinen Stiefeln hörte. Ein Gefühl von Ruhe und Gelassenheit durchzog den Boden und die Luft, wie oft in einem Wald mit sehr alten Bäumen, wo der Lehmboden reich und fruchtbar ist. Aber darunter lag ein Hauch von etwas Wildem. Und Totem. Ich verließ den Weg und ging in die Nacht hinein.

Bis ich an eine Vampgrabstätte kam. Ada hatte den Gestank von Vampir, totem Körper und altem Blut zwar fast abgewaschen, aber er war immer noch stark genug, dass die von Beast geschärften Sinne ihn wahrnahmen.

Die Grabstätte war eine natürliche, runde, von hohen Bäumen umstandene Lichtung von ungefähr drei Metern Durchmesser, über der ein Pesthauch sich überlappender Geruchsmuster lag. Mir stieg der starke, frische Geruch von einem eingeschlagenen Blitz und angesengtem Holz in die Nase, der so sehr dem eines verbrannten magischen Bannes glich, dass ich erst unsicher war, was ich da witterte, bis ich den Baum entdeckte, der sich schwarz, die obere Hälfte weggerissen, gegen den Nachthimmel abzeichnete. Der Blitz hatte eine versengende Spur durch den Boden gezogen.

Ich stand am Rand der Stätte, die Stiefel bis zu den Knöcheln in Matsch und Laub, und überließ Beast meine Sinnesorgane. Sie erhob sich und lugte durch meine Augen, um die Umgebung zu erfassen. Sofort konnte ich schärfer sehen. Besser hören. Ich sog die Luft durch die Nasenlöcher und über die Zunge ein flehmen nennt man diese Methode. Ich sah, spürte, hörte, roch, schmeckte den Ort. Für Beast war es zu viel der Sinneseindrücke, sie vermischten sich zu einem multisensorischen Ganzen.

Nichts bewegte sich außer der Luft. Die Dunkelheit war undurchdringlich. Als der Wind für einen Moment auffrischte, drangen ein leiser, seufzender Laut und das Prasseln von Regentropfen an mein Ohr. In der Ferne grollte der Donner. Unter dem Duft von durchnässter Erde, Eiche, Ahorn, Bitternuss und Zypresse lag der Gestank von totem, verwesendem Fleisch. Der Kräutergeruch der Vamps. Ein Hauch von Blut, alt und vage, jedoch von dem Regen, den Ada gebracht hatte, beinahe fortgespült. Und eine Spur von Magie, sowohl alter als auch frischer. Hexenmagie. Auf einem Vampfriedhof. Das war seltsam. Denn Vamps und Hexen waren sich eigentlich spinnefeind.

Als ich näher trat, knirschte etwas unter meinen Stiefeln. Ich bückte mich und hob eine weiße Muschel von dem matschigen Boden auf. Vorsichtig wischte ich die Blätter und Zweige zur Seite, die Ada herangeweht hatte. Am Rand der Lichtung kamen noch mehr Muscheln zum Vorschein. Jetzt erkannte ich auch den perfekt runden Kreis, der aus den kleinen weißen Muscheln gebildet worden war. In seiner Mitte war noch mehr Weiß zu sehen, vermutlich ein Pentagramm, auch wenn ich es, ohne mich auf Hände und Knie niederzulassen, nicht mit Sicherheit sagen konnte.

Beasts Reaktion zeigte sich in einem Kribbeln auf den Schultern und im Nacken, als würden sich meine Haare aufstellen. Was ich sah, gefiel mir nicht. Es war mir unheimlich.

Die erbitterte Feindschaft zwischen Vamps und Hexen hatte eine lange Tradition. So wie der Kalte Krieg verband und trennte sie die beiden Arten, ein Krieg, der laut Molly seit Hunderten von Jahren währte, und dessen Ursprung längst vergessen war. Und doch war es Magie, die in der Luft prickelte, den Boden durchzog und das Blut, das den Boden tränkte, energetisch auflud, hier an diesem nasskalten verlassenen Ort, der von allen Seiten von Stadt und Sumpf umgeben war. Die winzigen blauen Funken von Magie schmeckten nach Muskatnuss und summten, als stünden sie unter Strom. Hexenkraft und Verdorbenheit, untrennbar miteinander verknüpft, verwoben, verheddert. Hier war schwarze Magie gewirkt worden. Blutmagie. Ich hielt inne und atmete tief ein, um herauszufinden, welche Art von Blut hier vergossen worden war Ziege, Huhn oder Mensch? Aber das Blut war zu alt und der Ort dem Regen des Hurrikans ungeschützt ausgesetzt gewesen, sodass ich keine Einzelheiten wahrnehmen konnte.

Ich erhob mich, wischte mir die Hände an meiner Jeans ab und musterte die Bäume, die die Lichtung umgaben. Ich erblickte ein Kreuz, das an einen Baum genagelt war, ungefähr ein Meter achtzig über dem Boden. Ein paar Schritte weiter daneben hing ein weiteres Kreuz. Fünf Kreuze zählte ich schließlich, immer dort, wo sich die Spitzen des Pentagramms befanden. Die Kreuze sahen aus, als seien sie aus Silber. Seltsam. Die Spitzen des Pentagramms auf dem Boden zeigten auf die Kreuze an den Bäumen. Ein Vampgrab, an dem Hexen beteiligt gewesen waren. Das ergab keinen Sinn. Ich versuchte, mich zu beruhigen. Angst konnte ich mir jetzt nicht leisten.

Da sah ich, dass sich etwas vor mir auf dem Boden bewegte.

Ein winziges Fleckchen Erde in der Mitte der kleinen Lichtung hob und senkte sich. Ein kleines Dreieck. Einen Moment regte sich nichts, dann hob es sich wieder. Etwas Weißes schaute heraus. Der modrige, faule Geruch des Todes stieg in die Nacht auf. Und das Weiße wurde zu Fingern.

Meine Nackenhaare stellten sich auf. Beast knurrte tief in meiner Kehle und machte sich sprungbereit. Mein Körper spannte sich an, bebte vor Erregung. Ich zog meinen Lieblingsvampkiller und fühlte mich gleich besser, als der Hirschhorngriff der Waffe in meiner Hand lag.

Noch ein Stück Erde rutschte weg, als die Blätter und Muscheln an der Oberfläche zur Seite geschoben wurden. Als etwas versuchte, sich aus dem Zentrum des Pentagramms zu erheben. Die Silberkreuze an den Bäumen begannen sanft zu schimmern.

Mist, ich wurde Zeugin, wie sich ein neugeborener Vampir erhob. Ein junger Rogue. Eine blutsaugende Tötungsmaschine. Ich zog einen Pflock und vergewisserte mich, dass die Spitze versilbert war. Aber Beast erlaubte mir nicht, mich zu bewegen, sondern sah weiter neugierig zu.

»Die Neugier ist der Katze Tod«, murmelte ich und fasste die Waffen fester.

Beasts Husten drückte düstere Belustigung aus.

Das Ding war ausgemergelt, weißhäutig und schmutzig. Ich sah Hände, Unterarme, spitze Ellbogen, den Kopf. Mit Armen wie Stöcke arbeitete es sich aus dem Boden heraus. Erdklumpen fielen von ihm ab. Langes Haar, verfilzt und von Graberde verklebt. Ich hatte noch nie eine Auferstehung gesehen, und es war fast genauso wie in Nacht der lebenden Toten in 3-D, nur dass es übler roch. Der Rogue war weiblich. Sie trug ein hübsches geblümtes Partykleid, der einst helle Stoff mit den großen Blumen in leuchtenden Farben war jetzt besudelt mit Leichenflüssigkeit, Blut und feuchter Erde. Sie stemmte die Hüften aus dem Boden, schüttelte sich Beine und Füße frei und tat einen Atemzug. Riss den Kopf zu mir herum. Und fand mich in der Nacht.

Ihre blutunterlaufenen Augen glühten beinahe. Ihr Hals war von knotigem Narbengewebe entstellt. Sie zischte wie eine Schlange, hungrig. Ausgehungert. Und sie kam auf mich zu. Ich begann, ihr entgegenzugehen, um kurzen Prozess zu machen.

Nein, flüsterte Beast. Nicht hier. Schöpfer wird ihren Tod riechen. Wird dich erkennen, wird dich finden können. Lauf. Wie ein verletzter Vogel. Ich sah kurz das Bild eines Vogels, der aus einem Nest schnellte, einen Flügel abgeknickt, um Räuber fortzulocken. Ich wirbelte herum, rannte durch die Bäume, tiefer in den Couturié Forest hinein, immer wieder über die Schulter zurückschauend. Hinter mir grunzte die Vampirin, witterte in die Luft wie eine wilde Hündin und fiel auf die Knie. Ich rannte immer weiter, weit weg von der Grabstätte, weit genug, damit Beast zufrieden war, die die Welt durch meine unzulänglichen Sinne erkundete. Ihre Unruhe spürend, rannte ich schneller. Kurz darauf hörte ich, wie der Rogue mir zu folgen begann, schwankend, mit ungleichmäßigen Schritten.

Sie wimmerte und quäkte wie ein Kätzchen. Die Welpenlaute hätten eigentlich Beasts Schutzinstinkt wecken müssen. Stattdessen hustete sie missbilligend und bohrte die Krallen in meinen Geist. Ich sprang über einen umgestürzten Baum und ein Rinnsal Wasser, Überbleibsel von Adas Fluten. Während ich lief, untersuchte Beast die Umgebung, auf der Suche nach einer Stelle, die sich für einen Hinterhalt eignete.

Der jüngste Vamp, den ich je erlegt hatte, war ein Jahr lang untot gewesen. Doch auch dann hatten diese Vamps ihre Vergangenheit Erinnerungen, Verstand und Menschlichkeit nicht wieder. Es dauerte Jahre, bis ein Vamp so weit wiederhergestellt war, dass er zur Selbstkontrolle fähig war und nicht gleich über jeden Menschen herfiel, der ihm über den Weg lief. Und es dauerte bis zu einem Jahrzehnt, bis er trotz seines Hungers seine Erinnerungen wiederfand. Ein gerade auferstandener Vamp dachte nur daran, zu fressen, zu trinken und aus Nahrungsgründen zu töten. Die Bewegungen und die Laute der Vampirin waren ziemlich abstoßend; auf einmal verstand ich, woher der Mythos der Zombies kam. Frische junge Rogues waren wie Zombies. Fast genauso.

Die Vampirin hinter mir hatte alles verloren, was sie einmal menschlich gemacht hatte, und jetzt musste sie ganz von vorne anfangen, das Gehen, die Kontrolle über die eigenen Gliedmaßen neu erlernen. Die für Vamps typische Schnelligkeit, Anmut und Stärke würden sich erst nach ihrem ersten Blutmahl entwickeln, wenn sie ein Opfer gefunden und es ausgesaugt hatte. Oder besser gesagt, sie hätten sich entwickelt, wenn ich sie nicht gefunden hätte und es nun verhindern würde.

Andererseits war dies mein erster frischer Vamp. Vielleicht war das, was man sich in der kleinen Gemeinde der Vampjäger erzählte, reine Legende. Vielleicht brauchte die Vampirin, die mir auf den Fersen war, kein Blut, um ihre besonderen Gaben zu nutzen und sich schneller zu bewegen als ich.

Auf einer kleinen, von Sturmresten übersäten Lichtung fand ich einen großen umgestürzten Baum. Die Wurzeln ragten drei Meter in die Luft, die Äste zeigten auf einer Seite gen Himmel, auf der anderen waren sie durch den Wind auf den Boden gedrückt. Ich sprang auf den Stamm und ging ihn entlang bis zum ersten Ast. Darauf kauerte ich mich, packte meine Waffen fester, hob sie an und wartete. Beast wurde ganz ruhig.

Die Vampirin war nicht weit hinter mir, die Nachtluft trug mir ihre Witterung zu. Ihre Schritte waren unsicher und knackten laut im Unterholz. Sie machte nicht den Eindruck, als hätte sie schon das Sehvermögen eines Vamps. Möglicherweise kam auch das erst nach dem ersten Blutmahl. Vielleicht dauerte es auch länger, keine Ahnung.

Mist. Heute Nacht fühlte ich mich einem solchen Kampf nicht gewachsen, ganz und gar nicht. Aber wenigstens hatte sich mit dem Laufen und der Planung des Hinterhalts meine Angst gelegt. Jetzt sah ich sie. Sie folgte meiner Fährte.

Am Rand der Lichtung blieb sie stehen, die Nüstern gebläht, der Blick starr und wild, die Augen mit diesem für Rogues typischen dumpfen Glühen. Ihre weiße Haut schimmerte fast in der Dunkelheit. Sie blickte nicht hoch in die Äste, sondern auf den Boden, schnüffelte laut und sog Luft durch die verstopften Nasennebenhöhlen. Jämmerlich quäkend wischte sie sich über das Gesicht und verschmierte den Schmutz, sodass es aussah, als hätte sie eine Tarnbemalung aufgelegt. Über die jetzt Tränen liefen. Sie weinte.

Mein Herz krampfte sich zusammen. Es war dumm, eine Tote ohne Verstand zu bemitleiden, doch in gewisser Weise fühlte ich mit ihr. Ich erinnerte mich daran, wie es war, keine Erinnerungen mehr zu haben, verloren und einsam zu sein, in einem Körper gefangen, den ich nicht erkannte, allein unter Menschen. Natürlich war ich noch am Leben gewesen. Ich unterdrückte ein Seufzen, aber der Vamp musste dennoch etwas gehört haben. Ihr Blick zuckte hoch, in die Äste hinein. Sie zischte. Und rannte auf mich zu.

Statt wie ich den Weg über den Stamm zu nehmen, zwängte sie sich durch die Äste direkt unter mir, vor Hunger schnaufend. Ihr übler Geruch stieg zu mir hoch. Fast träge ließ ich mich aus der Baumkrone fallen und landete hinter ihr, den Vampkiller erhoben, den Pflock bereit.

Knurrend fuhr sie herum und griff nach mir. Ich trat zwischen ihre faulig stinkenden Arme und setzte den Pflock an der Brust an. Mit weit aufgerissenem Kiefer stürzte sie sich in die Spitze. Ich rammte ihn tief hinein. Die Jungen zu töten war so einfach. Zu einfach. Die Vampirin hielt inne, wie erstarrt, die Augen im Dunkeln auf meine gerichtet. Menschlichkeit sickerte zurück in ihren Blick, der auf einmal verwirrt und ängstlich wurde. »Nein«, flüsterte sie mit ihrem letzten Atemhauch. »Nein « Sie sackte in sich zusammen und landete mit gespreizten Beinen zwischen zwei Ästen zu meinen Füßen.

Ich kniete mich neben sie, zückte eine Minitaschenlampe und leuchtete ihr ins Gesicht. Unter dem Schmutz, dem Rotz, den Tränen und dem getrockneten Blut war sie hübsch oder war es gewesen. Lockiges braunes Haar, grünlich-braune Augen, kleine, nadeldünne Vampireckzähne, Reste von Make-up auf sehr weißer Haut. Sie suchen sich immer die Schönen aus. Ich habe noch nie einen hässlichen Vamp gesehen. Genau wie Pädophile mögen sie sie jung, bezaubernd und hübsch.

Ich legte die Taschenlampe so auf einen Ast, dass der Strahl auf das Mädchen fiel, steckte den Vampkiller ein und zog eine Kamera heraus. Dann schoss ich Fotos aus mehreren Winkeln, inklusive einer Nahaufnahme von ihrem Gesicht, auf der ihre kleinen Fangzähne zu sehen waren, und noch eine von dem Pflock in ihrem Herzen. Fotos waren gut, aber ich brauchte mehr. Pflöcken hatte ich noch nie getraut. Die Legende sagt, dass ein Pflock durch das Herz tödlich sei, es sei denn, der Schöpfer befindet sich in der Nähe. Denn falls er rechtzeitig bei ihm ist, kann es ihm gelingen, sein Geschöpf zu heilen. Ich zog ein Messer mit einer leicht gebogenen Klinge, legte die Schneide an den Hals des Mädchens und legte mein ganzes Gewicht hinein, als ich sie hineindrückte. Kaltes Blut sprudelte über meine Handschuhe. Eine Enthauptung war sowohl tödlich als auch wichtig als Beweis, um das Kopfgeld einzustreichen. Gerade erst auferstanden und schon wieder tot.

Als ich fertig war, legte ich den Kopf und die Taschenlampe zur Seite und packte die Vampirin bei den Fersen. Ich zog sie weit fort von den Wegen und von ihrem Grab und ließ die Leiche liegen, damit das Reinigungsteam des Vampirrates sie entsorgte. Falls doch vorher Menschen über sie stolpern sollten, würde sie immerhin schwer zu identifizieren sein, es sei denn, ihre Fingerabdrücke waren registriert. Außerdem würden die Vamps schon dafür sorgen, dass sie verschwand, bevor sie zur Autopsie käme. Seit die Vamps an die Öffentlich getreten waren, hatte es keine Berichte mehr über Obduktionen von Vamps gegeben. Und wenn es nach den Blutsaugern ging, sollte es auch so bleiben.

Bis vor Kurzem war diese Vampirin ein Mensch gewesen eine Tochter, Mutter, Freundin, Kollegin , der anderen Menschen etwas bedeutet hatte. Und jetzt war sie tot. In den USA verschwinden jedes Jahr Hunderte von Menschen, weil sie entweder ein neues Leben beginnen oder weil sie einem Mord zum Opfer fallen und ihre Leiche nie gefunden wird. Ich habe mir oft überlegt, wie viele der Vermissten wohl auf das Konto von Vamps gingen überlegt, aber nie laut gefragt. Die Menschen, die sie zurückgelassen hatte, verdienten die Wahrheit, um ihren inneren Frieden finden zu können, aber ich war mir sicher, dass der Vampirrat das nicht erlauben würde. Ein weiterer toter Rogue so kurz nach dem Wirbel um den letzten bedeutete schlechte Presse. Dieses Mädchen würde eine der vielen Vermissten sein, die nie gefunden wurden.

Als die Leiche versteckt war, verwischte ich die Schleifspuren mit den Blättern eines Astes und trug den Kopf zu Mischa. Ich stopfte ihn in einen großen Gefrierbeutel und diesen in eine wasserdichte Tragetasche, die ich mir über die Schulter warf. Ich hatte es nicht weit, aber falls ich von einem Polizisten angehalten würde, wäre der Kopf schwer wenn nicht gar unmöglich zu erklären. Deshalb trug ich eine Kopie meines Vertrages mit dem Vampirrat bei mir, und die Vampirzähne waren eigentlich ein todsicherer (Achtung, Vampirhumor!) Beweis dafür, dass ich keinen Menschen umgebracht hatte. Außerdem kannte ich einen gewissen Cop, der meine Geschichte bestätigen würde. Rick LaFleur schuldete mir einen Gefallen einen großen Gefallen. Ich hatte ihm zwei Mal den Hintern gerettet.

Ich gab Gas und verließ den Park. Einige Straßen die, die sich in der Nähe von städtischen Betriebsgebäuden, Krankenhäusern und anderen unentbehrlichen Einrichtungen befanden hatten wieder Strom, wie die hellen Fenster und das Licht, das aus den Türen auf den Asphalt fiel, bewiesen, und die Party, die in dieser Stadt nie aufhörte, ging weiter. Musik und schwere Küchendüfte erfüllten die Luft. In der Ferne heulten Sirenen, begleitet vom scharfen Plopp-Krack von Schüssen. Autos glitten durch die halbdunklen Straßen, an den Ampeln, die funktionierten, langsamer werdend, die anderen ignorierend. Andere Straßen lagen immer noch in tiefer Dunkelheit und würden sehr viel länger als gewöhnlich brauchen, um wieder zum Leben zu erwachen.

Obwohl die Fenster alle noch dunkel waren, wurde die weiß verputzte Fassade des Sitzes des Vamprates von in Pflanzen versteckten Lampen angestrahlt. Irgendwo dröhnten Generatoren. Ich bremste ab, als ich in die Schleife der Einfahrt einfuhr, obwohl es keine Hindernisse, Limousinen oder gepanzerte Fahrzeuge gab, niemanden, der mich kritisch musterte, als ich vorbeifuhr, oder mir mit halb abschätzenden, halb drohenden Blicken folgte, wie zum Beispiel ein Bodyguard. Natürlich waren hier irgendwo Kameras angebracht. Das Haus mochte vielleicht verlassen wirken, aber ich wusste, dass es nur so aussah. Für den Notfall war immer jemand anwesend, der wusste, wie alle Clanmeister zu erreichen waren.

Der Parkplatz für die Dienerschaft und das Leihpersonal befand sich auf der Hausrückseite, doch ich fuhr zum Vordereingang, stellte den Motor ab, trat den Ständer herunter und nahm den Helm ab. Ich trug matschverklebte, blutbesudelte Jeans und Stiefel und war mit Schusswaffen, Kreuzen und Pflöcken bewaffnet, die ich, wie ich wusste, würde abgeben müssen, falls ich abgetastet würde. Nicht, dass ich heute unbedingt einen Vamp zu Gesicht bekam. Vermutlich würde ich einem Lakaien, einem Blutdiener, Bericht erstatten. Was für ein Spaß.

Obwohl im Kongress gerade über die Bürgerrechte von Vamps beraten wurde, wurden sie immer noch wie Ausländer behandelt. Eine Waffe weiter als bis in die Vorhalle bei sich zu haben, war, als würde man eine ausländische Botschaft oder ein Gericht mit einer Waffe betreten: eine gute Methode, um sich überwältigen und wegsperren zu lassen. Ich stieg die Treppe hinauf; die Tür öffnete sich, bevor ich klopfen konnte. Ein Blutdiener, den ich nicht kannte, ließ mich ein männlich, hochgewachsen, muskelbepackt und kahlköpfig. Er sah aus wie ein richtiger Wrestler. Ein echter Schrank.

Er sagte nichts. Das musste er auch nicht. Er zeigte auf einen Tisch, auf den ich die Tasche mit dem Kopf stellte. Dann legte ich meine Waffen ab. Dies war mein dritter Besuch beim Vampirrat, ich kannte die Prozedur. Als ich fertig war, bedeutete er mir, zur Seite zu treten, und öffnete den Beutel. Als er den Inhalt sah, zog er die Augenbrauen hoch, zeigte aber sonst keine Reaktion, sondern verschloss den Beutel nur wieder. Er tastete mich sorgfältig ab, wobei er sich keine Mühe machte, sanft vorzugehen. Dann reichte er mir die Tasche und zeigte auf das kleine Wartezimmer. Der große, schweigsame Typ.

Hier hatte ich auch schon bei meinen früheren Besuchen gewartet und wusste, dass ich mich selbst bedienen konnte. Ich öffnete den Kühlschrank und nahm eine Dose Coke heraus, die ich mit zur Couch nahm. Der Fernsehbildschirm an der Wand zeigte die Wetterkarte, auf der Adas Weiterziehen in nördliche Richtung in blassem Rot, Grün und Gelb dargestellt war. Ich ließ mich fallen, zog die Dose auf und trank. Fenster gab es nicht. Aber wenigstens stand dieses Mal kein Blutdiener Wache an der Tür. Vielleicht begannen sie, mir zu vertrauen. Oder vielleicht hatte niemand Dienst, der wichtig genug war, um ihn schützen zu müssen. Vielleicht war die Tür auch ganz einfach verschlossen. Egal. Ich war zu müde, als dass es mir etwas ausgemacht hätte.

Ich wartete eine Stunde, was keine Überraschung war. Bei meinen vorhergehenden Besuchen hatte ich länger gewartet. Nachdem ich noch zwei Cokes getrunken hatte, suchte ich die Küchenzeile nach etwas Essbarem ab und stieß auf einen Plastikbehälter mit Salzgebäck und Crackern, denen ich den Garaus machte. Es war fast zwei Uhr morgens, als sich schließlich die Tür öffnete. Der Wachmann, der aussah wie ein Wrestler, nickte mir zu und machte sich daran, den Flur hinunterzugehen. Ich nahm an, dass ich ihm folgen sollte, und grinste, als ich mir sein Gesicht vorstellte, wenn ich anfinge, Türen zu öffnen, um einen Blick dahinterzuwerfen. Er sah zu mir zurück und runzelte missbilligend die Stirn, als könne er meine Gedanken lesen. Kleinlaut schloss ich zu ihm auf, die Tasche mit dem Kopf über der Schulter.

Der WWF-Typ führte mich ins Obergeschoss, klopfte an eine Tür und öffnete sie. Der Kräuterduft eines Vamps wehte uns entgegen. WWF trat zurück, damit ich eintreten konnte. Es war eine Bibliothek: Bücher über Bücher füllten die Regale und stapelten sich auf dem Boden, und neben den Ledersesseln standen kleine Beistelltischen. Weil das Zimmer für Vampire gedacht war, gab es keine Fenster. Das Feuer im Kamin knackte und roch wie echtes Holz. Ein klimatisiertes Lüftchen kühlte den Raum. Ein Ambiente auf Kosten der CO2-Bilanz. Vamps scherte die Umwelt nicht.

In einem Sessel beim Feuer, ein offenes Buch auf dem Schoß, saß eine Vampirin, die ich kannte: Dominique, die zweite in der Hierarchie des Arceneau-Clans blond, helle Augen und mindestens zweihundert Jahre alt. Das letzte Mal hatte ich Dominique in Ketten gesehen, damals war sie gefoltert worden und litt unter starkem Blutverlust und einer Silbervergiftung. Ich hatte sie bedroht und dann das Leben ihres Blutmeisters gerettet und keine Ahnung, ob sie mir nun danken oder mich aus Rache aussaugen würde. Schließlich hatte ich sie in Ketten zurückgelassen. In Silberketten. Aber sie musterte mich nur, als wäre ich ein Pferd, das sie beabsichtigte zu kaufen oder eine Sklavin. Dominiques Familie hatte vor dem Bürgerkrieg eine Plantage besessen ich hatte meine Hausaufgaben gemacht und wusste viel über die wichtigsten und mächtigsten Vamps in New Orleans.

Ihre Nasenlöcher weiteten sich. Ich wusste, sie roch Blut. Und den toten Vampir. Sie erstarrte. Bevor ich etwas sagte, tat auch ich einen vorsichtigen Atemzug, um herauszufinden, ob ich die Witterung des Vamps erkannte, der den jungen Rogue erschaffen hatte. Dominique war es jedenfalls nicht. Meine Anspannung löste sich. Unsicher, ob es dem Protokoll entsprach, sagte ich: »Sie sehen gut aus.«

»Ihre Stiefel sind schmutzig«, sagte sie mit einer Stimme so glatt wie Moiréseide.

»Stimmt«, sagte ich und reichte ihr die Tasche. »Der Kopf des Vamps, den ich gerade getötet habe.« Ihre Augen wurden schmal, ein beinahe unmerkliches Zucken. »Ein junger, weiblicher Rogue«, sagte ich. »Ich werde das Kopfgeld später abholen, aber das Reinigungsteam muss in den New Orleans City Park geschickt werden, um das, was von ihr übrig ist, zu entsorgen.«

Dominique öffnete die Tasche und starrte das Gesicht in dem Beutel an. »Sie war jung. Ihre Fangzähne hatten noch nicht ihre volle Größe.«

Ich hatte gedacht, ihre Zähne seien einfach nur klein. Dass sie größer werden konnten, darauf war ich nicht gekommen. Interessant. »Ich habe gesehen, wie sie aus dem Grab stieg«, sagte ich. Dominique hob den Blick, um mich anzusehen. »Es war ihr erstes Mal«, stellte ich klar.

Dominique schloss die Tasche. Sie drückte den Knopf an dem Tischchen neben ihr. Kurz darauf öffnete WWF die Tür. »Nimm das. Sag Ernestine, sie soll einen Scheck über das Kopfgeld für Ms Yellowrock ausstellen. Nimm den Kopf heraus und gib ihr die Tasche zurück, bevor sie geht. Ms Yellowrock wird dir eine Örtlichkeit nennen. Schick ein Entsorgungsteam dorthin, sie sollen die Leiche noch vor morgen beseitigen.« Dominique sah mich an. »Ist das alles?«

Ich dachte an Derek Lee und die Köpfe, die er gebunkert hatte. Aus irgendeinem Grund wollte er nicht, dass ich in seinem Namen mit dem Rat verhandelte. »In meiner Kühltruhe liegen noch sechs weitere Köpfe. Junge Rogues.«

Jetzt weiteten sich Dominiques Augen doch, sie machte ein überraschtes Gesicht. WWF verlagerte das Gewicht von einem Fuß auf den anderen und sah mich an. Sein Blick wanderte abschätzend an mir auf und ab. Als er die Augenbrauen hob, erschien ein anderer Ausdruck auf seinem Gesicht. Belustigung oder vielleicht Respekt. Den ich nicht verdiente, da ich es nicht gewesen war, die die Vamps getötet hatte, aber jetzt musste ich bei dieser Quasi-Lüge bleiben.

»Noch sechs?«, fragte Dominique. Als ich nickte, sagte sie zu WWF: »Sorg dafür, dass die Köpfe abgeholt werden. Ort und Zeit bestimmt Ms Yellowrock. Sobald bestätigt ist, dass es Junge sind, weise Ernestine an, dass sie einen zusätzlichen Scheck auf Ms Yellowrock ausstellt.«

An mich gewandt sagte sie: »Gibt es sonst noch etwas, Ms Yellowrock?«

»Im Moment nicht«, sagte ich. Mich an meine guten Manieren erinnernd, fügte ich hinzu: »Ähm, danke.«

Dominique neigte sehr hoheitsvoll den Kopf. »Sie dürfen jetzt gehen.«

Das hasste ich an Vamps, vor allem an den alten. Alle anderen waren Untergebene für sie, Diener. Immer ließen sie einen warten und entließen einen dann nonchalant. Das machte mich sauer. Aber schließlich war dies ihr Revier, nicht meins. Deshalb hielt ich den Mund und folgte WWF aus dem Zimmer.

Im Flur musterte er mich erneut, dieses Mal, als würde er nach einem Beweis für mein Können als Vampkillerin suchen. Er bedeutete mir mit einer Geste, ihm zu folgen. »Noch sechs weitere?«, fragte er, als wir zu einem Verbindungsflur kamen.

Da er nicht gefragt hatte, ob ich die sechs getötet hatte, nickte ich.

»Verdammt. George hat gesagt, dass Sie gut sind.«

»George Dumas?«, murmelte ich. WWF nickte, und ich gestattete mir ein Lächeln. George war Leos Blutdiener und verantwortlich für seine Sicherheit und die seiner Leute. Der Mann war echt cool. Und er hatte einen hübschen Hintern, den ich gern irgendwann einmal ohne Jeans gesehen hätte.

»Er sagt, Sie hätten Spitznamen für ihn und Tom, Katies Blutdiener, aber er will uns nicht sagen, wie sie lauten.« Katie war die Vampirin, mit der ich mein Einstellungsgespräch geführt hatte, die Besitzerin von Katies’s Ladies, dem Haus mit dem schlechten Ruf, dessen Grundstück direkt an meines grenzte, und die Vermieterin des Hauses, in dem ich wohnte. Im Moment lag sie in einem waschechten Bela-Lugosi-Sarg, badete in einem Mix aus Blut vieler verschiedener Vamps und genas von einer Nahtoderfahrung soweit man das bei Vampiren sagen konnte. Und ihr Bodyguard, der Troll, redete über mich? Ich wusste nicht, ob mir das gefiel, aber ich wollte den Wachmann des Vamprates nicht verärgern. Daher zuckte ich die Achseln und klärte ihn nicht auf.

»Geben Sie uns allen Spitznamen?« Als ich wieder ganz leicht die Achseln zuckte, sagte er: »Wie ist denn meiner?«

Leicht verlegen musterte ich ihn von Kopf bis Fuß.

»Nein, echt. Wie ist meiner?«

Ich seufzte. »WWF

Nach einer Weile sagte er: »World Wrestling Federation?« Ich nickte, und er lachte anerkennend. Dann strich er sich nachdenklich über die Glatze. »WWF. Das gefällt mir.« Vor einer Tür blieb er stehen und klopfte, bevor er sie öffnete. Dahinter befanden sich ein kleiner Raum, ein noch kleinerer Schreibtisch und ein riesiger Safe, dessen dicke, schwarze Tür offen stand und den Blick auf Geldstapel und Papiere freigab. In einem ledernen Schreibtischsessel saß eine verhutzelte, faltige alte Frau, die ich auf der Stelle und aus wohl naheliegenden Gründen Rosine taufte.

»Ernestine, dies ist Jane Yellowrock«, sagte WWF.

Die Frau starrte meine Stiefel an und log: »Ich bin entzückt.« Ihr Akzent war britisch, vielleicht walisisch, und ich schätzte, dass sie über hundertfünfzig Jahre alt war. Blutdiener waren langlebig, die längere Lebensdauer war einer der Vorteile, wenn man Vamps das eigene Blut trinken und sich, zu wonach auch immer ihnen der Sinn stand, benutzen ließ.

WWF sagte: »Ms Dominique möchte, dass du ihr einen Scheck über zwanzigtausend ausschreibst und eventuell einen weiteren über einhundertzwanzig, zahlbar beim Todesnachweis von sechs jungen Rogues.«

Rosines Brauen hoben sich fast bis zu ihrem Haaransatz und zogen dabei die Falten um ihre Augenlider hoch auf ihre Stirn. »Sechs? Ach!« Sie fixierte mich, und aus einem Grund, den ich mir selbst nicht erklären konnte, fühlte ich mich wie damals als Teenager, als ich in Mr Rawls Büro gerufen wurde, weil ich unartig gewesen war. In Kinderheimen wird schnell und streng bestraft, vor allem Schlägereien, und auch wenn die Strafen keine körperlichen Züchtigungen waren, waren sie doch unangenehm. Und ich geriet früher oft in Schlägereien, was eine Vielzahl von Gründen hatte. Sieben Vamps zu erlegen, wäre sicher nicht ohne einen Kampf abgegangen, deswegen vermutlich jetzt mein Unbehagen. »Sechs«, wiederholte sie und klang milde überrascht. »Recht bemerkenswert.«

Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte, deswegen sagte ich nichts, sondern sah mich in dem Büro um, merkte mir die Daten der Vamppartys, die in Ernestines Kalender eingetragen waren, und alles, was ich im Safe identifizieren konnte, und starrte das elektronische Gehirn eines Sicherheitssystems an, während sie den Scheck ausstellte und dabei mit dem antik aussehenden Füller zahlreiche Schnörkel und Verzierungen machte. Sie blies auf den Scheck, als brauchte die Tinte eine Weile, um zu trocknen, dann schob sie ihn mir über die Schreibtischplatte zu, zusammen mit einer Karte. Darauf stand in der Mitte ihr Name mit den Initialen CPA und darunter eine Telefonnummer. »Bitte schön, meine Liebe. Das nächste Mal rufen Sie bitte vorher an. Dann bereite ich den Scheck vor und hinterlege ihn am Empfang.«

Damit ich Rabauke nicht wieder mit meinen matschigen Stiefeln hier hereinspazierte. Verstanden. »Danke«, sagte ich, nahm den Scheck und faltete ihn. WWF ging rückwärts aus dem Raum, und ich folgte ihm unverzüglich. An der Haustür sammelte ich meine Waffen wieder ein und verabschiedete mich von WWF, indem ich zwei Finger hob.

Draußen auf der Straße, den schwülen Wind an meinen Zähnen spürend, erschauderte ich. Wenn ich lebend aus dem Sitz des Vampirrates herauskam, fühlte ich mich jedes Mal, als hätte ich eine Schlacht geschlagen und überlebt. Nicht gewonnen. Nur überlebt. Und aus einem Grund, den ich nicht benennen konnte, war es dieses Mal schlimmer als das letzte Mal gewesen.