15

Dornenhecke

Mit einer einzigen Bewegung hatte ich das Gewehr und einen Vampkiller zur Hand, mit der Klinge wie für einen Nahkampf nach hinten ausgerichtet, und bewegte mich langsam zur Haustür vor, die Füße mit Bedacht setzend, immer ausbalanciert, wachsam. Mein Herz raste, mein Atem ging tief und schnell. Beasts Krallen bohrten sich in meinen Bauch, kampfbereit. Aber die Haustür war zu. Niemand hatte Mollys Bann durchbrochen.

Durch das ohrenbetäubende Heulen war kaum zu hören, dass die Seitentür knarrte. Dort, wo der Bann zerstört war. Ich wirbelte herum.

Dort stand Leo, die Fangzähne voll ausgefahren, die Pupillen riesig auf blutroter Lederhaut, die Fingernägel wie Klauen. Die Schultern gekrümmt, die Kleider vom Wind zerzaust, das Hemd bis zur Taille aufgeknöpft. Wie die meisten Vamps war er schlank, beinahe mager, seine Brust war leicht behaart, die Rippen waren kräftig und die Muskeln wie Seile. Kein Gramm Fett am Körper. Er starrte auf die Stelle am Boden, wo Molly beinahe gestorben wäre. Seine Nasenflügel blähten sich, als er ihr Blut roch.

Mir fiel ein, dass Bruiser gesagt hatte, er sei an Immanuels Grab gewesen. Vermutlich befand er sich tief in dolore, war erneut am Rande des Wahnsinns. Bruiser hatte mir geraten, Kreuze bereitzuhalten. Ich überlegte kurz, welche meiner vielen Sünden Leo heute strafen wollte. Ich schloss meine Hand fester um die Benelli.

Leo witterte, kurze, schnelle Atemzüge, wie ein Tier. Legte den Kopf schräg, wie eine Schlange, nicht wie ein Säugetier. Ein Kribbeln überlief mich. Meine Finger schlossen sich fester um den Vampkiller. Er schnüffelte wieder, hielt den Atem an und schloss die Augen. Dann stieß er heftig die Luft aus und knurrte. Beast reagierte mit einem Adrenalinstoß in meinen Stoffwechsel und einem leisen Grollen, das über meine Lippen drang.

Leos Blick flog zu mir, zu der Benelli M4 Super 90 in meiner rechten Hand, wanderte meinen Arm hoch und über meinen nackten Körper. Nicht gemächlich wie ein Geliebter, sondern abschätzend wie ein Raubtier. Wie ein Killer, der sein Opfer betrachtet.

Über das Heulen des Alarms hinweg schrie ich: »Ich nehme an, Sie sind gekommen, um zu beenden, was Sie begonnen haben, als Sie kamen, um mein Haus niederzubrennen.«

Als das Heulen des Hexenalarms plötzlich verstummte, blieb ein taubes Loch im Stoff des Universums, und ich zuckte zusammen. Molly hatte die Dauer auf dreißig Sekunden eingestellt. Wenn wir sie bis dahin nicht fixiert oder getötet haben, ist es ohnehin zu spät, hatte sie gesagt. Mein Herz krampfte sich zusammen vor Schmerz. Jemand hatte die Kinder in seiner Gewalt. Jemand hatte sie sich geholt. Ich drehte den Vampkiller in der Hand, das Silber fing das Licht auf.

»Jemand hat die Kinder entführt«, sagte ich zu ihm, warum, wusste ich nicht.

Die Andeutung eines Gefühls flackerte in den Tiefen seiner Augen auf, dann war es fort, verweht wie Blätter im Winterwind. Er blinzelte langsam. Holte kurz und flach Atem. Seine Mundwinkel hoben sich, fast wie gegen seinen Willen. Er schmunzelte.

Bei diesem Laut wurden seine Augen wieder menschlich. Lachen holte einen Vampir immer aus seinem Tötungsrausch. Vampire können nicht gleichzeitig lachen und im Angriffsmodus sein. Es sind zwei unvereinbare Seiten ihrer Natur die eine immer noch menschlich, die andere das Raubtier. Das Rot in seinem Auge wurde wieder weiß, und er richtete sich auf, wodurch er sofort wieder wie ein Mensch wirkte, und holte tief Luft. Ein fast bizarrer Anblick, nachdem seine Pose eben noch so wenig menschlich gewesen war.

»Warum sind Sie hier?«, fragte ich leise in die seltsame Stille hinein. »Weil ich Bethany gebeten habe, Molly zu heilen?«

»Ich ich weiß es nicht «

»Ist es die dolore?«

Etwas huschte über sein Gesicht, schwach und so schnell, als ob es sich kräuselte, als würde ein fragiler Verstand zerrissen wie morsche Seide. Fast ebenso schnell lagen wieder Vernunft und Beherrschung in seinen Augen. Ich hielt die Benelli auf ihn gerichtet, den Vampkiller fest in der Hand. Er blinzelte langsam. Schwarze Augen musterten mich von oben bis unten, dieses Mal kühl und prüfend. Er strich sich eine Strähne seines seidigen schwarzen Haares aus dem Gesicht, dessen ursprünglich olivenfarbener Teint in Jahrhunderten ohne Sonnenlicht verblasst war, und als er sprach, war sein Ton kühl-ironisch. »Mit Flinten kann man mich nicht töten.«

»Doch. Wenn die Munition aus handgefertigter silberner Pfeilmunition besteht.

Leo legte den Kopf schief, und sein Lächeln wurde intensiver, während er mich nun betrachtete, als sei er eine ganz andere Art von Räuber. Und ich wurde mir lebhaft bewusst, dass ich nicht angemessen gekleidet war. Gar nicht bekleidet, um genau zu sein. Ich drehte das Messer mit der Spitze nach vorn. »Und das Messer ist ein versilberter Vampkiller. Weder das eine noch das andere wird Sie auf der Stelle töten, aber möglicherweise werden Sie am nächsten Morgen Mühe haben aufzuwachen.«

Leos Lächeln war ein wirklich überzeugendes Lächeln charmant, entwaffnend, mit beweglichen, vollen Lippen. Unsere Blicke trafen sich. Und seine harte, starke Vampirmacht traf mich mit voller Kraft. Auf einmal verspürte ich den Drang, meine Waffen zu senken. Widerstand. Hielt mich an Beasts Selbsterhaltungstrieb fest.

»Ich bin der Meister dieser Stadt. So leicht kann Silber mich nicht töten. Hatten Sie einen Rousseau zu Gast?«

Ich brauchte einen Moment, bis ich begriff, dass er das Thema gewechselt hatte. »Nein.«

»Nach Hexenblut stinkende Rousseau-Vasallen haben in Begleitung zweier weiblicher Hexen Ihr Haus überfallen, Rousseaus, die ich nicht kenne. Einer ist ein mächtiger Meister. Interessant. Eigentlich müsste ich alle Rousseaus kennen. Ich war schon bei ihnen, auf ihrem Clansitz. Diese hier leben nicht dort.«

Mein Herz raste. Der Rousseau-Clan. Der erst kürzlich mit dem Clan der Mearkanis und dem der St. Martins ein Bündnis eingegangen war. Gegen Leo. Ich kannte Bettina Rousseau, die Blutmeisterin des Clans. Ihre Witterung hätte ich erkennen müssen.

Er schüttelte sein schulterlanges Haar zurück. »Bethany ist labil, und solch ein Austausch von Energien erschöpft sie. Sie werden akzeptieren, dass niemand außer mir sie bittet, ihre Heilkräfte einzusetzen.« Es klang wie ein Befehl. Meine Brauen wanderten in die Höhe. Unter vollständiger Missachtung der Flinte und des Messers und meiner Wenigkeit drehte Leo sich um und ging durch die dunkle Küche. Schloss die Tür nach draußen. Ich konnte seine Augen in der Dunkelheit funkeln sehen. »Wenn Sie nicht wollen, dass ich mit Ihnen das Bett teile, ziehen Sie sich etwas an. Wir haben viel zu bereden. Ich mache Tee.« Und mit diesen Worten wandte Leo, der Meister der Stadt New Orleans, mir den Rücken zu und ging zum Herd.

Ich schloss die Tür zu meinem Schlafzimmer und legte die Waffen auf das Bett. Ich kam mir vor wie eine Idiotin und wusste nicht, warum. Der neue Leo und die Wirkung von dolore auf ihn machten mir Sorgen. Ich schlüpfte in Unterwäsche, Jeans und ein langärmliges T-Shirt und dicke Socken, band mein nasses Haar zusammen und drehte es zu einem Knoten. Dabei fiel mir das laute Klicken wieder ein, das ich gehört hatte, als ich mich in Beast gewandelt hatte. Meine Perlen. Die waren jetzt auf der Erde und den zerbrochenen Steinen im Garten verteilt. Unwesentlich. Der Verstand beschäftigt sich mit Unwichtigem, um sich nicht dem Entsetzlichen stellen zu müssen.

Da mir Leos augenblickliche geistige Verfassung nicht ganz geheuer war, schob ich vier Pflöcke in mein Haar, als wären sie gewöhnliche Haarnadeln, lud die Derringer mit Silberkugeln und steckte sie unter meinen Hosenbund. Gegen die Schnelligkeit und Kraft eines Meistervampirs würde ich damit nicht viel ausrichten können, aber so fühlte ich mich einfach besser.

Ich hatte keine Ahnung, was ich als Nächstes tun sollte, um die Kinder zu finden. Tatsächlich Tee trinken mit einem durchgeknallten Vamp? Höflich plaudern, während die Kinder in Gefahr schwebten? Doch Leo hatte mir bereits wichtige Informationen gegeben: dass es Rousseaus oder Vamps aus dieser Blutlinie gewesen waren, die die Kinder entführt hatten, und dass sie nie auf dem Clansitz der Rousseaus gelebt hatten. Und dass es mehr als einer waren, weshalb es mir auch so schwergefallen war, ihre miteinander verflochtenen, verwobenen Duft-Signaturen zu analysieren. Sie waren alle miteinander verwandt. Ja, das war die Erklärung.

Bettina war Clanmeisterin der Rousseaus. Auf der Party hatten ihre Hände nach dem Killer gerochen. Sie wusste etwas. Am liebsten hätte ich sofort die Rousseau-Festung gestürmt, die Zähne gebleckt, die Tore eingerissen und was ich wissen wollte, aus ihnen herausgeprügelt. Aber bei Kidnapping musste man vorsichtig vorgehen. Ein falscher Schritt und Ich atmete tief ein und aus, um mich zu sammeln. Ohne großen Erfolg. Beast grollte empört in meinem Geist. Bog ihre Krallen und bohrte sie in mich. Der Schmerz machte meinen Kopf klar.

Als ich die Küche wieder betrat, begann der Kessel gerade leise zu pfeifen, und Leo maß die Teeblätter ab, das Hemd zugeknöpft und ordentlich in der schwarzen Hose, die langen Ärmel säuberlich bis zum Ellbogen aufgerollt. Er sah bodenständig und harmlos aus, oder jedenfalls so harmlos, wie ein schöner, nicht mehr menschlicher, klinisch toter Mann in Hemdsärmeln nur aussehen kann. Atemberaubend schön. Wenn ich nicht so viel Angst um Angelina, Evan und Bliss gehabt hätte, hätte mich mein Scherzchen vielleicht sogar zum Lächeln gebracht.

Er war barfuß, genau wie ich. Der Anblick von Leos Füßen, die lang und schlank waren, mit schwarzen Härchen auf den oberen Knöcheln der großen Zehen, machte mich nervös. Er begann dampfendes Wasser über den Tee in der Kanne zu gießen, sah auf, und sein Blick wanderte zu mir in der Tür und wieder zurück. »Ich entschuldige mich, dass ich so aufbrausend war.«

So nennt man das also unter Vamps? Aufbrausend? Doch ich sagte es nicht laut und hielt ein »Okaaay« für angebrachter.

»Katie und ich haben genau aus dieser Kanne während des Krieges Tee getrunken.« Mit einem flüchtigen Lächeln sagte er: »Im Ersten Weltkrieg.« Er stellte die Kanne auf einem Metalluntersetzer ab und legte den Deckel über die Teeblätter. Ich schloss die kalten Finger um die Derringer.

Es juckte mir in den Fingern, mit der Suche nach den Kindern zu beginnen, aber wo? Also biss ich die Zähne zusammen und holte die Teetassen. Ich entschied mich für zwei aquamarinfarbene Tassen. Ich stellte Zucker auf den Küchentresen und holte Sahne und Milch aus dem Kühlschrank. »Ja?«

Leo stülpte einen Teewärmer über die Kanne, damit der Tee ziehen konnte. Er bereitete Tee zu. Der Normalität der Situation so kurz nach seiner Vampshow am Fuß der Treppe war mir unheimlich. War das nun ein Waffenstillstand? Oder hatte er ganz einfach vergessen, weshalb er hergekommen war? Bei seinem letzten Besuch hatte er keinen Zweifel an seiner Absicht gelassen, mein Haus abzufackeln, vorzugsweise mit mir drin. Es musste an der dolore liegen. Konnte seine Stimmung jederzeit wieder kippen?

»Eine dritte Tasse wäre nett.« Sein Ton war milde, ohne die Macht, die er in seine Stimme legen konnte. »George ist draußen. Ich glaube, er würde gerne hereinkommen.«

Ohne einen Kommentar holte ich eine weitere Tasse aus dem Schrank und ging zur Tür. Als ich sie öffnete, stand Bruiser dort, immer noch in demselben Hemd mit offenem Kragen und Jeans. Sein Blick richtete sich auf meinen Hals, als suchte er nach Bissspuren. Ich glaubte, Erleichterung in seinen Augen zu sehen, bevor er sie wegblinzelte. »Hier ist der Bann noch aktiv«, sagte ich. »Durch die Seitentür kannst du das Haus betreten, ohne dass der Alarm wieder losgeht.«

Er nickte und wandte sich zur Gartentür um. Keine überflüssigen Worte. Ich ging zurück in die Küche und holte die Keksdose heraus. Meine Hände zitterten, als ich sie öffnete. Angie hatte heute zwei davon nach dem Mittagessen gegessen. Und jetzt war sie in der Gewalt eines Vampirhexers, und ich hatte das ungute Gefühl, dass der ihr keine Kekse gab. Ich kämpfte mit den Tränen, als mich plötzlich und ungewohnt Gefühle übermannten und ich drohte, in einen Strudel aus Angst, Sorge und Trauer hineingerissen zu werden. Ich holte tief Luft, rang um Beherrschung.

Bruiser kam gerade herein, als ich Kekse auf einen Teller legte und Leo Tee eingoss. Eine Hand in die Hüfte gestützt, betrachtete er die häusliche Szene, die kräftigen Brauen sorgenvoll zusammengezogen. Ich nahm eine Tasse von Leo entgegen, Bruiser nach kurzem Zögern ebenfalls. Er hielt sie so, als befände sich Sprengstoff darin. Leo setzte sich und bedeutete uns, ebenfalls Platz zu nehmen, ganz so, als wäre er der Herr in meinem Haus.

Nicht mit mir. Selbst auf die Gefahr hin, dass er dann ausflippte. Ich lehnte mich gegen den Küchentresen, einen Fuß nach hinten, um mich, falls nötig, zum Sprung abdrücken zu können. Aber George setzte sich und nahm einen Schluck von seinem Tee, obwohl er, wie ich wusste, Kaffee eigentlich lieber mochte. Er gab einen Löffel Zucker hinein und rührte um. Ich verstand den Wink und nahm mir Zucker und Milch. Als das geschehen war, sagte Leo: »Also, George?«

Knapp und bündig, wie ein Soldat, der Bericht erstattet, sagte George: »Der Exekutivrat der Vampire hat einem Treffen unter diplomatischem Schutz mit einer Delegation der Hexen zugestimmt.« Seine Worte trafen mich wie ein Hammerschlag. Zwischen Vamps und Hexen gab es keine offiziellen Beziehungen, das war undenkbar. Das letzte Gespräch, von dem man wusste, hatte vor mehr als hundert Jahren stattgefunden. George schob mir einen Zettel zu. »Die Kontaktperson meines Meisters bei den Hexen hat mir bestätigt, dass sie bereit sind, vor dem Rat zu sprechen.«

Meine Brauen hoben sich unmissverständlich. Ich beugte mich vor, nahm das Stück Papier und steckte es in die Tasche. Leo hatte das arrangiert? Dazu brauchte es geistige Klarheit. Ich begann mich zu entspannen.

»Mein Meister hat außerdem gehört, dass bald ein weiteres Mitglied des Everhart-Coven in New Orleans eintreffen wird, Evangelina, genauso wie Evan Trueblood, ein nicht registrierter Hexer. Mit ihrer Ankunft gibt es einen neuen, vollständigen Coven in der Stadt. Mr Pellissier erwartet von ihnen, dass sie sich wie alle anderen Touristen auch verhalten und nach Hause zurückkehren, wenn ihr Besuch beendet ist.«

Mein Herz geriet ins Stottern. Niemand außer Molly und ihre Schwestern wusste von Evan. Mist. Ich nahm einen Schluck Tee, während ich fieberhaft nachdachte. Evangelina Everhart hatte ein paar Fäden gezogen und ihre Beziehungen spielen lassen, um das Treffen möglich zu machen. Ein vollständiger Coven, das waren fünf: Evan, Molly, Evangelina und ihre Kinder. Mr Pellissier erwartet Mein erster Impuls war, Leo zu sagen, er solle sich seine Erwartungen dorthin schieben, wo die Sonne nicht scheint, aber für einen Vamp konnte das schließlich überall sein. Seine Worte waren ohne Zweifel als Befehl zu verstehen und hatten vermutlich mit den geplanten Gesprächen zwischen Vamps und Hexen zu tun. Besser, ich mischte mich da nicht ein. »Na gut. Ich werde diese Bitte weitergeben.« Ein kleiner Seitenhieb wegen seines Befehlstons musste dann doch sein.

Leo beobachtete uns. In seinen dunklen Augen lag kein Ausdruck oder zumindest kein menschlicher. Er stellte die Tasse ab, das Steingut klackte leise auf dem Holz. Ich spürte, wie George sich anspannte, roch, wie sich plötzlich etwas chemisch auf seiner Haut veränderte. Es war nicht Angst, aber etwas, das dem nahekam. Ich sammelte mich, um mich gegen das, was immer jetzt kommen würde, zu wappnen. »Sie haben sich nach dem devoveo erkundigt. Warum?«

Meine Nervosität wuchs. Ich stellte die Tasse ab, um die Hände frei zu haben. Irgendetwas an Leo stimmte mich misstrauisch. »Ich hatte gehofft, dass das Wort mir weiterhelfen könnte, doch es ist leider nicht so. Der Schöpfer oder die Schöpferin der jungen Rogues vergräbt seine Nachkommen oder ihre Nachkommen.« Ich zuckte die Achseln. »Was auch immer an geheimen Grabstätten, in der Mitte eines Pentagramms und umgeben von Kreuzen. Und die Gräber stinken nach Hexenmagie.« Leo zeigte keine Reaktion, seine Miene war undurchdringlich.

»Laut meinen Informationen entführt er oder sie seit Jahrzehnten immer wieder Hexenkinder und tötet sie, an den Gräbern glaube ich, als Blutopfer. Mein Gefühl sagt mir, dass es mit dem Fluch der Vamps zusammenhängt, aber das Einzige, das beides verbindet, zumindest ein bisschen, ist eine Notiz, auf die ich gestoßen bin, die besagt, dass Hexenblut zu trinken vorübergehend das devoveo stoppt.

Aber eben nur vorübergehend. Wenn allerdings jemand versuchen sollte, mit einem Zauber eine dauerhafte Heilung « Ich brach ab. Das ergab Sinn. »Sie versuchen, das devoveo den Fluch komplett zu umgehen. Ich habe gehört, dass die Einzigen, die das bisher geschafft haben, die Söhne der Dunkelheit sind. Wer sind sie? Wäre es möglich, dass sie in New Orleans sind?«

Leo erstarrte eine unheimliche Wandlung, eben noch beinahe menschlich, jetzt reglos wie der Tod, heller Marmor, aus dem eine menschliche Gestalt gemeißelt war. Bruiser stellte seine Tasse ab und suchte meinen Blick. Er blinzelte langsam, sein Gesicht wurde weiß, auf den Wangen zeichneten sich grellfarbene Flecken ab. In seinen Augen stand eine Warnung, als er jetzt beinahe unmerklich den Kopf schüttelte. »Boss?«, fragte er, mit einer Stimme, die zu sanft, zu vorsichtig war.

Was hatte ich denn Falsches gesagt? Das devoveo konnte doch kein großes Geheimnis sein und das Trinken von Hexenblut auch nicht. Mist! Was hatte ich sonst noch gesagt?

Ich merkte plötzlich, dass es mit einem Schlag still um uns herum geworden war. Noch nicht einmal die Luft bewegte sich. »Sie wagen es, von den Söhnen der Dunkelheit zu sprechen?«, flüsterte er kaum hörbar. Dann verschwand Leo. Sein Bild verschwamm. Und dann erschien er wieder, wie ein sichtbares Echo der Bewegung, in einem Schwall nach Vamp riechender Luft. Unmittelbar vor mir. Eiskalte tote Hände umklammerten mich wie Eisenstangen, Krallen schnitten in meine Haut. Mir blieb nicht einmal Zeit, nach Luft zu schnappen. Seine Fangzähne schlugen sich in meinen Hals. Schmerz durchschoss mich, rasender, unerträglicher Schmerz. Ich hörte Bruiser schreien: »Nein! Leo, nein!«

Beast brüllte, versuchte sich zu wandeln, wandeln, wandeln jetzt sofort! Leo schüttelte mich, wie ein Hund seine Beute, zerfetzte meinen Hals. Die Zähne so tief, dass ich spürte, wie Sehnen rissen. Mein Blut spritzte durch den Raum. Adrenalin pumpte durch mich hindurch, zu spät. Ich hörte, wie ganz in der Nähe etwas Schweres zu Boden fiel, spürte das Beben, das durch das Haus ging. Beast brüllte wieder. Mit ihrer Kraft brachte ich irgendwie die Hände hoch. Zog zwei Haarnadeln mit fürchterlich trägen Bewegungen. Und versenkte sie in Leos Körper. Doch die Einstichwinkel waren völlig falsch. Weit weg von seinem Herz. Er schüttelte mich so heftig, dass meine Zähne aufeinanderschlugen. Ich schmeckte Blut, salzig und süß. Die Welt neigte sich in einem eigentümlichen Winkel.

Ich fiel. Mein Blut begann erneut zu sprudeln. Ich sackte zusammen. Mein Blut ergoss sich über einen auf dem Boden liegenden Körper. Bespritzte zwei Beine vor mir. Meine Halsschlagadern waren durchtrennt. Wieder. Mein Herz pumpte sich leer.

Beast tat einen heftigen Atemzug. Blut drang in meine Lunge. Sie brüllte, wollte sich wandeln. Brachte meine Beine unter meinen Körper. Blut verspritzend rannten wir beide nach hinten ins Haus. An dem bewusstlosen George vorbei. Brachen durch das Fenster in einem Regen aus altem Bleiglas und modernem Sturmfenster. Stolperten über den Rasen. Beast hatte die Kontrolle übernommen.

Dunkelheit sammelte sich an den Rändern meines Gesichtsfeldes. Die Welt verengte sich zu einem winzigen Fleck aus Farbe und Leben. Mein Puls wurde schwächer. Kälte umklammerte mich.

Ich taumelte auf den Steingarten zu. Hinter mir wuchs etwas Rotes und Brennendes in die Höhe.

Ich dachte an die Schlange, die in den Zellen von allem Lebendigem liegt. Ich dachte an Beast. Aber ich war zu stark verletzt. In mir war nur noch diese neue Leere. Ich tat einen mühsamen Atemzug, sog Blut vermischt mit der kostbaren Luft ein. Würgte. Ertrank, während ich verblutete. Ich versuchte zu husten. Stürzte. Landete. Die Steine fingen mich auf, ein kaltes, hartes Bett.

Ich erinnerte mich nicht mehr, wie es ging, sich zu sich zu wandeln. Meine Hand berührte etwas Hohles.

Die Schachtel, dachte Beast. Die Schachtel. Meine Finger tasteten sich zu ihrem Inhalt vor. Berührten Knochen. Um mich herum wurde es dunkel, ich hörte nur noch Beasts Stimme. Masse zu Masse, Stein zu Stein Masse zu Masse, Stein zu Stein. Beast rief mich, mit alten Worten. Mächtigen Worten. Worte, die sie kannte und verstand. Worte, die sie liebte. Masse zu Masse, Stein zu Stein Masse zu Masse, Stein zu Stein. Beast wird groß. Beast wird groß!

Graues Licht mit tanzenden schwarzen Flecken hüllte mich ein. Der Stein unter mir riss und spuckte scharfe Splitter in die Luft. Das rote Ding in meinem Rücken wurde größer, sprühte Funken. Ich sank tief in die Schlange des Kiefers, den ich umklammert hielt. Erkannte das Muster. X und Y. So verschieden. So fremd. Falsch, falsch, falsch. Das dürfen wir nicht tun.

Und ich wandelte mich. Wurde Beast. Knochen knackten, Muskeln ächzten. Nerven rissen, Flammen und Eis brannten in meinen Gliedern. Mein Rücken bog sich durch. Die Wunde an meinem Hals schloss sich. Fell wuchs, sträubte sich. Kleider rissen, glitten ab, verhedderten sich, wurden zu Fesseln. Krallen brachen durch meine Fingerspitzen. Ich warf den Kopf zurück und brüllte.

Müde, so müde. Schnaufe. Hechle. Heiß. Müde. Ich rolle mich von dem zerborstenen Stein, ziehe die Hinterbeine unter mich. Hocke auf Stein, umgeben von rotem Licht. Gefahr. Rotes Licht hüllt mich ein. Beast ist groß. Groß wie Säbelzahnkatze. In meinen Beast-Augen sind Farben oft grau, doch dieses Mal hat sich etwas von ihr mit mir gewandelt.

Die Dornenhecke wurde aktiviert, denkt Jane.

Ich betrachte Mollys Schutzmagie. Sehe die mit Jane-Blut getränkte Erde und den Kreis aus rotem Hexenlicht. In der Dornenhecke funkelt das Nichts, Flecken so schwarz wie eine mondlose Nacht. Sie schwirren umher wie Motten, werden nie hell. Wie die Magie an dem grauen Ort, wo ich mich wandle. Ich grolle. Viel Macht hier.

Hexenmacht ist gewöhnlich grau und blau. Warum ist Mollys neue Magie rot?

Lege Tatze auf Jane wie auf Welpen. Still. Räuber ist nah. Auf der anderen Seite heult Leo wie ein wütender Wolf, Fangzähne ausgefahren. Rogue. Schreit. Kann nicht durch die Dornenhecke. Mein Bauch krampft sich vor Hunger zusammen. Zu oft gewandelt. Nicht genug Nahrung. Schlimmer als in Hungerzeiten. Aber auch besser. Jetzt bin ich Große Katze. Sehr groß.

Was hast du getan?, flüstert Jane. Beute-Angst in ihren Gedanken.

Ich öffne das Maul und entblöße lange Fangzähne. Säbelzähne. Gut zum Töten. Große Zähne. Ich brülle. Löwengebrüll, wie ein afrikanischer Löwe. Lauter als Beast-Schrei. Markiere Revier. Markiere mich selbst. Ich bin Beast. Ich/wir, zusammen sind wir Beast.

Leo hört auf mit dem Brüllen, mit dem er mich herausfordert, seine Brust hebt und senkt sich. Großer-Räuber-Brüllen. Ich kann ihn sehen. Er kann Beast nicht sehen. Ich schnaube. Brülle wieder.

Bethany kommt um die Hausseite herum. Sie trägt immer noch Rock und Turban. Aber jetzt hält sie einen Speer in der Hand, daran hängen Knochen und Steinchen an Schnur. Raphia, denkt Jane. Wurde von einem Schamanen verwendet. Alberne Jane-Gedanken. Jetzt Namen zu denken, Worte sind ihre Stärke. Dumme Worte. Unwichtige Worte. Jane ist fast gestorben. Worte haben Jane nicht gerettet. Beast hat Jane gerettet. Ich lege Tatze auf ihre Brust und drücke sie herunter. Beast ist Alpha.

Bethany berührt Leo. Er wird still. Beine wackeln. Setzt sich hart auf den Boden. Bethany zieht Haarnadeln aus seiner Haut. Leo zischt. Stöhnt. Bethany lässt Nadeln fallen. Hatten beide keine Silberspitzen. Leo sagte, Silber würde ihn nicht töten. Lüge? Menschen lügen ständig. Große Katzen können nicht lügen, Lüge riecht man immer. Leo hat Glück gehabt. Ich weiß, was Glück ist. Manchmal frisst Beast. Manchmal entkommt Beute. Beides Glück, gut für den einen, schlecht für den anderen.

Bethany guckt zu der Dornenhecke. »Ich habe das Brüllen gehört. Es hörte sich an wie das der Löwen in Afrika, aber « Sie schüttelt den Kopf. »Aber anders.« Sie streckt die Hand aus, um Dornenhecke anzufassen. Und zuckt zurück.

Lache schnaubend. Hechle. Erhebe mich und tappe zwei Schritte zu Brunnen, trete zerrissene Menschenkleidung beiseite. Aus Brunnen fließt kein Wasser. Weil die Dornenhecke schimmert. Aber Wasser in Schale ist kühl. Trinke. Kein Durst mehr, ich setze mich. Beobachte. Räuberaugen auf Schamanen gerichtet. Sie öffnet eine kleine Tasche und holt zwei Päckchen heraus. Streut Puder auf Blätter und legt ein paar auf Leos Wunden. Sie schneidet sich in ihre Haut. Gibt Leo Blut zu fressen. Riecht süß. Bauch knurrt. Tut weh.

Leo hechelt wie Beast, braucht Luft. Als er wieder atmen kann, steht er auf. Seine Augen noch Vampaugen. »Sie ist ein Werwesen. Ich habe die Macht gespürt, als sie sich gewandelt hat. Ich kenne diese Energien, genau dieselben werden beim Wandel eines Lupus frei.« Tränen laufen über sein Gesicht, blutige Tränen, er hat Schmerzen.

Leo wischt sich über das Gesicht, Blut auf seiner Hand. Aber er steht gerade. Seine Augen sehen menschlicher aus. »Aber ihrem Brüllen nach zu urteilen ist sie dasselbe Wertier wie das, das meinen Sohn getötet und seinen Platz eingenommen hat.«

Dolore, murmelt Jane mir zu. Trauer.

»Kein Werwesen.« Bethany wittert mit kurzen Atemzügen. »Schmecke ihren Geruch. Kein Werwesen, sie. Ihr Geruch ist anders. Anders als die Verfluchten der Artemis, unsere Feinde.« Bethany geht um Dornenhecke herum. Wie Katze setzt sie die Füße, ausbalanciert, ihr Rock schwingt. Bei jedem Schritt schüttelt sie Speer, Schamanentanz, kleine Knochen und Steine und Muscheln rasseln und klappern wie Schwanz von Schlangen-Feind, als Bethany Dornenhecke umrundet. »Ich weiß nicht, was sie ist, aber sie ist nicht unsere Gegnerin.«

»Sie hat nach den Söhnen gefragt und nach dem Fluch. Diese Außenseiterin weiß von dem Fluch.«

»Ich habe in den Runen gelesen.« Sie steht neben Leo, Arme ausgebreitet, Füße auseinander, Zehen zeigen nach außen. Speer hält sie schräg, Ende auf dem Boden. »Die Runen warnen uns vor einer Veränderung, doch erneut in der Welt der Menschen. Vielleicht ist dies die vorhergesagte Veränderung.«

»Du würdest sie am Leben lassen?« Leos Gesicht hat einen menschlichen Ausdruck. Schock.

Bruiser kommt aus dem Haus. Ich grolle, obwohl ich hinter der Hecke sicher bin. Bruisers Füße machen Geräusche, die seinen Alpha warnen. »Was ist das für ein rotes Licht? Was ist dahinter?«

Menschen und Vampire können nicht hinter Licht gucken. Gut.

Bethany wittert. »Jane ist hier. Und möglicherweise ist ein Löwe bei ihr. Er hat gebrüllt.« Sie fasst Speerspitze an, trauriges Gesicht. »Wie in meiner Heimat.«

»Oder sie ist Werlöwin«, sagt Leo, Stimme stur, wie Jane.

»Nein.« Bethanys Ton ist entschieden. »Kein Werwesen.«

Bruiser leckt Blut von seinen Lippen. Von Schläfe zu Mund hat er lilafarbenen Fleck, wie Blume, groß wie Tatze einer Großkatze. Erinnere mich an Bruiser auf dem Boden. Hat Leo ihn geschlagen?

Ja, flüstert Jane. Ja

»Boss, möglicherweise wurde die Polizei alarmiert. Das rote Licht zieht die Aufmerksamkeit der Nachbarn auf sich. Wir müssen gehen.«

Bethany dreht sich um, geht weg. Bruiser nimmt ihren Arm. Leo starrt schimmernde Dornenhecke an. »Ich weiß nicht, was du bist«, flüstert er. »Aber du bewegst dich auf gefährlichem Boden. Frage nicht mehr nach dem Fluch oder den Söhnen der Dunkelheit oder dem devoveo. Der Fluch kann nicht von uns genommen werden. Jeder Versuch hat mit dem Tod unserer Jungen geendet. Du warst nie gezwungen, dein eigenes Kind zu töten, wenn es auf ewig dem Wahnsinn verfallen ist. Du kennst nicht die Trauer, die es mit sich bringt. Hör auf mit deinen Nachforschungen. Erfülle deinen Vertrag. Dann geh. Hast du mich verstanden?«

Beast hustet leise. Verstanden. Aber werde nicht gehorchen.

Als habe er Beasts Gedanken gehört, stößt Leo Luft aus, die er nicht braucht. Folgt Blutdiener Bruiser und Frau, die sich vielleicht mit beiden paart. Fort. Auf Straße springt Auto an. Fährt weg. Gerüche verfliegen.

Tappe zum Rand des Banns. Lege Tatze darauf. Magie wirbelt auf, schmeckt nach Nüssen und Pflanzen, Dingen, die Jane essen würde, aber nicht Beast. Roter Bann regnet als Funken und Schwärze herunter. Geruch von versengten Pflanzen. Starker Bann. Guter Schutz. Zu klein, passt nicht über ganzen Bau. Hätte über ganzem Bau sein sollen: Jane-Haus, Garten, Wandelsteine. Dann wären die Welpen sicher gewesen. Werde wütend, als ich an Welpen und Bliss denke. Muss sie finden. Den Welpendieb töten. Fleisch zerfetzen und Blut vergießen. Mutterpflicht.

Hunger bohrt sich in Bauch wie Räuberkrallen. Gehe zum Haus und springe durch zerbrochenes Hinterfenster. Dann zur Küche, finde Fleisch, das Molly und Jane gegart haben. Reiße Bündel auf. Plastik mit Fleisch drin. Trocken. Hart und zäh. Aber ich fresse alles. Hunger ist ein wütender Räuber.

Gehe zurück zu den Felsen. Jagd nach Welpen ist Janes Jagd. Ich werde Kraft geben. Das Ich/wir-Beast wird helfen. Aber Jane wird pirschen. Ich/wir liegen auf Felsen. Denke an Jane. Masse zu Masse, Stein zu Stein Masse zu Masse, Stein zu Stein Schmerz und graues funkelndes Licht. Schmerz, Schmerz, Schmerz. Felsen unter mir ächzt und bricht. Masse zu Masse, Stein zu Stein Masse zu Masse, Stein zu Stein.

Ich lag ausgestreckt auf den Steinen und keuchte. Es war, als würde ich bei lebendigem Leib gehäutet. Sich so oft zu wandeln und so kurz hintereinander, hatte schreckliche Schmerzen zur Folge. Als ich schließlich dazu imstande war, stemmte ich mich hoch und auf die Füße, betastete Gesicht und Hals und fuhr mit den Händen über meinen Körper. An meinem Hals waren frische Narben, die Haut zart und dünn, an den Rändern wulstig. Ich würde mich noch oft wandeln müssen, bis die Haut wieder ganz glatt war, aber wenigstens schien ich wieder meine normale Größe zu haben.

Immer wenn ich meine Masse ändere, habe ich Angst, dass ich nachher mehr oder weniger habe. Ich kannte mich nicht gut genug mit Physik aus, um zu verstehen, wie ich meine Masse änderte oder ob es überhaupt möglich war, an Masse zu verlieren, deshalb vermied ich es wenn möglich und wählte vorzugsweise Tiere, die so groß waren wie ich. Für Beast dagegen konnte es gar nicht groß genug sein, und das war nicht möglich, ohne Masse von den Steinen aufzunehmen. Stein hat nämlich keine genetische Struktur und war damit neutrales Material, das sich zur Aufnahme von Masse eignete. Aber jeder Austausch von Masse ließ die Steine reißen, zerbrechen und oft sogar explodieren.

Steinstaub und scharfe Splitter knirschten unter meinen Füßen, als ich mich aufrichtete. Von den Granitblöcken, die Katie, die Chefin von Katie’s Ladies für mich herangekarrt hatte, war nicht mehr viel übrig. Ich blickte hinunter und sah Tatzenabdrücke im Staub. Riesige Abdrücke. Groß wie Suppenteller, abgedroschen, aber wahr. »Du bist verrückt«, flüsterte ich meiner anderen Hälfte zu. »Völlig wahnsinnig.«

Und schlimmer noch: Beast hatte das Unmögliche geschafft. Sie hatte eine männliche Gestalt angenommen. Ich erinnerte mich, wie ich die X- und Y-Chromosomen in der genetischen Struktur gesehen hatte. Das hatte ich noch nie getan. Und wusste auch nicht wie, selbst jetzt nicht, nachdem es passiert war. Tief in meinem Inneren hörte ich Beast amüsiert husten.

Ein Geruch nach »heiß« und »verbrannt« lag in der Luft. Dort, wo eben noch die Dornenhecke gewesen war, war das Gras versengt. Ich wusste, was ich finden würde, wenn ich an dieser Stelle grübe: Verbrannte Erde, bis zu zwei Meter tief. Mein Blut hatte den Bann aktiviert, als es vom Haus bis zu den Steinen ins Gras und in die Erde gesickert war. Ich konnte riechen, wie es trocknete, sich bereits zersetzte. Sehr viel Blut. Ich fasste mir an den Hals. Die Haut dort war dünn und empfindlich, die Wunde noch nicht ganz verheilt. Die Verletzung, die Leo mir in seinem Wahnsinn, in dolore, zugefügt hatte, hatte mich töten sollen.

Dabei hatte ich nichts gesagt, was den Angriff erklärt hätte, nicht einmal die Tatsache, dass ich die Vamps verdächtigte, Hexenkinder zu töten. Es war die dolore, die ihn hatte durchdrehen lassen.

Er trauert um seine Kinder, dachte Beast. Sein Sohn wurde ihm genommen und durch einen Leberfresser ersetzt. Seine Tochter, die er vor langer Zeit getötet hat.

»Oh«, sagte ich leise. »Oh « Ich hatte nicht verstanden, was er mir hatte sagen wollen. »Okay. Was ist es dann? Dolore hoch drei, und ich bin der Sündenbock, der gerade praktischerweise zur Stelle war?« Beast antwortete nicht. Ich schluckte, und die Bewegung der Muskeln und des Gewebes schmerzte. Ich hatte Mühe gehabt, mich zu wandeln. Das hätte nicht sein dürfen. Meine Hand wanderte tiefer; meine Halskette war fort. Das Goldnugget, das mich mit den Steinen hier im Garten verband und mit der Stelle in den Bergen, an der ich mich das erste Mal an den Wandel erinnert hatte, ein weißer Quarzfelsen, durch den eine Goldader ging, dasselbe Gold, aus dem meine Halskette war. Es machte den Wandel einfacher. Ohne das Gold brauchte ich viel Zeit für eine intensive Meditation, die mir in den Prozess hineinhalf. Oder ich musste ihn erzwingen, und das war sehr schmerzhaft.

Ich sammelte die Perlen auf, die sich beim Wandel zuvor aus meinem Haar gelöst hatten, hielt sie in der hohlen Hand und inspizierte meine Kleider. Das T-Shirt war wohl nicht mehr zu retten, aber die Jeans hatten wundersamerweise den Wandel und die Gewichtszunahme überstanden und waren von mir abgeglitten, als ich die andere Gestalt angenommen hatte. Ich warf sie mir über die Schulter. Die Unterwäsche war hinüber. Die unversehrten flauschigen Socken klemmte ich mir unter den Arm. Kein Goldnugget.

Bestimmt war die Kette gerissen und lag nun in der Küche. Bestimmt hatte Leo sie nicht mitgenommen. Ein Schauder überlief mich, der jedoch nichts mit der warmen Luft zu tun hatte. Mein Magen knurrte vor Hunger. Sich zu wandeln, verbraucht viele Kalorien. Ich brauchte dringend etwas zu essen.

Dieses Mal betrat ich das Haus durch die Tür. Ich ließ meine Kleider fallen und knipste das Licht an, um die Verwüstung zu begutachten. Ich hatte geblutet wie ein angestochenes Schwein. Boden, Möbel, Wände alles war blutverschmiert. Überall war Blut auf dem Boden, an den Möbeln, an den Wänden. Verschmierte Kampfspuren, Spritzer aus der Halsschlagader. Das alles sauber zu machen, würde ganz schön viel Arbeit sein. Und das Fenster war ruiniert; das kostbare Glas war komplett zersplittert. So weit zu meinem Vorsatz, das Haus wieder in einwandfreiem Zustand zu übergeben.

Die Halskette entdeckte ich unter dem Küchentisch. Die doppelte Kette war so um ein Bein geschlungen, als wäre sie geworfen worden und habe sich durch die Wucht des Wurfes immer wieder darum geschlagen. Ich wickelte sie ab und begutachtete den Verschluss, der aber nur leicht verbogen war. Ich richtete ihn, wusch die Kette im Spülbecken und legte sie wieder um, noch bevor ich etwas anderes tat.

Nachdem ich mir Haferbrei gekocht und einen starken Tee gebraut hatte, machte ich mich ans Putzen. Das Blut war klebrig, stellenweise schon getrocknet, aber mit heißem Wasser und einer Bürste ging es ganz gut vom Boden ab. Das schmutzige, blutige Wasser spülte ich die Toilette hinunter, zusammen mit all dem anderen Blut, das heute hier vergossen worden war. Den Boden sprühte ich anschließend mit Clorox-Reiniger ein und ließ ihn einwirken. Falls die Cops je auf den Gedanken kommen sollten, das Haus kriminaltechnisch untersuchen zu lassen, sollten sie keine Hinweise auf Blut finden. Doch sämtliche Spuren zu beseitigen war unmöglich, ohne den ganzen Boden herauszureißen.

Während ich aß, überlegte ich, ob ich mich erneut wandeln sollte, dieses Mal in einen Raubvogel, um die Stadt überfliegen zu können, aber ich entschied mich dagegen. Stattdessen stieg ich in meine neue Jagdkluft, zog mein neues zweites Paar Stiefel an Schnürstiefel mit kräftiger Sohle und vergewisserte mich, dass alle Waffen an ihrem Platz waren, insbesondere der Kettenkragen, der meinen Hals schützte. Wenn ich den getragen hätte, hätte Leo mich niemals so schwer verletzen können. Und ich hätte Zeit genug gehabt, meine Waffen zu ziehen. Dann wäre Leo jetzt vielleicht tot. Ich berührte die dünne Haut. Sie war zart wie Seide und dort, wo das Fleisch nicht glatt wieder zusammengewachsen war, bildete sie einen Wulst. So bald würde ich das Haus nicht mehr ohne meine volle Montur verlassen.

Ich wählte die Nummer des Krankenhauses und rechnete damit, am Empfang zu landen, doch ich war direkt mit ihrem Zimmer verbunden. Molly ging dran. Erstaunlicherweise war sie wach, wenn auch ein wenig benommen. Mein Herz machte einen Sprung, und meine verräterischen Augen wurden wieder wässrig, als ich ihr Hallo hörte.

»Molly?«

»Hey, Tiger. Du hast mir das Leben gerettet«, sagte Molly. Sie klang schwach und atemlos. Mit tränenerstickter Stimme stieß sie hervor: »Meine Kleinen «

»Ich werde deine Kleinen retten«, sagte ich, doch die Hilflosigkeit drückte wie eine schwere Last auf meine Schultern. »Evan und Evangelina sind auf dem Weg. Ich habe sie angerufen. Sie können deine Heilung beschleunigen. Und ihr könnt mir alle bei der Suche helfen.«

»Evangelina wird sofort das Kommando übernehmen wollen.« Sie lachte unter Tränen und klang verloren. »Lass dir nichts von ihr gefallen.«

»Das werde ich nicht«, log ich. Evangelina war eine herrische Frau. Selbst Beast hatte Angst vor ihr.

»Glaubst du glaubst du, sie sind noch am Leben? Glaubst du, man tut ihnen weh?«

Ihre Stimme brach, und ich bekam keine Luft mehr. Als ich wieder sprechen konnte, sagte ich: »Ja. Nein. Ich meine, ich glaube, dass sie noch leben und dass ihnen nichts zugestoßen ist.« Ich musste daran glauben. Unbedingt.

Dann sagte Molly: »Egal, zu welchem Zweck man sie entführt hat, das Ritual wird vermutlich bei Vollmond oder kurz vorher durchgeführt werden.« Himmel hilf, sie versuchte zu denken wie die Kidnapper. Aber sie hatte recht. Vollmond verstärkte jede Art von Magie. Und es würde bald Vollmond sein. Sehr bald.

Molly unterdrückte ein Schluchzen. »Es bleibt uns nur wenig Zeit. Sehr wenig Zeit.«

»Wir haben reichlich Zeit. Ich werde sie noch vor Vollmond wieder zurückbringen.« Ich umklammerte mein Handy so fest, dass das Plastik knackte. »Ich verspreche es dir, Mol. Ich verspreche es bei allem, was mir heilig ist.«

Sie schniefte. »Bei diesem strengen, unbarmherzigen Gott, den du anbetest?«

Ich berührte das Nugget an meinem Hals, als wäre es ein Amulett oder ein Symbol oder ein Kreuz. Es war warm von meiner Haut. »Ja. Bei dem. Ich schwöre es. Ihr hättet nach Hause fahren sollen, Molly. Du hättest fahren sollen, als ich es dir gesagt habe. Es tut mir leid, dass ich dich nicht weggeschickt habe.«

»Angie hat gesagt, wenn wir fahren würden, würde uns auf dem Weg ein böser Mann mitnehmen.«

Meine Kehle schnürte sich zu. Was sollte das heißen: auf dem Weg mitnehmen?

»Ich glaube, sie hatte eine Vision, Tiger. Und das war der Grund, warum ich nicht abgereist bin.« Molly schluchzte, ihre Stimme klang gebrochen und zerrissen. »Wenn du uns weggeschickt hättest, wäre ich in ein Hotel gegangen. Und ohne dich in der Nähe wäre es noch viel schlimmer gekommen. Ich wäre « Sie holte Luft, und ich hörte sie schluchzen. »Ich wäre gestorben.«

»Mist«, murmelte ich.

»Ja. Die Untertreibung des Jahres. Und das wollte ich dir noch sagen: Du hast doch gesagt, ich sollte mal meine Fühler ausstrecken, ob die hiesigen Coven mit Vamps zusammenarbeiten. Nichts, gar nichts. Niemand redet. Ich habe es versucht. Wirklich.« Und dann begann Molly wieder zu weinen, doch um ihre vermissten Kinder, nicht, weil sie mir nicht weiterhelfen konnte.

Ich legte erst auf, als Molly aufgehört hatte zu weinen und eingeschlafen war. Dann rief ich den Troll an, um ihn über die entstandenen Schäden am Haus zu informieren. Und dass ich dem Schöpfer der Rogues und Bliss’ Entführern auf der Spur sei. Was genau genommen keine Lüge war, aber auch nicht wirklich die Wahrheit. Aber es würde nicht mehr lange dauern. Ich hatte es versprochen. Ich hatte Mol mein Wort gegeben. Und ich hatte vor, es zu halten.

Ich brütete gerade über der Karte, auf der ich die Rogue-Angriffe eingezeichnet hatte, als mir plötzlich einfiel, dass ich während der Auferstehung des Mädchens einen Blitz hatte einschlagen sehen. Ich nahm mir einen Zettel und begann aufzulisten, was ich wusste und was ich vermutete. Die Entführer waren Rousseaus, ein Meister, der gegen die Vampira Carta verstieß und den sich ähnelnden Duftsignaturen nach zu schließen möglicherweise seine Geschwister. Sie lebten nicht auf dem Clansitz, was bedeutete, dass sie sich überall in der Stadt aufhalten konnten. Einfach den Clansitz der Rousseaus zu stürmen und sie zu pfählen, das fiel damit leider aus. Wenn ich angriff, ohne vorher genau zu wissen, was sie planten, gab ich ihnen Gelegenheit zu fliehen oder, schlimmer noch, ihre Pläne ohne weiteren Verzug umzusetzen. Es waren Vamps, die mit Hexenmagie und dem Blut von Hexenkindern arbeiteten, vermutlich, um das devoveo zu vermeiden. Doch wie passte das alles zusammen? Die Lösung war da, direkt vor meiner Nase.

Ich stopfte meine Ausrüstung in Mischas Satteltaschen und brauste los. Durch die offenen Netzstofftaschen in Hose und Jacke wehte feucht-warme Luft an meine Haut, trotzdem schwitzte ich in den neuen Ledersachen. Ich war auf dem Weg zur neuesten Grabstätte, die im Couturié Forest im New Orleans City Park lag, um sie mir einmal genauer anzusehen.

Eine Stätte einzurichten, wo Menschen getötet und begraben wurden, Magie gewirkt wurde und junge Rogues auferstanden, das brauchte Zeit. Zeit, magische Energie und Ungestörtheit. Und soweit ich wusste, gab es nur drei Orte, die diese Kriterien erfüllten, zwei davon wurden immer noch genutzt. Sicher kehrte der Rogue-Schöpfer wieder an einen von ihnen zurück, statt sich einen geeigneten neuen Platz zu suchen. Ich beugte mich über Mischas Lenker und gab Gas.

Zu dieser späten Stunde war der Park zwar geschlossen. Aber ich stellte die Maschine einen Block davor ab und joggte hinein, witternd, meiner Nase nach. Die Erde hatte den starken Regen mittlerweile aufgesaugt, und die Hinterlassenschaften des Sturms waren beseitigt worden. Immer noch roch es sehr nach beschädigten Bäumen und regennassem Grün, doch der sumpfige, leicht salzige Gestank war verflogen. Ich verließ den Weg, dem ich bisher gefolgt war, und fand auch schnell den drei Meter großen Kreis wieder. Offenbar war das Säuberungsteam, das die Leiche beseitigen sollte, wirklich hier gewesen. Die Kreuze waren von den Bäumen abgenommen und das Pentagramm aus Muscheln aufgelöst worden. Die Menschen, die hier so sorgfältig alle Spuren beseitigt hatten, konnte ich noch riechen zwei Männer und eine Frau. Schweiß, Sonnencreme, Deodorant, Seife und Shampoo. Und über den Gerüchen des Teams lag die frische Witterung eines einzelnen Vampirs. Einer von denen, die die Kinder und Bliss entführt hatten. Hier hatte er gestanden, irgendwann in den vergangenen zwei Nächten, genau da, wo ich jetzt stand, und hatte sich die Szene angesehen. Und er war wütend gewesen.

Ich konnte seine Wut schmecken, merkte, wie sie wuchs, eine heiße, wilde Wut, aber dennoch beherrscht. War er hergekommen, um den jungen weiblichen Rogue zu erwecken? Ich erinnerte mich an den Geruch, der den Blitz begleitet hatte und fragte mich, was ein solcher Blitz während eines magischen Rituals wohl bewirkte. Er war wieder gegangen, wütend und ohne seinen Rogue, der ohne ihn auferstanden war. Zu früh erwacht war

Was war nun sein nächstes Ziel? Wo würde er einen neuen Kreis auslegen? Irgendwo, wo er sich sicher fühlte? Der Vamp-Friedhof vielleicht, der Ort, wo er so lange unentdeckt geblieben war? Schnell wie ein Vamp rannte ich zurück zu Mischa und ließ den Motor an. Mit quietschenden Reifen raste ich los, in Richtung Fluss, durch den um diese Zeit trägen und stockenden Verkehr.

Auf dem Weg wählte ich Bruisers Handy an, um ihn vorzuwarnen, dass ich es war, die gleich den Alarm auslösen würde. Er bot nicht an, mich dort zu treffen, und sagte auch nichts dazu, dass ich noch am Leben war. Er klang abwesend. Er versprach, die Alarmanlage abzuschalten und legte auf. Heute Abend war er offenbar nicht zu britischen Galanterien oder zur Wahrung der Etikette aufgelegt.

Beim Friedhof angekommen, steuerte ich Mischa von der alten Straße herunter und um die Torpfosten herum und stellte den Motor ab. Giftige, stinkende Abgasdämpfe legten sich um mich. Die Stille der Toten erfüllte die Nacht. Ich legte den Helm ab und klappte den Ständer aus. Zog die Benelli aus ihrem Geschirr und checkte noch einmal die Munition. Dann befestigte ich einen Gurt daran und schlang sie mir über den Rücken. So konnte ich sie schneller ziehen als aus dem Futteral.

Um ganz sicherzugehen, hängte ich mir vier Silberkreuze an Ketten um den Hals, die aufleuchteten, wenn sich ein Vamp in der Nähe befand, und jeden Vamp, der sie berührte, vergifteten. Na ja, abgesehen von Leo, falls man ihm glauben konnte. Ich zog zwei Pflöcke, vergewisserte mich, dass sie beide Silberspitzen hatten, und packte sie mit der rechten Hand, einen nach außen, den anderen nach innen gerichtet. Mit meinem imposantesten Vampkiller in der Linken, einer fünfundvierzig Zentimeter langen Klinge, schlich ich mich auf den Friedhof.

Meine Nachtsicht war besser als die der meisten Menschen, vermutlich eine Folge der vielen Jahre, die ich als Beast gelebt hatte. Eine Taschenlampe brauchte ich nicht. Die Marmorwände der Krypten schimmerten makellos weiß im Licht des nahezu vollendeten Vollmonds. Die weißen Muschelpfade leuchteten auf dem schwarzen Boden. In den bunten Glasfenstern der Kapelle flackerte trüb-rötliches Licht, eine einzelne Kerze und ein Zeichen, dass jemand da war. Sabina Delgado y Aguilera, die Priesterin der Vamps, war zu Hause. Ob sie wohl Besuch empfing?

Zuerst untersuchte ich die Krypten und stellte zufrieden fest, dass sie nicht beschädigt waren. Als ich über den Friedhof wanderte und die Nacht durch Nase, Mund, Augen und Ohren in mich aufnahm, bekam ich auf einmal eine Gänsehaut im Nacken, und es war, als würden winzige Krallen meinen Rücken hochhuschen. Mein Gefühl sagte mir, dass ich irgendetwas übersehen hatte, als ich das letzte Mal hier war.

Ich hatte keine hellseherischen Fähigkeiten. Aber ich hatte ein ungutes Gefühl.