21

Nicht vom Blick des Feindes fangen lassen

Ich hatte keine Ahnung, wie spät es war, und es war mir auch egal. Ich rief Bruiser an und sagte ihm, was ich brauchte. Anders als meine Gäste zu Hause versuchte er nicht, mich davon abzubringen. Als ich den Vampfriedhof erreicht hatte, röhrte ich um das Tor herum und die muschelbedeckte Auffahrt hoch bis zur Kapelle, ohne Alarm auszulösen. Ich stellte den Motor ab und ging mit langen Schritten zur Treppe. Hinter mir hielt die Kawasaki. Stille senkte sich über die Nacht. Ich blickte nicht zurück, aber als ich Waffenöl roch, wusste ich, dass Rick seine Pistole gezogen hatte.

Ich sprang die Stufen hinauf. Hämmerte mit der Faust gegen die Kapellentür, dass es aus dem Inneren und den Krypten widerhallte. Ich hörte das leise Knirschen der Muscheln, als Rick seine Maschine abstellte, zu mir kam und zu meiner Linken stehen blieb.

Niemand antwortete auf mein Klopfen. Beast, die gegen ihre Frustration ankämpfte, schickte mir Kraft, sehr viel Kraft. Ich packte den Türknauf und drehte ihn. Warf mich gegen das gestrichene Holz. Die Tür brach auf und knallte gegen die Wand. Mithilfe von Beasts Nachtsicht erfasste ich den Raum mit einem Blick.

Die Kapelle bestand aus einem langen Raum, weiß gestrichenen Wänden und Reihen von lehnenlosen Bänken. Mondlicht strömte durch das rote Glas der Fenster und hüllte alles in die Farbe wässrigen Blutes. Ganz vorn befand sich ein hoher Tisch, auf dem eine Kerze und eine flache Schale mit Räucherwerk standen. Der Rauch, der daraus aufstieg, füllte die Luft mit dem Geruch von Rosmarin, Salbei und etwas Bitterem, wie Kampfer. Auf der einen Seite des Tisches befand sich ein Schaukelstuhl, auf der anderen ein marmorner Sarkophag, in dessen Deckel eine weibliche Figur mit nach oben gewandtem Gesicht gemeißelt war. Ihre steinernen Hände waren vor der Brust verschränkt. Beim Näherkommen bemerkte ich, dass die Figur wie Sabina aussah. Es war sicher ihr Sarg. Vermutlich schlief sie sogar darin.

Ich bückte mich und drückte mithilfe von Beasts Kraft gegen den mehrere hundert Pfund schweren Deckel, der sich mit einem dumpfen Kratzen von Stein auf Stein zu bewegen begann. Ich spannte die Muskeln an, keuchte, stöhnte, schob, bis mir die Lunge fast barst und es mir tatsächlich gelang, ihn ein Stück zu verrücken. Hinter mir klickte ein Feuerzeug, und Licht erhellte den Raum, als Rick die Kerzen anzündete. Mit einer der Kerzen kam er zu mir, und wir spähten in die Öffnung.

Der Steinsarg war gepolstert und mit weißer Seide ausgeschlagen. Darin lagen mehrere Schatullen, von denen ich drei durch den Spalt herauszog.

Ohne jede Ehrfurcht vor geschichtsträchtigen Vampirschätzen öffnete ich eine von ihnen und fand ein Stück Pergament darin, das offenbar von einer Schriftrolle stammte und so alt war, dass es schon mürbe war und sich braune Flocken ablösten. Ich schloss die Schatulle wieder und nahm die nächste in die Hand. In den Deckel war ein Name graviert: Ioudas Issachar. Was mir nichts sagte. Als ich sie öffnete, sah ich, gebettet auf braunem Samt, das Kreuz, mit dem die Priesterin den Leberfresser vertrieben hatte.

»Das ist das Kreuz von dem Bild«, sagte Rick. »Das, das die brennende Vampirin gehalten hat.«

Ich nahm es von dem Samtpolster, und Rick hielt die Kerze näher daran. Sie hatte es das Blutkreuz genannt. Das Holz war unbearbeitet, stark gemasert, die beiden Stücke sahen aus wie einfache Stöcke, deren gesplitterte Enden geglättet und geölt worden waren. Der Draht, mit dem sie zu einem Kreuz zusammengebunden waren, war aus Kupfer und mit Grünspan überzogen. Das Kreuz lag schwer in der Hand, viel schwerer, als es den Anschein erweckt hatte, und es war alt. Sehr alt. Ich hielt es an die Nase und roch weder Rauch, noch Flammen. Das Holz war nur von der Zeit verfärbt, nicht vom Feuer.

»Ihr wagt es, mich zu bestehlen?« Bevor ich mich umdrehen konnte, war Sabina bei mir, die Pupillen riesig, die Fangzähne ausgefahren. Schneller als ich Luft holen konnte, legte sie mich mit dem Rücken über ihr Knie. Krallen bohrten sich durch das Leder meiner Jacke und durch den Kettenkragen, tief in meine Haut. »Diebin«, zischte sie.

Langsam senkten sich Sabinas acht Zentimeter lange, im Kerzenlicht weiß schimmernde Eckzähne auf mich herunter und legten sich an meine Kehle über meinem Kragen. Die Wunde, die Leo mir zugefügt hatte, war noch nicht ganz verheilt, einen weiteren Biss würde ich vielleicht nicht überleben. Da ertönte ein scharfes Klacken, und Rick drückte ihr den Lauf seiner Waffe an die Schläfe. Sie zeigte keine Reaktion. Aber Rick rührte sich nicht mehr. Aus seinen Poren drang der Geruch von Angst. Sie hatte ihn mit der Kraft ihres Geistes gelähmt. Er war nicht einmal mehr in der Lage zu atmen. Ich wusste, was es für ein Gefühl war, auf diese Weise festgehalten zu werden. Eine mit Adrenalin getränkte Todesangst.

Ich schluckte. Aus meiner Achselhöhle sickerte ein einzelner kalter Schweißtropfen; es pikste, als er über eine kleine Bisswunde an der Seite lief. »Nein. Ich wollte es nicht stehlen. Nur ausleihen. Was immer es ist, es ist eine Waffe gegen Vampire. Ich muss nur drei Hexen retten, zwei davon sind noch Kinder, die in den nächsten Stunden geopfert werden sollen.« Ich spürte, wie sie sich anspannte, eine beinahe menschliche Reaktion. »Ich brauche es für denselben Zweck wie Sie, als Sie damit die Vampire von ihren blutmagischen Ritualen abhielten und vertrieben.« Wieder reagierte ihr Körper, entspannte sich, wurde weicher. Ich hörte, wie Rick röchelnd Luft holte. »Überlassen Sie mir das Blutkreuz«, flüsterte ich.

Sie legte den Kopf schief wie eine Schlange, ein unheimlicher Anblick. »Wollen Sie behaupten, Sie seien unsere Erlöserin?«

»Das ist, glaube ich, unwahrscheinlich«, sagte ich.

»Dennoch wagen Sie es, das Blutkreuz zu berühren. Das Kreuz des Fluches. Das Kreuz von Ioudas Issachar

»Ioudas Issachar«, presste Rick mühsam hervor. »Judas Ischariot.«

Die Priesterin und ich sahen ihn an. Sein Gesicht hatte eine gräuliche Farbe angenommen, und in seinen Augen las ich, dass er gegen die Panik kämpfte. Ich spürte, dass Sabina ihren mentalen Griff lockerte, damit er einen vollen Atemzug nehmen konnte. »Ioudas Issachar«, ächzte er wieder. »Judas Ischariot.« Er sah mich ausdruckslos an. »Katholische Schule. Grundkurs Latein.«

»Sie kennen die Geschichte von Sünde und Schande, die an unserem Anfang steht?«

Ricks Gesichtsausdruck war zu entnehmen, dass das alles gewesen war, was er dazu beitragen konnte. Aufs Geratewohl sagte ich: »Die Söhne der Dunkelheit. Und das Blutkreuz.«

Sabinas Ausdruck änderte sich nicht, aber als sie den Mund öffnete, begann sie zu lachen. Ein Laut wie einsames Wolfsgeheul. Die Macht, die darin lag, schlug gegen die Wände und ließ die Scheiben klirrten. Die Vibration brachte die Kerzenflammen zum Flackern. Ein trostloser Humor, bitter wie Wermut, der meine Haut mit seiner Verzweiflung wie mit einem Film überzog. »Die Söhne der Dunkelheit.«

Auf die gleiche Art, wie sie uns überwältigt hatte, ließ sie uns wieder frei. Schneller als ich zusehen konnte, war sie fort. Die Kerzenflamme flackerte und wäre fast in dem Windstoß, der ihren Weg markierte, erloschen. Von einem Augenblick auf den anderen hatte sie die Kapelle durchquert und starrte auf das Kreuz in meinen Händen, das jetzt schwach in einem seltsam phosphoreszierenden Licht schimmerte. Ricks mühsame Atemzüge waren in der Stille laut zu hören. Die Knöchel der Hand, in der er die Waffe hielt, waren weiß. Wir wechselten einen Blick, und er blinzelte schwer atmend. Er traf eine Entscheidung. Etwas bewegte sich in den Tiefen seiner schwarzen Augen wie die Spur eines Alligators im dunklen Wasser.

Vorsichtig schob er die 9-Millimeter in das Schulterholster. Seine Hand zitterte leicht, als stünde er unter Strom. Eine Pistole würde Sabina niemals schnell genug töten, auch wenn er den gesamten Ladestreifen Silbermunition in sie geleert hätte. Sie war zu alt. Noch im Sterben hätte sie uns beide mitgenommen. Rick schaffte es, ruhiger zu atmen, und trat an meine Seite. Schulter an Schulter standen wir der Priesterin gegenüber.

»Wer waren sie?«, fragte ich. »Die Söhne der Dunkelheit? Und was ist das Blutkreuz?«

Sabinas weiße Gestalt schien im unruhigen Licht der Flammen zu flackern. Resignation und etwas Heftigeres als Erleichterung huschten über ihre Züge. Ein Gefühl, so intensiv, dass es einen Abdruck ähnlich einer Narbe auf ihrer Haut hinterließ, so als hätte ein innerer Kampf ein Ende gefunden. Dann war es vorbei.

Sie holte Luft, die sie nicht brauchte, und seufzte. Ihre Pupillen wurden kleiner, das Rote verschwand aus ihren Augen, bis sie fast wieder menschlich aussahen, und ihre Fangzähne schnappten zurück in ihren Gaumen. Dann intonierte sie einen feierlichen Singsang, als handelte es sich um ein oft wiederholtes Zitat. »›Ioudas Issachar, Sohn von Simon, dann einer der zwölf, ging zu den Hohepriestern und sagte zu ihnen: Was wollt ihr mir geben? Ich will ihn euch verraten. Sie freuten sich, als sie das hörten, und versprachen ihm Geld. Und sie bezahlten ihm dreißig Silberstücke.‹ Kennen Sie diese Geschichte?«

»Die Geschichte von Judas Ischariot, der Jesus verriet.«

»Der Dieb«, sagte sie. »Der Mörder. Der Bringer des Bösen.«

Ich nickte.

»›Und der Dieb verriet seinen Herrn mit einem Kuss. Und der große Lehrer und Heiler, er, der ohne Sünde war, starb am Kreuz. Und Ioudas erhängte sich. Seine Leiche wurde beerdigt.‹ Und obwohl alle dachten, er sei tot, war sein Grab leer, und der Lehrer wandelte unter seinen Anhängern. Sie behaupteten, er sei von den Toten auferstanden. Aber in den christlichen Schriften steht nicht, was am vierten Tag geschah.

Als die Söhne Ioudas’ hörten, dass der Herr auferstanden war, gingen sie zu dem Ort des Schädels und auf die Suche nach dem Kreuz, an dem er gestorben war, um mit dem mit seinem Blut getränkten Holz unbekannte magische Rituale durchzuführen. Aber die Kreuze des Diebes, des Mörders und des Rabbis waren abgenommen und in Stücke gebrochen und auf einen Haufen geworfen worden, sodass das Holz der Kreuze sich vermischt hatte.‹«

Ein ahnungsvoller Schauder überlief mich, mir wurde kalt, und mein Blut floss langsamer. Meine Finger schlossen sich um das Blutkreuz. Ich sah es an. Das Holz schimmerte in einem seltsam warmen, gleichmäßigen Licht.

»›Sie nahmen alles. Im Dunkel der Nacht holten sie die Leiche ihres Vaters aus seinem Grab, legten sie auf den Haufen aus blutigen Holzstücken und wirkten ihre Hexenmacht und geheime Rituale. Manche behaupten, sie hätten das Leben ihrer kleinen Schwester auf dem Holz geopfert. Manche sagen, es sei nicht so gewesen. Aber was immer es für ein Ritual war, sie versuchten, ihren Vater mit Magie von den Toten zu erwecken. Und er erwachte, obgleich er tot war und seine Seele der Nacht und der Dunkelheit übergeben worden war. Seelenlos wandelte er zwei Nächte lang, ein wildes Tier. Und er konnte nicht getötet werden, auch wenn er verweste und das Fleisch von seinen Knochen fiel, um sich auf dem Boden zu winden. Weil sie meinten, aus ihrer Sünde könnte noch Gutes entstehen, tranken die Söhne das Blut und aßen das Fleisch ihres Vaters. Und sie wurden gewandelt.‹« Ihr Blick wurde klar, als würde sie wieder in die Gegenwart zurückkehren. Sabina sah zwischen uns hin und her. Eine blutige Träne lief ihr über die blasse Wange, doch ihr Gesicht war leer, hart und kalt wie gemeißelter Stein.

»›Sie sind auferstanden, jedoch nicht so, wie sie gehofft hatten. Sie hatten böse Magie angewandt, und ihre scheußliche Tat verdammte sie und ihre Nachkommen dazu, nur noch nachts zu leben. Söhne der Dunkelheit. Künftig dürsteten sie nach Blut und erhoben sich jede Nacht, um zu töten und zu trinken. Und nach einiger Zeit schufen sie andere ihrer Art. Doch ihre Nachkommen waren wilde Tiere, blutgierige Mörder. Die devoveo.‹« Ihr Gesicht war beinahe nachdenklich geworden. Beinahe, doch der Unterschied dass was fehlte war beunruhigend.

»So wie den Fluch, so erbten wir auch das Holz des Blutkreuzes. Obgleich es seinen Träger nicht selten so verbrennt, dass ihn der endgültige Tod ereilt, ist es eine mächtige Waffe gegen Blutrituale und das Böse. Es ist unsere einzige Rettung.«

Ich war mir nicht sicher, was sie damit meinte. Nicht ganz. Nicht richtig. »Das Kreuz.« Ich sah es wie gebannt an. Unter meinem Blick wurde das phosphoreszierende Schimmern heller. Meine Schultern wurden von einem Prickeln gepackt, als würde sich ein Fell aufstellen. Rick wich einen halben Schritt zurück, blieb dann aber mit sichtlicher Überwindung stehen. Das Kreuz in meiner Hand anstarrend. »Das Blutkreuz. Es ist aus Holz. Von dem Kreuz, an dem«, das Luftholen tat weh, es fühlte sich kalt an und trocken, als würde ich Asche einatmen, »Christus gehangen hat?«

»Oder von dem, an dem der Dieb oder der Mörder gehangen haben«, sagte Rick kühl.

Sabina antwortete nicht. Ich legte das schimmernde Kreuz zurück in die Schatulle. In die eigens dafür vorgesehene Vertiefung in dem Samt. Als ich das Kreuz losließ, erlosch das Licht, und zurück blieb schlichtes Holz. Ich schloss den Deckel der Schatulle und stellte sie hinter mich auf den Steinsarg.

Hatte ich tatsächlich einen Teil vom Kreuz Christi in der Hand gehalten? Oder nur Holz, das mit einem Zauber belegt war? Konnte ich irgendetwas von dem, was Sabina gerade gesagt hatte, glauben? War es möglich, dass es wahr war? Doch sie glaubte es, und das, begriff ich, war das Entscheidende. Woraus immer dieses Kreuz gemacht war, es hatte große Macht über sie. Ein Zittern überlief mich. Ich schwankte, und Rick stützte mich mit einer Hand, schnell, unmenschlich schnell. Vielleicht wirkte noch Leos Blut in ihm nach, das er ihm gegeben hatte, um ihn zu heilen.

Ich atmete tief ein und aus, um mich zu sammeln, mich für diesen Moment zu wappnen. Schließlich sagte ich: »Sie haben schon einmal ein Blutritual mithilfe des Kreuzes verhindert. Wenn ich herausfinde, wo es stattfinden soll, würden Sie dann mitkommen und es beenden?«

»Nein.«

»Oh.« Ihre Antwort traf mich wie ein Schlag. Nachdem ich sie in dem Gemälde gesehen hatte, das lodernde Kreuz in Händen, hatte ich erwartet, dass sie mir helfen würde, die Damours aufzuhalten. Ich spürte, wie mein Adrenalinpegel sank. Ich wusste nicht, wohin ich mich nun wenden sollte. Sie würde mir niemals das Blutkreuz überlassen. Eher würde sie Rick und mich und noch hundert weitere töten.

Zu Rick sagte sie: »Der törichte Mensch, der eine nutzlose Waffe gegen einen Mithraner zieht, möge draußen warten.«

Ich sah Rick an. Seine Augen wirkten schwarz in der Dunkelheit, auch wenn er mich nicht ansah, sondern die Schatulle, in der sich ein Teil des Heiligen Kreuzes befand. Oder auch nicht. Er war auf eine katholische Schule gegangen. Seit über zweitausend Jahren erzählten die Katholiken von den verborgenen Relikten des wahren Kreuzes. Sein Schlucken war in der stillen Kapelle deutlich zu hören, doch er antwortete in dem für ihn typischen unbekümmerten Ton. »Wenn du in fünfzehn Minuten nicht draußen bist, komme ich und hole deine Leiche, um sie anständig zu begraben.«

Ich lachte leise durch die Nase. Hob die Hand und strich ihm die Elvistolle zurück. Meine Fingerspitzen streiften seine Stirn, eine Berührung, die seine Aufmerksamkeit erregte. Sein Blick begegnete meinem. Und plötzlich erschien ein neuer Ausdruck in seinen Augen.

»Danke«, sagte ich. »Aber es wäre besser, wenn du zuerst Hilfe holen würdest. Ich habe so eine Ahnung, dass sie nicht so leicht zu töten sein wird.«

»Glaubst du?« Er legte die Hand an seine Kehle, straffte die Schultern und verließ die Kapelle. Seine Stiefel klackten auf den Stufen, die hinunter zum Friedhof der Vamps führten.

»Ich kann Ihnen nicht helfen, dieses Böse zu besiegen«, sagte Sabina. »So bald danach kann ich das Blutkreuz nicht mehr heben. Eine zweite Selbstverbrennung in einem Jahrzehnt würde ich nicht überleben.« Ich dachte zurück an das Gemälde, auf dem Sabina mit brennenden Armen den Hügel hinuntergelaufen war. War sie dabei damals fast gestorben? Und dann wieder, als sie den Leberfresser verjagt hatte. In Lichtgeschwindigkeit war sie bei dem offenen Steinsarg und beugte sich darüber. Ganz in meiner Nähe. Mein Körper reagierte mit einem leichten Anflug von Angst und spannte sich an, doch viel zu spät. Sie fing meinen Blick auf, und ihr Wille packte mich so fest wie Stahlketten. Sie stand so nah bei mir, dass mir ihr trockener, heißer Vampgeruch in die Nase stieg, wie der Wind über der ausgedörrten, kargen Wüste, und darunter, sonderbar und schwach, der Duft von getrockneten Rosenblättern. »Aber ich werde Ihnen einen Splitter davon geben.«

Mein Kopf wurde leer wie eine schneeverwehte Nacht kein Gedanke, kein Gefühl, nichts. Sabina gab mir was? Einen Moment lang war ich weit weg, verloren im Schnee, frierend, verwirrt und desorientiert. Ein Moment, der länger dauerte, als gut für mich war.

Eine warnende Stimme flüsterte mir zu: Keine Beute. Nicht vom Blick des Feindes fangen lassen. Krallen drückten sich auf mein Gehirn. Schnitten hinein.

Ein Ausdruck von Überraschung huschte über Sabinas Gesicht. Sie unterbrach den Blickkontakt und wandte sich ab, dann bückte sie sich, richtete sich auf und drehte sich wieder herum. Erneut hielt ihr Blick mich im Dämmerlicht fest. »Er ist unersetzlich. In all den langen Jahren, die er nun in meiner Obhut ist, habe ich ihn nur einmal aus der Hand gegeben. Sie werden ihn mir wiederbringen, sobald die Gefahr abgewendet ist und keine Blutrituale mehr durchgeführt werden.«

Ich nickte wie eine Spielzeugpuppe, hätte allem zugestimmt, ohne nachzudenken. Sie hatte mich in der Hand. Auf einmal fühlten sich meine Hände feucht und unbeweglich an. »Damit besiegen Sie alles, was nicht des Lichtes ist. Es wird die Nachkommen der Söhne der Dunkelheit vernichten, selbst die Ältesten der Mithraner. Wenn ein Vampir mit einem Splitter des Blutkreuzes in die Haut gestochen wird, verbrennt er, Asche zu Asche, Staub zu Staub. Der endgültige Tod. Alle Verfluchten werden erkranken und sterben.

Aber Sie müssen mit Vorsicht vorgehen. Es ist möglich, dass auch Ihre Art den Fluch der Dunkelheit trägt, wenngleich auch aus einer Zeit lange vor dem Kreuz. Wenn das Holz des Blutkreuzes Ihre Haut durchsticht, kann es sein, dass Sie eine schwere Krankheit ereilt. Und vielleicht der Tod.«

Mein Herz erschauderte. »Meine Art? Sie wissen, was ich bin?« Meine Worte waren ein Flüstern in der dunklen Vampirkapelle.

»Sie sind die, die in den Häuten der Tiere wandelt.« Sie blickte hinunter in den Steinsarg, als wolle sie eine Bestandsaufnahme seines Inhalts machen. Oder mir nicht in die Augen sehen. Beast, die sich in die Tiefen meines Geistes zurückgezogen hatte, schaute wieder durch meine Augen. »Der Uhu kam zu mir, als wir Katherine unter die Erde brachten, um zu heilen. Sein einsamer Ruf galt mir, ein Vogel der Nacht, ein Vogel aus einer anderen Zeit, von einem anderen Ort. Schon seit jeher ist der Uhu ein Vorbote des Wandels, der Gefahr, des Verlusts. Sie sind dieses Tier, das Gefahr und Verlust bringt. Der Vorbote einer bitteren Niederlage. Von dem endgültigen Tod.«

Beast wurde unruhig, ihr Fell strich unter meiner Haut entlang. Ich wusste nicht, was ich Sabina antworten sollte. Als ich für meinen Besuch auf dem Friedhof die Gestalt des Uhus wählte, hatte ich mir nichts dabei gedacht. Ich hatte einfach die Gestalt eines Vogels angenommen, damit ich keine Duftspur hinterließ, und hatte so die Vamps unbemerkt bei ihrem Beerdigungsritual beobachten können. Dass Uhus für Vamps eine symbolische Bedeutung haben, hatte ich nicht gewusst.

Sabina hielt mir einen kleinen mit Band zugezogenen Beutel hin, und der Moment, in dem ich hätte etwas sagen, etwas fragen können, war dahin. Ich nahm den Beutel aus Pannesamt entgegen, der viel leichter war als erwartet. Ich ertastete etwas Längliches, Schmales von der Länge und Form eines Kugelschreibers. Oder einer dicken Haarnadel. Oder eines kleinen Pflocks.

Auf einmal verstand ich, woher die alten Legenden kamen, die tiefere Bedeutung des Fluches, der auf Vampiren lag. »Das ist der Grund, warum hölzerne Pflöcke Vampire töten, nicht wahr? Weil sie durch Magie und Blut und Holz erschaffen worden sind, mithilfe von längst vergessener Erdmagie und dem Bösen.« Ich starrte auf den Samtbeutel in meinen blassen Händen. Schatten und Kerzenlicht huschten über meine Hände, als suchten sie nach meiner Zwillingsseele. »Deswegen müssen sie Blut trinken, um zu überleben. Und es hat etwas damit zu tun, dass so viele die Wandlung nicht überleben, die Jahre in Ketten, habe ich recht?«

»Das ist unser Fluch.« Sie wandte sich ab und setzte sich in ihren Stuhl. Das Holz knarrte leise, als sie vor- und zurückschaukelte. Sie sagte: »Zwei Mithraner haben sich heute Abend im Geiste vereinigt. Ich habe die Vereinigung und ihre Absicht gespürt.« Wieder legte sie den Kopf reptilhaft auf die Seite und blickte durch den Raum auf die Tür, die schief in den herausgerissenen Angeln hing. »Nur wenige wissen, dass ich mich für jeden aus meiner Gemeinde, der sich für den Weg des Anam Chara entscheidet, vorübergehend öffne. In dem Moment, in dem sie sich vereinigen, öffnen auch sie sich, und ich werde ein Teil von ihnen, ihrem Geist und ihrem Willen. Heute sind Rafael von Mearkanis und Adrianna, Vasallin der St. Martins, eine Bindung eingegangen und haben ihren Schöpfer und seinen Erben getötet. Sie haben ihrer beider Geist vereint und sich gegen ihre Feinde verbündet. In diesem Moment las ich in ihren Gedanken, als seien es meine eigenen.

Wenn der Vollmond vorbei ist, werden sie den Meister der Stadt stürzen und töten. Dann werden sie alle Hexen der Stadt vernichten und die Herrschaft über dieses Revier übernehmen. Und sie werden die Rogue-Jägerin töten, die Jagd auf ihresgleichen macht, denn sie fürchten sie.« Sie lächelte leicht, den Kopf immer noch stark geneigt, als sei ihr Genick gebrochen. »Auf mich wirken Sie nicht sehr ängstlich. Ich hoffe, Sie verdienen mein Vertrauen, und ich überlasse meine Waffe der Richtigen.«

»Das hoffe ich auch.«

»Das Wirken des Himmels wird von Ordnung und Chaos bestimmt«, sagte sie, als würde sie nach einem Sinn suchen, nach Worten, die das Unerklärliche erklären könnten, »Von Licht und Dunkelheit, Energie und Materie, Leere und Fülle. Dies ist eine Zeit des Wandels, wenn viele Strömungen zusammenfließen.« Sie erhob ihren Kopf wieder. »Wenn wir wieder zu den alten Sitten zurückkehren, wenn die alte Dunkelheit gegen das Neue um die Herrschaft kämpft, gegen das Licht der Welt.« Sie berührte ihre Lippen mit der Zunge und gab einen trockenen, raschelnden Laut von sich, unmenschlich und kalt, wie Schlangen, die sich aneinander reiben.

Sie riss sich sichtlich zusammen. »Es ist weder meine Aufgabe, noch liegt es in meiner Macht, mich einzumischen, wenn der Meister der Stadt herausgefordert wird, doch die Menschen sind in Gefahr, falls das Bündnis der St. Martins, Mearkanis und Rousseaus über Pellissier siegt. Ohne einen Erben wird er eine solche Herausforderung nur schwer überstehen können.« Sie sah mich an. »Pellissier ist wie ein Fels am Zusammenfluss vieler Ströme, von allen Seiten wird er bestürmt und bedrängt.«

Auf einmal war die alte Vampirin erstaunlich entgegenkommend, die doch bisher alles andere als hilfsbereit gewesen war. Vielleicht lag es an dieser unheimlichen Vision, die sie während der geistigen Vereinigung der beiden Vampire gehabt hatte. Zumindest war mein Misstrauen geweckt, aber ich hatte niemanden, an den ich mich sonst hätte wenden können. »Ich könnte ihn warnen, ohne Ihren Namen zu erwähnen«, sagte ich.

Sabina neigte den Kopf. Mir wurde plötzlich bewusst, dass sie mich genau da hatte haben wollen. Bevor ich reagieren konnte, sagte sie: »Es wird keine Blutrituale mehr in dem Wald nebenan geben. Dafür habe ich gesorgt. Die drei Damours dürfen diesen geweihten Boden nicht mehr betreten. Doch wenn es noch einen anderen Ort gibt, an dem sie ihre Rituale abhalten, werden sie dorthin gehen, gehen müssen, denn sie brauchen das Licht des Mondes.«

Unwillkürlich verzogen sich meine Lippen zu einem Lächeln. Nun wusste ich, wo ich die Kinder und Bliss fand. Ich wusste es!

Sabinas Lächeln vertiefte sich, und auf einmal sah ihr Gesicht sehr menschlich aus und seltsamerweise sogar fröhlich. »Gehen Sie jetzt. Sie haben viel zu tun und nur wenig Zeit.«

Es war, als drängte mich eine große Hand vorwärts, in Richtung der vom Licht des Vollmonds beschienenen Nacht. Als ich den Ort verließ, den ich entweiht hatte, durch die Tür, die ich ruiniert hatte, erloschen alle Kerzen auf einen Schlag, und die Kapelle wurde dunkel. Als ich hinaustrat, hörte ich, wie sich der Steindeckel des Sarges schloss und die Kufen des Stuhles auf dem Holzboden zu schaukeln begannen. Draußen, im Mondlicht, lagen die Schatten schwarz auf dem Gras und schraffierten die weißen Wege wie offene Wunden in der Haut der Unterwelt, aus denen das Blut in den Boden sickert. Rick wartete am Fuß der Treppe, und als ich unten ankam, packte er meine Arme und zwang mich, stehen zu bleiben. »Geht es dir gut?«

»Ja, ich glaube schon.«

Minutenlang musterte er mein Gesicht, seine dunklen Franzosenaugen hielten mich fester als seine Hände. Schließlich nickte er. »Okay. Das war ganz schön abgedreht.«

»Hast du alles gehört?«

»Ja. Und was jetzt, Meistervampirjägerin?«

»Ich muss mit ein paar Typen reden, die ich kenne«, sagte ich und dachte dabei an Derek Lee. Langsam begann ich zu begreifen, wie alles zusammenhing. Ich warf ihm einen Blick zu. »Dann muss ich in den New Orleans City Park. Und ich muss mit Leo sprechen.«

Er nickte mit ernster Miene. »Ein Besuch bei Leo hört sich lustig an. Ich bringe Bier mit.«

Ich brach in Gelächter aus, was wohl genau seine Absicht gewesen war, und ein Teil der Dunkelheit, die Sabina über meine Seele gebracht hatte, löste sich auf. Er streckte die Hand aus und zeichnete meine Mundwinkel mit dem Finger nach, ein sanftes Streicheln, das mich erzittern ließ. Ich wich zurück, und er ließ die Hand sinken. »Ernsthaft, Rick. Ich muss mit Leo reden und ihm von dem geplanten Putschversuch und dem Mord an dem Meister und dem Erben der St. Martins berichten. Es wird viele tote Vamps und noch sehr viel mehr tote Menschen geben. Doch eigentlich bleibt mir dazu keine Zeit mehr und « Ich blickte hoch zum Vollmond, und ein Gefühl der Ohnmacht überkam mich. »Alles schaffe ich nicht. Ich kann nicht Leo warnen und die Kinder retten und die blutsaugenden Damours töten. Die Kinder sind wichtiger als alles andere.« Mir blieb nicht genug Zeit also musste jemand sterben, der es nicht verdient hatte. Durch meine Schuld. Wieder einmal.

»Als Polizeibeamter muss ich dich darauf hinweisen, dass Vamps rechtlich zwar nicht als Menschen gelten, es aber trotzdem illegal sein kann, jemanden von ihnen ohne einen entsprechenden Auftrag zu töten. Abgesehen von Rogues. Normalerweise. Deshalb will ich darüber nichts weiter sagen. Aber ich übernehme es, Leo zu warnen. Na ja, nicht allein, zusammen mit Jodi und Rosen. Was ist?« Seine Augen wurden schmal. »Was guckst du so? Das ist nicht allein dein Krieg, hörst du? Wir leben hier. Wir sind die Cops, die nach dem Blutbad sauber machen dürfen.«

Ich atmete tief durch wie mir schien, das erste Mal, seitdem Sabina mich an der Gurgel gepackt hatte. Eine seltsame Freude durchströmte mich. Ich arbeitete immer allein, mit einer Ausnahme, und damals war es schiefgegangen, denn ein Cop, den ich sehr mochte, wäre beinahe getötet worden. An Hilfe war ich nicht gewöhnt. Aber Rick hatte recht. Dies war nicht nur mein Krieg. »Du willst mit dem Meister der Stadt reden.« Genau genommen war es weder eine Frage noch eine Feststellung, sondern irgendetwas dazwischen. »Jetzt sofort« vielleicht hatte ich mich ja verhört.

»Ja, warum nicht. Ich habe nichts Besseres vor, als dem Meistervamp in den Arsch zu treten.«

Ich lachte leise, als ich mir die Szene bildlich vorstellte.

»Oder wir lassen ihn ein bisschen zappeln. Ich glaube, das würde Jodi und mir gefallen. Und Rosen auch«, fügte er hinzu.

»Okay. Danke.«

Rick schwang sich auf sein Bike und rief Jodi Richoux und Sloan Rosen an. Beide versprachen, uns an einer kleinen Brücke zwei Kilometer vom Mississippi entfernt zu treffen. Während Rick sprach, zückte auch ich mein Handy sofortige Kommunikation mit mehreren Personen gleichzeitig, eines der Wunder des modernen Lebens. Rick setzte den Helm auf, und ich folgte seinem Beispiel. Und da ich ohnehin in diese Richtung musste, folgte ich ihm in die Stadt. Nach ungefähr zwei Kilometern, kurz nach einer schmalen Brücke, fuhr er langsamer und hielt dann unter einem Baum. Offenbar hatten sie Überstunden gemacht, denn die beiden Cops warteten bereits auf uns. Der Motor ihres Zivilfahrzeugs war noch heiß und tickte offenbar hatten sie auf die Tube gedrückt.

Auf der Motorhaube saß Jodi in ihrer, wie ich mittlerweile vermutete, Uniform: Stoffhosen, einem eng anliegenden stretchigen T-Shirt, Stiefeln und einer Jacke. Sloan, der neben ihr am Wagen lehnte, trug Jeans und eine dunkelblaue Windjacke, auf der in großen weißen Buchstaben POLICE stand. Ich brachte sie auf den neuesten Stand, und sie einigten sich darauf, dass am besten ihr Team das bevorstehende Gespräch übernehmen würde das, darüber waren sie sich einig, inoffiziell war und von dem die hohen Tiere im NOPD nichts zu wissen brauchten. Die drei gefielen mir. Sie verstanden, dass man, wenn man es mit Vamps zu tun hatte, auch mal zu unkonventionellen Methoden greifen musste. Beruhigt, weil ich das Gespräch mit Leo in guten Händen wusste, brach ich zu meinem Rendezvous mit schwarzer Magie und Blutritualen im Park auf. Doch zuerst musste ich noch kurz zu Hause haltmachen.