20

Kinderdieb. Stirb.

Ohne ein weiteres Wort zu den Männern und dem Vamp rannte ich die Stufen hinauf in die Wohnung. Einen Mann streckte ich mit dem Messer nieder einen Koch, dem Geruch seiner Kleider nach zu urteilen , indem ich ihm mit dem Knauf des Vampkillers einen kräftigen Schlag auf den Kopf verpasste, und ließ ihn bewusstlos im Eingang zurück. Die Einrichtung war luxuriös, Rot und Weiß die dominierenden Farben, viel weißer Marmor, weiß gestrichenes Holz, viel roter Stoff. Vamps schienen die Farbe Blutrot für die Gestaltung ihrer Inneneinrichtung zu bevorzugen. Eigentlich nicht verwunderlich. Ich atmete tief ein, witterte. Es stank nach menschlichen Blutspendern, mehreren Vamps, Schmerz und Sex. Ich rannte von Raum zu Raum. In einigen standen Betten, in anderen nicht, in einem hing eine komplizierte Vorrichtung von der Decke, und auf einem Regal lagen Ketten und Instrumente eines blutigen Handwerks säuberlich aufgereiht. Auch hier gab es einen Abfluss. Doch ich witterte nichts, das darauf hingedeutet hätte, dass die Kinder oder Bliss je in dieser Wohnung gewesen waren. Ich machte mich auf in den dritten Stock.

Hier befanden sich die Privaträume, ein riesiges Zimmer, das durch Möbelgruppen in verschiedene Bereiche unterteilt war und durchdringend nach den Damours roch. Ich wusste jetzt, worauf sie aus waren, ich wusste, was sie planten, und durch dieses Wissen wurde der Gestank stärker, dunkler, böse, auch wenn sich das sicher nur in meiner Einbildung abspielte.

Rechts von mir befand sich ein großes Esszimmer mit einem Tisch, an dem zwölf Personen leicht Platz fanden. Vor mir lag ein noch größeres Wohnzimmer mit reichlich Ledermöbeln. Gleich dahinter erblickte ich zwei Schlafräume, jeder mit einem Kingsize-Bett ausgerüstet, auf dem Felle lagen. Viele echte Felle. Vamps schliefen gern auf toten Tieren. Dem Geruch nach war hier eines der am meisten frequentierten Nester der Damours. Ich vergewisserte mich, dass das riesige Appartement tatsächlich leer war, und fand dabei in einer Nische ein kleines, aber üppig eingerichtetes Badezimmer, doch keine separaten Zimmer. Auch hier war wieder viel Marmor zu bestaunen Boden, Wände, Säulen bis zur Decke doch das Farbthema war Schwarz und Rot mit schwarzem Marmor und tiefdunkelroten Stoffen. Ich blieb stehen und drehte mich um, witterte mit geöffnetem Mund. Irgendetwas stimmte hier nicht. Etwas fehlte.

Keine Menschen, murmelte Beast. Kein Menschenblut. Sie nähren sich nicht hier.

»Oder sie nähren sich hier nicht von menschlichem Blut.« Mein Körper spannte sich an, plötzlich und fest.

Ich ging zu den Betten und nahm ein Kissen. Bliss’ Geruch wehte mir entgegen. Und der von Sex. Die Damours nährten sich von Hexen. Eine Mischung aus Wut und Angst stieg in mir hoch, heiß und eisig, elektrisch. Angelina? Mit geöffnetem Mund kletterte ich über das Bett, sog zischend die Luft über die Zunge und durch die Nase, und zitterte dann vor Erleichterung. Über Angie waren sie hier nicht hergefallen. Aber was ich dann roch, ließ mich wie angewurzelt stehen bleiben.

Der Vamp, den wir unten an der Treppe überwältigt hatten, war vor nicht allzu langer Zeit in den Betten der Damours gewesen. Und noch andere Vamps, darunter auch Bettina, die Meisterin des Rousseau-Clans. Ich nahm ein Kissen und atmete ihre Witterung ein, ihren scharfen Schweiß. Und ich roch ihre Angst. Sie war nicht freiwillig hier gewesen. Sie hatte fliehen wollen. Ich hätte sie besuchen sollen, als sie mich darum gebeten hatte.

»Prinzessin?«

Auf ein Knie gestützt, drehte ich mich um und sah Derek in der Tür stehen.

»Wir wollen jetzt die Vamps an den Pritschen köpfen.«

»Noch nicht. Bis wir die Kinder gefunden haben, bleiben diese Rogues am Leben. Wenn wir sie töten, gibt es keinen Grund mehr, Angelina und Little Evan am Leben zu lassen.«

Er nickte, doch es wirkte resigniert. »Na gut. Als Köder sind sie noch zu was gut.« Er blickte auf seine Uhr. »Es ist Zeit.« Zeit zu gehen, meinte er.

»Nur noch eine Minute«, bat ich.

»Der Glatzkopf hat einen von meinen Männern überwältigt und ist geflüchtet. Noch sechzig Sekunden, dann bin ich mit meinen Männern hier weg.«

Ohne weiter Ruhe zu heucheln, rannte ich von dem Bett zu den alten Schränken, die sich an der Wand den Fenstern gegenüber befanden, und riss sie so heftig nacheinander im Vorbeigehen auf, dass die Türen knallend vor- und zurückschwangen. Das dunkle Holz der Möbel war mit detailreichen Schnitzereien in Form von Blumen und Blättern, Drachen und Fratzen, Gesichtern aus Legenden und Alpträumen verziert. Aus allen schlug mir die Witterung von Vamps entgegen. Und plötzlich der Geruch von Hexen, frisch, kräftig und mächtig.

Ich hielt inne, die Finger fest um meine Waffen geschlossen. »Sie waren hier. Die Kinder.« Auf dem Boden des Schrankes lagen eine Matratze, Laken, eine Decke und kleine Fesseln an langen Ketten. Eine Puppe. Mit schwarzen Haaren und gelben Augen. So wie meine Augen. Ka Nvsita. Die Puppe, die ich Angie geschenkt hatte.

Angst schnitt eiskalt in meine Eingeweide. Tränen brannten in meinen Augen. Ich steckte die Flinte ins Futteral und nahm die Puppe. Ihre Kleider waren getränkt von Angies Angst und ihren Tränen. Aber Blut roch ich nicht. Gott dafür dankend, schloss ich die Tür und steckte die Puppe unter meine Lederjacke. »Sie müssen gerade erst weg sein. Wie sind sie an uns vorbeigekommen?«

Ich sah zu den beiden Schränken, die noch übrig waren. Vielleicht ? Im ersten standen dicht an dicht nebeneinander Gemälde. Ich riss eines heraus und sah einen Hexenkreis und ein Pentagramm. Und Vampire. Und Kinder. Und viel Blut. »Derek? Rufen Sie ein paar Männer her und nehmen Sie davon« ich deutete mit dem Kopf auf die Rahmen »so viele wie möglich mit.« Erst wollte er widersprechen, doch als ich ihm das Bild reichte, wurde sein Mund hart, und er sagte etwas in sein Headset.

Der letzte Schrank war, wie sich herausstellte, gar keiner. Als ich die Tür aufzog, tat sich eine dunkle Öffnung auf. Dahinter führte eine enge Treppe in die Tiefe. Der Geruch von Sex, Hexe und Vamp stieg herauf. Ich dachte an die Mülltonnen an der Rückseite des Hauses. Eine Tür hatte ich dort zwar nicht gesehen, aber die konnte man leicht verbergen. »Derek?« Als er sich mir zuwandte, die Flinte mit beiden Händen haltend, die Mündung nach vorn gerichtet, sagte ich: »Sie sind hier lang. Hier geht es nach unten. Suchen Sie nach einem Ausgang durch die Garage oder nach einer Tür nach draußen. Ich nehme die Treppe.«

Derek fluchte mit der Direktheit eines Marines und verschwand, um zwei seiner Männer anzuweisen, die Gemälde mitzunehmen und sie in den Van zu packen. Ich begann die Treppe hinabzusteigen.

Beast, die bereits nah an der Oberfläche war, bahnte sich den Weg in mein Vorderhirn. Meine Fingerspitzen schmerzten, als wollten sich Krallen durch die Haut bohren. Fell rieb über die Unterseite meiner Haut, drückte dagegen, wollte hinaus. Meine Augen passten sich der Dunkelheit an. Auch schummriges Licht ist kein Problem für mich, doch Vamps sehen selbst in vollkommener Dunkelheit. Damit kann ich nicht mithalten. Also musste ich die Stufen ertasten, die breiter waren als normale Stufen und vielleicht dreißig Zentimeter hoch, langsam, Schritt für Schritt, mit geöffnetem Mund schnüffelnd.

Den Duftspuren nach zu schließen, waren hier erst vor Kurzem Vamps und Hexen entlanggekommen, doch außer dem Geräusch meiner Schritte auf den Stufen hörte ich nichts, kein Echo. Sie klangen hohl wie Holz und waren nicht ganz glatt, jedenfalls nicht so, als seien sie erst kürzlich geschliffen und lackiert worden. Durch die Gerüche der Vamps und den durchdringenden Angstgeruch der Hexen roch der Tunnel alt, leicht muffig, nach Tee, Indigo, Reis und Baumwolle. Und nach vielen Menschen, Frauen und ihrer Angst, wenngleich von vor langer Zeit.

Vielleicht stammte dieser Tunnel noch aus dem achtzehnten Jahrhundert oder war sogar noch älter, und die Rückseite des Schrankes diente als eine Art Notausgang. Plötzlich erschien ein Bild vor meinem inneren Auge, scharf und deutlich, obwohl ich keine seherischen Fähigkeiten besitze. Eine zu lebhafte Fantasie, das ja, die jetzt möglicherweise durch den Geruch der Angst angeregt worden war. Denn ich sah schwarze Frauen, kaum bekleidet und in Ketten, roch das Melanin ihrer Haut, Eisen, Blut und Angst, Sperma und Erniedrigung. Der Kapitän eines Sklavenschiffes hatte diesen Tunnel benutzt, um seine Ladung erst zu testen, bevor er sie weiterverkaufte. Eine ohnmächtige Wut überkam mich, die Wut der Menschen, die als Sklaven gedient hatten, ähnlich wie die importierten Afrikaner. Die Wut einer Frau, die die Hoffnungslosigkeit einer Gefangenen verstand. Beasts wilde, ungezähmte Wut.

Zorn setzte meine Nerven in Brand und kitzelte auf meiner Haut. Beinahe wäre ich auf einer Stufe ins Stolpern geraten, die tiefer war als die anderen. Und stutzte, als die nächsten drei wieder niedriger waren, als wollte man mit Absicht für Unsicherheit und Verwirrung sorgen. Ich ging den engen Tunnel weiter, während sich meine Augen langsam an die Schwärze gewöhnten und meine anderen Sinne schärfer wurden, sich öffneten, die Umgebung erforschten. Die Laute wurden dumpfer, kürzer, und da wusste ich, dass ich unten angekommen war. Vor mir war ein schmaler Streifen Licht. Ich streckte die Hand aus und fand einen hebelartigen Griff. Ich drückte ihn hinunter. Eine Tür öffnete sich. Drei schwarz gekleidete Männer standen vor mir. Ich roch Derek und hob die Hände. »Ich bin es nur«, sagte ich. Wut und Enttäuschung lagen in meiner Stimme. »Nur ich.«

»Im Dunkeln haben wir diese Tür übersehen. Wenn sie hier durchgekommen sind, sind sie schon lange weg«, sagte Derek.

Über seinem Kopf ging der Mond auf Vollmond, die drei Tage, die besonders günstig für dunkle Künste waren, in denen Werwölfe sich wandelten und Beasts Sexualtrieb am stärksten war. Wenn die Damours vorhatten, die Kinder und Bliss zu opfern, würden sie es bei Vollmond tun.

Ich ging an die Bordsteinkante, wo ich noch einmal ihre schwächer werdende Witterung aufnahm. Und Dieselabgase roch. Sie waren fort. Ich hatte keine Ahnung, wohin ihre Entführer geflüchtet waren. Wieder einmal musste ich ganz von vorne anfangen. Tränen brannten in meinen Augen. Mir lief die Zeit davon.

Als ich nach Hause kam, roch ich Evangelina Everhart, die älteste der Hexenschwestern, und Big Evan, Mollys Ehemann, der zwar ebenfalls Hexer war, sich aber noch nicht geoutet hatte. Und Molly. Als ich durch die Tür trat, kam sie mir entgegengelaufen. Warf sich in meine Arme, drückte mich an sich. Über ihre Schulter hinweg begegnete ich Evans Blick, in dem Mordlust lag. Sein roter Bart bebte vor unterdrückter Wut. Am liebsten hätte er mir gleich hier und jetzt den Hals umgedreht. Ich konnte es ihm nicht verübeln; durch meine Schuld war seine Frau schon mehr als einmal in Gefahr geraten, er wäre fast zu Tode gekommen, und nun hatte ich es zugelassen, dass seine Kinder entführt wurden. In seinen Augen zählte es wenig, dass ich nicht anwesend war, als es passierte. Und in meinen auch nicht, um ehrlich zu sein.

»Zerbrich dir nicht den Kopf, wie du mich um die Ecke bringen kannst«, sagte ich zu ihm. »Ich werde dir deine Kinder zurückbringen, oder ich komme nicht lebend zurück.«

»Das möchte ich dir auch geraten haben«, brummte er. »Sonst ziehe ich dir bei lebendigem Leibe die Haut und das Fell ab.«

Evangelina, die nicht wusste, dass ich ein Skinwalker war, sah verwirrt zwischen uns hin und her und suchte dann wie immer Trost in Essen und Tee. Sie füllte die Teller mit einem herzhaften Schmorgericht aus einem Topf auf dem Herd, gab einen Löffel braunen Reis in die Mitte, stellte Salatschüsselchen daneben und legte warme Brötchen von einem Backblech in den Brotkorb. Nervennahrung. »Setzt euch. Esst«, befahl sie. Ich befreite mich aus Mollys Armen und schob sie Evan zu, der aussah, als hätte er sie mir jeden Moment entrissen. Ich schnallte das Rückengeschirr samt Flinte ab und legte es auf den Küchenschrank, die anderen Waffen legte ich nicht ab.

Dann setzte ich mich, tastete nach dem Löffel und tauchte ihn in den Reis und den Eintopf.

»Berichte«, sagte Evan. Ich legte den Löffel wieder hin und blinzelte die Tränen weg.

»Nein. Sie soll erst essen«, sagte Mol scharf. »Sieh sie dir doch an. Sie bricht doch gleich zusammen.«

Ich nahm den Löffel wieder in die Hand und schaufelte mir den Eintopf in den Mund. Ich wusste, dass er gut war, aber er schmeckte wie Asche. Ich aß mechanisch, und innerhalb von Minuten war der Teller leer. Den Salat ließ ich links liegen und nahm mir vier Brötchen, legte sie auf den Brotteller, bestrich sie mit Butter und Honig und schlang sie hinunter. Als ich fertig war, brachte Molly mir einen zweiten Teller Eintopf. Und dann noch einen. Während ich kaute, liefen mir die Tränen über das Gesicht. Keiner der anderen aß etwas. Sie beobachteten mich. Als ich den dritten Teller geleert hatte, seufzte ich und schob ihn von mir. Ohne jemanden anzusehen, wischte ich mir über das Gesicht, nahm meinen Teebecher und begann zu erzählen. Alles wobei ich mir Beasts Verdienste zuschrieb, doch ausnahmsweise schien sie nichts dagegen zu haben.

Während ich weiteraß, berichtete Evangelina von ihrem Besuch bei dem Hexen-Coven. Sie hatten behauptet, nichts von dem Überfall in meinem Haus zu wissen, doch es gab Ungereimtheiten in ihren Aussagen, und Evangelina spürte, dass sie ihr etwas verschwiegen. Außerdem erschienen lediglich drei der Mitglieder zu dem Treffen mit ihr, obwohl es fünf Erwachsene in diesem Coven gab. Kurz: Es stank zum Himmel, auch wenn Evangelina sich niemals so ausgedrückt hätte.

Noch während sie sprach und ich aß, klopfte es, und Rick öffnete die Seitentür. Ich hatte seinen Reiskocher schon gehört, war also nicht überrascht. Nachdem ich ihn mit den anderen bekannt gemacht hatte, stellte Evangelina einen Teller Eintopf vor ihn hin. »Haben Sie das zubereitet?« Als sie nickte, sah er mich an und sagte: »Sei mir nicht böse, aber ich muss unser Date leider absagen. Ich muss sie heiraten.« Meine Tränen waren mittlerweile getrocknet, und ich verzog die Lippen zu einem gezwungenen Lächeln. Er versuchte, uns aufzuheitern, was ich ihm hoch anrechnete. Auch, wenn es ihm nicht gelang. Er tauchte ein Stückchen Brot in die Soße. »Als ich die Akten über Vamps und Hexen fotokopierte, bin ich auf etwas gestoßen.« Das plötzliche Interesse der drei Hexen am Tisch bemerkte er gar nicht, so beschäftigt war er mit seinem Eintopf. Dass Molly eine Hexe war, war ihm sicher bekannt, von den anderen wusste er vermutlich nichts.

»Diese Hexenvampirin, Renée, und ihr Mann waren früher als sie noch Menschen waren die Besitzer der heutigen Blutmeisterin des Clans, Bettina.« Meine Kinnlade klappte herunter. Rick grinste, als er meine Reaktion sah. »1770 wurde Bettina von Tristan Damours an eine Vampmadame namens Bethany verkauft, die sie nach New Orleans verschiffte und dann als Sexsklavin im Quarter anbot. Offenbar hat Bettina ihre Kunden zufriedenstellen können, denn die Geschäfte liefen gut.«

Bethany hatte Sklaven besessen? Kopfschüttelnd überlegte ich, was wohl der Anlass für den Bruch zwischen Bethany und Sabina während des Bürgerkriegs gewesen war. Wenn es dabei um Sklaven gegangen war

»Später wurde sie dann krank ein befreundeter Krankenpfleger meinte, die Symptome deuteten auf einen Tripper hin. Bettina wurde auf Bethanys Bitte hin gewandelt, um am Leben bleiben zu können.« Rick zog einige Papiere aus seiner Lederjacke und reichte sie mir. Als Erstes fiel mir ein Foto von Bettina als damalige Bordsteinschwalbe auf: Korsage, Pluderhosen und ein Schultertuch.

»Bethany hat sie gewandelt?«, fragte Evangelina.

»Nein. Sie gehört keinem Clan an, und ein Clanloser darf einen Menschen nicht wandeln, weil er ihm während der Jahre, die er in Ketten verbringen muss, keinen sicheren Unterschlupf bieten kann. Keinen Schutz. Und damals war der Wahnsinn in der Rousseau-Familie noch ein Geheimnis. Als sie ihn darum bat, erklärte sich der Meister der Rousseaus dazu bereit, sie zu wandeln und in seinen Clan aufzunehmen.«

Rick drehte die Seite um und deutete auf eine in einer schnörkeligen Handschrift geschriebene Zeile. »Bettinas Entlassung in die Freiheit, hier in New Orleans, war ein Versehen welcher Art genau, steht nirgendwo , denn damals war sie immer noch ein Rogue. Sie machte sich auf die Suche nach den Damours, um sie zu töten. Doch es gelang ihr nicht. Als Bettina Blutmeisterin des Clans wurde, hatte sie auf einmal Macht über Renée und versuchte, die angeketteten Damours zu töten. Renée hielt sie auf. Wie, ist nicht überliefert.«

Er stopfte sich ein knuspriges halbes Brötchen in den Mund und redete weiter. »Bei Bettina können wir ansetzen. Wir müssen mit ihr reden. Wenn wir sie finden.«

Ich spürte ein Vibrieren und klappte mein Handy auf. Es war Derek Lee. »Ja?«

»Ich stehe vor Ihrem Haus. Nehmen Sie die Bilder. Sie machen meine Männer unruhig.«

»Wie viele haben Sie rausschaffen können?«

»Alle.«

»Wer ist nach uns dort erschienen? Die Cops?« Ohne hinzusehen, spürte ich, dass Rick mich nachdenklich ansah, während er weiteraß.

»Keine Cops. Blutdiener und Sklaven. Ich habe einen Mann auf der anderen Straßenseite postiert. Gerade laden sie die Angeketteten in einen Sattelschlepper. Machen den Laden leer. Wenn er kann, bringt mein Mann einen Peilsender an. Das hatten Sie doch im Sinn, als Sie sagten, wir sollten sie als Köder benutzen, oder?«

Ich konnte hören, dass er grinste. »Danke.«

»Geben Sie uns die Prämien für die Köpfe der Angeketteten, dann sind wir quitt.«

Ich dachte zurück an die Gesichter der rasenden Vamps. Und wie das Vampmädchen sich ihr Blut vom Arm geleckt hat. Auf der einen Seite schien es falsch zu sein, sie endgültig zu töten, wenn sie noch eine Chance auf Genesung hatten. Doch nicht, wenn deswegen Kinder sterben mussten. »Sie gehören Ihnen.«

Das Handy zuklappend, stand ich auf und blickte auf die Hexen hinunter. »Es gibt neue Erkenntnisse.« Das ließ Rick aufblicken. Sein Gesichtsausdruck machte deutlich, dass er sich fragte, ob das, was jetzt kam, für seine Ohren bestimmt war. »Frag nicht«, warnte ich ihn. Er lehnte sich zurück und legte den Löffel aus der Hand.

»Ich habe das Gefühl, dass das Zeug auf den Bildern scheußlich anzusehen ist. Vermutlich sind Zeremonien darauf zu sehen, in denen Vamps Hexenkinder opfern.« Molly schlug sich die Hand vor den Mund, ihre Finger zitterten.

»Wenn ihr meint, ihr kommt nicht damit klar, dann geht jetzt lieber nach oben. Und du«, sagte ich zu Rick, »sieh dir die Männer, die sie bringen, nicht an.« Ich ging zur Tür.

Derek Lee hatte bereits ein halbes Dutzend Bilder auf die Veranda gebracht. Ich schleppte sie nach und nach ins Haus. Die Rahmen waren schwer und vergoldet, sie wogen jeder über zwanzig Kilo, viel mehr, als es mir in dem Vampirnest, vollgepumpt mit Adrenalin und mit Beast nah an der Oberfläche, vorgekommen war. Ich lehnte die insgesamt fünfzehn Bilder an die Couch. Dann nahm Rick die Bilder und stellte sie nebeneinander vor den Möbeln auf, und Evangelina sortierte sie dann, die Lippen zu einem schmalen Strich zusammengepresst, in zwei Gruppen an den gegenüberliegenden Seiten des Zimmers. Der Van donnerte davon.

Als ich das letzte Bild hereingebracht hatte, schloss ich die Tür. Molly lag in Evans Armen, das Gesicht an seiner Schulter. Ich konnte ihre Angst riechen. Evans Furcht wurde von seinem wachsenden Zorn überdeckt. Evangelinas Geruch war komplexer, sie hatte ihre Gefühle im Griff.

Rick betrachtete die Bilder und schenkte mir keine Beachtung. Es war nicht das erste Mal, dass ich wichtige Anhaltspunkte in Bildern fand, die Vamps darstellten. »Wie gut, dass Vamps jede ihrer bedeutenden Taten in Ölgemälden festhalten«, murmelte ich. »Egozentrische Blutsauger.«

Evangelina sagte: »Das kommt vielleicht daher, dass versilberte Spiegel ihr Bild nicht richtig reflektieren. Wenn sie wissen wollten, wie sie aussahen, mussten sie sich malen lassen.« Die beiden Gruppen, die sie zusammengestellt hatte, waren nach Zeitabschnitten geordnet. Auf den Bildern der einen Gruppe trugen die Frauen bauschige Röcke, weite Ärmel und Korsagen, die knapp unter dem Bauchnabel endeten, und die Männer Kniebundhosen, Spitze und Satin, Schuhe mit hässlichen großen Schnallen und weiße Turmfrisuren. Die Gemälde der anderen Gruppe zeigten Menschen besser gesagt, Vamps und Hexen in schmalen Kleidern mit hohen Taillen und tiefen Ausschnitten, feinen Schuhen und Haaren, die ihre natürliche Farbe hatten.

Obwohl die dargestellten Personen sich über die Jahre hinweg änderten, hatten die, die die Rituale durchführten, stets Messer in der Hand und Fangzähne. Auch einige der Vamps innerhalb des Hexenkreises und des Pentagramms hatten Fangzähne und befanden sich ganz offensichtlich im Zustand der Raserei; auf mehreren Bildern erkannte ich die beiden Teenager, die ich in dem Lagerhaus gesehen hatte, die beiden, die seit so langer Zeit angekettet waren. Die Kinder, die als Opfer gedient hatten, waren tot; sie lagen mit durchschnittener Kehle in der Mitte des Pentagramms. Auf einigen Bildern wurde von ihnen getrunken, noch während sie starben.

Auf den anderen Darstellungen war zu erkennen, dass an den Experimenten auch immer wieder etwas verändert wurde. Eine davon zeigte die Lang-Angeketteten, wie sie den Opfern die Kehle herausrissen und sie leer tranken. Auf einer anderen war, vermutete ich zumindest, Renée zu sehen. Ihr Mann und ihre beiden Kinder befanden sich innerhalb des Kreises und fielen über einen Menschen her. Zwei jüngere Kinder ohne Fangzähne wurden von Renée geopfert, die ein Silbermesser in die Höhe hielt. Auf den späteren Bildern mit den beiden Damours nahm auch ein bärtiger Vamp an der Zeremonie teil. Der Bruder? Hieß es nicht, er habe als Letzter seinen Verstand wiedererlangt? Ich änderte die Reihenfolge der beiden Gemälde und lächelte grimmig. »Evangelina, du bist doch die Gebildete unter uns. Wie sind die Gemälde zeitlich einzuordnen?«

»Ich habe zwar nicht Mode studiert«, sagte sie trocken, »aber ich würde sagen, die älteren Werke stammen aus dem siebzehnten Jahrhundert und die jüngeren aus dem frühen achtzehnten. Dieses hier «, sie tippte auf ein Bild, auf dem die dargestellten Personen moderne Kleidung trugen, » – wurde in den Siebzigerjahren des zwanzigsten Jahrhunderts gemalt.«

»Das habe ich mir gedacht.« Auf diesem Gemälde befanden sich nur die Kinder innerhalb des Kreises, und die Erwachsenen, vermutlich Damours, standen außerhalb, an den Spitzen des Pentagramms.

»Weißt du, was das alles zu bedeuten hat?«, fragte Rick. »Ich habe nämlich keinen blassen Schimmer.«

»Es hat nie Aufzeichnungen über die Experimente vom siebzehnten Jahrhundert an gegeben. In dem Feuer konnte gar nichts zerstört werden.« Ich drehte eines der Ölgemälde ins Licht, um das Gesicht des fremden Vamps genauer betrachten zu können. Ich fragte mich, wer er wohl war. »Diese Gemälde sind die Aufzeichnungen. Sie kamen per Schiff in die USA, vermutlich auch in diesen Rahmen, aber versteckt hinter anderen, weniger wichtigen Bildern. Einige der späteren wurden vielleicht auch hier angefertigt. Aber das ist das Protokoll der Rousseaus über die Experimente, die den Clan vom Wahnsinn befreien sollten.«

»So konnten sie hergebracht werden, ohne dass jemand davon erfuhr«, sagte Evangelina.

Die Malstile variierten ebenso sehr wie die Experimente. Auf den älteren Bildern gab es kein Pentagramm innerhalb des Kreises. Und keine Kreuze an den Bäumen. Auf den neuesten Bildern waren alle Elemente, die ich an der Grabstätte vorgefunden hatte, zu erkennen. Außer »Auf den älteren Bildern sind der Kreis und das Pentagramm in die Erde geritzt worden, wie mit einem Spaten. Auf den neueren bilden andere Dinge die Kreise. Auf dem einen etwas, das aussieht wie Puder oder Mehl, auf dem anderen sind es Blumen. Federn. Und auf zwei weiteren Steine, einmal Kieselsteine, einmal eine Art Backsteinstücke.«

»Und die zeremoniellen Athamen für die Opferzeremonie sind auf den älteren Bildern aus Stahl. Auf den neueren sehen sie aus wie aus Silber«, sagte Evangelina. »Und die die Rituale durchführenden Vamps ändern sich.«

»Und da ist wieder dieser bärtige Typ. Er ist auf«, Evangelina zählte, »sechs der späteren Gemälde zu sehen. Seht euch seine Position an. Fast, als habe er jetzt das Sagen. Und ich wette, die Halskette, die er immer trägt, ist ein Amulett, mit dem er den anderen Macht entziehen kann.«

Ich betrachtete das Amulett genauer. Mit Edelsteinen kannte ich mich nicht gut aus, aber dieser hier sah aus wie ein pinkfarbener Diamant oder ein verwaschener, blasser Rubin, ungefähr von der Größe eines Daumens vom obersten Gelenk bis zur Spitze, der rundum facettiert war. Er hing an einer schweren Goldkette in einer dicken Fassung in Form von Hörnern und Krallen. Der Schmuck sah barbarisch aus, brutal und mächtig, ein Artefakt aus einer fernen Zeit, von einem fernen Ort.

»Das haben sie mit meinen Babys vor?«, fragte Molly. Von dort, wo sie stand, konnte sie alle Bilder sehen. Sie hatte die Fäuste so fest geballt, dass ihre Finger weiß waren, und ihre Züge drückten Angst und Trauer und eine wilde Wut aus. Ich wollte ihr versprechen, dass ich ihre Kinder rechtzeitig finden und sie retten würde. Doch damit würde ich eher mir selbst Mut zureden. Denn nun wusste Molly, womit wir es zu tun hatten. Stattdessen nickte ich und trat zu dem letzten Bild aus dem achtzehnten Jahrhundert. Darauf war eine Person zu sehen, die sich sonst auf keinem der anderen Gemälde fand. Mit wehendem Gewand und blitzenden Augen rannte sie einen Hügel hinunter, in den Händen ein flammendes, blutiges Kreuz. Sabina Delgado y Aguilera eilte zu Hilfe, ihr Gesicht zu einem Schmerzensschrei verzogen, die Arme in Flammen, die züngelnd nach ihrem Körper griffen. Die Vamps in dem Kreis flüchteten mit entsetzten Gesichtern.

Sabina hatte ganz genau gewusst, wovon ich sprach, als ich ihr von dem jungen Rogue und dem Hexenkreis im Wald erzählte. Und sie hatte sich nichts anmerken lassen.

Es klopfte leise an die Tür. Molly fuhr herum. Ihre Wut und ihre Panik lagen bitter in der Luft. Niemand hatte daran gedacht, das Haus mit Schutzbannen zu sichern. Ich spähte durch die Scheibe und warf dann einen Blick über meine Schulter. Rick hatte seine Waffe gezogen und Evan die Hände abwehrend gehoben. Ich öffnete die Tür. Auf der Veranda standen zwei mir unbekannte Hexen. Doch ich erkannte ihre Witterung.

Sofort sprang Beast auf; ich spürte ihr Fell unter meiner Haut, ihre Krallen scharf in meinen Fingerspitzen. Kinderdiebe! Mit einem Satz war Beast in meinen Gedanken. Blitzte in meinen Augen.

Eine der Hexen, zart und blond, machte hastig einen Schritt zurück, Entsetzen in den Augen. Riss die Hände in die Höhe, die Handflächen nach vorn, in denen sich die Energie sammelte. Doch bevor sie ihren Zauber werfen konnte, sprang ich. Packte sie, drückte ihr einen Vampkiller an die Gurgel. Der Geruch der Kinderdiebin stieg mir ölig in die Nase. »Gibt es einen Grund, warum ich dich nicht auf der Stelle töten sollte?«, knurrte ich.

Schreie erklangen um mich herum. Die andere Hexe flehte. Molly rief meinen Namen. Evan brüllte. Aber die Todesangst der Hexe roch und schmeckte süß. Berauschend. Ich wollte ihr Blut. Ich zog die Klinge über ihre Haut, nur ein paar Zentimeter. Die Haut der Hexe teilte sich. Sie weinte. Ich sog die Luft ein und lächelte, zeigte meine tödlichen Zähne. Flüsterte: »Kinderdiebin. Stirb.«

Es war Evangelina, die mich an den Armen packte. Aus ihren Fingern strömte die Macht wie kühles Bayouwasser und spülte meine Wut weg. Mit sanfter Stimme sagte sie: »Warte. Noch nicht. Jane, lass sie los. Ich habe sie, sie kann nicht flüchten.«

Ich sah ihr in die Augen und zischte mit gutturaler Stimme: »Kinderdiebin.«

Zu meinem Erstaunen lächelte Evangelina. Auf einmal war sie schön: ihre grünlichen Augen funkelten, und ihr Gesicht sah jung aus. »Und wir haben sie jetzt. Sie kann nicht entkommen.« Sie drückte leicht gegen den Vampkiller. Ich blinzelte, als Beasts und meine Sicht sich übereinanderschoben. Evangelinas Ruhe wirkte auf mich, als striche eine Hand über mein Fell, besänftigte mich. Ich ließ zu, dass sie die Waffe fortschob. Langsam öffneten sich meine Finger, einer nach dem anderen. Ich ließ die Hexe los. Unter Evangelinas Hand ließ meine Rage nach, zog sich zurück, fand einen Ruheplatz, wie ein sonnenwarmer Stein in meinem Geist. Schwankend blinzelte ich in das grelle Licht, dann trat ich zurück, das Messer noch in der Hand. Es war das, was Evan für mich geschnitzt hatte, und als ich aufsah, sah ich, dass sein Blick auf dem Griff lag.

»Kommen Sie doch herein«, sagte Evangelina zu den beiden Hexen in freundlich einladendem Ton. Eine Gastgeberin, die ihre Gäste empfängt. »Und dann werden Sie uns alles erzählen.« Ihre Lippen verzogen sich zu einem Lächeln, das mein Herz kurz stillstehen ließ. »Oder ich werde Sie eigenhändig töten.«

Beast gefiel diese Frau. Sie war weise und stark.

Ich ging ins Haus und machte mich daran, Tee zuzubereiten. Die Blicke der anderen ignorierend. Um meinen Platz, mich selbst, in Beasts zornigem Herzen wiederzufinden.

Die Geschichte, die die Hexen uns erzählten, war einfach und so dumm, dass sie einfach stimmen musste. Ein Vampirhexer also ein Hexer, der gewandelt worden war hatte sich an ihren kleinen Coven gewandt, fünf Hexen aus derselben Blutlinie, die zusammenarbeiteten. Er hatte behauptet, er habe Beweise dafür, dass Leo Pellissier Kinder mit dem Hexen-Gen entführe und töte. Auf diese Weise wolle er die nächste Hexengeneration auslöschen, um seine sinkende Macht zu stärken. Dass er mächtiger war als Leo, hatte er bewiesen, indem er durch die letzten Sonnenstrahlen des Tages gegangen war. Sie hatten ihm seine Geschichte geglaubt. Also hatten sie ihm, entgegen den Wünschen der anderen Coven der Stadt, ihre Hilfe zugesagt. Im Laufe ihrer Zusammenarbeit hatte er mehrere unregistrierte Hexenkinder und Teenager sowie die ungefähre Lage ihrer Wohnorte ausfindig gemacht.

Bei Bliss’ Entführung, die nur durch eine Alarmanlage, nicht durch Banne geschützt gewesen war, hatten der Vamp und die Hexen nur zugeschaut. Zwei Vamps, vermutlich Renée und Tristan, hatten Bliss mit einem Zauber belegt. Sie war dann aus dem Fenster ihres Zimmers geklettert. Die zuschauenden Hexen hatten eingegriffen, um sie zu retten. Aber der Vamp, der doch angeblich auf ihrer Seite war, hatte sich plötzlich gegen die Hexen gewandt und den Damours geholfen. Während des Kampfes wurden beide Hexen verletzt.

Dann hatten die Damours beiden Hexen ein Amulett auf die Brust gelegt, in ihr Blut, das ihnen die Kräfte nahm. Anschließend hatten sie Bliss über die Mauer getragen und die Hexen gezwungen, ihnen zu folgen. In meinem Haus hatten sie die Banne durchbrochen, sich die Kinder geschnappt und waren verschwunden. Die betrogenen, verletzten und ihrer magischen Energien beraubten Hexen hatten sie zurückgelassen. Sie mussten sich im Dunkeln auf den Heimweg machen.

»Warum haben die Vamps Sie nicht ausgesaugt?«, fragte Rick.

»Einer hat es versucht. Aber das kleine Mädchen, das hier wohnt, hat ihn mit irgendetwas beworfen«, sagte die blonde Kleine. »Ich habe nicht gesehen, was es war, aber es hat gewirkt. Er hat sie angesehen und von uns abgelassen. Es war seltsam.«

Angelina. Angelina hatte seine Aufmerksamkeit erregt. Mit ihrer starken, kaum beherrschbaren Energie war sie das perfekte Opfer. Am liebsten hätte ich den Hexen für ihre Dummheit den Kopf abgerissen.

»Wir waren beide ziemlich schlimm dran, sie haben uns unsere magischen Fähigkeiten genommen«, sagte die andere Hexe, »aber sobald wir konnten, haben wir uns auf den Weg hierher gemacht, um Ihnen alles zu erzählen.« Ängstlich sahen die Hexen erst einander, dann mich an. Sie saßen am Küchentisch, Rick lehnte am Schrank, und Evan stand in der Tür, als müsse er Abstand wahren, um nicht jemandem an die Gurgel zu gehen. Evan war groß und kräftig. Wenn er die Beherrschung verlor, konnte es gefährlich werden. Ich stand ein wenig abseits und schwieg. Beast war immer noch in meinen Augen zu sehen, der Vollmond bewirkte, dass sie dicht an der Oberfläche blieb. Fürs Erste überließ sie jetzt mir die Alpha-Rolle, aber ich wusste, es würde nicht andauern.

Die Kleinere, Blonde sagte: »Ich heiße Butterfly Lily. Meine Mutter heißt Feather Storm.« Als sie sah, dass Evangelinas Brauen in die Höhe wanderten, lächelte sie. »Okay, das sind nicht unsere richtigen Namen, sondern die, die wir im Coven benutzen. Die echten erfahren Sie heute Abend nicht.« Ihr Lächeln fiel in sich zusammen, als würde das Gewebe darunter reißen und das Gefühl mit ihm.

»Wir dachten, wir würden das Richtige tun, dass wir die Hexenkinder retten und durch die Zusammenarbeit mit den Vampiren die Kluft zwischen unseren Gattungen überbrücken würden. Dass wir auf der Seite der Sieger seien.« Butterfly Lily senkte den Kopf und redete leiser weiter. »Mom und ich sind nicht sehr mächtig. Die meiste Zeit übernehmen wir lediglich die Routinearbeiten während der Rituale.«

An Evangelina gewandt sagte sie: »Wir haben ihn zu unserem Coven geführt. Er wollte uns helfen, die Kidnapper zu fassen. Wir haben ihm geglaubt. Er war sehr überzeugend.«

Evangelina sagte nichts. Auf ihrem Gesicht lag eine Mischung aus Traurigkeit und Verachtung. Sie seufzte. »Fahren Sie fort.«

»Ich weiß, es war dumm von uns. Wir waren dumm. Er hat uns wochenlang die Vamps beobachten lassen. Wir mussten ihnen zu ihren Partys, zu ihren Nestern folgen. Informationen sammeln.«

Draußen auf der Straße vor der Vampparty hatte ich fünf Hexen gesehen. Verborgen hinter einem Illusionszauber. Beobachtend. Diesen Coven also. Der die schmutzige Arbeit für die Damours gemacht hatte.

»Er hat uns dazu gebracht, alle nicht bekannten Hexen und Hexenkinder in der Stadt aufzuspüren, um sie zu beschützen. Er sagte, wenn er genug Beweise habe, um Leo zu überführen, würde er den Blutmeister der Stadt stürzen. Und wenn er dann an der Macht wäre, würde er den Waffenstillstand mit uns ausrufen und sich mit uns an einen Tisch setzen, um zu verhandeln.«

Ich kämpfte gegen einen Gegner, den ich nie persönlich getroffen hatte. Einen Feind, den ich bisher nur auf Gemälden gesehen hatte und in den jungen Gesichtern seiner Kinder. Mir war zum Weinen zumute.

Feather Storm sagte: »Jetzt sind alle Coven in dieser Stadt sehr böse auf uns. Wir tun alles, was in unserer Macht steht, um Ihnen zu helfen.«

Da ich Beast gut unter Kontrolle hatte, verließ ich das Zimmer und kam mit einem Gemälde zurück, das, wie ich vermutete, die drei Damours und ihre Kinder zeigte. Als ich den beiden Frauen das Bild entgegenhielt, zuckten sie zurück, als sei es böse. »Sind das diejenigen, die die Kinder entführt haben?«, fragte ich. Als die Hexen mit den albernen Namen nickten, sah ich Rick an. »Wenn alle drei erwachsenen Damours jetzt gesund sind, heißt das, dass die Blutmagie gewirkt hat bei den Erwachsenen, nicht jedoch bei den Kindern. Daher experimentieren sie an Fremden, indem sie sie erst wandeln und dann jedes Mal das Ritual verändern, in der Hoffnung, irgendwann Erfolg zu haben. Das steckt hinter dem Ganzen. Das ist der Beweis. Eine Methode, mit der man Gewandelte zurückholen kann, ohne den Wahnsinn des devoveo, und mit der die Lang-Angeketteten geheilt werden können. Und es bedeutet, dass sie einer Lösung nahe sind.

Sie wissen, dass sie der Tod erwartet, wenn sie gefasst werden, und dass eine Säuberung folgen wird, deswegen ergreifen sie die Initiative, indem sie sich mit starken Clans zusammentun, Leos Machtbasis unterminieren und seinem Feind Rafael Auftrieb geben. Ich glaube, dass sie auch hinter den jüngsten Übergriffen der Crips auf andere Gangs stecken. Auf diese Weise ist die Polizei zu abgelenkt, um zu bemerken, was sich hier zusammenbraut, nämlich ein Krieg mit Leo. Gib das an Jodi weiter. Mal sehen, was ihr findet.«

Mein Handy klingelte, und ich nahm ab. Derek sagte: »Nichts zu machen, Prinzessin. Einer meiner Männer hat zwar einen Sender in dem Laster mit den Angeketteten unterbringen können, aber die Sicherheitsleute haben ihn gefunden. Wir haben sie verloren.«

Mir sank der Mut. »Okay, Derek, danke.« Ich legte auf und sah meine Gäste an. »Ich muss los«, sagte ich. »Bin aber bald zurück.« Natürlich folgte darauf ein großes Palaver, doch ich schnallte mir die Flinte auf den Rücken, schwang mich auf Mischa und fuhr los.

Ich hätte seine Reifen aufschlitzen sollen. Denn dass Rick mir auf seinem Reiskocher folgte, dagegen konnte ich nichts tun. Ich konnte es ihm ja schlecht verbieten.