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Aber bei schnellen Autos und Geld wären wir

wieder bei den Frauen

»George Dumas, erster Blutdiener Pellissiers.« Die leise gesprochenen Worte wehten über den Flur und wurden von den alten Backsteinmauern zurückgeworfen eine weibliche, verführerische Vampstimme. Ich warf ihm einen Blick zu, und wortlos drehten wir uns um. Unsere Körper bewegten sich so synchron, als hätten wir jahrelang zusammen trainiert.

In einem Raum mit offener Tür stand eine kleine Vampirin, beleuchtet von hellem elektrischem Licht. Sie winkte uns; wir gingen auf sie zu. Hinter ihr befand sich offenbar eine große Vorratskammer, denn an den drei Wänden reihten sich Regale mit ordentlich sortierten Dosen und Kartons, und an einer Seite standen Haushaltsgeräte inklusive Waschmaschine und Trockner. Wir befanden uns im hinteren Teil des Gebäudes; ich konnte deutlich den Mississippi riechen. Zögernd blieb ich in dem schummrigen Flur stehen und sog schnell ihren Geruch ein.

Sie war klein, schlank wie ein Model, mit gesträhntem blonden Haar und den blausten Augen, die ich je an einem Menschen oder einem sonstigen Wesen gesehen hatte. Um ihren Hals lag eine diamantene Halskette, so schwer, dass man sie als Collier bezeichnen konnte, und von ihren Ohren baumelten Tropfen aus Diamanten und blauem Topas so groß wie Walnüsse. »Hier herein«, flüsterte sie. Ich kannte sie nicht, und es widerstrebte mir, ihr zu folgen. Bruiser dagegen trat näher, sodass wir auf gleicher Höhe waren. Vampirschnell packte sie meinen rechten Arm und Bruisers linken. Ihre winzige Hand war wie eine stählerne Handschelle, kalt und hart. Und stark.

Schnell wie der Blitz griff ich nach einem Pflock. Ruckartig zerrte sie an mir. Riss mich zu Boden. Warf mich in den Raum. Ich schlug gegen das hintere Regal. Mit dem Pflock in der Hand rappelte ich mich auf. Blickte zurück. Sah, wie sie Bruiser nach mir warf, als würde er nichts wiegen. Noch als er sich im Flug befand, knallte die Tür der Vorratskammer zu. Ich musterte sie schnell: sieben Zentimeter dickes Hartholz, verstärkt mit Eisenbeschlägen. Eine Falle.

Ich fing Bruiser mit meiner Hand ab. Mit schmerzvollem Ächzen prallten wir aufeinander, und die Regalbretter rammten sich in meinen Rücken. Das Schloss klickte zu. Die Wucht seines Falls nutzend, stieß ich Bruiser zur Seite. Mit einer kontrollierten Rolle landete er auf allen vieren und war beinahe so schnell wie ein Vampir wieder auf den Beinen.

Mit einem Pflock in jeder Hand stürzte ich mich auf sie. Sie war schnell. Die Vampirin bekam mich wieder zu fassen und schleuderte mich mit einer Kampfsportbewegung, so elegant wie ein Tanzschritt, in die Ecke. Sie sprang zurück. Mit dem Rücken an der Tür streckte sie die Hände in einer beruhigenden Geste aus. »Ich will Ihnen nichts tun«, sagte sie, als ich mir wieder einen sicheren Stand verschafft hatte.

Doch ich zog es vor, ihr nicht zu glauben, und zog mein kleines Messer, wobei ich es mit der Klinge nach unten packte wie ein Straßenkämpfer. Beast fauchte, blieb aber geduckt, beobachtete nur. Ihre Krallen fühlten sich in meinem Geist wie Stahlspitzen an, und ihre Energie durchströmte meinen Körper. Mein Atem kam heftig und schnell. Ich ließ die Klinge im grellen Licht der Lampen blitzen, damit sie sah, dass sie versilbert war und damit giftig für Vertreter ihrer Art. Mit gezogenen Waffen fühlte ich mich gleich besser, auch wenn ich gewünscht hätte, die Klinge wäre größer.

Bruiser stand aufrecht da und hatte die Hände in vampirartiger Anmut ausgestreckt, als wir beide die Vampirin abschätzend beäugten. Sie sah nicht das Messer an, sondern uns. Ihre Augen schossen hin und her, und ihre Körperhaltung ließ darauf schließen, dass ihr Kampftechniken nicht ganz fremd waren und sie gewillt war, diese auch zu demonstrieren. Und sie versperrte uns die Tür.

Außerdem war sie hungrig. Ihre Haut war blass, aber ihre Augen waren nicht schwarz und blutrot, sondern kühl und beherrscht. Ihr kräftiger Griff ließ vermuten, dass sie alt war und mächtig, und trotz ihrer zierlichen Figur würde ich meine liebe Mühe haben, sie mit nur zwei Waffen und ohne Schutzkleidung auszuschalten.

Doch sie hatte gesagt, sie wollte uns nichts tun. Und eigentlich war sie dafür auch recht unpassend gekleidet. Ihr Kleid trug die Handschrift der Drachenlady, denn selbst an ihrer winzigen Gestalt sah es lang, schmal und elegant aus. Der Stoff war mitternachtsblau und mit Silberfäden durchzogen vermutlich ein kleiner Scherz unter Vampiren. Und sie trug Schuhe aus blau-schwarzem Straußenleder mit Pfennigabsätzen und kleinen Federn auf den Schnallen. In dieser Vorratskammer wirkte sie vollkommen fehl am Platz. »Ich werde Ihnen nichts tun. Wenigstens nicht jetzt gleich. Friede.«

Ich senkte meine Hände ein ganz kleines bisschen, um ihr zu zeigen, dass ich zuhörte. Auch Bruiser ließ die Hände fallen und sagte: »Innara vom Bouvier-Clan. Wie kann ich Ihnen zu Diensten sein?«

»Ich habe eine Nachricht von meinem Meister.«

Bruiser blinzelte. In dem vorsichtig-sanften Tonfall, den ich mittlerweile zu schätzen wusste, sagte er: »Sie hätten anrufen können.« Ich lachte schnaubend.

»Konnte ich aber nicht. Mein Meister hat bestimmt, dass viele der Handygespräche der Mithraner abgehört werden.« Innara öffnete die winzigen Hände und spreizte die Finger zu der universellen Friedensgeste. »Diener des Blutmeisters der Stadt New Orleans und die, die man die Rogue-Jägerin nennt, hören Sie mich an.«

Ich wusste, dass ich nur angesprochen wurde, weil ich gerade zufällig da war, aber das machte mir nichts, ich blieb, um zu hören, was sie zu sagen hatte. Aber vor allem, weil eine dicke Tür zwischen mir und der Freiheit war.

Ihre Stimme nahm einen Singsang an, der darauf schließen ließ, dass sie aus dem Gedächtnis zitierte. »Das Bündnis der Mithraner ist in großer Gefahr, sowie auch die Sicherheit der ganzen Stadt. Die Mearkanis und die Rousseaus sind eine neue Koalition eingegangen. Deshalb sind die schwächeren Clans Arceneau und Desmarais ohne Schutz. Sie haben sich mit den St. Martins verbündet, die den Pellissiers die Treue gebrochen haben.«

Bruiser fluchte und erblasste. Ich versuchte zu verstehen, was das alles zu bedeuten hatte. Innara klärte mich auf. »Jetzt gibt es drei Ligen innerhalb der Mithraner statt der ehemals drei. Diese neue Konstellation bedeutet, dass das Bündnis Pellissiers mit den Bouviers und den Laurents an Macht verliert. Pellissiers Feinde planen den Krieg. Rafael kam im Geheimen zum Bouvier-Clan und schlug uns vor, uns seiner Revolte gegen Pellissier anzuschließen. Mein Meister hat offiziellen Gesprächen zugestimmt, weil er es in Erwägung ziehen wolle, doch in Wahrheit ist es eine Finte, um sein Vertrauen zu gewinnen. Man sagt, Rafael habe einen der Söhne der Dunkelheit aufgesucht, um seinen Segen zu erlangen, doch das ist nur ein Gerücht.«

Bruiser war so schockiert, dass er beinahe zur Reglosigkeit eines Vampirs erstarrte. Ich fragte mich, wer diese Söhne waren und warum ihm bei ihrer Erwähnung langsam das Blut aus dem Gesicht wich. Die Söhne der Dunkelheit Das hatte ich doch kürzlich irgendwo gelesen.

Innara trat näher und nahm Bruisers Hände in ihre. »Die neue Union will die alten Sitten wieder einführen. Gerade die Jungen glauben an die Naturaleza, und es gibt viele, die sich nach dem Leben sehnen, dem unsere Alten entsagt haben. Rafael von Mearkanis nährt diese Sehnsucht mit seiner kämpferischen Rhetorik und hofft, dass die Änderung im Machtgleichgewicht es ihm erlaubt, den Meister der Stadt herauszufordern. Sorgt euch nicht. Um sich gegen die neue Allianz zu schützen, wird mein Meister Leo erneut den Bluteid schwören.«

Ich spürte Bruisers Erleichterung wie einen Schlag in den Bauch. Er hatte sich auf etwas anderes gefasst gemacht. »Es ist den Pellissiers eine Ehre.«

Ein Detail hätte ich gern erklärt. »Naturaleza?«, fragte ich.

Bruiser ignorierte meine Frage. »Es gab Hinweise darauf, dass Rafael mehr Macht will.«

»Traditionell«, sagte Innara zu mir, »sichert der Pellissier-Clan das Machtgleichgewicht und erlaubt uns dadurch, uns harmonisch in die Gesellschaft der Menschen einzufügen. Nun ändert sich das.« Sie drückte Bruisers Hände. »Leo muss etwas unternehmen.«

Leo ist außer sich vor Trauer und wird wohl kaum in der Lage sein, etwas zu unternehmen. Aber das sagte ich nicht.

Bruiser sagte: »Das neue Bündnis zwischen den Clans der Pellissiers und der Arceneaus wird uns helfen, den Frieden wiederherzustellen.«

»Arceneau hat Leo die Treue geschworen?«, fragte Innara, und auf ihrem Gesicht erschien ein Ausdruck wilder Freude.

Bruiser nickte. Das war neu für mich. Ich fragte sie: »Wird Leo mit dem Arceneau-Clan zusammen genug Macht haben, um die neue Koalition zu besiegen?«

»Nein«, sagte Innara, »aber wenn Desmarais Leo die Treue schwört und Leo schnell agiert, dann haben wir eine Chance.«

Im Geist ging ich noch einmal die neuen Bündnisse der Vampirclans durch. Auf der einen Seite waren Rafael von Mearkanis und die Clans Rousseau und St. Martin, die sich ihm angeschlossen hatten. Und vielleicht diese Söhne, wer immer sie waren. Auf der anderen war Leo von Pellissier mit den Clans Laurent, Bouvier und Arceneau. Desmarais stand noch alleine da. Wenn also ein neuer Vampkrieg begann, würde es auf einen Kampf zwischen Rafael und Leo hinauslaufen. Ich wusste nicht genug über die Stärke der einzelnen Clans, um zu entscheiden, ob es ein faires Match sein würde.

Überzeugt, dass der Bouvier-Vamp uns nichts Böses wollte, senkte ich meine Waffen. Die Anspannung in ihrer zierlichen Figur ließ nach, eine Anspannung, die ich bisher nicht bemerkt hatte. Sofort sah sie aus wie ein kleines Mädchen, das mit den Kleidern und dem Schmuck ihrer Mutter Verkleiden spielte, unschuldig und lieb und ganz und gar menschlich, nicht wie der Killer, der sie war. Mit gezogenen Waffen fühlte ich mich besser. »Leo muss die Dolore überwinden und die Zügel fest in die Hand nehmen«, sagte sie.

Bruiser machte einen Schritt zurück und sein Gesicht verschloss sich. Bevor ich fragen konnte, was ›Dolore‹ war, redete sie weiter, in eindringlichem Ton, die Hände zu Fäusten geballt: »Sie müssen Leo sagen, wenn er Frieden will, muss er die neue Allianz schnell zerschmettern, oder es wird Krieg geben einen gewalttätigen, blutigen Krieg, der alles entscheidet. Unsere Meister werden sterben. Wir werden nicht imstande sein, unsere Jungen im devoveo, während sie wieder zu sich selbst finden, zu schützen sie werden sich selbst überlassen sein und wahnsinnig werden. Unsere Menschen werden nicht überleben, und die Stadt wird zerstört werden.« Zu mir sagte sie: »Rafael glaubt an die Naturaleza, die alten Sitten, dass die Menschen nur zu unserem Vergnügen da sind und um uns zu nähren und dass alle anderen übernatürlichen Wesen vom Angesicht der Erde getilgt werden sollen.«

Die Worte »übernatürliche Wesen müssen vom Angesicht der Erde getilgt werden« klangen in dem kleinen Raum nach. Damit waren Molly und ihre Kinder gemeint. Und jede andere Hexe in dieser Stadt. Und ich. Mist. Mist, Mist, Mist. Und sie hatte von ›devoveo‹ gesprochen. Was, zum Teufel, war das? Diesen Begriff hörte ich zum ersten Mal, aber er schien mit dem Wahnsinn junger Rogues zusammenzuhängen. Vielleicht lohnte es sich, in diese Richtung nachzuforschen.

»Sorgen Sie dafür, dass Leo genau zuhört«, forderte sie von Bruiser. Sie legte den Kopf schief und ruckte ihn hin und her, in einem Winkel, zu dem Menschen normalerweise nicht fähig waren, wie ein Vogel mit gebrochenem Hals. Ein seltsamer Anblick. Sie schien auf etwas oder jemanden zu lauschen, das oder den ich nicht hören konnte. Ihre Pupillen weiteten sich.

»Mein Anam Chara sagt mir, dass Rafael sich nähert. Ich muss « Ihr Blick fiel auf mich, und das Weiße in ihren Augen wurde scharlachrot. Angst-Pheromone fluteten den Raum, spröde und kratzig. Und sie war die Quelle. Innara holte panisch laut Luft. »Er wird mich finden. Mit Ihnen zusammen. Dann wird er wissen, dass mein Meister sein Angebot zu verhandeln nur zur Täuschung angenommen hat.«

Und wenn Leo den Vampirkrieg verliert, wird ein siegreicher Rafael seine Feinde töten, dachte ich. Verstanden. Die eigennützige Innara spielte ein doppeltes Spiel, genau wie ihr Meister. Die Vampirin sah so hilflos aus, selbst mit ihren roten Augen, dabei konnte sie einen Menschen mit bloßen Händen in Stücke reißen. Ich hatte wenig Lust, mich in diese Sache einzumischen, aber ich steckte bereits bis zum Hals darin und sank immer tiefer. Also versteckte ich den Pflock und das Messer wieder und sagte gedehnt: »Nein, wird er nicht.« Auf ihrem Gesicht erschien ein freudiges Lächeln. Möglicherweise steckte auch nur Durchtriebenheit dahinter, aber na ja, sie war eben ein Vamp.

Ich winkte sie von der Tür weg, hielt Bruiser meine Hand hin und ließ das Schloss aufschnappen. Die Tür öffnete sich einen Spalt, und wir traten hindurch. Ein Schatten verdunkelte den Eingang zum Flur, als sich jemand näherte. Für Erklärungen blieb keine Zeit mehr. Ich drängte mich an Bruiser, zog die Tür hinter uns zu und zog ihn an mich. Und machte da weiter, wo wir in der Limousine aufgehört hatten. Er grunzte einmal, zögerte einen Sekundenbruchteil, als würde er die Lage analysieren, dann schien er verstanden zu haben.

Seine Arme legten sich um mich, sein Mund presste sich auf meinen, und eine Hand fuhr an meiner Seite hinunter, um meinen Po zu umfassen. Die andere wanderte nach oben, strich leicht an meiner Brust entlang, bevor sie sich um meinen Nacken legte. Mir blieb noch Zeit festzustellen, dass er nach Champagner schmeckte und nach Leo roch, worauf ich auf dem Boden der Limousine nicht geachtet hatte. Dann hob er mich an und drückte mich gegen die geschlossene Tür, nahm meinen Oberschenkel und legte ihn sich um die Hüfte.

Nur einen Augenblick später strömte er Lustpheromone aus, sein Mund wurde weich, und ich legte meinen Mund unter seinen, um den Flur hinaufblicken zu können. Unter den Lidern hervor sah ich, wie Rafael, der Erbe der Mearkanis, stehen blieb. Uns beobachtete. Er witterte, und ich wusste, dass er bei mir keine Lust roch. Mist. Mist, Mist, Mist. Verdammter Mist! Ich schloss die Augen und versuchte mich zu entspannen. Aber nichts zu machen. Nicht wenn Rafael zusah. Und nach dem leisen Schlurfen von Schuhen zu schließen, nicht nur er.

Mit einem leisen Grollen übernahm Beast. Und ich ließ sie. Paaren, dachte sie. Bald. Meine Glieder wurden locker. Meine Haut wurde heiß. Dieser hier ist stark. Unserer würdig.

Auf diese nicht sehr subtilen Signale reagierend, schob Bruiser seine Zunge mit einer zarten Drehung zwischen meine Lippen. Ich/Beast seufzte, die Lippen auf seinen, und er lachte, maskulin und besitzergreifend. Er zog mich näher an sich. Seine Erektion drückte sich fordernd zwischen meine Beine. Er hatte sich zurückgehalten, auf mich gewartet, und jetzt presste er mich hart gegen die Tür, sodass die Eisenbeschläge in meinen Rücken schnitten. Der scharfe Schmerz bewirkte, dass ich mich ihm entgegenbog. Sein Mund löste sich von meinem und wanderte meinen Hals hinunter. Leckte.

Oh, mein Gott. Meine Atmung wurde tiefer. »Ja«, flüsterte ich. »Genau so.« Ich ließ den Kopf zurückfallen, machte es ihm leichter. Überließ Beast die Kontrolle. Mein Körper antwortete, meine Brüste schmerzten lustvoll. Meine Hände krallten sich in seine Smokingjacke. Das Schlurfen am Ende des Flurs entfernte sich. Es verstrich eine Weile, bis Bruiser innehielt, die Lippen in meinem tiefen V-Ausschnitt vergraben. »Sind sie weg?«, murmelte er. Sein Mund strich über die zarte Haut, und seine Stimme vibrierte zwischen uns.

Ich wollte nicht antworten und musste kichern, weil ich zögerte. Dabei stießen meine Brustknochen gegen seinen Mund. Ich drückte Beast zurück, und sie ließ es zu, aber mit einem katzenhaften, zufriedenen Schnurren. »Ja, sie sind weg.« Ich spürte sein Lächeln auf meiner Haut.

»Verdammt. Dann müssen wir wohl aufhören.«

Ich lachte wieder, lauter dieses Mal, und schob ihn, die Hände auf seinen Armen, von mir. Meine Beine rutschten von seiner Hüfte. »Vielleicht später«, sagte ich, ehe ich michs versah.

»Verlass dich drauf.« Als er mich absetzte, glitten seine Hände langsam über meinen Po.

Die Tür hinter uns öffnete sich, und die kleine Innara spähte den Flur auf und ab. Als sie sah, dass Rafael weg war, wandte sie uns ihre Aufmerksamkeit zu und atmete tief, sog die Pheromone ein und reagierte darauf. Ein kleines Lächeln gab ihr etwas Knabenhaftes, leicht Verschmitztes. »Mein Anam Chara sagt, dass ich jetzt zurückgehen kann. Möchten Sie beide sich zu uns gesellen? Wir würden gern diese Party verlassen und einen etwas privateren Ort aufsuchen. Um Blut und Körper mit Ihnen beiden zu teilen.«

Ich setzte gerade an zu sagen: »Auf gar keinen Fall«, doch Bruiser war schneller und erwiderte höflich: »Eine liebenswürdige Einladung. Vielleicht ein anderes Mal, schöne Frau.« Er beugte sich über ihre Hand und küsste sie. Es sah nicht einmal komisch aus, als er es tat, was an sich schon komisch war. Mit einem Zähneklacken klappte ich den Mund zu.

»Das wollen wir hoffen.« Sie hielt seine Hand fest und zog uns drei zueinander. Dann beugte sich Innara zu mir und zeigte ihre Fangzähne, als sie sagte: »Sie riecht köstlich.« Sie sah mich an, als wäre sie nicht nur hungrig, sondern auch erregt. Doppeltes Bäh.

»Sie ist die Rogue-Jägerin, die der Rat beauftragt hat«, sagte Bruiser. Und wieder klang es wie ein Titel. Irgendwann würde ich ihn danach fragen müssen.

Innara sagte: »Wollen wir hoffen, dass sie lange genug lebt, um ihren Vertrag zu erfüllen.« Sie ließ die Hände sinken und eilte den Flur hinunter und außer Sicht. Ließ uns allein.

Auf einmal schweigsam, zupfte ich mein Kleid zurecht und beobachtete Bruiser aus den Augenwinkeln. Er hatte sich an die Wand gelehnt, offensichtlich immer noch froh, mich zu sehen, einen belustigten Ausdruck auf dem Gesicht, der mir sagte, dass er wusste, wohin ich guckte. Sein Haar war nach vorn gefallen, und mit einem schnellen Blick stellte ich fest, dass er roten Lippenstift auf den Lippen hatte. Ich fragte mich, ob er ihn auf Innaras Hand geschmiert hatte. »Wisch dir den Mund ab«, schlug ich vor.

Mit einer Hand zog er ein Taschentuch heraus und wischte sich über die Lippen. Dann reichte er es mir. »Du auch.«

»Oh.« Ich nahm das Taschentuch. Es war das, auf dem Leos Blut war, aber nun war es ein bisschen zu spät, um sich über Duftmarken Gedanken zu machen. Ich tupfte mir den Mund mit einer sauberen Ecke ab und streckte ihm das schmutzige Stück Stoff hin. Doch statt des Taschentuches nahm Bruiser meine Hand. Langsam zog er mich an sich. Ich wäre mir dumm vorgekommen, wenn ich mich losgerissen oder mich gewehrt hätte, und sah mich im Geist, wie ich mich quer durch den Flur streckte, auf einem Fuß balancierend. Ich musste lächeln, und als meine Brust erneut seine berührte, legte er seinen stählernen Arm um mich und sagte: »Wir werden es tun. Bald.«

Ich schluckte. Beast schnurrte. Und Bruiser beugte sich vor zu mir. Hielt inne, als seine Lippen nur den Bruchteil eines Zentimeters von meinen entfernt waren. »Versprochen.« Er lächelte verschmitzt und ließ seine sehr weißen Zähne blitzen. Er flüsterte: »Versprochen. Sag es.«

»Oh. Äh. Na ja. Morgen könnte ich vielleicht tot sein, weißt du?« Als er überrascht die Arme lockerte, duckte ich mich mit einem kleinen Tanzschritt weg und sagte: »Was ist ein Anam Chara?«

Bruiser verharrte noch ein bisschen länger in seiner Position. Als er sich aufrichtete, war das amüsierte Lächeln unverändert, das mich ein bisschen an Beast erinnerte, wenn sie mit ihrem Abendessen spielte. Solange es noch lebendig war. Einen Moment lang dachte ich, Bruiser würde mich drängen wollen, doch das tat er nicht. Stattdessen nahm er meinen Arm und legte ihn auf seinen, um mich den Flur hinunter zur Party zu führen.

»Der Begriff ›Anam Chara‹ hatte im Lauf der Geschichte viele Bedeutungen, aber für die Mithraner ist ein Anam Chara jemand, mit dessen Seele man verbunden ist. Oder mit dessen Geist, wenn dir das besser gefällt. Es ist eine immerwährende Vereinigung zweier Vampire, eine ewige Partnerschaft. Sie teilen Gedanken, Gefühle, einfach alles in ihrem Leben, in jedem Augenblick. Es ist ein schwieriges Arrangement, und nicht viele streben danach, selbst wenn sie schon lange Jahre zusammen sind.« Er sah mir von der Seite in die Augen, und seine Belustigung wurde noch größer. Seine Stimme senkte sich, wurde provokant. »Sie teilen alles. Diese Art der Beziehung erlebt man am intensivsten beim Sex und beim Blutmahl. Zur selben Zeit, wenn möglich.«

Ich konnte nicht anders, ich musste nach dem Beweis für sein Interesse an mir sehen und wurde feuerrot. Mannomann. Bruiser lachte wieder, ein tiefer Laut, bei dem Beast sich herumrollte, sodass ihr Fell an meiner Haut entlangstrich. Doch nun betraten wir wieder die große, offene Fläche, und das nahm unsere ganze Aufmerksamkeit in Anspruch, ganz automatisch, so wie man es als Personenschützer lernt. Wir bahnten uns den Weg zurück zum vorderen Teil des Lagerhauses, dort, wo es die Kissen und Teppiche gab. Vamps und Menschen hatten sich zu Grüppchen zusammengefunden, doch sie standen getrennt voneinander da, es gab fast keine Vermischung. Leise Musik drang aus versteckten Lautsprechern.

»Natürlich hat es auch Nachteile, weißt du«, sagte er, und ich wandte meine Aufmerksamkeit wieder dem Thema zu. »Zwischen Anam Chara gibt es keine Lügen. Und man sagt, wenn einer stirbt, wird der andere verrückt.«

»Das wäre doof«, sagte ich kurz und bündig.

Lachen sprudelte aus ihm heraus, ohne jede Spur von Erotik, und ich ergriff die Gelegenheit, um zu fragen: »Was ist Dolore? Ich dachte zuerst, es sei ein Name, aber das stimmt nicht.«

Er erstarrte. Leise sagte er: »Das ist der Zustand, in den Mithraner kommen, wenn sie trauern. Wenn ihre Blutfamilie und ihre Vertrauten, die menschlichen Blutdiener, nicht sehr aufpassen, können sie dabei wahnsinnig werden.«

Ich berührte seinen Arm, um ihn zum Schweigen zu bringen, und spannte mich an. Ich hatte den Schöpfer der Rogues gerochen. Deswegen war ich hier. Meine Lippen öffneten sich leicht, und langsam sog ich die Luft über die Zunge und durch die Nase ein, um gleichzeitig zu schmecken und zu riechen. Ich schloss die Augen, um mich zu konzentrieren. Die Duftmarke war schwach, überlagert von den Aromen gegarten Fleisches, alten Lagerhauses und vieler, vieler Vamps. Aber es war da. Er war hier gewesen.

Normalerweise kann Beast mir helfen, anhand des Geruchs das Geschlecht, die Artzugehörigkeit, die Paarungsbereitschaft, den allgemeinen Gesundheitszustand, das Alter des Trägers zu bestimmen und was er kürzlich gegessen hat und mit wem er engen Kontakt gehabt hat eine Fülle von Informationen. Aber aus der Spur des Rogue-Schöpfers, die ich gefunden hatte, konnte ich nicht viel herauslesen. In Beasts Gestalt würde ich viel leichter seiner Duftspur folgen können. Was das Geschlecht anging, war ich mir immer noch nicht sicher. Ich musste mich wandeln, auf die Pirsch gehen. Ich grinste und ließ Bruisers Arm los. Ein Puma als Gast das käme sicher gut an. »Geh und ruf Leo an. Sag ihm, dass der Schöpfer der jungen Rogues hier war. Ich rieche ihn. Das Parfum, das er trug«, verbesserte ich mich. »Nur schwach, aber wahrnehmbar. Ich muss mich umsehen.«

Bruiser sah mich mit einem seltsamen Blick an, trat aber zur Seite und zückte sein Handy. Erst wollte ich ihn daran erinnern, dass Innara gesagt hatte, Handygespräche würden abgehört, doch dann dachte ich, was soll’s. Er war ein großer Junge.

Witternd betrat ich den Wohnbereich. In den nächsten Minuten durchwanderte ich flach atmend den gesamten Raum und ließ Beast durch meine Augen sehen und die Gerüche sortieren. Aber der schwache Gestank des Rogue-Schöpfers war verschwunden. Es er? Ich war mir ziemlich sicher, dass es ein Er war war fort.

Frustriert ließ ich Beast sich wieder hinlegen, um sich auszuruhen, und überblickte das Gewimmel, das seit unserer Ankunft beträchtlich angewachsen war. Dabei fiel mir eine kleine Gruppe von Security-Leuten auf, die aussahen, als seien sie Blutdiener. Sie standen ganz für sich da. Leute wie ich, einige von ihnen kannte ich sogar schon. Also strich ich mein Kleid glatt, setzte ein Lächeln auf und ging auf sie zu. Zwei der Männer eineiige Zwillinge, die sogar die gleichen Smokings trugen traten zur Seite, um mir Platz zu machen. »He, Hübsche«, sagte einer. »So rausgeputzt das steht Ihnen gut.«

»Brian und Brandon vom Arceneau-Clan«, sagte ich und nahm ihre Wangenküsschen entgegen. »Oder ist es Brandon und Brian? Sie sehen erholt und gesund aus.«

»Dank Ihrer Arbeit«, sagte einer und legte mir den Arm um die Taille, um mich in die Gruppe zu ziehen. An die anderen gewandt verkündete er: »Das ist die Rogue-Jägerin, die Grégoire gerettet hat.« Das brachte mir vermehrtes Interesse von denen ein, die ich nicht kannte.

Der andere Zwilling sagte: »Und aus Versehen auch unsere Ärsche. Der Hässliche da «, er deutete mit dem Daumen auf seinen Zwilling, » – wäre fast an Blutverlust gestorben, wenn sie nicht den Rogue ausgeschaltet und Hilfe geschickt hätte. Aber ich bin untröstlich, dass Sie mich nicht von meinem hässlichen Zwilling unterscheiden können. Sie umarmen ihn doch sicher nur aus Mitleid, oder?«, fragte er und schob sich an meine andere Seite.

Ich sah zwischen ihnen hin und her und grinste, um meine Wertschätzung ihres Zwillingshumors zu zeigen. »Ich versuche, diplomatisch mit den weniger vom Glück Begünstigten umzugehen, und wenn ich herausfinden könnte, wer der hübschere Zwilling ist, würde ich ihn nicht beachten, ich verspreche es.«

»Du kannst uns an dem hässlichen Leberfleck auseinanderhalten, der Brandons Gesicht verunziert.«

Ich entdeckte das winzige Muttermal an Brandons Haaransatz und sagte: »Dieser entzückende kleine Schönheitsfleck?«

»Hübsch gesagt. Für eine Killerin in einem Vampirhurenkleid«, unterbrach uns eine kleine Frau.

Der Schock traf mich wie ein elektrischer Schlag. Brandon und Brian regten sich nicht. Ich befreite mich aus ihrer lockeren Umarmung und trat vor sie, um die Situation mit einem Blick zu erfassen. Als Kind hatte ich im Heim viele Tiefschläge einstecken müssen, verbale und physische, doch auch als Erwachsene war es nicht einfacher geworden. Es schien mir nicht fair zu sein, dass sie gerade jetzt auf mich losging, wenn ich in einem Kleid kämpfen musste und sie nicht pfählen konnte, um sie zu töten. Und Bruiser hatte mein gutes Messer. Bevor ich reagieren konnte, beteiligte sich eine zweite Frau an dem Wortspiel.

»Willst du damit sagen, dass sie eine Vampirhure ist, Sina?«, fragte sie. »Oder dass das Kleid von einer Vampirhure gemacht wurde?«

»Adrianna behauptet, sie stinke nach Leo Pellissier«, sagte Sina. »Aber das Kleid ist ebenfalls eine nuttige Werbung.«

»Adrianna?«, fragte ich. Auf einmal waren meine Lippen taub von einem Adrenalinstoß.

»Die erste Vasallin des St.-Martin-Clans«, sagte Brian langsam. »Darf ich vorstellen? Ihre Blutdienerinnen Sina und Brigit.« St. Martin, die gerade mit den Pellissiers gebrochen und eine neue Schulhofbande gegründet hatten mit Rafael von Mearkanis als Oberrüpel. Die beiden Vamps in den roten Kleidern hatten ebenfalls zu Adrianna gehört. Was sollte das werden? Hieß das Motto etwa heute: Alle auf Jane? Um die Vamps ein bisschen in Unruhe zu versetzen? Es lag nahe, dass der alte Rafe Adrianna auf mich angesetzt hatte, aber warum? Ich hatte keine Ahnung.

Die beiden Frauen, die eben noch nebeneinander gestanden hatten, trennten sich und rissen damit die enge Formation der Blutdiener auf. Der Kreis weitete sich wie zu einem Kampfring, als die Unbeteiligten zurück- und die beiden Frauen in die Mitte traten. Beide waren klein, mit drahtigen Körpern ohne ein Gramm Fett und krausem braunem Haar, doch Sina war Afroamerikanerin und Brigit weiß. Sie trugen das gleiche schwarze ärmellose Kleid, das ihre gut gestalteten Arme zur Geltung brachte und ihnen Bewegungsfreiheit zum Kämpfen ließ. Meine Herzfrequenz beschleunigte sich, und in meinem Geist zeigte Beast ihre tödlichen Eckzähne. Ganz automatisch hoben sich meine Arme abwehrend. Als Beast dachte: Spaß!, konnte ich ein Lächeln nicht unterdrücken, das meine Lippen zurückzog.

»Ja, sie riecht wirklich nach Leo. Der Meister der Stadt saugt an der Mörderin seines Sohnes«, sagte Sina.

»Wenn du mich fragst, saugt er nicht nur.« Die beiden Frauen lachten herausfordernd.

»Eigentlich bin ich es gewesen, der die Jägerin markiert hat«, sagte Bruisers sanfte Stimme über meine Schulter hinweg. »In der Hoffnung, dass es sie davor bewahren würde, ein paar dumme kleine Vampire töten zu müssen, die sie beleidigt haben, oder ein paar dumme kleine Blutdiener, die ihrer Bestimmung gerecht werden.«

»Nennst du uns dumm, George?«, fragte Brigit, und ihre Augen glänzten vor Vorfreude. »Willst du dich mit uns beiden anlegen?«

»Dieser Gedanke wäre mir aufs Höchste unangenehm«, sagte er. »Davon bekäme ich Alpträume.«

Einige der Zuschauer lachten, und die beiden Frauen guckten verwirrt, bis Sina die sexuelle Beleidigung verstand. Sie knurrte und hob die Hand, um eine Schusswaffe zu ziehen, doch ihre Partnerin legte ihr die Hand auf den Arm, um sie zurückzuhalten. Dennoch schlossen sich die Finger der Frau fest um den Lauf einer winzigen Waffe in einem Taschenholster.

»Ihr Kleid ist eine Kreation von Madame Melisende, Modiste des Mithrans, keine Vampirhure. Ich glaube, Jane hat eine Karte dabei, falls du oder deine Meisterin Adrianna je das Bedürfnis verspüren sollten, sich gut zu kleiden. Jane?«, fragte er, um Zustimmung bittend, als er meine kleine Abendtasche in die Hand nahm. Ich hatte ganz vergessen, dass sie da war. »Ah, da sind sie ja.« Über meine Schulter hinweg reichte er den kleinen Biestern eine Handvoll Visitenkarten, wobei er mit seinem ganzen Körper meinen berührte. Den anderen Arm legte er um meine Taille und zog mich an sich. »Sag Adrianna, dass diese Designerin selbst ihren langen, hageren Körper sexy aussehen lassen kann. Für irgendjemanden.«

Hinter mir kicherten die Zwillinge, und dieses Mal steckte ihr Lachen die anderen an. Die beiden Frauen funkelten mich an, als hätte ich und nicht Bruiser ihnen gesagt, sie und Adrianna seien unansehnlich. Brandon und Brian traten links und rechts neben mich, sodass ich nun zu beiden Seiten einen Mann hatte und einen dritten hinter mir. Was ein gutes Gefühl war, um die Wahrheit zu sagen.

Lange sagte niemand etwas. Dann drehten die beiden Frauen sich fast gleichzeitig auf dem Absatz um und verließen den Raum.

»Traurig«, sagte Bruiser und ließ den Arm sinken, um mich zu umarmen, die Karten immer noch aufgefächert. »Sie hätten ein paar Tipps in Modeangelegenheiten gut gebrauchen können.«

Jetzt war das Lachen freier, und schlagartig verschwand die Anspannung in der Gruppe. »Ich nehme eine Karte«, sagte eine Frau. Sie war nur ein bisschen kleiner als ich, muskulös, mit Schultern wie ein Wrestler, und trug eine Halbautomatische in einem Holster unter ihrer männlich geschnittenen Jacke. »Jackie, vom Desmarais-Clan«, sagte sie an mich gewandt und schüttelte meine Hand, als sie alle Karten aus Bruisers Finger zupfte. Also gehörte sie dem einzigen unabhängigen Clan an. »Ich hätte nichts dagegen, elegant auszusehen. Mit diesen Schultern ist es nicht einfach, feminin zu wirken. Danke.«

»Gern geschehen«, sagte ich und fragte mich, was hier gerade geschehen war.

Die Zwillinge drehten sich zu mir und Bruiser hin, der mich immer noch im Arm hielt. »Du hast sie für Leo markiert?«, fragte Brandon.

»Oder für dich selbst?«, fragte Brian.

»Für mich selbst«, sagte Bruiser locker. »Aber sie sinkt nicht so schnell in meine Arme, wie ich gehofft hatte.«

Ich wand mich aus seiner Umarmung und trat neben Jackie, die bereits dabei war, Madame Melisendes Karten an andere Frauen weiterzuverteilen. Sie blickte mich unter kurzen Ponyfransen an und sagte: »Sie denken nur an Sex. Selbst im Museum starren sie die nackten Statuen an, im Park begaffen sie die Jogger, und ein gemeinsames Abendessen halten sie für das Vorspiel. Irgendetwas haben Vampire an sich, dass ihren Testosteronlevel auf das Niveau eines notgeilen Teenagers treibt.«

»Willst du damit etwa sagen, dass du nicht an Sex denkst, Jackie?«, sagte Brandon. »Denn falls du auf diesem Gebiet Probleme haben solltest, könnte ich dir helfen, an Sex zu denken.«

»Danke für das Angebot, Süßer, aber im Bett bevorzuge ich immer noch hundertprozentige Menschen. Mir geht es darum, dass es nur das eine gibt, verstehst du? Menschliche Männer denken nur jede zweite Sekunde an Sex. Ein Blutdiener denkt vom Aufwachen bis zum Einschlafen an Sex, und dann träumt er die ganze Nacht davon, bis es wieder Zeit ist, aufzuwachen.«

»Nicht nur an Sex«, sagte Brian sinnend. »Auch ans Kämpfen.«

»Ans Jagen«, stimmte Bruiser ihm zu. »Ans Fischen. Schnelle Autos. Geld verdienen.«

»Aber bei schnellen Autos und Geld wären wir wieder bei den Frauen«, sagte Brandon.

»Sehen Sie, was ich meine?«, fragte Jackie mich, und die kleine Gruppe lachte.

Das Gelächter schloss mich ein und löste ein unerwartet warmes Gefühl in mir aus; das Gefühl, dazuzugehören, kannte ich nicht. Und dann drängte sich die Art, wie sie »hundertprozentige Menschen« gesagt hatte, in meine Gedanken. Als würden sich Blutdiener nicht dafür halten. Beast tat das auch nicht. Sie rochen anders.

»Warum hat Adrianna es auf mich abgesehen?« Ich blickte durch die Tür, durch die die beiden Frauen verschwunden waren. »Ich habe so eine Ahnung, dass ich ihre beiden Dienerinnen sehr bald wiedersehen werde. Und nicht zu Tee und Keksen.« Ich hatte nur die Lizenz, Rogues zu töten, nicht Menschen, nicht einmal Blutdiener, egal wie nervig oder gefährlich sie vielleicht waren.

»Ich weiß es nicht, wenn man davon absieht, dass du Leos Duftmarke an dir trägst und damit zu Leos Machtbasis gehörst«, sagte Bruiser. Mir fiel auf, dass er nicht hinzufügte: »Tut mir leid.«

Wut stieg in mir auf. Der Plan, mich mit dieser gewaltsamen Markierung zu schützen, war nach hinten losgegangen, aber gewaltig. Ich ballte die Fäuste, so stark war der Drang, einen Pflock zu ziehen und ihn Bruiser in den Leib zu rammen.

Argwöhnisch betrachteten die Security-Leute die Zusammensetzung ihres Grüppchens und überlegten, wer nun zu wem gehörte. Drei Männer wandten sich um und verließen die Ansammlung. Schweigend sahen wir ihnen nach. Ich unterdrückte meinen Ärger. Der konnte warten. Im Moment gab es Wichtigeres, als mir Sorgen zu machen.

»Sie haben uns zugehört«, sagte Brian. »Nicht gut.«

»Jetzt werden sie die neue Allianz informieren«, sagte Brandon.

»Der alte Rafe scheint sehr fleißig zu sein«, sagte ich und dachte daran, wie er im Dunkeln gestanden und mich beobachtet hatte, zweimal heute Abend. »Vielleicht muss ich ihm mal einen Besuch abstatten.« Und ihn und seine Handlanger genauer beschnüffeln, aber das sagte ich nicht. Und mir entging auch nicht der Blick, den Jackie mit Bruiser tauschte, auch wenn ich keine Ahnung hatte, was er bedeutete.

»Rafael ist ein Problem«, sagte eine Frau. »Ein großes Problem.«

Das Gespräch wandte sich den neuesten Entwicklungen in der Vampirpolitik zu. Dem Klatsch über Personen und Clans zu lauschen, die es bereits seit Hunderten von Jahren gab, ist nicht nur schnell ermüdend, sondern auch verwirrend. Denn darin geht es manchmal um Dinge, die sich im siebzehnten Jahrhundert zugetragen haben und trotzdem so frisch und schmerzlich sind, als wären sie gerade erst passiert und hätten heute immer noch Einfluss auf die Clans, auf die Vampire ebenso wie auf ihre Blutdiener. Blutfehden unter Vampiren überdauern manchmal Jahrhunderte. Ich erfuhr viel, aber nichts, was mir genutzt hätte. Das einzig Interessante für mich waren die neuen Koalitionen und wie sie sich auf meinen aktuellen Auftrag auswirkten. Markiert mit Leos Duft dürfte es schwer werden, sich aus den Konflikten, die möglicherweise zu einem Krieg führten, herauszuhalten.

Dann fiel mir der seltsame Blick wieder ein, den Bettina mir zugeworfen hatte, als sie mich einlud, sie zu besuchen. Irgendetwas stimmte hier nicht.