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Würde Little Evan auch so knacken?

Ich rief einen nebenberuflichen Taxifahrer an, von dem ich mich manchmal fahren ließ, und erwischte Rinaldo gerade, als er sich nach seiner Nachtschicht in der Fabrik in die Falle hauen wollte. Er war ziemlich schnell da; ich war erst ungefähr zwei Kilometer weit gekommen, trottete auf meinen Flip-Flops vor mich hin, die Hände in den Taschen meiner weiten Hose und schwitzte bereits jetzt am frühen Morgen. Er hielt mit seinem strahlend gelben Bluebird-Taxi am Straßenrand und hängte den Oberkörper aus dem Fenster. »Sie sehen aus wie etwas, das die Katze angeschleppt hat.«

Eigentlich war der Spruch nicht so witzig.

Trotzdem kletterte ich laut lachend auf den Beifahrersitz, was Rinaldo, der mich für ein Partygirl hielt, das nach wilden Nächten öfter einen Fahrer brauchte, vermutlich meiner aufgekratzten Stimmung zuschrieb. Ich schlug die Tür zu und legte den Sicherheitsgurt an. Währenddessen wendete er mit knirschenden Reifen und steuerte langsam die gepflasterte Straße an. Schlau lächelnd warf er mir einen Seitenblick zu. »Hungrig?«

»Ausgehungert. Wo bekommt man hier in der Nähe etwas zu essen? Ich könnte einen Büffel verschlingen.«

»Wenn ich so viel wie Sie essen würde, wäre ich fett wie ein Schwein. Nicht weit von hier gibt es einen Bojangles’. Ist Hühnchen recht?«

»Solange es frittierte Proteine sind, bin ich glücklich.« Mein Magen bekräftigte meine Worte mit einem Knurren. Ich aß während der Fahrt und verdrückte drei Cajun-Brustfilet-Sandwiches, zwei Ei-Käse-Sandwiches, ein Wurst-Sandwich und drei Portionen Kartoffelküchlein und spülte alles mit einem Riesenbecher süßen Eistee hinunter. Rinaldo spendierte ich auch ein Sandwich und ließ ihn mir beim Essen zusehen, was ihm offenbar immer großes Vergnügen bereitete und mich nichts kostete. Besser, ich hielt mir meinen Fahrer für den Notfall gewogen. Das Essen tat gut. Mein Bauch wölbte sich unter dem dünnen Stoff meines T-Shirts. Den Rest der Fahrt lehnte ich mich träge zurück und döste, während Rinaldo Zydeco-Musik im Radio hörte und mit den Fingern die afrikanischen Rhythmen auf das Steuer trommelte. Ich gab ihm dreißig Dollar, unseren Standardtarif, und betrat das Haus gerade in dem Moment, als Molly und die Kinder die Treppe herunterkamen. Angelina rieb sich die Augen mit ihren kleinen Fäusten.

»Morgen, Tante Jane.« Sie streckte die Arme hoch, und obwohl Molly ihr immer wieder sagte, dass sie zu groß sei, um ständig herumgetragen zu werden, hob ich sie auf meine Hüfte und zerzauste ihr das Haar. Sie roch nach Schlaf und Kopfkissen und Sicherheit. »Bist du mit den Frauen schön geschwommen?«

Molly und ich sahen uns über Angies Kopf hinweg an, während wir die Kinder in die Küche manövrierten. Sie betrachtete mein feuchtes Haar. Ich nickte. Molly versuchte, sich ihre Reaktion auf diese erneute Demonstration der seltenen und mächtigen Gabe ihrer Tochter nicht anmerken zu lassen einer Gabe, die sie mit allen Mitteln vor den Medien und der Regierung geheim zu halten versuchte. »Süße, woher weißt du, dass Tante Jane schwimmen gegangen ist?«

»Weil sie es getan hat. Und sie waren alle nackt.« Angie gähnte mit weit aufgerissenem Mund und zerknautschtem Gesicht. »Mama, wir können noch nicht nach Hause. Tante Boadacia und Tante Elizabeth kämpfen gegen ein großes, böses hässliches Etwas, das gestern Abend in ihrem Kreis aufgetaucht ist. Es war lila und rot und hatte lange Zähne und wollte sie fressen. Deswegen sagt Tante Boadacia, dass wir wegbleiben sollen, weil es Little Evan fressen würde. Mama, würde Little Evan auch so knacken? So wie die Rehknochen, die Tante Jane heute Morgen zerbissen hat?«

Molly schloss die Augen und bewegte die Lippen, als betete sie, vielleicht um Führung oder Schutz für ihre begabten Kinder. Vielleicht fluchte sie auch still. Ich konnte nicht anders: Ich musste lachen und drückte Angie.

Mollys Schwestern, von denen einige ebenfalls Hexen und andere ganz normale Menschen waren, besaßen einen Laden in der Nähe von Asheville: Seven Sassy Sisters’ Herb Shop and Café. Die Geschäfte gingen gut, sowohl vor Ort als auch im Internet. Es wurden Kräutermischungen in größeren Gebinden und grammweise verkauft, und im Laden selbst wurden zusätzlich erlesene Tees, Kaffeespezialitäten, Frühstück, Brunch, täglich Mittagessen und am Wochenende auch Abendessen serviert, vor allem Fisch und vegetarische Speisen, die Mols älteste Schwester Evangelina Everhart zauberte, eine Wasserhexe, Professorin und Dreisterneköchin. Ihre Schwester Carmen, eine Lufthexe, frisch verwitwet und frischgebackene Mutter, führte die Bücher und kümmerte sich um die Warenbestellungen. Die beiden anderen Hexenschwestern, die Zwillinge Boadacia und Elizabeth, führten den Kräuterladen, während die beiden Menschen, Regan und Amelia, im Café bedienten.

Boadacia und Elizabeth, die jüngsten und abenteuerlustigsten der Truppe, probierten immer neue Anrufungen und Zauber aus und brachten sich nicht selten damit in Schwierigkeiten. Dieses Mal, so schien es, hatten sie einen kleineren Dämon in den Schutzkreis eingeschlossen, ohne zu wissen, wie sie ihn wieder loswerden sollten.

Normalerweise versuchten sie erst alles, um selbst mit dem angerichteten Schlamassel fertigzuwerden, bevor sie die Kavallerie, respektive ihre älteren Schwestern, riefen. Ich konnte mir vorstellen, was es für eine Aufregung gegeben hatte, als sie Evangelina gebeichtet hatten, dass sie schon wieder Mist gebaut hatten. Die Älteste der Schwestern war meist diejenige, die ihnen aus der Patsche half, und ihre Strafpredigten waren legendär, wurden aber gewöhnlich von den Zwillingen ignoriert.

»Angie, woher wusstest du, dass Tante Jane heute Morgen schwimmen gegangen ist?« Molly setzte Little Evan in den Kinderhochstuhl, der auf einmal an meinem Esstisch aufgetaucht war, zusammen mit meinen Gästen. »Hast du es geträumt? Oder warst du wach und hast es nur gedacht?«

Angie zuckte die Achseln, während ich sie auf ihren Stuhl setzte. Der Tisch ging ihr fast bis zum Kinn. »Ich will Haferbrei, so wie Tante Jane ihn macht.«

»Es ist wichtig, Schatz«, sagte Molly. »Woher weißt du solche Dinge?«

»Ich weiß sie einfach. Ich sehe Tante Jane ganz oft. Aber manchmal auch andere Leute. Und manchmal redet Tante Elizabeth in meinem Kopf zu mir. Darf ich Haferbrei haben?«

Mollys Mund wurde zu einem dünnen Strich. Ich wusste, was das bedeutete. Visionen und Gedankensprache waren neue und beunruhigende Beweise für die Kräfte ihrer Tochter. Eigentlich hätten sie sich nicht vor ihrem sechzehnten Lebensjahr herausbilden dürfen. Doch als sie so ungestüm und viel zu früh zutage getreten waren, hatten Big Evan und Molly sie mit magischen Fesseln belegt, die sie eigentlich in Schach hätten halten sollen.

»Ich kümmere mich darum«, sagte ich und meinte den Haferbrei. Ich suchte nach dem richtigen Topf, stellte das Gas an und begann, den Brei genau so zuzubereiten, wie es mir meine Hausmutter vor langer Zeit beigebracht hatte. Während das Wasser für die Flocken und den Tee heiß wurde, drückte ich auf den Lichtschalter und stellte fest, dass wir wieder Strom hatten. Ich steckte den Stecker des Kühlschranks ein und drehte die Klimaanlage auf für hiesige Verhältnisse geradezu bibberkalte dreiundzwanzig Grad herunter. Anschließend machte ich eine Runde durch das Haus, um alle Fenster zu schließen. Drinnen waren es bereits schweißtreibende neunundzwanzig Grad. Welch ein Glück, dass es Klimaanlagen gab.

Während meine Gäste aßen, fragte ich Molly: »Warum sollte das große, böse, hässliche Etwas Little Evan fressen?«

Molly fasste sich an das Ohr und warf einen warnenden Blick auf ihre Kinder, um mir zu verstehen zu geben, dass sie große Ohren machten und sie nicht offen sprechen konnte. »Manche Dinge finden, dass X- und Y-Chromosomen von Hexen besonders lecker sind.«

X- und Y-Chromosomen von Hexen: Damit meinte sie das, was Little Evan zu einer männlichen Hexe, oder wie einige sagen, zu einem Hexer machte. Ich nickte. Dämonen fraßen gerne männliche Hexenkinder. Autsch.

»Komosos sind lecker«, wiederholte Angie, um die Worte auszuprobieren. »So wie Tante Jane Reh lecker findet. Würde Little Evan auch so knacken?« So leicht ließ Angie sich nicht ablenken.

Ich grinste und goss das heiße Wasser über die Teeblätter, ein starker grüner Gunpowder, der für einen ordentlichen Koffeinkick sorgte. »Vermutlich. Aber wir lieben den kleinen Evan.« Als sie mir ins Wort fallen wollte, sagte ich: »Sogar Beast liebt Evan. Aber wir wollen doch nicht über Beast und große, böse, hässliche Etwasse reden, oder?«

»Noch nicht mal mit Onkel Ricky-Bo? Weil er es nämlich sicher gern wissen würde.«

»Vor allem nicht mit Ricky-Bo«, sagte ich trocken. »Er ist viel zu neugierig. Und da wir gerade von Mister Neugierig reden: Ich muss ins NOPD und noch ein paar Nachforschungen anstellen. Kommst du heute hier alleine klar, Mol?«

»Wir haben Strom, und Kleider und die stinkenden Windeln, die sich auf der Veranda türmen, kann ich drüben bei Katie in die Waschmaschine stecken. Kein Problem.« Molly glaubte fest daran, dass Einwegwindeln das gefährlichste Produkt waren, das je erfunden wurde, daher durften sie nur in Notfällen zum Einsatz kommen. Sie benutzte alte Tücher und altmodische Nadeln. Bevor ich fragen konnte, wer dann auf die Kinder aufpasste, lächelte sie, ohne mich anzusehen, in ihre Teetasse und sagte: »Bliss passt auf sie auf.« Angie war nicht die einzige Reinblütige, die gelegentlich Gedanken lesen konnte.

Nach einer langen Dusche, um mir den Geruch des Bayou herunterzuwaschen, flocht ich mein Haar zu vielen kleinen Zöpfen mit Perlen, die beim Gehen hübsch klickten, zog mich an und machte mehrere Anrufe, auch wenn ich zu dieser frühen Morgenstunde nur Nachrichten auf dem Band hinterlassen konnte. Ich gab den Kindern ein Küsschen, schnallte mir Beasts Tasche um die Hüften, vergewisserte mich, dass sowohl Handy als auch Kamera aufgeladen waren, band meine Zöpfe im Nacken zusammen, startete Mischa und röhrte in die Stadt.

Mein erster Halt war Audubon Park, am Audubon-Trail-Golfplatz, einem der Orte in der Stadt, wo es in der Vergangenheit immer wieder Angriffe von jungen Rogues auf Menschen gegeben hatte, und der einzige, den ich mir bisher noch nicht näher angesehen hatte. Der letzte aufgezeichnete Angriff hatte 2001 stattgefunden, und ich fand schnell heraus, warum. In diesem Jahr war der Golfplatz neu gestaltet worden, und damit gab es dort keinen Platz mehr, der sich für einen Friedhof geeignet hätte. Diesen Park konnte ich nun von meiner Liste streichen. Damit blieben nur noch zwei Orte, was ich sehr beruhigend fand. Ich gab Gas und steuerte das NOPD an.

Für mich waren immer noch viele Fragen offen. Vielleicht fand sich in den Akten über die Geschichte der Vampire etwas über den letzten Krieg. Und ich wollte sehen, ob ich nicht herausfinden konnte, was ein devoveo war. Innara hatte das Wort gestern erwähnt. Es schien etwas mit dem Wahnsinn junger Rogues zu tun zu haben. Und gerade jetzt machten wahnsinnige junge Rogues New Orleans unsicher. Außerdem wollte ich mich näher mit den Söhnen der Dunkelheit befassen. Zweimal war ich nun schon über sie gestolpert. Falls sie in irgendeiner Verbindung zu den jungen Rogues standen, musste ich es wissen. Und dann waren da noch die Hexen, die ich auf der anderen Straßenseite zu einem Pentagramm aufgestellt gesehen hatte. Was hatten sie mit alledem zu tun? Aus dem simplen Auftrag, einen gesetzesbrecherischen Vamp zu finden, war mittlerweile eine verwirrende Ermittlung in der Geschichte und Politik der Vamps geworden.

Die Schwüle lag wie eine feucht-warme Decke auf meinem Gesicht, und unter mir schnurrte Mischa wie Beast im Schlaf. Die Welt raste an mir vorbei, und ich fühlte mich friedlich, ausgeruht und seltsam ruhig, trotz des Schlafmangels. Das, was ich gerade empfand, war Heiterkeit. Ich war mir dieses Gefühls ziemlich sicher, auch wenn ich es noch nie zuvor empfunden hatte. Ich rechnete nicht damit, dass es anhielt. Zynisch, aber wahr.

Ich parkte vor dem Gebäude des NOPD, trug mich wieder an der Anmeldung ein und wartete, bis der bewaffnete Wachmann meinen Ausweis begutachtet und seinen Anruf gemacht hatte. Dieses Mal holte Rick mich ab.

Wie bei meinem letzten Besuch war er in Zivilkleidung, allerdings nicht in Jeans, T-Shirt und Stiefeln wie in der Zeit, als er undercover gearbeitet hatte. Heute trug Rick eine schwarze Hose, eine schwarze Jacke und ein weißes Button-down Hemd. Und eine Krawatte. Ich grinste. Auf der Krawatte tollten kleine orangefarbene Kätzchen auf aquamarinblauem Hintergrund.

»Ja, ich weiß. So tief bin ich gesunken.« Er stemmte die Hand in die Hüfte, wobei unter der Jacke eine 9-Millimeter in einem Schulterholster hervorlugte, und schnippte mit den Fingern gegen die anstößige Krawatte. »Meine Nichte hat sie mir geschenkt.«

»Sieht süß aus.«

Er lachte. Es klang atemlos, entrüstet. »Mein Captain hat sich mich gestern wegen des Dresscodes vorgeknöpft. Man lässt mich jetzt, da ich nicht mehr undercover arbeite, keine Jeans mehr tragen. Also musste ich mir neue Sachen kaufen. Die Krawatte ist meine Rache. Er hasst sie.« Er zupfte an Hose und Jacke. »Wissen Sie, wie lange es her ist, seit ich solche Klamotten getragen habe? Katholische Schule, von der ersten bis zur sechsten Klasse. Ich musste shoppen gehen.« Er guckte gequält. »Aber niemand hat herausgefunden, was das auf der Krawatte bedeuten soll. Wie du mir, so ich dir, verstehen Sie?« Er grinste mich an und der kleine schiefe Zahn in der unteren Reihe war zu sehen. Er war einfach viel zu gut aussehend, verdammt. »Ich habe noch eine mit Schweinen drauf.«

Der lockere Business-Look stand ihm gut. Aber Rick LaFleur würde wahrscheinlich in allem gut aussehen. Oder in nichts. »Sie sind wohl nicht der Typ, der die andere Wange hinhält, was?«

»Eher nicht. Was die Garderobe angeht, ist das echte Leben kein Spaß. Aber es hat auch etwas Positives. Meine Mutter ist überglücklich, dass ihr aus der Art geschlagener Sohn nun doch kein Gauner ist. Wenn sie mal nicht sauer auf mich ist, weil ich es vor ihr verheimlicht hatte.«

Meine Brauen wanderten höher. »Nicht einmal Ihre Mutter wusste, dass sie ein Cop sind?«

Er hob eine Schulter in einer »Was soll ich sagen?«-Geste. »Mom kann nichts für sich behalten.«

Ich nickte, obwohl ich keine Ahnung habe, wie es ist, eine Mutter zu haben. »Also. Lassen Sie mich rein, oder muss ich hier draußen bei den Schwindlern und Gaunern bleiben, zu denen Sie ja nun nicht mehr gehören?«

»Ich nehme an, Sie wollen noch mal die Hokuspokus-Akten sehen. Kommen Sie rein. Sie sind doch nicht bewaffnet, oder?«

»Keine Schuss-, keine Stichwaffen.« Ich gab ihm die Hüfttasche, die nicht schwer genug war, um eine Waffe darin zu vermuten. Er machte sich auch nicht die Mühe, sie oder mich zu durchsuchen. Durch den Metalldetektor kam ich ohne Alarm.

Mit leise klickenden Perlen folgte ich ihm. In Raum 666, tief unten im NOPD, angekommen, warf er die Schlüssel des Aktenschrankes auf den Tisch, hob einen Finger zum Abschiedsgruß und schloss mich in der winzigen Zelle ein. Bevor ich etwas rufen konnte, war er weg, und wieder stand ich ohne Telefon da, um ihn anzurufen, damit er mich befreite. Mir fiel ein, dass ich hier unten in der Falle saß, falls ein Feuer ausbrach, oder die ganze Nacht ohne Nahrung und Wasser wäre, falls Nick mich vergaß. Doch die Tür war weder aus Stahl, noch vergittert, und die Scharniere leicht zu erreichen. Mit einem stabilen Stück Holz oder Metall konnte ich die Zapfen herausklopfen oder -brechen und mit ein wenig von Beast geliehener Kraft die Tür herausreißen. Aber das nächste Mal würde ich ein Fresspaket hierher mitnehmen.

Da ich mit dem Ablagesystem nun schon vertraut war, suchte ich den Schlüssel mit der Aufschrift 666–OV heraus, öffnete den Schrank mit den Vampakten und begann, nach Aufzeichnungen über ihre Geschichte und insbesondere nach Informationen über devoveo zu suchen. Stattdessen fand ich die Personalakte eines gewissen Beinahe-Rogues namens Bethany. Viel stand allerdings nicht drin offenbar hatte Bethany sich hier in der Stadt des Jazz nicht gerade ins Rampenlicht gedrängt.

Es gab keine Fotos von ihr, aber irgendjemand hatte die Hierarchie der Vampclans in den Siebzigern aufgeschlüsselt. Ganz unten waren Bethany und Sabina Delgado y Aguilera, die Priesterin der Vamps, als clanlos vermerkt. Da war es wieder, dieses Wort. Interessant. Ich nahm mir vor, mich weiter umzuhören, was es zu bedeuten hatte, denn eine einzelne Person war keine verlässliche Quelle, nicht, wenn es um Informationen über Vamps ging.

Sowohl Sabina als auch Bethany hatte ich in Aktion gesehen und konnte sagen, sie waren sehr unterschiedlich. Bethany war verrückt, Afrikanerin und erfüllt von einer eisigen Schamanenmagie, wie ich sie bisher noch nicht erlebt hatte. Sabina war Südeuropäerin, nonnenhaft und geistig gesund. Das Einzige, das sie gemeinsam hatten, war Macht. Viel Macht.

Ich machte Fotos von der Akte, um sie später herunterzuladen, und stellte einen Klappstuhl vor den Aktenschrank, um ihn nun methodisch zu durchforsten, und fand auch schnell etwas, auf das ich vorher nicht gestoßen war: einen roten Ordner mit der Aufschrift Legenden. Darin waren mehrere unbestätigte Berichte über Vamps, allesamt ohne Quellenangabe, von bezahlten Informanten und Blutjunkies, die einen Entzug hinter sich hatten und nun versuchten, clean zu bleiben. Der Ordner war von demselben Zigarettenraucher wie die anderen zusammengestellt, und anschließend hatte ihn Jodi in der Hand gehabt.

Vieles von dem Zeug war total verrückt Dinge, die ich beruhigt wieder aus der Hand legen konnte und solche, von denen ich wusste, dass sie nicht wahr waren , doch schließlich stieß ich auf einen Hinweis, der die Söhne der Dunkelheit betraf. So hatte Bethany die Vamps bezeichnet, die sie gewandelt hatten. Angeblich waren diese Söhne die ersten Vamps in der Geschichte. Die allerersten. Und unter Blutjunkies hieß es, sie würden nach der Wandlung nur einige wenige Tage im Wahnsinn verharren, nicht zehn Jahre. Irgendwie hatten sie es geschafft, den Heilungsprozess zu beschleunigen. Mindestens einer von ihnen war angeblich immer noch am Leben, nicht verrückt und hatte den USA innerhalb der letzten zehn Jahre einen Besuch abgestattet, als Gast des Pellissier-Clans. Möglicherweise stimmte es nicht, aber immerhin war Bruiser bei der Erwähnung der Söhne bleich geworden. Ich hatte keinen Schimmer, ob irgendetwas davon mit dem Vamp zu tun hatte, den ich jagte, doch er erschuf diese jungen Rogues schon seit langer Zeit. So gut wie alles konnte der entscheidende Hinweis sein, der mich zu ihm führte.

Ich zog einen Block aus der Hüfttasche und machte mir Notizen über jeden Anhaltspunkt, der mir helfen konnte, den Schöpfer der Rogues zu finden, dann aber auch, was ich schlicht interessant fand oder was meine Ermittlungen in eine neue Richtung lenken konnte. Dabei stieß ich auf eine Stelle über den Blutrausch ein Thema, das mich seit gestern Nacht beschäftigte , doch die Quelle war angeblich zweifelhaft. Ein Blutjunkie hatte Folgendes zu Protokoll gegeben: »Der Desmarais-Clan ist total ausgetickt und hat die Hälfte der Diener und alle Sklaven getötet. Ich bin gerade noch so mit dem Leben davongekommen.« Doch da keine Leichen gefunden worden waren, war der Bericht ad acta gelegt worden. Wie so viele Berichte in diesem Raum.

Ich sah auf mein Handy, um zu sehen, ob mich jemand angerufen hatte, doch dann fiel mir wieder ein, wo ich war. Bevor ich aus dem Haus gegangen war, hatte ich auch Bruiser auf die Mailbox gesprochen. Ob er mittlerweile zurückgerufen hatte, würde ich erst erfahren, wenn ich hier raus war.

Ich legte die Akte zurück, suchte nun gezielt nach roten Ordnern und fand auch einen schmalen mit Polizeiberichten, die in der charakteristischen Handschrift der Zigarettenraucherin verfasst waren, die gegen die Vamps und in der Sache der verschwundenen Hexenkinder ermittelt hatte: Detective Elizabeth Caldwell.

Darin befand sich auch ein Dutzend kleiner Papierschnipsel mit Begriffen, Namen und Fragen, die alle nach altem Rauch rochen. Zuerst ergaben sie keinen Sinn, doch dann fand ich eines, auf dem stand: Nach einigen Schlucken Hexenblut war der devoveo fast eine Stunde wieder bei Verstand. Auf einem anderen war zu lesen: devoveo: der Fluch der Mithraner. Und: junger Rogue: der Verfluchte.

Ich hielt die beiden Schnipsel in der Hand, mein Bauchgefühl sagte mir, dass sie mir etwas Wichtiges mitzuteilen hatten, doch mein Gehirn war nicht in der Lage, es zu erkennen. Deshalb schrieb ich die Texte ab und fuhr mit meiner Suche fort.

Ich wollte noch mehr über Caldwells Ermittlungen wissen und erinnerte mich an Ricks Schlüsselbund. Daran befanden sich keine Schlüssel für die Tür. Aber einer, der mit 666–OW gekennzeichnet war. Den steckte ich in das Schloss des Schrankes, den ich das letzte Mal nicht hatte öffnen können. Mit einem metallischen Laut lockerten sich die Schubladen, und die oberste sprang ein Stück hervor. Die Ordner darin waren rot. Jeder einzelne von ihnen. Ich zog die Schublade auf und ließ die Finger über die Reiter wandern. Eine Akte über hiesige Hexen, zusammengestellt von Elizabeth Caldwell. Und eine, auf der stand: devoveo. Mit Berichten über junge Rogues, die auch Hexen gewesen waren. Was unmöglich war. Vamps konnten Schamanen werden, aber nicht Hexen. Doch sie arbeiteten, dessen war ich mir mittlerweile ziemlich sicher, mit Hexen zusammen. Auch das war eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit.

Ich ließ mich mit ein paar Akten am Tisch nieder und verbrachte eine weitere Stunde mit dem Versuch, einen roten Faden in Elizabeth Caldwells Ermittlungen zu finden, bis mich der Durst zwang, alles wieder einzuräumen, abzuschließen und wieder gegen die Tür zu hämmern. Schließlich hörte ich das Schloss klicken, die Tür öffnete sich und Rick erschien, das Gesicht hinter zwei Getränkedosen. »Tut mir leid, ich habe nicht daran gedacht, dass es da drinnen kein Telefon gibt. Coke als Friedensangebot?«

Mit der Hüfte gegen den Türrahmen gelehnt, zog ich den Deckel auf und trank. Trocken sagte ich: »Und eine Toilette gibt es auch nicht«, um dann ohne Übergang anzuschließen: »Wer ist Elizabeth Caldwell?«

Rick hatte seine Reaktionen gut im Griff, denn er machte sofort ein ausdruckloses Cop-Gesicht. »Sie war eine gute Polizistin, die 1990 im Dienst getötet wurde. Von unbekannten Vamps. Außerdem war sie Jodi Richouxs Tante.«

Ich überlegte fieberhaft. Jodi hatte mich auf die roten Ordner hingewiesen, Elizabeths Ordner. Jodi hatte außer Freundschaft noch einen anderen Grund, meine Gesellschaft zu suchen. Alles deutete darauf hin, dass Jodi insgeheim die Ermittlungen ihrer Tante weiterführte, der Tante, die von Vampiren getötet worden war Und ich hatte Jodi Zutritt zum Vamphauptquartier verschafft, ich hatte Kontakte zu Vamps. Sie benutzte mich.

Ich weiß nicht, warum der Gedanke mich kränkte. Es war ja nicht so, als wären wir Busenfreundinnen. Trotzdem tat es weh.

Rick schien meine Reaktion nicht zu bemerken. »Kommen Sie«, sagte er. »Ich bringe Sie nach draußen.«

Schweigend gingen wir die Treppe hoch, und Rick ließ mich Halt an der Damentoilette machen, wo ich allerdings keine Zeit damit verlor, die Fotos zu mailen, sondern stattdessen meine Mailbox durchsah. Eine Nachricht war von Bruiser. Unerwartete Erleichterung überkam mich. Falls gestern tatsächlich Vamps dem Blutrausch verfallen waren, hatte er es überlebt. Er klang milde, sachlich und erstaunlich hilfsbereit, denn eigentlich hatte ich gar nicht erwartet, mit meiner Bitte auf offene Ohren zu stoßen.

Wieder auf dem Hauptgang, steckte Rick die Hände in die Taschen seiner schwarzen Hose und fragte beiläufig: »Also. Haben Sie Lust, mit mir am Samstag zu Abend zu essen? Ich lade Sie ein.«

Ein heißer Schauer durchrann mich. Ein Date? Das klang ganz nach einem Date. Wenn er einlud und so. Es war Jahre her, seit ich richtig verabredet gewesen war. Und am Samstag war der Vollmond erst drei Tage vorbei. Beast wäre immer noch liebeshungrig. Ich schluckte und wurde vermutlich sogar rot, hoffte aber, dass er es bei meiner kupferfarbenen Haut nicht sah. »Äh. Dann müsste ich diesen Auftrag eigentlich erledigt haben. Klar. Vielleicht um acht?«

Er nickte, senkte den Kopf und sah zu mir hinauf. »Bikes. Burger. In Ordnung?«

»Einverstanden.« Das klang, als könnte es lustig werden. Und ich hatte Besuch, musste mir also keine Gedanken über peinliche Verabschiedungen oder enttäuschte Erwartungen machen. »Äh dann um acht also.«

Rick nickte mir zu, verabschiedete sich wieder mit einem Finger winkend und verschwand wieder in den Tiefen des NOPD. Oh nein. Ich hatte ein Date. Ich klappte mein Handy auf, um den wichtigsten Anruf zu erwidern, den ich, während ich unten im Hokuspokus-Raum gewesen war, erhalten hatte. Er antwortete nach dem ersten Klingeln. »George Dumas.«

Ich schwang mich auf meine Maschine und setzte den Helm auf. »Jane. Man hat mir für Sie die Erlaubnis erteilt, den offiziellen Vampfriedhof zu betreten.« Nicht zu verwechseln mit der Grabstätte, wo ich den weiblichen Rogue neulich Nacht getötet hatte.

»Ja. Wann?«

»So bald wie möglich.«

»Bin schon unterwegs.«

Als ich auf der Karte die Orte markiert hatte, an denen Angriffe von jungen Rogues gemeldet worden waren, hatten sich drei Zentren ergeben, eines davon im Umkreis von drei Kilometern um den Vampfriedhof. Deshalb wollte ich mich jetzt dort ein wenig umsehen.

Es wurde aufgelegt. Unser Bruiser war kein Mann vieler Worte. Aber ein Mann wirklich guter Küsse, vor allem auf dem Boden einer Limousine. Eine unangenehm-kribbelige Wärme durchströmte mich. Ich war an einem Blutdiener interessiert. Interessiert wie bei interessiert. Und Bruiser schien recht interessiert an mir zu sein. Die Überwachungsanlage des Friedhofs hätte er ebenso gut von Leos Haus aus ausschalten können. Benutzte er die Alarmanlage etwa nur als Vorwand, um mich wiederzusehen? Die kratzige Wärme breitete sich weiter aus, stachelig und unerträglich. Oh ja, ich war interessiert.

Und trotzdem war ich am Samstag mit einem anderen Mann verabredet. Einem atemberaubend gut aussehenden Menschen, der für romantische Verwicklungen eine sehr viel bessere Wahl war als der Blutdiener des Meisters der Stadt. Früher hatte ich Rick für einen Womanizer gehalten, aber das war damals, als er noch undercover gearbeitet und ich ihn nicht wirklich gekannt hatte.

Über Männer nachzudenken, war frustrierend und verlieh mir das Gefühl, als wäre mein Verstand mit Stacheldraht umwickelt. Dafür war jetzt keine Zeit. Deshalb wandte ich mich dringlicheren Angelegenheiten zu, wie zum Beispiel dem Gefühl von Mischa zwischen meinen Schenkeln, dem warmen Wind auf meiner Haut und den kräftigen Gerüchen der Stadt.

Ich hätte den Friedhof auch allein durchsuchen können, wenn Bruiser einmal den Alarm ausgeschaltet hatte, aber er war ein vorsichtiger Mann, weniger vertrauensvoll als Rick, wenn es um Schlüssel und Sicherheitsvorkehrungen ging. Sobald wir durch das vergitterte Tor waren, verschwand er im ersten Mausoleum, zu dem wir kamen, und als er wieder herauskam, nickte er mir zu. Ich nahm an, das sollte bedeuten, ich hatte freie Hand, doch er ging nicht. Er lehnte sich gegen die Motorhaube seines Wagens und beobachtete mich durch die Spiegelgläser seiner Sonnenbrille. Geduldig. Was mich unruhig machte. Wäre er ungeduldig gewesen, hätte ich verärgert sein können und bockig und hätte mir Zeit lassen können. Ein ruhiger, friedlicher Mann machte es nur schwerer.

Ich nahm den Helm vom Kopf und warf meine Jeansjacke über den Sitz. Aus den Satteltaschen holte ich einen Block und einen Stift und begann, den Grundriss des Friedhofs zu skizzieren. Nichts Exaktes oder Maßstabsgetreues, nur eine Karte, die später, falls nötig, meiner Erinnerung auf die Sprünge half. Ich zeichnete die acht Mausoleen ein, versah sie mit den Namen der Clans und notierte bauliche Besonderheiten, einschließlich des nackten Engels auf jedem Dach. Bei meinem letzten Besuch waren mehrere Mausoleen beschädigt worden. Jetzt gab es Anzeichen von Reparaturarbeiten: Reifenspuren im Gras, eine Leiter auf dem Boden, ein Gerät, das aussah wie ein tragbarer Zementmischer, aber wahrscheinlich etwas anderes war, und ein paar weggeworfene Zigarettenstummel. Mit verärgerter Miene sammelte Bruiser sie auf, während ich arbeitete. Ich beobachtete ihn aus den Augenwinkeln, während ich die Kapelle skizzierte, aus der ich in meiner Gestalt als Uhu die Priesterin hatte herauskommen sehen. Heute sah sie verlassen aus.

Als ich den Block wieder in den Satteltaschen verstaute, kam Bruiser zu mir geschlendert. Er war bleich, als hätte man ihn zu stark bluten und dann nicht genug vom Blut seines Meisters trinken lassen. Das letzte Mal, als ich ihn gesehen hatte, hatte ein Blutrausch gedroht. »Du siehst ein bisschen blass aus. Sehr blass, um ehrlich zu sein«, sagte ich vorsichtig. »Alles in Ordnung?«

»Mir ging es schon besser. Warum wolltest du noch einmal hierher?«

Ich berichtete ihm von der Häufung der Angriffe junger Rogues in diesem Gebiet. »Als wenn die Rogues ganz in der Nähe auferstanden wären und dann über die ersten Menschen, die ihnen über den Weg liefen, hergefallen wären.«

Er guckte interessiert. »Wo sind sie denn noch auferstanden?«

Ich erläuterte ihm kurz die Karte und berichtete dann von dem Rogue, den ich letzte Nacht erlegt hatte. »Ich war noch nie Zeugin einer Auferstehung, doch an dieser war irgendetwas seltsam, etwas, das, glaube ich, nicht zu einer normalen Auferstehung gehört. Auf der Grabstätte befanden sich ein Pentagramm aus Muscheln und ein Schutzkreis, und an den Spitzen des Pentagramms waren Kreuze an die Bäume genagelt.«

Als ich ihm einen Blick zuwarf, sah ich einen Ausdruck völligen Unglaubens auf seinem Gesicht. »Was ist denn?«

Er schüttelte den Kopf. »Unmöglich. Das hätte das Team, das losgeschickt wurde, um die Grabstätte zu säubern, gemeldet.«

Wie interessant. Als ich dort gewesen war, hatten dort Kreuze gehangen. Da war offenbar jemand sehr schnell nach der Auferstehung im Stadtpark gewesen, um sie noch vor der Ankunft des Reinigungsteams abzuhängen. Oder hatte der Blitz, den ich bei meiner Ankunft gerochen hatte, vielleicht das Timing der Auferstehung durcheinandergebracht? War das überhaupt möglich? Immerhin war auch Frankenstein zum Leben erwacht, nachdem sein Schöpfer einen Blitz in seinen Körper geleitet hatte ein früher kinematografischer Defibrillator. Ich grinste, und Bruiser zog die Augenbrauen hoch. Ich schüttelte den Kopf, um ihm zu zeigen, dass meine Gedanken nichts zur Sache taten.

Er fuhr fort: »Kreuze würden einen jungen Rogue sofort wieder vor Schmerz schreiend ins Grab zurücktreiben.«

»Vielleicht haben dies das Pentagramm und die Magie, die auf der Erde gewirkt wurde, verhindert.« Bruiser starrte in die Ferne, das Gesicht verschlossen, Gedanken nachhängend, die er nicht mit mir teilen wollte. Als er nichts erwiderte, hakte ich nach. »Aber was sollten die Kreuze denn bewirken? Okay, ich verstehe, dass Vamps mit Leib und Seele religiös sind, was schon ziemlich komisch ist für Untote, die keine Seele haben.«

Das riss Bruiser aus seiner Trübsal. »Religion? Und Vampire?« Sein Ton bedeutete: »Bist du verrückt?«, auch wenn er es nicht aussprach. Aber etwas an seiner Körpersprache war komisch.

Ich sah über den Friedhof, wobei ich ihn stets im peripheren Blickfeld behielt. Ruhig sagte ich: »Vampire und Religion müssten sich eigentlich zueinander verhalten wie Öl und Wasser, aber das ist nicht so. Denn Vampire sind gläubig. Die Kirche findet sich in allem wieder, was sie tun und was sie sind den Mythen über das Heilige Land, ihre Reaktion auf Kreuze «, ich dachte an Sabina, die Priesterin, »das ganze offizielle christliche Drum und Dran. Für Vamps gibt es keine längst vergangene Geschichte. Jede Kränkung, jedes Bündnis, auch wenn sie sich stets ändern, hat seinen Ursprung in Ereignissen, die sich vor Hunderten oder Tausenden von Jahren zugetragen haben. Ihre Geschichte, so wie sie die Menschen wahrnehmen, reicht bis in die Gegenwart, und das bedeutet, dass der Schöpfer der Rogues, wer immer er ist, schon sehr lange sein Unwesen treibt. Und den Anstoß dafür kann es gestern gegeben haben, aber auch vor einem Jahrhundert oder vor zweitausend Jahren.«

Bruiser trat von einem Bein auf das andere, verlagerte unbewusst sein Gleichgewicht. »Ich rate dir, diesen Blödsinn keinem Mithraner zu erzählen.« Aber sein Geruch änderte sich, ein Hinweis darauf, dass ich mit meiner Analyse der Beziehung zwischen Vamps und Religion ins Schwarze getroffen hatte.

Ich drehte die Handflächen nach oben und wandte mich ab. Über die Schulter sagte ich: »Ich werde mal das Gelände abgehen. Es dauert nicht lange.« Bruiser sagte nichts, und ich ging schnell davon, dem Lauf der Sonne folgend im Uhrzeigersinn also an der Baumreihe entlang, die den Friedhof säumte. Die Sonne war heiß, die Luft schwül, säuerlich und still. Der Schweiß rann mir den Rücken hinunter, während ich marschierte und versuchte, ein Gefühl für den Ort zu bekommen, etwas zu erspüren, das ich bei meinen bisherigen Besuchen nicht zugelassen hatte. Das erste Mal war ich allerdings in der Gestalt eines Eurasischen Uhus hier gewesen und das andere Mal in Begleitung von Rick, sodass mir also stets die passenden Sinne, die Zeit oder die Gelegenheit gefehlt hatten, um den Ort in mich aufzunehmen, das Gebiet auf die Art kennenzulernen, wie Beast es tun würde.

Jetzt stupste ich sie im Geiste an, um sie zu wecken, und öffnete meine Sinne, um den Ort über seine Gerüche zu erfahren, den Geschmack der Luft, die Elastizität des Grases unter meinen Stiefeln und die Magie, die über den Boden wehte. Hier war Macht. Nicht die Macht von geweihtem Boden oder die einer Kraftlinie. Keine Macht, die um alte Kirchen, Synagogen, Moscheen, Tempel oder andere Gebäude, wo der Glaube den Boden weiht, in die Erde gesickert war. Nicht die Macht des Glaubens. Aber dennoch Macht, alt und sehr lebendig. Auch wenn ich sie nicht einordnen konnte, erkannte ich sie doch am Geschmack.

Ich hatte die Lichtung halb umrundet, als der Boden feucht wurde und schmatzend unter mir nachgab. Die Luft kühlte ab, wurde dünner, nasser, auch wenn das bei der Schwüle kaum möglich schien. Ich atmete tief ein und roch etwas Pfeffriges, Scharfes, den schwachen, trockenen Kräuterduft von Vamps, der aus dem Wald heranwehte. Und darunter verwesendes Blut und eine Spur von Magie. Hexenmagie. Ich begab mich zu den Bäumen. Die Machtsignatur kitzelte sanft meine Arme. Die Baumkronen über mir hielten die Sonne und ein wenig von der Hitze ab, Schatten verdunkelten den Boden.

Der Geruch führte mich nach Norden, einen überwachsenen Weg entlang, der gerade breit genug war, damit ich meine Füße setzen konnte. Beasts Meinung nach ein Kaninchenpfad. Sie schickte mir das Bild eines Kaninchens und flutete meine Sinne mit dem Geschmack von heißem Blut. »Vielen Dank«, murmelte ich, »aber ich bevorzuge mein Protein gehäutet, ausgenommen, entbeint, gegart und gewürzt.« Beast hustete amüsiert.

Nicht lange danach traf ich auf eine Gruppe junger Bäume in einem Kreis älterer Bäume. Es sah aus, als wäre es einmal ein Kreis von drei Metern Durchmesser gewesen, vielleicht vor fünf Jahren. Ich kniete mich hin und strich mit den Händen über die Erde zwischen den Wurzeln der jungen Bäume. Ich fand eine zerbrochene weiße Muschel. Als ich mit der Schuhspitze am Rand des Kreises in der Erde bohrte, fand ich noch mehr Muscheln. Das hier war der Zirkel für ein Blutritual gewesen, an dem sowohl Hexen als auch Vamps teilgenommen hatten, und ich hätte wetten mögen, dass es der erste Ruheplatz für einen oder mehrere neue Rogues gewesen war. Was immer es war, es ging schon sehr viel länger vor sich, als man mir gesagt hatte. Vielleicht sehr viel länger, als selbst der Vampirrat es wusste.

Ich fand noch zwei weitere Kreise in dem bewaldeten Gebiet um den Vampirfriedhof herum, der eine war älter, der andere jünger als der erste, die ich beim ersten Mal, als ich daran vorbeigegangen war, übersehen hatte. Wieder bei meinem Bike, zeichnete ich die Standorte auf meiner Karte ein und die ungefähre Zeit, seitdem sie verlassen waren, die ich anhand des Alters der Bäume grob schätzte. Eine Städterin wäre dazu sicher nicht in der Lage gewesen, aber ich war auf dem Land aufgewachsen, und im Kinderheim hatte man für die Natur für mehr als nur für einen Spielplatz und einen Parkplatz Verwendung gehabt. Wir zogen viel von unserem Gemüse selbst und hatten einmal, um den Garten zu vergrößern, sogar ein Stück unseres Landes urbar gemacht. Ich erinnerte mich noch gut daran, was für eine Plackerei es gewesen war, die Bäume zu roden. Ich wusste, wie lange der Wald brauchte, sich brachliegendes Land zurückzuholen. Ich blickte zurück zum Wald und fragte mich, ob es noch mehr solcher Orte dort gab. Unmöglich war es nicht. Aber Bruiser wartete. Geduldig. Bei dem Gedanken daran bekam ich ein schlechtes Gewissen.

Als ich zurückgekommen war, hatte er immer noch an seinem Wagen gelehnt, den Hintern an dem glänzenden Lack, die Augen hinter der Brille vor dem Licht geschützt. Ihn brachten die Hitze und die feuchte Luft, anders als mich, nicht zum Schwitzen. Ich fragte mich, ob seine Resistenz gegen Temperaturschwankungen eine Folge des Blutes war, das er von Leo im Austausch dafür bekam, dass er sein Blutmahl war, oder ob er schon immer so gewesen war. Leider gab es keine Möglichkeit, höflich danach zu fragen, doch wenn ich nicht etwas von ihm gewollt hätte, hätte mich das vermutlich nicht gehindert. Bei diesem Gedanken musste ich lächeln, und er legte den Kopf schief. Ich winkte ab und sagte: »Ich nehme nicht an, dass du mir den Zugriff auf die Überwachungsanlage auf diesem Grundstück überlässt, damit ich wiederkommen kann, wann ich will.«

Seine Lippen verzogen sich kurz zu etwas, das vielleicht ein Lächeln geworden wäre, und er bewegte den Kopf einmal nach links, dann nach rechts, ein abgekürztes aber unmissverständliches Nein.

»Na gut. Bei meinen Nachforschungen zu Vampirangriffen bin ich über ein paar Sachen gestolpert, bei denen du mir stattdessen vielleicht weiterhelfen kannst.« Bruisers Stirn hob sich ein wenig, als amüsiere es ihn, dass ich ihn zu meinem Assistenten machte. »Clanlos zum Beispiel. Und devoveo.« Ich war mir zwar ziemlich sicher, dass ich die Antworten kannte, aber in meinem Geschäft bedeutet »ziemlich sicher« gar nichts. Ich musste es todsicher wissen.

Auf einmal war der schläfrige Blick verschwunden. »Wo hast du das her?«

Bruiser war meine beste Quelle für alles, was mit Vampiren zu tun hatte, und ich wusste, nichts war umsonst. Doch nicht dieses Mal. Ich hasste es, verhandeln zu müssen. »Meine Quelle« wenn man die Hokuspokus-Akten des NOPD so nennen konnte »ist vertraulich. Ich möchte nur wissen, was die Begriffe bedeuten.«

In der Tiefe seiner Augen begann es zu flackern. Er legte den Kopf auf die Seite und sah mich nachdenklich an. Dann schien er zu einer Entscheidung gekommen zu sein. »Devoveo ist der Zustand, in dem ein junger Rogue sich befindet. Die zehn Jahre des Wahnsinns, während derer die Öffentlichkeit vor ihm geschützt werden muss. Diese zehn Jahre, die er durchstehen muss, um sie am Ende dann vielleicht doch nicht zu überleben, das ist der Fluch der Mithraner.«

»Hast du je davon gehört, dass Leute Hexenblut trinken, um diesen Zustand zu verhindern?«

Er machte ein verwirrtes Gesicht. »Nein. Hexen werden selten gewandelt, weil sie sehr viel länger als die üblichen zehn Jahre unter devoveo leiden und oft von ihren Schöpfern getötet werden müssen. Aber ich habe keine Ahnung, welche Wirkung es haben kann, ihr Blut zu trinken.«

»Oh.« Obgleich ich keine großen Enthüllungen erwartet hatte, war ich doch enttäuscht.

»Clanlosigkeit ist ein Begriff aus ihrer Entstehungsgeschichte. Bevor die Vampire sich in Clans und Familien aufteilten, waren sie alle eine Familie. Als ihre Gemeinde zu groß wurde und sie sich nicht mehr selbst organisieren konnte und die Menschen sie zu jagen begannen, gingen viele von ihnen in die Diaspora, und einige der Ältesten erschufen neue Clans in anderen Ländern. Andere schlossen sich später bereits existierenden Clans an oder taten sich zusammen, um sich besser verteidigen und schützen zu können. Und einige wenige beschlossen, clanlos zu bleiben. Aus der Gruppe der Clanlosen stammen die Wächter der Vergangenheit. Sie agieren als Geschichtsschreiber, Botschafter und Vermittler. Wenn nötig, auch als Friedensstifter.«

»Dann sind Sabina und Bethany also wirklich sehr alt. Fast zweitausend Jahre.« Als er den Kopf neigte, fügte ich hinzu: »Und den Vamps ist der Boden, auf dem sie gehen, heilig.«

»Nicht heilig. Die ältesten Mithraner werden respektiert, verehrt vielleicht, aber nicht angebetet. Die Priesterin ist die älteste Mithranerin dieser Hemisphäre. Und Bethany war ihre Schülerin.«

»Was?«

»In den letzten Jahrhunderten gab es zwischen ihnen einige Meinungsverschiedenheiten, das letzte Mal im Bürgerkrieg, über das Problem der Sklaverei. Es kam zu einem Bruch, der seitdem nicht wieder gekittet werden konnte.«

Bethany war eine Sklavin gewesen. Kein Wunder, dass das Thema heikel war. Ich hatte das Gefühl, dass noch mehr dahintersteckte, doch Bruiser richtete sich auf und öffnete die Autotür, um einen Umschlag und eine Schachtel herauszunehmen und sie mir zu überreichen. »Der Scheck ist für die Köpfe, die du dem Vampirrat geliefert hast. Und das andere ist ein Geschenk von Leo an dich, aber er wollte es nicht einpacken lassen. Und um es vorweg zu nehmen ich habe keine Ahnung, warum du es bekommen sollst.«

Ich schob den Umschlag in die Satteltasche, nahm die Schachtel entgegen und öffnete den Deckel. Unter mehreren Schichten Füllmaterial lagen Knochen und Zähne. Die kleinen Knochen sahen aus, als stammten sie von einer Tatze, die größeren wie Vorderbeinknochen. Die Zähne steckten in einem Unterkiefer, die Eckzähne waren beeindruckend lang, von einem war die Spitze abgebrochen. Ich meinte zu erkennen, dass sie alle von einer Säbelzahnkatze stammten. Ein kalter Schauer überlief mich. Leo hatte mir die Fetische seines »Sohnes« geschenkt, die Dinge, die Immanuel benutzt hatte, um sich in einen Säbelzahntiger zu wandeln und zu töten. Die Dinge, die ihn möglicherweise in den Wahnsinn getrieben hatten. Mein erster Impuls war es, sie nicht anzunehmen.

Ich hörte Muschelschalen knirschen und blickte auf. Bruiser schob seine lange, schlanke Gestalt hinter das Lenkrad, schloss ohne ein weiteres Wort die Tür und ließ den Motor an, um zu wenden. Offenbar sollte das das Signal zum Aufbruch sein. Ich schnallte die Schachtel auf den Gepäckträger und startete Mischa. Die Frage, ob Hexenblut junge Rogues vom Wahnsinn befreien konnte, würde ich ihm wohl später stellen müssen. Jetzt verließ ich hinter dem Blutdiener des Meisters der Stadt den Friedhof und bemerkte kaum, wie die Straße unter den Reifen der Maschine dahinflog.

Warum hatte Leo mir die Knochen gegeben? Was war der Zweck der Stätten in den Wäldern, wenn Vamps doch fast überall unter die Erde gebracht werden konnten, außer dort, wo es Kreuze gab? Zu der Ursprungsfrage, wer die jungen Rogues erschuf, waren ein Dutzend neue gekommen. Viele davon waren noch unbeantwortet, aber eines hatte ich immerhin bewiesen: Vamps und Hexen arbeiteten zusammen, um neue Rogues zu erwecken, vermutlich handelte es sich um eine kleine Gruppe Abtrünniger. Und wenn die jungen Bäume im Wald ein Hinweis waren, trieben sie schon seit Jahrzehnten ihr Unwesen.