17

Unsere Sünde hat sich vervielfacht

Obwohl Sabina kleiner war als ich, baumelten meine Füße über dem Boden, als sie mich an die Wand drückte. Wie ein Schraubstock lagen ihre Finger um meinem Hals und drückten die stählernen Kettenglieder des Kragens in meine Haut, doch allein dank des Kragens bekam ich überhaupt noch Luft. Mein Nacken war so stark gedehnt, dass ich mich nicht rühren konnte. Und keine Waffe in der Nähe, die etwas gegen sie hätte ausrichten können.

Es gelang mir, die Panik niederzukämpfen, doch gegen mein rasendes Herz und den Angstschweiß auf meiner Haut war ich machtlos. Und außer mir hatten die Kinder niemanden, der ihnen jetzt noch helfen konnte. Ich zwang mich, die Hände sinken zu lassen. Jetzt bloß nichts Dummes tun.

Sie murmelte etwas, doch ich verstand sie nicht. Es klang wie Latein, wie eine Liturgie. Und das war die Priesterin der Vamps. Ich hatte behauptet, Vampire seien gläubig. Vielleicht hatte ich gar nicht gewusst, wie recht ich hatte.

Als sie innehielt, um Luft zu holen, versuchte ich zu sprechen. »Bitte.« Meine Stimme war nur ein Flüstern, weil sie mich so fest hielt und die Todesangst schwer auf meine Brust drückte. Ich presste hervor: »Ich erbitte. Absolution.« Bei diesem Wort überlief Sabina ein leichtes Zittern. Sie lockerte ihren Griff um meine Kehle. Mein Atem pfiff durch das gerade erst geheilte Gewebe. Mich erfasste eine Woge der Erleichterung.

Ich war durch das Wasser gegangen, war auf den Kampf vorbereitet worden. Gereinigt worden. Jetzt zog ich daraus Kraft. Wieder spürte ich, wie das Wasser träge über mir zusammenschlug, als ich unter die Oberfläche sank. Die warme Luft, als ich mit den Füßen im Schlamm am Grund des Bayou stand. Die Schwärze, als ich wieder untertauchte. Ein eigenartiger Frieden durchströmte mich, bis in die entferntesten Windungen meines Geistes, dunkel und träge wie der schwarze Bayou. Es war, als hätte sich dieses Gefühl bisher verborgen gehalten, sich nicht gerührt, bis jetzt, als ich so weit war, es zu erkennen, es zu nutzen. Und ich verstand. Die Suche nach den Kindern war der Grund, warum ich durch das Wasser gegangen war. Dies war der Kampf, den Aggie One Feather vorhergesehen hatte.

Gelassenheit glitt über meine Haut, erfasste selbst die letzten Winkel meines Geistes und meines Herzens, durchdrang meinen ganzen Körper. Ich schloss die Augen und wiederholte meine Bitte: »Ich erbitte Weisheit und Stärke im Kampf und Reinheit des Herzens, des Geistes und der Seele.«

Und plötzlich war es, als sickere die Gelassenheit, die mich erfüllte, durch meine Haut in sie hinein. Sie atmete langsam ein und begann zu zittern.

Doch dann schnappten ihre Fangzähne zurück, und ihre Augen wurden wieder menschlich. Sie ließ mich auf die Füße hinunter und trat zurück. Das Blut pumpte wieder in meinem Kopf, und alles begann sich zu drehen. Ich stützte mich am Rand der Veranda ab, die Hand auf die Unterlippe gepresst. Auf einmal befanden wir uns wieder neben der Kapelle, ich sah die Beine des toten Vamps. Vorsichtig rückte ich von ihm ab, als könnte er jeden Moment aufstehen und über mich herfallen.

»Zeigen Sie mir die Stätte auf meinem Land, wo dieser Rogue auferstanden ist.« Sie sagte es in dem Befehlston, den man nur von den Uralten hörte. Ein Gebot. Zwang. Vampmagie. Sie glitt über mich, in einer sanften Welle, trockenem Sand gleich, den der Wind verweht, brannte und stach auf meiner Haut. Ich wollte in den Wald gehen. Wollte zurück zu der Grabstätte mit den weißen Muschelmarkierungen. Mit den Stiefeln im hohen Gras drehte ich mich um und blickte zurück zu den Bäumen.

Beast schlug den Zwang mit der Tatze fort. Beinahe meinte ich zu sehen, wie er sich von mir löste, als würde man Fäden aus einem Gewebe ziehen. Mist. Sabina war stark. Ich holte Luft, bewusst langsam und ruhig, um sie nicht merken zu lassen, dass sie mich nicht mehr beherrschte. Es gab noch so viel, was ich von ihr wissen musste.

Ich strich mit den Händen über meine Oberschenkel und musste mich zwingen, nicht nach einer Waffe zu greifen. Sie war so schnell, dass ich schon tot gewesen wäre, bevor ich sie ganz gezogen hätte. Ich schluckte. Der Schmerz erinnerte mich wieder an ihre Kraft. »Natürlich. Hier entlang.« Mit zitternden Beinen und feuchten Händen ging ich voran. Ich hörte keine Schritte, nur das Rascheln ihres gestärkten Gewandes. Bei dem Gedanken, dass sie in meinem Rücken war, stellten sich die Härchen in meinem Nacken auf.

Immer noch im Befehlston sagte sie: »Erzählen Sie mir, was Sie über das Kreuz des Fluches wissen. Und woher.«

Ich spürte ihre Macht, schwarz-violette Flecken, die mich einhüllten, auf meinen Brustkorb drückten, sodass mir das Atmen schwer wurde. Kreuz des Fluches? Das Kreuz, mit dem sie den Leberfresser vertrieben hatte? Ja, so musste es sein. Aber ich konnte nicht gut lügen, und unter ihrem Einfluss war es vermutlich ohnehin nicht möglich, die Unwahrheit zu sagen also musste ich lügen, indem ich die Wahrheit sagte. War das dann keine Lüge mehr? Doch darüber konnte ich mir später Gedanken machen. Wenn die Kinder in Sicherheit waren.

»Ein kleines Vögelchen hat mir gesagt, dass Sie die Kreatur, die Sie angegriffen hat, mit einem Kreuz vertrieben haben. Es sagte mir, es sei eine mächtige Waffe.«

Aus den Augenwinkeln sah ich sie plötzlich neben mir. »Wer ist dieses kleine Vögelchen«, schnurrte sie, »das von dem Blutkreuz weiß?«

Ich fasste mir ein Herz. »Ein Uhu.«

Schweigend gingen wir weiter, bis wir uns dem weißen Muschelkreis genähert hatten. Auch ohne meine übermenschlich feinen Sinne hätte ich zurückgefunden, denn die Kreuze an den Bäumen begannen schon zu schimmern, als Sabina noch mehr als zehn Meter entfernt war, und wurden dann immer heller, bis sie schließlich stehen bleiben und die Augen mit der Hand beschirmen musste.

Sie hatte Schmerzen, wie ihre atemlose Stimme verriet, als sie sagte: »Ich rieche den Schöpfer. Es ist ganz sicher ein Rousseau.« Mit der Hand vor Augen wich sie ein paar Schritte zurück. »Über diesem Ort liegt der Geruch der Vergangenheit, des Bösen, das einst hier bekämpft und besiegt wurde. Der starke verbrannte Gestank von Hexenmagie. Ich rieche das Blut der Opfergaben. Hexenblut, das hier vergossen wurde. Das Blut unserer Sünde.

Ich habe gesündigt«, stöhnte sie, »und nun hat sich unsere Sünde vervielfacht.« Ihre Stimme wurde zu einem lauten Wehklagen. »Unsere Sünde hat sich vervielfacht.«

Von Schmerzen geplagt, kauerte sie sich zusammen, den Rücken mir zugewandt. Als schließlich das Klagen verstummte und auch sein Echo verklungen war, legte sich Stille über den Wald. Eine glasklare, alles durchdringende Stille, als würde der Wald selbst auf etwas lauschen. Nach einer Weile flüsterte sie: »Ich werde Ihnen Ihre Fragen in der Kapelle beantworten. Gehen Sie dorthin zurück.« Dann rauschte es plötzlich in den Bäumen, ein leichter Wind erhob sich, und Sabina war fort. Die Kreuze glühten kurz auf und erloschen dann.

Nun wusste ich ohne jeden Zweifel, wozu diese Kreise dienten. Ein Rousseau tötete Hexenkinder, weil ihr Blut und ihre Angst einem magischen Ritual Energie gaben, das bewirkte, dass ein Vamp mehr Zeit in seinem Grab verbrachte und, wenn er dann auferstand, geistig gesund war. So musste es sein.

Mit schwerem Herzen machte ich mich auf den Rückweg durch den Wald zur Kirche.

Am Rand des Friedhofs blieb ich überrascht stehen. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass Sabina tatsächlich auf mich wartete, doch dort saß sie auf dem Stuhl, das Mondlicht hell auf ihrem weißen Gewand, das Gesicht im Schatten. Langsam ging ich näher und entdeckte, dass LeShawn in meiner Abwesenheit bewegt worden war. Und geköpft. Sein Körper war an den Fuß der Stufen, die zum Eingang hochführten, gerollt worden. Der Kopf befand sich neben dem Halsstumpf, die Augen Sabina zugewandt. Ein nicht nur in einer Hinsicht verstörender Anblick.

Wieder machte ich besonders viel Lärm, als ich mich ihr von der Seite näherte und mich in meinen schweren Lederklamotten schwitzend mit halbem Po auf die Veranda setzte. Einen Fuß behielt ich auf dem Boden. Lange Zeit sagte keine von uns beiden etwas. Die Nachtluft wehte träge über den Friedhof. Nachtvögel schrien. Eine Fledermaus flatterte ganz in der Nähe vorbei. Regungslos wie eine Statue saß Sabina da, ohne zu atmen, ohne Pulsschlag, tot. Als sie Luft holte, um etwas zu sagen, zuckte ich erschrocken zusammen, doch sie starrte nur LeShawns Augen an, die im Licht des Mondes wirkten, als würden sie uns beobachten.

»Sie erwähnten die Söhne der Dunkelheit. Die unseren sprechen nicht oft von ihnen. Ihre Schande ist auch unsere Schande.«

Als ich nichts erwiderte, machte Sabina noch einen ihrer eigenartig klingenden Atemzüge. »Es gibt ein Stück Pergament, auf dem steht eine Übersetzung der Geschichte von den Anfängen der unseren und der ersten Prophezeiung unseres Erlösers. Das Original wurde oft kopiert, oft übersetzt. Ich als Priesterin bewahre ein Stück der Originalrolle und eine der frühen Kopien auf. Die Geschichte berichtet von den Söhnen der Dunkelheit und ihrem Sündenfall. Sie erzählt, wie wir erschaffen wurden. Die Söhne haben ihren Blutfluch an uns weitergegeben und mit uns eine Rasse geschaffen, die viele Gaben, aber auch großes Leid, großen Schmerz und die Sünde der Welt zu tragen hat.« Sie hielt inne. In der Ferne hörte ich den Schrei einer Eule, die typische Melodie aus vier Takten plus fünf Takten dieses Tiers, als würde sie rufen: »Wer guckt mir zu? Wer guckt mir denn zu?« Einige klagende Töne kamen zur Antwort, noch weiter entfernt. Eulen fühlten sich wohl in dieser Gegend. Die Stille zwischen uns dehnte sich, bis ich schon glaubte, Sabina würde nicht mehr weitersprechen, und darum zusammenzuckte, als ich ihre Stimme hörte.

»Und obwohl ihre Sünde die schlimmste aller Sünden war, prophezeiten die Söhne die Erlösung der unseren.« Sie legte den Kopf schief, die Augen weiterhin auf LeShawn gerichtet. Sein Blut war auf die weißen Muscheln auf dem Boden gesickert. »Falls sich herausstellen sollte, dass Sie die Erlöserin sind, dass Sie diejenige sind, die uns Frieden bringt, dann werde ich Ihnen alles sagen. Denn nur der Erlöser oder die Erlöserin der Mithraner darf die ganze Geschichte hören.« Plötzlich spürte ich ihre Blicke auf mir, schwer wie eine Bleidecke, sodass ich mich nicht rühren konnte. Doch ich wandte die Augen ab. Sie musterte mich. »Aber ich glaube nicht, dass Sie diese Retterin sind. Mein Warten hat noch kein Ende. Noch darf ich nicht auf meinen Tod hoffen.« Sie seufzte. Ihr Atem roch nach altem Blut. Sehr altem Blut. Wieder fragte ich mich, wann sie sich das letzte Mal genährt hatte.

Als Sabina sich die Lippen leckte, schrak ich zusammen. Immer wieder vergaß ich, dass auch sie einmal ein Mensch gewesen war und immer noch zu menschlicher Mimik fähig war. Sabina ließ mich nicht aus den Augen. »Ich habe drei Mithraner an der Auferstehungsstätte gerochen, die ich alle drei kannte, aber vor sehr langer Zeit. Nie hätte ich geglaubt, dass ein Vampir in dieser Stadt sein Nest hat, den ich nicht kenne. Genauso wenig wie ich es für möglich gehalten habe, dass eine Familie, selbst eine kleine, oder nur ein einzelner Vampir im Jagdgebiet der Pellissiers überleben kann. Aber die Vergangenheit wiederholt sich und mit ihr das Böse.«

Sie schien eine Antwort zu erwarten, doch ich wusste nicht, was ich darauf sagen sollte. Als ich schwieg, sah sie zur Seite. »An dieser Stätte wurde ein Hexenkind getötet. Das Kind wurde ausgeblutet und seine Leiche weggeschafft.«

Unwillkürlich zuckte ich zusammen. Sabine fuhr ungerührt fort. »Das verstößt gegen die Vampira Carta, gegen unsere Sitten und Gebräuche und ist mit dem endgültigen Tod zu bestrafen. Wirst du dafür sorgen, dass die Schuldigen ans Tageslicht gebracht werden?«

Ich nickte. »Aber Sie müssen mir dabei helfen«, sagte ich. »Wissen Sie irgendetwas, das mir helfen könnte, den Vampir, der dahintersteckt, zu finden?«

»Der Rousseau-Clan praktizierte einst Blutmagie, für die Menschen- und Hexenkinder geopfert wurden. Es gab unter den Rousseaus einige, die die Schuld, die alle Mithraner tragen und die die älteren Mithraner dem Gesetz nach an ihre Geschöpfe weitergeben, nicht anerkennen. Sie beriefen sich auf das Gesetz der Naturaleza, das besagt, dass sie als Räuber das Recht haben, Menschen zu jagen und zu töten. Und sie behaupteten, die Sünde der Väter werde nicht auf die Söhne übergehen.« Sie schüttelte den Kopf und sah mich an. »Ihr Frevel wurde entdeckt, und sie wurden in einer großen Säuberung ausgelöscht.«

Aufregung erfasste mich. Von dieser Säuberung hatte ich gehört. Dies war das Bindeglied, das ich gesucht hatte.

»Die Blutlinie der Rousseaus litt schon immer unter einer seltsamen Form des Wahnsinns. Davon reden wir nicht oft. Dennoch ist es so.« Sabina sah LeShawn an. Als ihr Blick mich losließ, zitterte ich beinahe. Jetzt, da seine Augen langsam glasig und milchig wurden, sah es nicht mehr so aus, als würden sie die Priesterin fixieren, und seine Gesichtszüge begannen an Kraft zu verlieren. Als sie es bemerkte, zog sie die Mundwinkel nach unten, und ihre Haut wirkte wie zerknitterte Seide. Auf einmal sah sie sehr alt aus. Erleichtert stieß ich die Luft aus und fragte mich, ob sie die Pheromone der Entspannung in meinem Atem, in meinem Schweiß riechen konnte.

»Viele aus ihrer Linie erlangen ihren Verstand nie wieder, nachdem sie gewandelt wurden. Es vergehen viele Jahrzehnte, und sie sind immer noch von Sinnen. Viele von ihnen müssen von ihrem Clanmeister getötet werden.« Ihr Tonfall bekam etwas Bestimmtes, Drängendes, und in ihrer Stimme lag die Kraft der Vamphypnose. »Sieh den Clan der Rousseaus. Sieh die Lang-Angeketteten. Sieh die dunklen Künste. Sieh die Insel und die Geschichte des Blutvergießens. Sieh diejenigen, die die Säuberung überlebt haben, denen ihre Sünde vergeben wurde und die die Reinigung überlebt haben.«

Beasts Krallen bohrten sich in meinen Geist, sie wehrte sich gegen Sabinas Einfluss, sodass ich ihre Worte in Gedanken wiederholen konnte, ohne aber von ihnen beherrscht zu werden. Und ich begriff, dass die Priesterin mir mit ihrem Befehl Hinweise gab. Keine sehr hilfreichen Hinweise, aber besser als das, was ich bisher herausgefunden hatte. Doch vielleicht sagte sie mir damit auch, dass ich mehr tun sollte, als ich vorgehabt hatte.

»Sünde muss gerichtet werden«, fuhr sie fort. »Absolution, wenn sie zu Unrecht gewährt wurde, muss widerrufen werden. Vergeltung und Gerechtigkeit müssen die Sündigen und die Schuldigen treffen.«

Sie hatte nicht gesagt, dass ich sie hierher bringen sollte. Oder doch? Ich suchte die richtigen Worte, um nicht mehr zu versprechen, als ich halten konnte. Und sie dabei nicht abzuweisen. »Der Vampirrat hat mich beauftragt, den Schöpfer der Rogues zu töten. Wenn ich ihn finde, werde ich ihn zusammen mit seinen Vasallen vernichten. Und ihre Köpfe dem Rat als Beweis bringen.«

»›Denn wer arbeitet, hat Recht auf seinen Lohn.‹ Wenn Sie diesem Bösen ein Ende setzen, werden Sie belohnt werden.«

Mir entging nicht, dass Sabina nicht gesagt hatte, ich würde bezahlt, sondern ich würde belohnt, was alles Mögliche bedeuten konnte, inklusive meines Todes, weil ich zu viel wusste.

Mit einem leichten Lächeln auf dem Gesicht wandte Sabina sich mir zu. »Sie werden nicht von meiner Hand oder auf meinen Befehl hin sterben.«

Na, dann war ja alles gut. Der Vamp las meine Gedanken oder meine Körpersprache. Das hieß, es war höchste Zeit für mich, aufzubrechen. »Dann verabschiede ich mich jetzt.« Ich rutschte von der Veranda herunter.

»Sie dürfen den Kopf des Auferstandenen hier lassen. Ich werde dafür sorgen, dass das Kopfgeld für Sie im Ratsgebäude hinterlegt wird.« Dann lächelte sie. »Sie dürfen sich jederzeit wieder an mich wenden.« Und dort, wo sie eben noch gestanden hatte, war nur noch dieser seltsame, nach altem Blut riechende Windhauch zu spüren. Die Kapellentür schloss sich mit einem leisen Klicken. Und ich hatte nicht einmal gesehen, wie sie sich geöffnet hatte.

Leise fluchend betrachtete ich Kopf und Körper. Sabina hatte mir ziemlich deutlich zu verstehen gegeben, dass sie nicht wünschte, dass ich sie anrührte. Und ihr Wunsch war mir Befehl. Also knirschte ich über den Muschelsplitt zu meiner Maschine und setzte den Helm auf. Ich wusste, dass die Rogue-Schöpfer nie auf dem Clansitz der Rousseaus gewesen waren. Trotzdem hatte Bettina auf der Party nach ihnen gerochen.

Bevor ich den Kickstart trat, hielt ich kurz inne. Bettina musste Bescheid gewusst haben. Von Anfang an. Das war nur logisch. Schließlich war sie ihre Meisterin. Ich musste nichts weiter tun, als mir Bettina zu schnappen, ihr Silberfesseln anzulegen und sie zu zwingen, mir alles zu erzählen. Sie hatte mich selbst eingeladen, sie zu besuchen, und Leo hatte Zugriff auf die Überwachungsanlagen aller Clans. Es war sehr wahrscheinlich, dass er wusste, wo ihr Nest war und wenn er es wusste, dann auch Bruiser.

Ich blickte hoch zum Himmel. Die Sonne ging auf. Erst musste ich nach Molly sehen. Doch dann war es Zeit für ein Pläuschchen mit Bruiser. Ein ausgiebiges Pläuschchen. Über Säuberungen und den Rousseau-Clan. Und die Lang-Angeketteten. Und Alarmanlagen. Ich war auf der richtigen Spur. Auf der, die mich zu den Kindern und Bliss führen würde. Ich hatte es im Gefühl.

Molly saß aufrecht im Bett und bürstete sich ihr langes, rotes Haar. Mit unbewegtem, traurigem Gesicht starrte sie blind aus dem Fenster, und über ihre Wangen liefen Tränen. Ich stand schweigend in der Tür. Bei ihrem Anblick ballte sich mein Herz wie eine Faust zusammen. Es war meine Schuld, dass ihr die Kinder genommen worden waren.

»Ich bringe sie zurück zu dir.«

Die Worte klangen schrill in dem hohen Raum. Molly erschrak und hielt mitten in der Bewegung inne. Sie schloss die Augen, versuchte tapfer zu sein, was sie sichtbar Anstrengung kostete, und führte den Bürstenstrich bis zu den Haarspitzen zu Ende. Dann legte sie die Bürste aus der Hand und wischte sich das Gesicht ab. »Ich weiß.« Sie rang sich ein Lächeln ab und streckte mir den Arm entgegen. »Komm her. Ich muss dir etwas sagen.«

Ich zwang meine Beine, den Raum zu durchqueren und setzte mich steif auf die Kante des Bettes. Sie legte den Arm um meine Hüfte. Ich erstarrte, und meine Augen brannten. Ich verdiente den Trost nicht, den sie mir anbot, auch wenn Molly da vermutlich anderer Meinung war. Sie zog mich an sich und lehnte den Kopf an meine Schulter. Und brach in Tränen aus.

Meine Stimme gefror. Genauso wie mein Körper. Steif wie eine einen Tag alte Leiche tätschelte ich ihr ungelenk die Schulter. Und dann legte Beast eine Tatze auf meinen Geist und übernahm alles Weitere. Jane ist nur ein Raubtier. Ich bin Mutter. Ich bin Alpha. Die Worte hallten in meinem Kopf wider, und mit dem Echo kam die Überraschung. Beast bediente sich meiner Hand und strich über Mollys Haar. Nahm meinen anderen Arm, legte ihn um Molly und zog sie enger an mich.

Ich bin nicht nur ein Raubtier

Nein. Jane ist nur ein Raubtier. Keine Mutter. Keine Partnerin. Jane ist nur ein Teil von Beast. Nur ein Killer.

Ihre Worte brachten meine Gedanken zum Stillstand. Schmerz stieg in mir auf, kalt und kristallin, wie gefrorener, gesplitterter Quarzstein.

Als sich mein Mund öffnete, kamen Beasts Worte über meine Lippen. Ihre Stimme klang tiefer, rau wie ein grober Schwamm auf Stein. »Wir holen Kinder zurück. Wir töten Räuber, der sie geholt hat. Jane und Beast zusammen werden sie zerreißen. Knochen von Fleisch, Blut aus Adern. Wir werden töten. Wir holen Kinder zurück. Das schwöre ich bei meinen Kindern.«

Molly hielt die Luft an. Ihr Herz schlug zweimal heftig und dann schnell und gleichmäßig. Vorsichtig, als befürchtete sie, eine Falle könnte zuschnappen, rückte Molly von mir ab und starrte mir in die Augen. Ihre Pupillen weiteten sich. Ihre Lippen öffneten sich. Ich hörte, wie ihr Herz noch schneller schlug, wie ihr Atem stockte. »Heilige Hexenscheiße. Beast?«

Ich schnurrte leise. Strich noch einmal sanft über ihr Haar. Dann stand ich auf und ging.

Der Morgen dämmerte herauf. Schon jetzt war es richtig schwül. Ich war noch nie irgendwo gewesen, wo das Gewicht der Luft tatsächlich körperlich zu spüren war. Hier war es so, als würde sich der Dampf aus einem riesigen Dampfkochtopf auf mich senken. Das gab mir ein Gefühl von Bedrängnis, als wäre ich unter Wasser und wüsste, dass ich bald wieder an die Oberfläche müsste, um Luft zu holen. Als wäre jeder Atemzug mein letzter.

Erst, als wir uns schon auf dem Weg aus der Stadt heraus befanden, durch all den Verkehr und die Hitze, gab Beast mich frei. Ich stand immer noch unter Schock. Ich verstand nicht, warum sie gesagt hatte, ich sei nichts weiter als ein Raubtier. Nur ein Killer. Das war nicht wahr. Ganz sicher nicht. Aber wir brauchten einen Killer und zwar einen sehr guten , um Angelina und Little Evan lebendig zu Molly zurückzubringen. Und Bliss. Bliss durfte ich nicht vergessen.

Ich beugte mich nach vorn und raste an einem Dieselgase spuckenden Sattelschlepper vorbei. Die Autos verschwammen vor meinen Augen. Um den richtigen Weg zu finden, verließ ich mich ganz auf meinen Instinkt und mein Muskelgedächtnis, während die Gedanken in meinem Kopf hämmerten wie ein Heavy-Metal-Drummer auf Speed.

Als ich im Licht des frühen Morgens vor dem Clansitz der Rousseaus vorfuhr, stand die Haustür einen Spalt auf. Ich zog die Benelli, noch bevor ich den Motor abstellte. Zückte meinen größten Vampkiller. Ging den Weg hinauf, betrat die stille Eingangshalle, auf alles gefasst. Aber umsonst. Der Clansitz war verlassen. Ich schlich durch die leeren Räume, trat Schranktüren auf, sah unter Betten und in Badezimmern und Abstellkammern nach. Die Gerüche sagten mir, dass das Gebäude in der Nacht geräumt worden war. Aber nicht freiwillig. An mehreren Stellen befand sich Blut an der Wand und am Boden. In der Luft lagen immer noch der warme Geruch verbrannter Magie und der Gestank des Rogue-Schöpfers und seiner beiden Kumpane. Mittlerweile kannte ich ihre Witterungen gut genug, um die drei Duftsignaturen auseinanderzuhalten, die sich so ähnlich waren, dass sie alle aus einer Blutlinie stammen mussten. Die drei Geschwister hatten den Sitz eines Clans überfallen. Und alle in die Flucht geschlagen.

Ich ging zurück zu Mischa und fuhr weiter stadtauswärts. An der ersten Tankstelle verließ ich die Straße und hielt an einer Zapfsäule. Die Blicke der anderen Kunden ignorierend, schnallte ich die Flinte an die Maschine. Mittlerweile war es heiß geworden, und ich zog meine Lederjacke aus und stopfte sie in eine der Satteltaschen, zusammen mit dem Kettenkragen, den Pflöcken und den Vampkillern. Trotzdem hatte ich immer noch genug Waffen am Körper, um einen kleinen Krieg führen zu können. Jetzt war mir wohler, auch wenn ich immer noch nach Angstschweiß roch. Während das Benzin in den fast leeren Tank gluckerte, zückte ich mein Handy und drückte »Wahlwiederholung«, um Bruiser anzurufen. Ich wurde zur Mailbox durchgestellt. Glücklicherweise wusste ich, wo er wohnte. Ich stieg wieder auf und röhrte gegen den Fluss des Berufsverkehrs stadtauswärts. Je weiter ich fuhr, desto dichter wurde der Verkehr und desto wütender wurde ich. Leo und Bruiser verheimlichten mir etwas, etwas, das ich wissen musste, um die Kinder zu finden. Und Bliss. Durfte ich nicht vergessen. Als ich schließlich kurz vor halb acht die Einfahrt zum Clansitz der Pellissiers erreichte, war ich stinksauer.

Das Haus stand am Ende einer ordentlich gepflasterten, aber wenig benutzten Straße, ohne Nachbarn in Sichtweite, weit und breit nur gepflügte Felder und Pferde, die mit wippenden Köpfen aus ihren Ställen trotteten, und Stuten mit ihren munteren Fohlen. Lebenseichen bogen ihre knotigen Äste über die lange, leicht ansteigende Auffahrt. Das Haus stand ein wenig erhöht, vielleicht sechs Meter über dem Meeresspiegel, und überragte alle anderen Gebäude in der Umgebung. Der Clansitz der Pellissiers lag in einer Krümmung des Mississippi, den ich durch die Bäume riechen konnte. Selbst in dieser Entfernung war die Luft, die von dort herüberwehte, noch feucht und roch säuerlich. Die Eichen rasten links und rechts an mir vorbei, als ich die Auffahrt entlangdonnerte.

Vielleicht war es nicht sehr klug herzukommen, auch wenn Leo auf dem Clansitz tagsüber nicht sein Nest hatte und vermutlich auch keiner seiner Vasallen, außer im Notfall. Aber bei Tageslicht musste ich mir um Vamps keine Sorgen machen; ich brauchte Antworten auf meine Fragen, und die würde ich hier bekommen.

Als ich mich dem weiß gestrichenen, zweigeschossigen Backsteingebäude näherte, schaltete ich herunter. Bruiser und drei weitere Männer saßen an einem großen, runden, gedeckten Tisch auf der Veranda und sahen mir entgegen. Bruiser überspielte hastig die Erleichterung, die er empfand, als er mich sah. Er hatte sich Sorgen gemacht, dass Sabina mich getötet haben könnte. Nicht genug, um mir zu helfen. Natürlich nicht.

Ganz offensichtlich unterbrach ich eine wichtige Besprechung, ein Geschäftsessen vermutlich. Was mich wenig kümmerte. Ich hielt vor der Treppe, stellte die Füße links und rechts von Mischa ab und machte den Motor aus. Dann klappte ich den Ständer aus und stieg ab.

Ich blinzelte in das grelle Sonnenlicht. Auf einmal merkte ich, dass ich seit Tagen nicht geschlafen hatte richtig geschlafen, nicht nur ein Nickerchen. Auch das musste warten, bis ich die Kinder gefunden hatte, genauso wie die Frage, ob ich tatsächlich nicht mehr als eine Killerin war. Das Lächeln, das bei diesen Gedanken auf meinem Gesicht erschien, muss ziemlich hässlich gewesen sein, denn einer der Typen fasste unter dem Tisch nach einer Waffe.

Ich stieg die Stufen hoch. Es war mucksmäuschenstill, nur das Donnern meiner Stiefel war zu hören. Mein Blick hielt den Bruisers fest. Auch er begann zu lächeln und kniff die Augen nachdenklich zusammen, obwohl er sich gleichzeitig mit lässiger Unbekümmertheit zurücklehnte. Die drei anderen rochen besorgt. Die Tatsache, dass ich das kleine Grüppchen in Aufruhr versetzte, verschaffte mir eine perverse Freude. »Ich sehe, dass du Leos kleinen Wutanfall gestern Abend überlebt hast.«

Bruiser nickte. »Und du auch.«

»Knapp. Etwas anders sieht es auf dem Clansitz der Rousseaus aus.«

Seine Miene verfinsterte sich. »Tyler, Louisa, Dale, wir sind hier erst mal fertig. Gebt mir eine Stunde mit Miss Yellowrock.« Wie abgerichtete Hunde erhoben sie sich und ließen uns allein. Vermutlich, um die Stimmung ein wenig aufzulockern, lehnte Bruiser sich vor und schüttelte ein Silberglöckchen, das auf dem Tisch stand. Ernsthaft. Er klingelte mit einem Glöckchen. Und eine südamerikanisch aussehende Frau in einer weiß-grauen Bedienstetenuniform erschien.

»Tee für die Dame«, sagte Bruiser, ohne den Blick von mir zu nehmen. »Ein schöner, schwarzer Single Estate.« Zu mir sagte er: »Hast du schon gefrühstückt?«

Ich stemmte die Hände in die Hüften, wohl wissend, dass meine Haltung feindselig und aggressiv wirkte. »Heute nicht.«

»Eier, Speck, Früchte, Müsli?«, zählte er auf, ganz der perfekte Gastgeber.

Ich war drauf und dran abzulehnen, doch da knurrte mein Magen. Und warum auch nicht? Ich musste schließlich etwas essen. Ich zehrte von Beasts Kräften und hatte viel Energie verbraucht. »Sechs Eier, von beiden Seiten gebraten, eine Scheibe Bacon, dick geschnitten und kross gebraten. Viel Toast, keine Butter«, sagte ich ihr und tat, als würde ich nicht sehen, wie sie über die Menge erschrak. »Und vielen Dank.« Ich schenkte ihr ein strahlendes Lächeln, und sie lächelte zurück, neigte den Kopf und verschwand durch die Seitentür. Wenn ich will, kann ich auch nett sein.

Bruiser zeigte auf einen Stuhl zu seiner Linken. Ich sah keinen Grund, auf zickig oder schwierig zu machen zumindest nicht mehr, als ich von Natur aus schon war , deswegen nahm ich Platz. Die Stuhlbeine schabten hohl über den Verandaboden. Ich roch Waffenöl. Bruiser trug selbst zu Hause eine Waffe. Das schien mir wichtig zu sein, aber ich wusste nicht wie sehr oder warum.

Offenbar waren die Speisen bereits zubereitet gewesen und warm gehalten worden, denn die Hausbedienstete kam kurz darauf mit einem riesigen Tablett wieder zurück. Sie stellte alles vor mir ab, und Bruiser goss mir Tee ein. So weit, so gut. Bisher hatte ich niemanden umbringen müssen. Noch nicht.