10

Blutrausch

Eine Stunde später, als es für Vampbegriffe immer noch früh am Abend war, fragte ich nach dem Weg zur Damentoilette und entschuldigte mich. Die Räumlichkeiten hatten nun ihre maximale Kapazität erreicht, und die Partygäste standen Schulter an Schulter. Ich sah Bruiser in eine eindringliche Unterhaltung mit einem anderen Blutdiener vertieft und beobachtete, wie er innehielt, stutzte und dann in der Menge verschwand. Mehrere Male roch ich Leos beißenden Geruch Vamps aus dem Pellissier-Clan. Zwei meinte ich wiederzuerkennen, weil sie unter denen gewesen waren, die mich nach dem Hurrikan mit den Fackeln bedroht hatten. Sie sahen mich, ignorierten mich aber mit der für Vamps typischen Geringschätzung.

Die Luft im Lagerhaus war geschwängert vom Gestank der Vamps, Menschen und Blutdiener. Darunter mischte sich der Geruch nach Sex und frischem Blut, der aus dem Obergeschoss herunterwehte. Die Mischung stach mir in die Nase, reizte zum Niesen und stumpfte meine Sinne ab, sonst hätte ich wohl den Raubtiergeruch eines anderen Jägers bemerkt. Aber in Gedanken war ich immer noch mit dem verworrenen Geflecht beschäftigt, das die Vampirpolitik war.

Ich schob die Schiebetür zu den dunklen Toilettenräumen auf und sah mich selbst in dem schrägen Spiegel, umschienen vom Flurlicht. Ich trat ein und knipste das Licht an.

Etwas Verschwommenes glitt von links auf mich zu. Über den Spiegel. Die Zeit dehnte sich und wurde langsamer. In mir schrie Beast. Schickte ihre Kraft und ihre Reflexe in meine Blutbahn. Zähne und Krallen blitzten in den Spiegeln auf. Kamen auf mich zu.

Ich duckte mich tief und nach rechts. Zog einen Pflock und mein Messer. Der Aufprall traf mich heftig, drückte mir die Luft aus der Lunge. Lähmte mich. Ließ Beasts Schrei verstummen. Schlug meinen Ellbogen auf die Kacheln. Das Messer wirbelte aus meiner kraftlosen Hand. Schlug klirrend auf.

In einem Durcheinander von Gliedern krachte ich auf den Kachelboden. Verrenkte mir die Wirbelsäule. Schlug mir das Knie an. Mein schmerzerfülltes Uff wurde unter zwei Vampkörpern erstickt. Während ihr Gewicht auf mich drückte, holte mein Gehirn auf. Doch bevor ich verstanden hatte, was es zu bedeuten hatte, auf einer Vampparty angegriffen zu werden, hatten sie mich bereits bewegungsunfähig gemacht. Hände packten und hielten mich, den linken Arm schmerzhaft gegen meine Brust gedreht. Beine fixierten meinen Oberkörper und meine unteren Gliedmaßen.

Ich holte Luft. Sie roch nach meiner eigenen Angst. Jetzt erst begriff ich, was passiert war, aber zu spät. Die Bilder, die die schrägen Spiegel zurückwarfen, hatten mich verwirrt. Und meine Angreifer hatten mit meiner kurzzeitigen Verwirrung gerechnet und sie genutzt.

Münder bissen, Zähne schlitzten. Der Schmerz kam verzögert. Ich konnte mich nicht nach meinen Gegnern umsehen. Konnte nicht ausholen. Mein Blick und meine Bewegungen wurden von kräftigen Händen eingeschränkt, verschränkten Armen und schlangenschnellen Beinen. Die mich niederdrückten, wenn ich mich wehrte. Fangzähne in meiner Kniekehle, ohne das schmerzstillende Gift, das sonst im Speichel von Vampiren war. Ein weiteres Paar in meinem rechten Arm, über dem Ellbogen. Er wurde taub, als die Zähne den Nerv streiften. Ich grunzte vor Schmerz. Mit entsetzlicher Kraft drückten die Beine um meinen Brustkorb zu. Ich bekam keine Luft mehr.

Sie wollten mich aussaugen. Über mir sah ich noch einen Vamp, eine Frau, die mich beobachtete. Die Augen weit aufgerissen, die Lippen vor Aufregung geöffnet.

Beast schickte mir ihre Kraft. Mit den tauben rechten Fingern zog ich die Hülle aus meinem Kleid und schüttelte das Kreuz heraus. Mit der Bewegung gruben sich die Zähne des Vamps tiefer, aber Beast milderte den Schmerz. Das Kreuz blitzte mit silbernem, blendend hellem Licht auf. Ich presste es auf die Haut desjenigen, der am nächsten erreichbar war. Ein Handgelenk. Eine Vampirin kreischte. Das Heulen traf auf mein Trommelfell. Ohrenbetäubend. Wie der Schlag einer Faust gegen meinen Kopf. Brach plötzlich ab. Ihr Körper drehte sich weg und ließ den beißenden Geruch von verbrannter Vamphaut zurück.

Die Zähne in meiner Kniekehle lösten sich, und der Körper auf meinem Rücken rutschte höher, die Zähne wie zwei Messer in meine Halsvene verbissen. Schmerz brannte sich in mein Fleisch. Ein Blitz durchzuckte mich. Der Druck der Beine hatte nachgelassen, aber mein Atem war in meiner Brust gefroren. Ich konnte die Rippen nicht ausdehnen, es tat zu weh.

Mein Blickfeld verengte sich, als würde ich durch einen Strohhalm gucken. Wenn ich das Bewusstsein verlor, war ich tot. Beast übernahm die Kontrolle. Wiegte meinen Unterkörper vor und zurück. Hielt meinen oberen Rumpf reglos, damit mir nicht die Gurgel herausgerissen wurde.

Ich schlug das Silberkreuz an die Wange der Vampirin. Sie begann zu heulen, leise, tief und voller Qual. Dann rollte sie von mir herunter, riss die Zähne aus mir heraus. Ich sog die kostbare Luft ein. Aus meinen Wunden spritzte das Blut auf die Spiegel. Flüchtig sah ich ihr verbranntes Gesicht, mein Blut an ihren Fangzähnen. Ich zog die Beine unter meinen Körper. Legte den verletzten Arm auf die Brust, drückte die Finger an meine blutende Gurgel. Ich erkannte die beiden Vamps in Scharlachrot von der Begegnung im Flur her und dachte an meine Sorge von vorhin. Noch ein Zweierteam? Ich bekam zu wenig Luft, um lachen zu können.

Im Spiegel traf mein Blick auf den der dritten Vampirin. Die Unbekannte. Sie stand über mir, ich hockte auf dem Boden. Kalte Macht strahlte von ihr ab wie eisige Luft von einem Gletscher. Eine Mähne aus wilden roten Locken umgab sie. Auf ihrem Schlüsselbein lag ein goldener Halsring mit keltischen Symbolen, und an einem Arm trug sie einen Reif in Form einer Schlange, die sich den Unterarm hochwand. Ihr Kleid war himmelblau und mit goldenen Fäden durchzogen, geschnitten wie eine Toga, eine Schulter frei. Die andere war mit meinem Blut bespritzt wie ein Tattoo von meinem Tod. Sie sah aus wie eine alte und wilde Göttin. Ich glaubte, Wahnsinn in ihrem Blick zu erkennen.

Für den Bruchteil einer Sekunde starrte sie auf das Blut, das meinen Hals hinunterrann, und ein bösartiger, wilder Hunger loderte in ihren Augen auf. Ihre Lippen zogen sich zurück. Sie griff an, die Fangzähne und sieben Zentimeter langen Krallen ausgefahren.

Ich drehte den Pflock in meiner Hand. Drückte mich mit dem unverletzten Bein vom Boden hoch. Legte alle Kraft in die Schulter, den Arm, den Pflock.

Sie rannte direkt hinein. Das Holz drang sieben Zentimeter tief direkt unter dem Halsring ein, bevor sie es bemerkte. Ihr Schrei mischte sich unter die Schreie der anderen, schrill und durchdringend wie eine Sirene.

Eine Hand packte meinen Arm, bevor ich den Winkel ändern und auf ihr Herz zielen konnte. Eine eiskalte Hand riss mich zurück, aus dem engen Raum heraus, weg von den heulenden Vampiren. In den dunklen Flur. Wirbelte mich herum, gegen einen kalten, harten Körper.

Ich blickte hoch und in Leo Pellissiers Augen. Macht brachte die Luft zwischen uns zum knistern. Beast wurde still, zog ihre Krallen aus mir zurück und damit auch die Kraft, die sie mir geliehen hatte. Er war im Angriffsmodus, die Pupillen riesig, das Weiße blutrot, die Zähne zum Töten ausgefahren. Sein Blick haftete auf der blutenden Bisswunde an meiner Kehle. Er knurrte. Plötzlich stand mein Tod in seinen Augen.

Hastig tastete ich nach dem letzten verbliebenen Pflock in meinem Haar. Doch er hob den Blick und wandte ihn stattdessen der Vampirin im blauen Kleid zu.

»Adrianna«, sagte er. Seine seidige, sanfte Stimme stand im krassen Gegensatz zu den gefletschten Zähnen und der rohen Gewalt, die er ausstrahlte. »Du vergreifst dich an etwas, das meine Duftmarke trägt. Du und deine Vasallen, ihr greift einen Gast an, der der Einladung eines anderen gefolgt ist. Ihr erzwingt ein Blutmahl. Du missachtest die Allianzen der Clans und säst Zwietracht, wie mein Blutdiener mir berichtet, anstatt meine Autorität offiziell herauszufordern.«

Ich erinnerte mich daran, dass Bruiser nur wenige Augenblicke, bevor ich angegriffen wurde, in der Menge verschwunden war. Da war Leo angekommen, und Bruiser hatte ihm von der Verschwörung berichtet. Dessen war ich mir sicher. Nicht, dass es etwas geändert hätte. In Leos Armen konnte ich mich nicht rühren. Und ich war dabei zu verbluten.

Leos Herz schlug einmal, ich erschrak über das Geräusch an meinem Ohr. Er beugte sich zu Adrianna. Und er entblößte lächelnd seine beeindruckenden Fangzähne. »Willst du mich als Meister dieser Stadt herausfordern? Oder ist es an der Zeit, dass du das Licht siehst?«

Sie zischte wütend. »Ich bin kein alter Rogue«, sagte sie, jedes Wort auf seltsame Weise betonend.

»Vielleicht nicht, aber du säst Zwietracht. Man sagt, dein Blutmeister sucht Verbündete und will den Bluteid, der ihn an mich bindet, brechen. Wirst du ihm in die Schande folgen?«

»Ich bin nicht ohne Ehre«, sagte sie und bleckte die Fangzähne. Was, das war ich mir ziemlich sicher, keine Antwort auf Leos Frage war.

Ich presste die Faust auf meine Halswunde. Meine Fingerknöchel rutschten in dem Blut ab. Ich wimmerte. Leo hörte das schwache Jammern und erstarrte für einen Moment, wurde reglos wie ein Marmorgrabstein. Als er Luft holte, fühlte sich die Bewegung seiner Rippen an meinen seltsam und fremd an, als würde dieser Grabstein auf einmal beschließen zu atmen. Er witterte mich wie ein Räuber seine Beute. Ein leises Beben durchlief seinen Körper.

Er atmete aus und bewegte den Kopf zwischen den beiden verbrannten Vamps hin und her, die sich angstvoll duckten. »Lanah und Hope«, flüsterte er, und seine Worte waren von einer dunklen, fordernden Macht erfüllt. »Ist dies der Wille eures Clanmeisters?« Die beiden Vamps sahen sich an und dann schnell zu Adrianna, die mit dem Gesicht zu ihm und mit dem Rücken zum Waschbecken stand. »Seht nicht eure Schöpferin an, damit sie euch die Antwort sagt.« Leos Stimme war wie eine Peitsche. Ihre Augen zuckten wieder zu ihm hin.

»Nein«, sagte eine der Vampirinnen, die am Boden kauerten. Und ihre Pupillen zogen sich zusammen, und sie verwandelte sich wieder zurück. Sie schob die Schultern vor, sank tiefer und legte den Hals schief, um die weiche Haut an ihrer Kehle freizulegen, eine gleichzeitig schützende wie devote Position. Die andere duckte sich gekrümmt weg, Leos starren Blick meidend.

»George«, blaffte er. Bruiser erschien auf Höhe meiner Schulter, die Augen auf Leo gerichtet, als wäre ich gar nicht da. »Bring Jane zu Bethany. Sorge dafür, dass ihre Wunden behandelt werden.«

»Ja, Sir.« Bruiser hob mich hoch, als wäre ich ein Kind.

Ich schnappte nach Luft vor Schmerzen und wehrte mich. Doch Bruiser drehte sich mit mir auf den Armen zu dem hell erleuchteten Flur um. Fünfzig Vampiraugenpaare richteten sich auf mich. Auf meine Kehle. Mein Bein. Das strömende Blut. Fangzähne fuhren mit einem leisen Klicken aus. Meine Herzfrequenz verdreifachte sich, und ich wusste, dass sie es hörten, konnte aber nichts gegen meine Reaktion tun. Die Angst glitt über meine Haut wie eisiger Nebel während eines Wintersturms. Ich begann zu zittern und zu hyperventilieren. Das war der Schock. Ich brauchte Hilfe, nicht nur ärztliche, denn es sah nicht so aus, als würde ich es in diesem Zustand allein und mit Blut aus einem Lagerhaus voller Vamps in den Adern schaffen. Ich ließ mich gegen Bruiser sinken, als er auf die Vamps zumarschierte. Widerstrebend traten sie zur Seite, um eine Gasse für uns zu bilden. Die Faust immer noch gegen meinen Hals gepresst, blickte ich über Bruisers Schulter zurück.

Die beiden eingeschüchterten Vampirinnen huschten mit vor Hast spinnenhaft verrenkten Gliedern aus der Damentoilette. Leo hob den Arm und zeigte auf Adrianna. Ein plötzlicher Machtstoß kräuselte die Luft, und meine Haare sträubten sich wie kurz vor einem Blitzeinschlag. Als er das Wort ergriff, war seine Stimme volltönend, unheilvoll wie Sturmwolken und so erfüllt von Macht, dass sie durch mich hindurchfuhr wie ein Blizzard durch winterliche Bäume. »Adrianna vom Clan der St. Martins, knie nieder.« Ich hörte, wie er tief Luft holte. Macht flutete den Raum. Er donnerte: »Unterwirf dich mir!«

Ich sah rotes Haar aufblitzen, als Adrianna Leo zu Füßen sank. Um mich herum fielen die Vamps auf die Knie, von Leos Stimme und seiner Autorität zu Boden gezwungen. Seine Energie, scharf wie Schwertspitzen, schneidend wie Krallen, durchbohrte die Luft. Der Blutmeister der Stadt hatte gesprochen. Nichts war zu hören außer dem dumpfen Aufschlagen der fallenden Körper, dem Rascheln von Stoff und dem Klacken von Bruisers schicken Schuhen auf dem Boden, als er mich wegtrug. Nicht einmal Atemgeräusche unterbrachen die Stille.

Das Gefühl, kontrolliert, beherrscht zu werden, ließ nach. Ich legte den Kopf an Bruisers Brust. Sein Herz schlug schnell und regelmäßig. Bald hatten wir den Flur hinter uns gelassen und waren auf der leeren freien Fläche. Nur das Echo unserer Schritte war zu hören. Ein Ort voller Toter. Ich wusste, eigentlich hätte ich einer von ihnen sein müssen und wäre es auch gewesen, wenn nicht Vampspeichel meine Blutgefäße zusammengezogen und die Blutung verlangsamt hätte. Auch wenn es bizarr war, es lag in der Natur der Sache, dass Opfer von Vampiren länger überlebten.

Ich versuchte zu sprechen, doch zuerst musste ich mit der Zunge über meine trockenen Lippen fahren, um sie zu befeuchten. »Warum hat er mich gerettet? Er will doch meinen Tod, weil ich das Ding getötet habe, das sein Sohn war.«

»Wenn Leo dich tot sehen will, wird er dich selbst vernichten und nicht erlauben, dass andere dich für ihn töten. Er mag tief in Dolore sein, aber er ist immer noch der Meister dieser Stadt. Noch kennt er seine Pflichten und das Machtgefüge, auf das er sich stützt, noch braucht er dich.«

»Und wenn er der Dolore wieder nachgibt?«

Bruiser zuckte leicht die Schultern. »Dann wird er vielleicht von der Trauer beherrscht, und du stirbst.«

»So ein Mist«, flüsterte ich.

Bruiser schmunzelte. Und trug mich nach draußen in die wohltuende Wärme der Nacht. Alle Menschen, Blutdiener, Blutsklaven und Junkies hatten sich auf dem Rasen versammelt oder standen neben den Autos, auf ihren Gesichtern war Angst, Sorge oder gespielte Langeweile zu erkennen, je nach ihrer Natur oder Lebenserfahrung. Wie auf Kommando drehten sie sich zu uns hin und sahen zu, wie Bruiser die Treppe zum Gehweg hinunterging. Das Stimmengewirr verstummte. Der Wind frischte auf, unsicher, welche Richtung er einschlagen sollte, und trieb dann den Geruch des Flusses herüber.

Brian und Brandon traten zu uns. »Wie geht es ihr?«, fragte Brian.

»Gut«, log ich.

»Wohl kaum«, sagte Bruiser trocken, und seine Arme legten sich fester um meine Oberschenkel und meine Brust. Zu den Männern sagte er: »Sie verliert zu viel Blut. Ihre Wunden sollten sich nicht schließen.«

»Und die Meister?«, rief eine Frau von der dunklen Rasenfläche herüber.

»Bekommen jetzt mächtig Ärger«, sagte er mit einem Akzent, der seine britische Herkunft verriet. An die Zwillinge gewandt sagte er: »Ruft Bethany an. Ich nehme an, sie sitzt in Leos Porsche, wahrscheinlich gleich um die Ecke.«

Brian bedachte ihn mit einem seltsamen Blick. »Bist du sicher? Bethany?«

»So lauten Leos Befehle«, sagte Bruiser. Die Zwillinge betrachteten mich zweifelnd. Brandon tippte etwas in sein Handy ein, wandte sich ab und sprach leise. Mit lauter Stimme sagte Bruiser: »Die wenigen Stunden bis zum Sonnenaufgang werden nicht leicht werden. Ich schlage vor, dass ihr die anderen Diener und Sklaven der Clans zusammenruft. Die Mithraner brauchen uns heute Nacht.«

»Blutrausch«, murmelte eine Stimme in der Menge.

»Vielleicht nicht. Wir wollen es hoffen«, sagte ein anderer.

Handys wurden gezückt und Nummern eingetippt. Überall wandte man sich ab, um ungestört sprechen zu können. Auf einmal waren Bruiser und ich allein in einem Meer von Menschen. Ein Porsche in der braunroten Farbe von getrocknetem Blut bog in die Straße ein und fuhr langsam weiter, die Scheinwerfer erfassten Diener, Security-Leute und Fahrer. In dem scharfen Licht war ihren Körpern die Anspannung anzusehen. Köpfe drehten sich und starrten ins Dunkel, als würden sie nach Angreifern Ausschau halten. Die meisten hatten offensichtlich schon einmal erlebt, wenn Vamps die Gewalt über sich verloren.

In der Überlieferung fand man nichts über einen Blutrausch bei Vampiren, nur Haie waren dafür bekannt. Aus eigener Erfahrung wusste ich, dass Raubtiere in diesem Zustand nur ans Töten dachten und alles rissen, was sie zu packen bekamen. Vamps waren nichts anderes als Raubtiere, wenn auch besonders intelligente und grausige. Trotz der warmfeuchten Luft wurde mir kalt, und ich begann zu zittern.

Auf der anderen Seite des Weges sah ich den blassblauen, grau funkelnden Schimmer von Magie. Fünf undeutliche Gestalten standen im Schatten eines viergeschossigen Lagerhauses, das zu Eigentumswohnungen umgebaut worden war. Um sie herum ergoss sich das Licht aus den unzähligen Fenstern. Fünf Hexen, so angeordnet, als würden sie an den Spitzen eines Pentagramms stehen, über denen ein Zauber schimmerte, der sie ältlich und altbacken aussehen ließ. Obwohl sie nichts Bedrohliches an sich hatten, fragte ich mich, warum sie hier waren und was sie wollten. Vermutlich waren es dieselben fünf Hexen, die Bliss und Tia gesehen hatten. Ich witterte und schnappte einen Hauch von Hexe auf. Vertraut. Ganz ähnlich dem Geruch, den ich an dem Grab der jungen Vampirin gefunden hatte, deren Auferstehung ich beobachtet hatte. Ähnlich, aber nicht ganz derselbe. Dann trugen ihn auch schon die launenhaften Luftströmungen, die dem Mississippi folgten, weiter. Es kam mir merkwürdig und nicht richtig vor, dass sie hier waren und Vamps beobachteten, aber im Moment geschah so viel, das mir Rätsel aufgab, dass es mir schwerfiel, den Überblick zu behalten.

Der Porsche bremste, und die Beifahrertür öffnete sich, ohne dass das Licht ansprang, sodass wir wie vor dem Eingang einer Höhle standen. Bruiser beugte sich vor und setzte mich mit einer anmutigen und kraftvollen Bewegung auf den Sitz. »Leo sagt, Sie sollen sie behandeln.«

»Ja. Sie ist schwach«, sagte eine leise Stimme. »Verletzt.« Ein afrikanischer Akzent mit französischem Einschlag und weichen, sehr runden Vokalen.

Die Tür auf meiner Seite schloss sich. Die Faust immer noch an meinem Hals und in das trocknende, klebrige und das frische, nasse Blut gedrückt, wandte ich mich dem Fahrersitz zu und konnte Bethany nun zum ersten Mal richtig sehen. Als Mensch musste sie dunkelhäutig gewesen sein, und auch jetzt war sie der schwärzeste Vampir, den ich je zu Gesicht bekommen hatte. Anders als die Haut der meisten Vamps, die nach vielen Jahren ohne Sonne blasser wird, hatte ihre eine blau-schwarze Farbe angenommen, und ihre Lippen waren sogar noch dunkler. Die Lederhaut ihrer Augen war bräunlich und die Iris so schwarz, wie ich es noch nie gesehen hatte, nicht einmal bei den Vertretern des Volkes, schwärzer als die schwärzeste Nacht. Ihre Dreadlocks, in die Hunderte von Gold- und Steinperlen eingearbeitet waren, hatte sie locker im Nacken zusammengenommen. Von den Ohren waren nur noch die Ohrläppchen zu sehen, an denen zahlreiche goldene Ringe baumelten.

Macht umgab sie wie eine Aura, aber weicher in der Textur als die stachelige, gepanzerte Faust von Leos Vampirmacht. Bethanys Energien waren kurzlebig, suchend und rochen fast wie Hexenmacht, nur bitterer. Ich wusste nicht, was sie vor ihrer Wandlung gewesen war, doch sie war alt, vielleicht die älteste Vampirin, die ich je kennengelernt hatte, und erfüllt von einer seltsamen Macht. Ich dachte an Sabina Delgado y Aguilera, die alte Vampirin aus der Kapelle, die das weiße Kopftuch der Nonnen trug. Bethanys Macht erinnerte mich an ihre, sie glich einer Lawine, die wuchs und ins Rollen kam, langsam und unaufhaltsam, doch mit einer Absicht und einem Ziel.

Bethany starrte mich an, mit Augen so dunkel, wie der Himmel in einer mondlosen, bewölkten Nacht in den Appalachen, so tief, so leer und unergründlich, dass es war, als blickte man in einen Meeresgraben. Mein Körper reagierte instinktiv, als mich eine Gänsehaut überlief. Beast tat nichts, sie duckte sich tief unten in meinem Geist und verfolgte besorgt, fast ängstlich, das Geschehen. Ohne mich aus den Augen zu lassen, legte Bethany einen Gang ein und fuhr die Straße hinunter. Erst, als sie drehte und den Wagen nach rechts, dann nach links lenkte, wandte sie den Blick von mir ab. Drei Straßen weiter hatten wir den Warehouse District verlassen. Ich zitterte immer mehr. Wahrscheinlich würde ich bald einen Schock erleiden. Ich musste mich dringend wandeln.

Sie fuhr eine vierundzwanzig Stunden geöffnete Tankstelle mit Gittern vor den Fenstern und greller Außenbeleuchtung an und rollte langsam auf die Hinterseite in eine vermüllte Gasse. Im Schutz der Dunkelheit stellte sie den Motor ab. »Sie sind verletzt«, sagte sie. »Möchten Sie geheilt werden?«

Die Formulierung kam mir seltsam vor, doch mir blieb keine Wahl. Nach Hause würde ich es nicht schaffen, und ich hatte nicht mehr die nötige Kraft, um mich ohne Fetische oder Steine zu wandeln. Ich leckte über meine trockenen Lippen und sagte: »Klar.«

Sie nahm die Hände vom Steuer und umfasste meinen Hinterkopf mit eisenhartem Griff. Die andere Hand presste sie flach gegen meine Stirn. Ihre Hände waren eiskalt, als hätte sie in einem Kühlschrank geschlafen. Dann drückte sie meinen Kopf mit unerbittlicher Kraft zurück. Ich kämpfte gegen meine Reaktion auf ihre Berührung an. Was immer jetzt kommen mochte, ich hatte zugestimmt.

Beast, die seit Leos Erscheinen merkwürdig still gewesen war, merkte auf. Ich spürte ihre Krallen. Tote Finger. Falle!, dachte Beast und sammelte ihre Kräfte, um zu kämpfen oder zu fliehen. Ich bin keine Beute, sagte Beast. Ich packte die Tür und wollte mich losreißen, doch es war zu spät, Bethanys Hände hielten mich fest, Hände so kalt und hart wie schwarzer Marmor. Meine Herzfrequenz verdreifachte sich. Ich sog die Luft ein, um zu schreien.

Sie leckte über meinen Hals. Und mit derselben Schnelligkeit, mit der ihre kalte Zunge mich berührt hatte, schlug Bethany ihre Fangzähne in mich. Ich erstarrte, die Hand in stiller Abwehr erhoben. Beast fauchte. Eine elektrische Kälte erfasste meine Brust, als würde ein eiskalter Fluss meine Lunge und mein Herz füllen und durch meine Adern fließen, knisternd und brennend wie feinster Rum auf Eis. Meine Nerven und Muskeln krampften sich zusammen.

Bisher hatte der Schock den Schmerz gedämpft. Jetzt traf er mich mit einer Wucht, als kratze gefrorener Stahl über alle Nerven gleichzeitig. Es dauerte nur einen schrecklichen Moment lang, dann wich er einer Kühle und einem Hochgefühl wie geeister Wodka, in dem Schneeflocken schwimmen. Und diese Empfindung durchströmte mich und sammelte sich in meinem Bauch wie Sattheit nach dem Hunger, als würde ich an der Spitze der Welt durch kalte Luft fallen, wie nichts, was ich schon einmal erlebt hatte.

Vorsichtig holte ich Luft, um Kehle und Rippen nicht zu sehr zu bewegen. Ich befand mich zwischen den Kiefern eines Raubtiers, jede zu schnelle Bewegung konnte zur Folge haben, dass mir die Gurgel herausgerissen wurde. Wieder einmal.