16

Sie haben mich schon getötet

Ich untersuchte die alten Stätten auf Anzeichen, die darauf hindeuteten, dass ein Rogue dort kürzlich auferstanden war, fand aber nichts. Doch beim dritten Kreis stieg mir, als mein Fuß den verwischten Muschelkreis berührte, ein übler Geruch in die Nase. Der Geruch des Todes, durchdringend, süß und faulig.

Ich ging weiter, gegen den Wind und in die Bäume hinein, entfernte mich vom Friedhof. Beasts Instinkte, ihre Nachtsicht und ihre anmutige, geschmeidige Gewandtheit nutzend, bewegte ich mich lautlos durch die dichten Bäume; nicht ein Blatt raschelte unter meinen Sohlen. Unter dem Leder rann mir der Schweiß nur so herunter. Ich hielt den Vampkiller in der linken Hand, die Benelli in der rechten, den Kolben zusammengeschoben, damit ich sie mit einer Hand tragen konnte.

Mit jedem Schritt wurde der ekelhaft süßliche Geruch des Todes stärker und darunter noch ein anderer, älterer verwesendes Blut, die Opfergabe für das schwarzmagische Ritual, das hier stattgefunden hatte. Und noch tiefer, unter dem Blut und dem Geruch des Todes, witterte ich das Ozonartige von Hexenmagie. Magie, die erst kürzlich gewirkt worden war. Frische, noch mächtige Magie, die nach Kiefernholz und Pilzen, Rosen und frisch umgegrabener Erde roch und einer Spur von Salzwasser. Die Witterung einer Erdhexe mit stark entwickelten Kräften, die Pflanzen liebte und sich mit dem Erdreich verbunden fühlte. Vielleicht waren es auch zwei Erdhexen, die zusammenarbeiteten. Und unter allem lag der Geruch dunkler Riten. Angst, Blut und Opfer. Meine Hände umklammerten die Waffen, nur mit einiger Willensanstrengung gelang es mir, meinen Griff zu lockern, um mich wieder auf die Duftsignaturen zu konzentrieren und was sie zu bedeuten hatten. Mir schwante Böses. In meinen Schweiß mischte sich das moschusartige Aroma von Angst. Ich zog den Kolben aus und hielt die Benelli im Anschlag. Wenn nötig, konnte ich mit einer Hand einen Schuss auf kurze Distanz abgeben, und für eine längere Distanz würde ich eben schnell den linken Arm als Stütze nehmen.

Ich witterte nichts, das darauf hinwies, dass in letzter Zeit jemand hier gewesen war, vielleicht nicht, seitdem Ada durchgezogen war. Die Magie musste mit einer Art Zeituhr oder Auslöser verbunden und durch einen Bann geschützt sein, der den Geruch nicht nach außen dringen ließ, damit niemand die Stätte fand. Und sie war erst vor Kurzem aktiviert worden. Da ich das letzte Mal weder die Stätten noch die magischen Energien gerochen hatte, war sie wahrscheinlich mit einem Stillstandzauber belegt. Doch das hieß nicht, dass nicht bald jemand hier erscheinen würde. Oder sich mir gerade jetzt in Windrichtung näherte. Ich wurde unruhig, mein Nacken begann zu kribbeln. Ich dachte an den wütenden Vamp, der an der Grabstätte im City Park gestanden hatte. Er war zurückgekommen, um sein Geschöpf in Empfang zu nehmen.

Mit Beast nah an der Oberfläche glitt ich mit katzenartiger Anmut durch die Bäume, immer vorsichtig einen Fuß nach dem anderen anhebend und wieder aufsetzend. Während ich mich vorwärtsbewegte, erspürte ich die Himmelsrichtung und stellte fest, dass ich nach Norden unterwegs war. Beasts Orientierungssinn war besser als meiner, doch sie hatte Mühe, ihr Wissen für mich zu übersetzen oder mir mitzuteilen. Ich schwitzte heftig, denn ohne den Fahrtwind auf dem Motorrad halfen auch die Netzstoffeinsätze in den neuen Ledersachen nicht viel.

Das Kitzeln gelöster Magie strich über meine Haut. Ich blieb stehen. Ich hatte einen weiteren drei Meter großen Kreis unter den Bäumen gefunden, die Muscheln waren noch von den Zweigen und Ästen des Hurrikans bedeckt. Ich witterte, sortierte, analysierte die verschiedenen Gerüche. Irgendetwas war hier anders. Vamps erwachten am dritten Tag, nachdem sie gewandelt und ihren ersten Tod gestorben waren. Aber dem Geruch nach zu urteilen, war es schon viel länger her, seit dieser hier begraben wurde. Lange vor Ada. Etwas sagte mir, dass das von Bedeutung war.

Die Entführungen der Hexenkinder hatten mit diesen Auferstehungen zu tun, das sagten mir sowohl Instinkt als auch Erfahrung. Bei diesem Gedanken stieg erneut die Angst in mir hoch, doch ich drängte sie zurück. Bis die Kinder in Sicherheit waren, konnte ich mir keine Gefühle leisten. Besser, ich konzentrierte mich wieder auf das Puzzle, das es zu lösen galt.

Was bewegte Hexen und Vamps, gemeinsam Hexenkinder zu entführen? Wozu dienten die Kreuze um die Gräber? Und zu welchem Zweck ließ man einen frisch gewandelten Vampir länger unter der Erde? Das ergab keinen Sinn. Es musste etwas mit dem Fluch und dem Heilungsprozess zu tun haben aber was? Ich blieb stehen und lehnte mich gegen einen Baum, dessen raue Rinde ich durch das Leder an meinem Rücken spürte. Ich lauschte, öffnete die Sinne, um die Nachtluft zu schmecken, zu riechen, zu hören, zu fühlen. Reste von Magie glitten über meine Hände und mein Gesicht, sie sahen zerfetzt aus und rochen versengt. Mit Beasts Augen gesehen, glichen sie beinahe den durchbrochenen Bannen um mein Haus.

Vor mir erklang ein leises Stöhnen, dann ein Laut, als atme jemand durch dicken Stoff oder eine geleeartige Masse. Ich warf den Vampkiller leicht hoch und fing ihn wieder auf, um mich zu vergewissern, dass der Griff nicht verschwitzt war und ich ihn sicher fassen konnte. Dann drückte ich mich tiefer in den Wald hinein, ganz langsam, darauf achtend, dass ich immer gegen den Wind stand. Die vier Kreuze auf meiner Brust begannen schwach zu schimmern. Irgendwo hier war ein Vamp.

Etwas hustete. Ein menschlicher oder fast menschlicher Laut, lang und würgend. Etwas Glibberiges wurde ausgespuckt, und mir wurde übel. Beasts Rückenhaare stellten sich hoch. Die Haut und die feinen Härchen in meinem Nacken und auf meinen Schultern reagierten auf ihren Instinkt, und ich bekam eine Gänsehaut. Sie schob meine Übelkeit zurück und blickte durch meine Augen.

Lautlos wie ein Raubtier, das sich an seine Beute heranpirscht, glitt ich durch die Stämme. Dann sah ich eine Bewegung: Etwas Helles erhob sich vor einer Baumreihe. Ich erkannte einen Arm, der über ein Gesicht wischte. Ein Mann, ein Schwarzer, in einem ehemals weißen Hemd und dunklen Hosen, stand auf einer Lichtung direkt vor mir. Seine Füße waren nackt. Hustend und spuckend sank er benommen auf einen umgestürzten Baum. Ich war etwa zehn Meter von ihm entfernt, nahe genug, um ihn mit meinen Katzenaugen beobachten zu können. Die Hose war eine Jeans und das Hemd ein langärmeliges Anzughemd mit aufgerollten Ärmeln und einem T-Shirt darunter. Er war ungefähr zwanzig Jahre alt und an Hals und Armen tätowiert. Das Mondlicht fiel auf das Halstattoo: eine schwarze Witwe. Der rot gepunktete Leib von der Größe einer Dollarmünze befand sich dicht unter seinem Ohr, die Beine waren um seinen Hals gelegt, als würde sie gerade Gift in ihn hineinpumpen. Vermutlich ein Gangtattoo.

Er roch nach altem Tod, verwestem Blut und Angst. Der Gestank des Grabes. Erde und Schleim klebten noch an ihm. Ich musste ein Geräusch gemacht haben, denn sein Kopf fuhr hoch, unmenschlich schnell. Viel schneller, als sich normalerweise ein gerade erwachter Vamp bewegte. Kurze, spitze Fangzähne wie Nadeln fuhren aus, und seine Augen wurden schwärzer als der Bauch der Hölle. Ohne Vorwarnung griff er an. Meine Kreuze blitzten grell auf. Erst jetzt reagierte mein Körper mit Angst, und meine Kehle schnürte sich zu.

Ich hob den linken Arm, um ihn abzuwehren, und feuerte mit einer Hand, drei Schüsse. Mit jedem Schuss machte der Lauf einen Satz. Den ersten beiden Ladungen wich der Mann aus, so schnell, dass ich seine Bewegungen wie eine Abfolge von sich überlagernden Bildern sah ein weißes Hemd, das hin und her sprang. Durch das gleißende Licht der Detonationen konnte ich kurzzeitig nichts sehen, und der letzte Schuss ging gen Himmel, ins Leere.

Er warf sich auf mich, stieß mich ins Unterholz. Ich ächzte, als er mit seinem ganzen Gewicht auf mir landete. Angst schoss durch meinen Körper. Seine Hände packten meine Handgelenke und drückten meine Arme auseinander und herunter. Hielten mich fest. Seine Fangzähne schnappten nach meinem Hals. Trafen auf die Silberringe auf dem Leder. Bohrten sich durch den silbernen Kettenkragen darunter. Er schrie vor Schmerz. Wich zurück. Sein Blick traf meinen. Er spuckte aus. Schlug mit den Krallen der linken Hand nach meinem Gesicht.

Jetzt hatte ich eine Hand frei. Ich schnellte mich zur Seite. Seine Krallen schlugen dort auf, wo eben noch mein Kopf gewesen war. So bewegte sich kein unbeherrschter junger Rogue.

So bewegte sich ein ausgebildeter Kämpfer.

Ich schlug mit dem Vampkiller nach seiner ungeschützten Flanke. Doch er war schon fort, auf der anderen Seite des Kreises. Fangzähne ausgefahren. Sich den Bauch haltend. »Hunger«, grollte er. »Bitte.«

Ich packte meine Waffen, rollte mich herum und richtete mich auf. Schlang mir die Benelli über die Schulter, damit ich ausreichend Bewegungsfreiheit hatte. Dann zog ich zwei messerscharfe Pflöcke mit versilberten Spitzen und begann, die Lichtung zu durchqueren. Schnell wie Beast. Bevor ich merkte, dass er gesprochen hatte. Ich blieb so plötzlich stehen, dass ich fast gestolpert wäre. Das hier war ein gerade erwachter Vamp, seine winzigen, nadelartigen Eckzähne und das offene Grab in der Mitte des Pentagramms sprachen eine eindeutige Sprache. Ich wusste es. Gerade erwachte Vamps konnten nicht sprechen. Sie waren tollwütige, wilde Killermaschinen, die Erinnerung an Sprache kam erst mit der Zeit zurück. Sie hatten nur ein Verlangen, ein Ziel zu fressen. Und um dieses Verlangen zu stillen, töteten sie. Aber dieser Typ sprach. Er hatte Bitte gesagt. Und er griff nicht an. Die Silberkreuze taten ihm nicht in den Augen weh. Er beobachtete mich.

In der schrecklichen Stille konnte ich meinen eigenen, schrillen Atem hören. Furcht kroch über meine Haut wie schleimige Schlangen in der Dunkelheit. Ich zwang mich, ruhiger zu atmen, trotzdem war meine Stimme atemlos und leise, als ich fragte: »Du kannst mich verstehen?«

Nach einem Moment nickte er. Ein kurzer Ruck mit dem Kinn nach unten. Er verstand mich.

Und auf einmal fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Das Verschwinden der Hexenkinder war zeitlich nicht mit dem Auftauchen der jungen Rogues zusammengefallen, weil diese Vamps viel länger unter der Erde waren als die üblichen drei Tage. Sie wurden dort mit einem Zauber festgehalten, zum Beispiel einem Stillhaltezauber in der Hoffnung, dass sie dadurch geistig schon weiter waren, wenn sie schließlich auferstanden. Die Vamps, hinter denen ich her war, hatten es geschafft, einen Vamp zu erwecken, der nicht dem Wahnsinn verfallen war. Der nicht erst geheilt werden musste. Kein Fluch. Kein devoveo.

All die anderen jungen Rogues waren Versuchstiere gewesen, bei denen es nicht geklappt hatte. Aber dieses Mal hatten sie endlich Erfolg gehabt.

Aber wozu dienten die Kreuze an den Bäumen? Vielleicht sollte der Zauber, der sie unter der Erde hielt, auch immun gegen die Macht des Kreuzes machen. Vamps, auf denen kein Fluch lastete und die keine Angst vor Kreuzen hatten. »Mist«, flüsterte ich, als ich verstand, was das bedeutete. Der Experimentator wollte Kreaturen schaffen, die keine Schwächen hatten.

Ein Zauber, mit dem es gelang, geistig gesunde Junge zu züchten solch ein Zauber konnte es wert sein, dass man dafür einen Krieg begann. Rousseau, St. Martin und Mearkanis waren alle drei Clans darin verwickelt? Nein. Nur die Rousseaus. Von den beiden anderen Clans witterte ich niemanden.

»Hunger«, flüsterte er wieder mit brüchiger Stimme.

»Ich weiß, dass du Hunger hast.« Seine Kehle arbeitete gierig. Ich hielt den Vampkiller in die Höhe, sodass sich das Mondlicht, das durch die Bäume fiel, im Silber fing. »Aber wenn du warten kannst, wenn du dich zurückhalten kannst, dann rufe ich jemanden her, der dir helfen kann. Hast du verstanden?«

Er nickte wieder und schloss die Augen. »Schnell. Weiß nicht, wie lange «

Meine Gedanken rasten. Der erste junge Rogue, den ich in dieser Stadt erlegt hatte, war zumindest so weit wieder zu Verstand gekommen, dass er es in einen Klub geschafft und eine junge Frau angegriffen hatte. Er hatte sich sogar eine Partnerin geschaffen. Sein Revier markiert. Das war nicht normal. Nicht für einen jungen Rogue. So nannte man sie nicht ohne Grund – sie waren wie wilde Tiere. Warum war mir das bisher nicht aufgefallen? Weil ich nur das gesehen hatte, was ich hatte sehen wollen.

Ich steckte die Pflöcke weg und zückte mein Handy. Hoffentlich hatte ich hier Empfang. Erleichtert sah ich die drei Balken im Display. Mir war beileibe nicht danach, einen von Leos Leuten anzurufen, nicht nachdem der Big Boss versucht hatte, mich zum Dinner zu verspeisen, aber mir blieb keine andere Wahl. Ich drückte die Kurzwahltaste, unter der ich Bruisers Nummer gespeichert hatte. Als er sich meldete, sagte ich: »Ich habe hier einen gerade erwachten Vamp, der Herr seiner Sinne ist. Hinter der Kapelle auf dem Friedhof. Er sagt, wenn du dich beeilst, kann er auf ein Blutmahl warten.«

»Er spricht? Unmöglich«, sagte Bruiser.

»Na gut. Dann pfähle ich ihn jetzt und wir streiten uns später darüber.« Der Vamp am anderen Ende der Lichtung horchte auf und blinzelte langsam. Ich zuckte die Achseln, um ihm zu zeigen, dass ich es nicht ernst gemeint hatte.

Bruiser fluchte kurz. »Leo ist nicht verfügbar. Ich werde einen seiner Vasallen herbringen. Versuch, ihn am Leben zu halten.« Die Verbindung wurde beendet, und ich steckte das Handy zurück in die Tasche.

»Hast du einen Namen?«, fragte ich den frisch auferstandenen Typ.

Er schien nachzudenken, und währenddessen verschwand langsam das Rote aus seinen Augen, so als würde er durch das Beantworten einer Frage seine Menschlichkeit wiedererlangen. »LeShawn. LeShawn B Brandt.«

Junge Rogues erinnerten sich nicht an ihre Namen. Nicht während der ersten fünf Jahre oder sogar länger. »LeShawn, glaubst du, du schaffst es die ungefähr zweihundert Meter aus dem Wald heraus?«

»V versuche es«, sagte er. Seine Fangzähne schnappten zurück, und seine Menschenzähne klapperten, als wäre ihm trotz der Hitze kalt. Wenn Vampire nicht genug Blut bekamen, begannen sie zu frieren.

Ich bemühte mich, mir meine Angst nicht anmerken zu lassen und meine Atmung unter Kontrolle zu bekommen, um ihn nicht zusätzlich zu reizen. Als ich glaubte, ruhig genug zu sein, zeigte ich wieder mit dem Pflock. »Da entlang. Du gehst vor.«

Er bewegte sich langsam, mit schlurfenden Schritten. Eigentlich durfte er noch gar nicht richtig gehen können oder zumindest nicht ohne diesen zombieartigen Mangel an Koordination. Normalerweise brauchten die frisch Auferstandenen länger dazu. Sehr viel länger. Das Mädchen im Park hatte sich wie ein typischer junger Rogue verhalten. Doch auch sie hatte unter diesem Zauber gestanden. Warum war dieser Typ anders?

Wegen des Hurrikans und der Energie, die er mitgebracht hatte. Der Blitz hatte den Stillstandzauber unterbrochen.

LeShawn, der dicht vor mir ging, blieb stehen und hob den Kopf mit dieser seltsam schlangenartigen Bewegung, wie man sie auch bei anderen Vampiren beobachten konnte, und schnüffelte. »Du riechst gut. Nach Fleisch und Sex.«

»Geh weiter, oder du riechst nach totem Fleisch.«

Er lachte. Mist. Er lachte. Ein ganz und gar menschliches Lachen, das die meisten von ihnen erst nach einem Jahrzehnt wiedererlernten. Er wandte sich zu mir um, das Grinsen immer noch im Gesicht. Seine Augen waren die eines Menschen, braun mit in der Dunkelheit geweiteten Pupillen. Die Kreuze auf meiner Brust schimmerten schwächer. Sein Blick glitt zu meinem Hals, zu dem Streifen ungeschützter Haut direkt unter meinem Kiefer. Er atmete tief ein und schloss die Augen. »Du riechst so gut.«

Meine Kreuze wurden wieder heller solche merkwürdigen Schwankungen kannte ich nicht. »LeShawn, reiß dich zusammen, oder ich pfähle dich, und dann bist du wirklich tot. LeShawn

Seine Augen öffneten sich. Das Weiße rötete sich wieder. »Sie haben mich schon getötet.«

»Wer hat dich getötet, LeShawn?«

Er schüttelte den Kopf und legte die Hände auf die Hüften. »Es war dunkel«, flüsterte er. »Hunger, Hunger, Hunger.« Aber er drehte sich um und ging weiter in die Richtung, die ich ihm wies, nach Süden. Seine nackten Füße tappten durch die raschelnden Blätter. Vorsichtshalber hielt ich die Flinte weiter auf ihn gerichtet und ging stets mindestens vier Meter hinter ihm, in der Hoffnung, dass der Abstand reichte, um noch zu reagieren, falls er doch wieder angreifen sollte.

Dieser Vamp war der Schlüssel, um zu verstehen, was hinter den Entführungen steckte. Um Angelina und Little Evan zu finden. Dieser Vamp war in der Lage zu sprechen. Hoffnung stieg in mir auf, doch ich rang sie nieder, so wie eben die Angst.

Es sah aus, als würden wir es tatsächlich schaffen. Durch die Bäume konnte ich schon die Kapelle sehen, die weiß im Licht des aufgehenden Mondes schimmerte. Als er zwischen zwei Bäume trat, wurde LeShawn langsamer. Seine scharfen, fünf Zentimeter langen Krallen waren ausgefahren. Als er sich an einem toten Baum abstützte, bohrten sie sich mit leisem Knacken in das trockene weiße Holz. Mit einem Arm umfasste er seinen Bauch. Meine Kreuze begannen erneut zu glühen, so hell, dass ich blinzeln musste.

Er atmete heftig. Der Gestank von totem Gewebe lag in der Nachtluft. Ich kämpfte gegen den Kampf-oder-Flucht-Impuls meines Körpers an und sagte mit ruhiger Stimme: »LeShawn? Behalt jetzt die Nerven, Mann. Geh weiter.«

Er drehte sich um, sodass ich sein Gesicht im Profil sah, und ließ den Kopf sinken. »Kann nicht. Ich schaffe es nicht « Die Hand an dem Baum ballte sich zur Faust. Die Krallen schnitten in seine Handfläche. Ich roch getrockneten Salbei den Geruch von Vampblut. Noch durchdringender als den Gestank des Todes. Er streckte die Hand aus, sah das Blut und führte sie zum Mund. Und stieß seine Zähne hinein. Saugte.

»LeShawn?« Ich machte einen Schritt auf ihn zu.

»Hu « Er schauderte. Sank zurück gegen den Baum, das Gesicht mir zugewandt, die Hand im Mund. Saugte heftig an seinem eigenen zerbissenen Fleisch. Er schluchzte frustriert. »So so hungrig. Hu Huuuu « Von einem Moment auf den anderen sprang er auf mich zu, Blutgier und Wahnsinn im Blick. Der Wahnsinn eines Rogues. Die Zeit machte einen kleinen Satz, und er schien langsamer zu werden, hing in der Luft. Knurrend. Ich hob den Pflock, schätzte seine Flugkurve ab. Und er fiel. Auf mich. Auf die Spitze des Pflocks.

Ich sah zu, wie sie erst sein Hemd, dann sein T-Shirt durchbohrte. Und begriff, noch während ich spürte, wie die Silberspitze zwischen seine Rippen glitt, dass ich einen Fehler gemacht hatte. Er prallte gegen mich, und seine Krallen schlossen sich reflexartig um meine Oberarme. Die Zeit ruckelte und lief wieder schneller.

»Nein!« Die Wucht des Stoßes warf mich zu Boden, LeShawn landete auf mir. Schock in seinem Gesicht. Ich riss an dem Pflock, wollte ihn herausziehen zu spät. Seine Augen wurden wieder menschlich. Unsere Körper machten einen kleinen Satz, den ich nutzte, um mich unter ihm wegzurollen. Gleichzeitig zog ich an dem Pflock. Er blieb an einer Rippe stecken. Doch jetzt hatten wir nicht mehr den richtigen Winkel zueinander, es gelang mir nicht, ihn herauszuziehen. Wieder verlangsamte sich die Zeit, das Geschehen wurde zu kurzen Bildern, die in der Nacht aufblitzten.

Ich drehte an dem Pflock, doch er steckte in seinem Sternum fest, zwischen den Rippen und der harten Knochenplatte in der Mitte seiner Brust. Seine Krallen streiften über das Metall in meinen Jackenärmeln. Leises Klicken. Die Bewegung schleuderte ihn zur Seite. Hinunter. Hart. Er landete auf dem Bauch. Ein Widerstand, nur kurz, dann drückte sich der Pflock in sein Herz. Eine leichte Druckminderung, als er in die Herzkammer eindrang. Und weiter, vollständig hindurch, um auf der anderen Seite wieder herauszutreten wie durch Gummi.

Die scharfe Silberspitze schob sich durch sein Hemd am Rücken. Ätzendes Vampblut spritzte in einer dünnen Fontäne hervor, kleine Tropfen landeten auf meinem Gesicht. Der Vamp seufzte. Starb. Entsetzen durchfuhr mich. »Nein. Nein!«

Ich hockte auf Händen und Knien und fluchte. Das ätzende Vampblut im Gesicht, spuckte ich die Worte förmlich zu Boden. Weinte Tränen der Wut und der Enttäuschung. Dann richtete ich mich auf und setzte mich neben LeShawn auf das Kiefernnadelbett und legte ihm die Hand auf den Leib. Obwohl ich wusste, dass ich gerade die vielversprechendste Verbindung zu den Entführern der Hexen und zu dem Schöpfer der jungen Rogues verloren hatte, durchströmten mich die Endorphine des Sieges. Für einen Moment erlebte ich einen Gefühlstaumel, der berauschender war als Alkohol, erregender als Sex. Ich hatte überlebt. Ich hatte verloren. »Oh nein«, flüsterte ich. Der Schock der Erkenntnis traf mich mit voller Wucht, ich würgte, schmeckte etwas Saures, Brennendes.

Ich holte Luft. Sie roch und schmeckte ranzig, nach Vampblut. Das Hochgefühl flackerte und erlosch, erstickt von Verzweiflung. »LeShawn. Mist.« Durch den Tränenschleier vor meinen Augen sah es aus, als würde sein Körper in der Dunkelheit flimmern.

Ich wusste, ich musste ihm den Kopf abschneiden. Nur so würde er endgültig sterben. Wäre sein Schöpfer jetzt hier oder hätte ich Pflöcke aus reiner Esche benutzt, ohne das Silber, das jetzt sein Blut vergiftete, hätte man ihn vielleicht zurückholen können. Vielleicht auch nicht. Sicher war ich mir nicht. Erst zu spät hatte ich verstanden, mit was ich es zu tun gehabt hatte. Nachdem ich ihn getötet hatte.

Ich holte mein Handy aus der Tasche und drückte auf Wahlwiederholung. Als sich Bruiser meldete, konnte ich im Hintergrund das schwache, stete Summen eines Motors hören. »Schon gut. Er hat die Beherrschung verloren.«

»Ist er endgültig tot?«

»Noch nicht. Aber ich habe ihn mit einem Pflock mit Silberspitze getroffen. Durchs Herz.«

Bruiser dachte laut nach. »Wenn wir versuchen, ihn zurückzuholen, wird sich das Gift in seinem Körper verteilen, bevor er genesen kann. Immer vorausgesetzt, wir finden seinen Meister, damit er ihm ein Blutmahl geben kann. Bethany fühlt sich heute nicht wohl. Leo könnte es übernehmen. Aber er ist noch nicht wieder er selbst.«

Das erstaunte mich kaum. Ich seufzte laut ins Telefon und redete weiter, eher mit mir selbst als mit ihm: »Ich glaube, in Zukunft bin ich lieber vorsichtig mit den Silberpflöcken. Nicht, dass mir das etwas bringen würde.« Ich fluchte erneut, aber ohne echte Überzeugung.

»Töte ihn nicht, bevor die Priesterin ihn untersucht hat. Wenn er so kurz nach dem Erwachen so weit bei Verstand war, dass er sprechen konnte, kann sie uns vielleicht den Grund dafür sagen.«

Ich wusste, dass die Priesterin einmal eine Nacht in der Kapelle des Friedhofs verbracht hatte. Aber ob sie auch heute da war, konnte ich nicht mit Gewissheit sagen. Schließlich hatte ich mich nicht mit einem Blick durchs Fenster davon überzeugt. Und Bruiser wusste nicht, dass ich wusste, wo sich ihr Nest befand falls es tatsächlich die Kapelle war.

Und nun beginnen die Lügen und die Halbwahrheiten. Aber um die Kinder zurückzubekommen, würde ich lügen, dass sich die Balken bogen. »Wie bringe ich sie hierher?«, fragte ich, um Zeit zu gewinnen. »Ich bin mit dem Motorrad hier, ich kann nicht eine Leiche durch die ganze Stadt karren.« Das war die Wahrheit. Und zugleich eine Lüge.

»Ich spreche mit ihr. Bring die Leiche vor die Kapelle. Warte dort auf sie.«

Ja. Klar. »Okay.« Es gelang mir, nicht ironisch zu klingen. Dann keimte Hoffnung in mir auf. »Kann Sabina ihn zurück «

»Nein«, unterbrach Bruiser mich. »Sabina wird einen jungen Rogue nicht wiederbeleben. Bitte sie nicht darum. Sie ist eine Clanlose.«

Ohne Abschied klappte ich das Handy zu, steckte es ein und schlug den blutigen Pflock in den Boden, um ihn zu säubern. Später würde ich ihn zusätzlich noch abwaschen müssen, sonst korrodierte das Silber durch das säurehaltige Vampblut. Dort, wo mir das Blut ins Gesicht gespritzt war, brannte meine Haut. Ich wischte es mit Spucke ab. Als ich wieder zu Atem gekommen war, steckte ich die Kreuze weg und stand auf. Rückte meine Waffen zurecht.

Ächzend hob ich die Leiche an und warf sie mir über die Schulter. Schon jetzt überlagerte der Gestank von frischem Tod die Gerüche von altem Tod, Vampblut und Grab. Wenn er nicht sicher entsorgt wurde, bestand die wenngleich geringe Möglichkeit, dass er bei Vollmond wieder auferstand, als ein Rogue ganz anderer Art, sehr viel gefährlicher, als der gerade Erwachte. War alles schon vorgekommen.

Angestrengt darauf achtend, wohin ich trat, trug ich ihn aus dem Wald und hinaus ins Mondlicht. Er war ein ganz schöner Brocken, und ich war erschöpft. Beast schien es nicht für nötig zu befinden, mir ihre Kräfte auch in Situationen, die keine Notfälle waren, zur Verfügung zu stellen, insbesondere nicht, wenn es galt, einen Vamp aus dem Wald zu schleppen. Zweimal geriet ich ins Stolpern, und einmal hätte ich LeShawn beinahe fallen lassen.

Vor mir konnte ich die Kapelle sehen, die Kerzen hinter den blutroten Scheiben. Das Licht warf blutige Schatten auf die muschelbedeckten Wege und den Rasen. Ich näherte mich dem Gebäude von hinten, und als ich um das Gebäude herumging, sah ich schon Sabina Delgado y Aguilera, die Priesterin der Vamps, auf der vorderen Veranda. Ganz offenbar war sie in der Kapelle gewesen, genau wie ich es vermutet hatte. Und vielleicht war doch noch nicht alles verloren. Vielleicht verfügte die Priesterin, ohne es selbst zu wissen, über Informationen, die mich zu den Rogue-Schöpfern führen konnten. Mit den richtigen Fragen konnte ich möglicherweise etwas aus ihr herausbekommen, das mir weiterhalf. Wenn es mir gelang, die richtigen Worte zu finden, und zwar schnell. Die richtigen Worte zu finden, aber über alles andere Stillschweigen zu bewahren. Vielleicht, möglicherweise, wenn. Mir lief die Zeit davon. Um mich zu beruhigen, holte ich tief Luft. Soziale Kompetenzen waren nicht gerade meine Stärke.

Auch heute war Sabina in einen weißen Rock und ein Gewand gekleidet, das aussah wie eine Nonnenkutte aus schwerem weißem Tuch. Die Haube verbarg ihr Haar und umrahmte weiß ihr Gesicht, in dem sich das Mondlicht fing und Schattenflecken warf. Die Hände hatte sie in die Ärmel geschoben, wie eine Mutter Oberin, und auf ihrem Gesicht lag ein strenger, nüchterner, todernster Ausdruck. Haha. Vamphumor.

Keuchend und nach Luft schnappend ging ich weiter und achtete darauf, dass meine Schritte im Gras und auf dem Muschelsplitt laut knirschten. Damit sie mich kommen hörte. Sie blickte nicht in meine Richtung, gab mit nichts zu erkennen, dass sie mich bemerkt hatte. Reglos wie die Mamorstatuen auf den Krypten stand sie da. Eine Statue in einem weißen Gewand.

Ein paar Meter vor ihr blieb ich stehen, um die Leiche zurechtzurücken. LeShawns Hände klatschten gegen meinen Rücken und meinen Po. Wie sollte ich sie ansprechen? Irgendwie schien es mir nicht angebracht, sie einfach Sabina zu nennen. Daher sagte ich: »Bruiser George Dumas sagte, er würde die Priesterin rufen.«

Sie wandte sich nicht zu mir um, sodass ich ihre Lippen nicht sehen konnte, als sie sagte: »Das hat er. Sie sind Jane Yellowrock, die Kreatur, die meinem Volk hilft.«

Kreatur. Aaaah ja. Das brachte mich ein bisschen runter. Half mir, mich zu konzentrieren. Auf das, was zählte. Die Kinder. Und die kleine Bliss. »Dieser Vamp ist gerade erwacht, das erste Mal, drüben im Wald. Er wusste seinen Namen, sprach deutlich und verständlich, bewegte sich sicher und konnte sich orientieren. Und er war in der Lage, seine Blutgier zu beherrschen, zumindest für eine gewisse Zeit. Wir waren auf dem Weg hierher, um George und einen von Leos Vasallen und Blutdienern zu treffen, damit er sein erstes Blutmahl einnehmen konnte. Doch er verlor die Beherrschung und griff mich an, sodass ich ihn pfählen musste. Aus Versehen habe ich dabei Silber benutzt und ihm durchs Herz gestochen.«

Langsam drehte sie mir den Kopf zu. Ihre Schultern blieben völlig reglos, nur der Kopf bewegte sich, fast roboterhaft. Nicht menschlich. Auf einmal war ich froh, dass ich weiter weg stehen geblieben war. Ihr Gesicht war völlig ausdruckslos, als sie mit einer Entschiedenheit sprach, die aus langer Erfahrung und Gewissheit herrührte. Eine Verkündigung. »Ein junger Vampir kennt keine Beherrschung. Keine Sprache. Ein junger Vampir ist ein wildes Tier.«

Beast sagte nichts zu dieser Beleidigung. »Das habe ich bisher auch gedacht«, presste ich zwischen den Zähnen hervor. LeShawn wurde immer schwerer. »Ich glaube, es hat etwas damit zu tun, dass er in einem verzauberten Hexenkreis und einem Pentagramm erwacht ist, umgeben von Kreuzen, die in Kopfhöhe an die Bäume drumherum genagelt waren, und in einem Boden, der nach verwestem Blut roch. Blutmagie.«

»Nein«, flüsterte sie. Das Wort verklang in der Nacht.

Ich musste sie dazu bringen, mir zu glauben. »Es ist wahr«, sagte ich. »Und es ist nicht zum ersten Mal passiert, nicht wahr? Ich habe gehört, dass die Söhne der Dunkelheit kein devoveo erleben, wenn sie erwachen. Jemand muss herausgefunden haben, wie das möglich ist.« Noch während ich sprach, kam mir der Gedanke, dass es, nachdem ich Leos Reaktion darauf gesehen hatte, möglicherweise nicht sehr clever war, wieder die Söhne zu erwähnen, doch dann sagte ich mir, dass er einfach nur verrückt war. Doch offenbar stimmte das nicht.

Als sie die Worte »Söhne der Dunkelheit« vernahm, erschrak sie, und ihre Pupillen weiteten sich. Beast schoss brüllend an die Oberfläche, und ich spannte mich an. Sabina starrte mich an, mit einem raubtierhaften Blick, den ich zum ersten Mal bei ihr sah. Doch dann schien es, als würde die Priesterin irgendeinen inneren Kampf gewinnen, und ihr Blick wurde sanfter, bis er fast menschlich war. Beast knurrte und legte sich wieder.

»Hören Sie, Lady, der Kerl hier ist nicht gerade leicht«, sagte ich. »Und außerdem tropft er mich voll. Macht es Ihnen etwas aus, wenn ich ihn ablege, bevor wir unsere Unterhaltung fortsetzen?« So weit zu meinen Sozialkompetenzen. Ich war wirklich dämlich.

Aber die Priesterin wirkte nicht, als fühle sie sich durch meinen flapsigen Ton beleidigt. Sie zeigte auf den Boden. Ich zuckte mit der Schulter und wippte leicht in den Knien, um LeShawns Gewicht besser zu verteilen und ging zur Veranda. So vorsichtig wie möglich legte ich ihn ab, doch sein Kopf schlug trotzdem dumpf auf dem Betonboden auf. Gut, dass er schon tot war, sonst würde ihm ganz schön der Schädel brummen, wenn er aufwachte. Dann atmete ich tief durch. LeShawn war zwar nicht wie ein Linebacker gebaut, aber er war kräftig und muskulös.

Auf einmal war die Priesterin verschwunden. Von jetzt auf gleich. Von dort, wo sie eben noch gestanden hatte, kam ein leichter Windhauch. Ich blinzelte überrascht, sah nach links und rechts, um mich zu vergewissern, dass sie nicht neben mir stand, und wollte gerade nach ihr rufen, als sie ebenso plötzlich wieder erschien, eine kurze, dicke Kerze in einer kleinen Glasschale, eine weiße Plastikbox und einen Stuhl in den Händen. Ich zuckte weder zusammen, noch machte ich irgendwelche Bewegungen, die sie an Beute erinnern konnte. Sabina roch nicht nach frischem Blut, und ich wusste nicht, wann sie das letzte Mal genug zu sich genommen hatte, um jetzt nicht in Versuchung zu kommen. Ich hatte keine Lust, ihr nächster Snack zu sein.

Mit etwas menschlicherer Geschwindigkeit stellte sie den Stuhl neben LeShawn und hielt mir die Kerze und die Box hin. Ich nahm sie, stützte mich mit der Hüfte am Geländer ab, um wieder zu Atem zu kommen, die Kerze so haltend, dass sie das Gesicht des toten Vamps beleuchtete. Als ich auf dem Deckel der Box das Etikett mit dem Baby sah, begriff ich, dass darin Feuchttücher waren was mir zwar befremdlich vorkam, doch das hier war nicht meine Liga, und ich hatte keine Ahnung, was normal war und was nicht. Während Sabina den frischen Kadaver untersuchte, wischte ich ihm das Blut und den Grabschmodder ab.

Nach einigen Minuten des Schweigens beugte sie sich vor und begann mit einer kleinen Schere, die nicht länger als ihre Finger war, LeShawns Hemd aufzuschneiden. »Lassen Sie mich das machen«, sagte ich, nahm die beiden Enden des zerschnittenen Hemdes und riss es vom Hals bis zum Saum auf und dann mit einem letzten Ruck ganz entzwei. Mir kam der Gedanke, dass diese Vampirin mich ebenso leicht in zwei Teile reißen könnte wie ich das Hemd. Sie war keine alte Frau, auch wenn sie so aussah. Sie war ein uralter Vamp, und das hieß, sie hatte sehr viel Kraft. Sie brauchte meine Hilfe nicht.

Auf der Brust des Mannes fanden sich neben den typischen Gefängnistätowierungen auch solche, die nur von einem echten Künstler stammen konnten. Die schwarze Witwe an seinem Hals hockte am Rand eines Netzes, das sich über seinen gesamten Oberkörper und beide Schultern und über die anderen Tattoos spannte, als hätten sie sich darin verfangen. Da waren Kreuze und Herzen und Initialen, das Wort MOM mit einer roten Rose, ein Grabstein mit dem Namen Mary darauf, ein Adler und ein Pitbull. Und Narben, eine von einem Messerstich und zwei von einer Kugel, die ebenfalls in das Kunstwerk eingearbeitet waren. Eine bildliche Darstellung seines Lebens, die guten Momente, die ihn zu dem gemacht hatten, was er war, und die schmerzlichen, die ihn geprägt hatten. Genauso wie die geheimnisvollen Symbole und Initialen die Tattoos einer Gang, die ihn auf ewig als einen der ihren kennzeichneten.

Sabina seufzte. »Ich glaube Ihnen.«

Überrascht sah ich auf. »Warum?«

»Die, die mit Kreuzen tätowiert sind, überleben nicht lange genug, um aufzuerstehen. Als er erwachte, hätten sich die Kreuze durch sein Fleisch bis auf die Knochen durchbrennen müssen.« Sie setzte sich wieder auf den Stuhl, der leise in der Nacht knarrte. »Wo ist dieser magische Ort?«

Ich wies in die ungefähre Richtung. »Und in diesem Wald gibt es noch drei ältere Stätten, die mittlerweile zugewachsen sind.«

Ihre Lippen wurden dünn, und ihre Mundwinkel wanderten nach unten, sodass sich ihr blasses Gesicht in Falten legte. »Wie ist das möglich? Ich bin hier. Ich hätte es doch gemerkt. Ich hätte es merken müssen

»Nicht, wenn Menschen am Tag den Platz vorbereitet haben und Hexen ihn anschließend mit einem Stillstandzauber kombiniert mit so etwas wie einem Schutzbann belegt haben. Nicht, wenn der Vamp bis kurz vor Sonnenaufgang mit seinem Ritual gewartet hat«, sagte ich und dachte dabei an die Entführer, die in der Abenddämmerung zugeschlagen hatten, als die Sonne noch hell im Westen gestanden hatte. Hatte sie möglicherweise Hexenmagie gegen die späten Sonnenstrahlen geschützt? Oder praktizierten sie eine andere Art von Magie? Ja. Letzteres.

Sie versuchen nicht nur, das devoveo zu unterdrücken. Sie versuchen, einen Übervamp zu erschaffen. Einen Vamp, der alle Stärken, aber keine der Schwächen eines normalen Vamps hat. Mir stockte der Atem.

Sabina schien mit ihren Gedanken ganz weit weg gewesen zu sein und brauchte einen Moment, um die richtigen Worte zu finden. Oder die richtige Sprache. Wie viele Sprachen und Dialekte lernte man wohl, wenn man zweitausend Jahre lebte? »Es waren Hexenzauber, die verbargen, wo dieses Kind auferstanden ist? Mächtige Hexenzauber?«

»Ja, das würde ich sagen, obwohl bisher noch keine Hexe die Stätten untersucht hat. Erkennen Sie die Witterung der Schöpfer?« Mein Herz klopfte, als erneut Hoffnung in mir keimte.

Sabina beugte sich wieder hinunter und sog die Luft durch Mund und Nase, ganz ähnlich wie Beast, wenn sie etwas witterte. Sie hielt den Atem kurz an, erstarrte. »Der Geruch kommt mir bekannt vor«, sagte sie witternd. »Nein.« Plötzlich ließ sie sich zurückfallen, und ihre weißen Röcke flossen über den Boden der Veranda. Sie schüttelte den Kopf, eine eigenartig menschliche Geste, auf dem Gesicht ein verblüffter Ausdruck. »Das kann doch nicht «

Ich begriff, dass Sabina, die Priesterin der Vamps, ganz genau wusste, was hier vor sich ging. Dies war nicht das erste Mal, dass sie diese Art von Begräbnis sah. Als sie nicht weitersprach, hakte ich nach: »Das kann nicht was?«

»Nicht möglich sein. Der Schöpfer, den ich gerochen habe, ist schon lange endgültig tot. Ich habe ihn selbst getötet.« Das beinahe menschliche Gefühl verschwand aus ihrem Gesicht. Mit bebenden Nasenflügeln witterte sie erneut. »Sein Erbe. Er hat sich einen Erben erschaffen, bevor er starb. Ja«, sie schnüffelte wieder. »Jaaa. Sein Erbe ist es, aber er arbeitet nicht allein. Seine Schüler helfen ihm.«

Meine Hoffnung schwand. Ich biss die Zähne aufeinander, um mir nicht anmerken zu lassen, wie sehr mich dieser Rückschlag traf. Wenn Sabina die Schöpfer nicht kannte, musste ich wieder ganz von vorne anfangen.

»Die Schöpfer stammen aus der Linie der Rousseaus und sind jung, erst ein paar Hundert Jahre alt.« Sie erhob sich langsam wie ein Mensch und musterte mich. »Ich kann Ihnen nicht helfen, Kreatur, die jagt.«

Ich nahm an, dass ich die Kreatur sei, die jagte, und mein Herz schlug schneller vor Aufregung. Aber jetzt war nicht der Moment, nachzufragen, sosehr ich mir auch wünschte, mehr über meine Art zu erfahren. Nicht, solange die Kinder nicht in Sicherheit waren. Ich wandte mich wieder dem toten Vamp zu.

»Unter uns gibt es keinen, der der Macht des Kreuzes standhalten kann, ohne zu verbrennen.« Das sagte sie in einem Ton, als würde sie eine endgültige Wahrheit verkünden, als wäre es ein Naturgesetz der Art wie: Wir können nicht fliegen. Wir können nicht unter Wasser leben. Wir können nicht ohne Blut existieren. Und doch war es nicht wahr.

»Sie haben ihm standgehalten«, sagte ich leise. »In der Nacht, als der «, ich wollte sagen »Leberfresser«, doch ich korrigierte mich gerade noch rechtzeitig, » – alte Rogue Sie angegriffen hat. Sie haben ihn mit einem Kreuz abgewehrt. Einem Kreuz aus Holz. Und es hat geleuchtet wie pures Silber.«

Sabina Delgado y Aguileras Augen wurden jäh zu dunklen Löchern. Acht Zentimeter lange spitze Fangzähne fuhren aus. Sie war über mir, noch bevor die Kreuze aufglühen konnten. So schnell, dass mir keine Gelegenheit blieb, nach meinen Waffen zu greifen. Ihre Hand stieß mich gegen die Kapellenwand, mit einer solchen Wucht, dass ich den Putz reißen hörte. Eiskalte Finger schlossen sich um meinen Hals. Ihr kalter, nach altem Blut und getrockneten Kräutern riechender Atem strich über mein Kinn.