19

Gute Taten bleiben nicht ungestraft

Raum 666 präsentierte sich so karg und langweilig wie immer, doch dieses Mal roch es dort himmlisch. Schon am Fuß der Treppe stieg mir der Duft von Frittierfett, Zwiebeln und Meeresfrüchten in die Nase. Jodi hatte Essen mitgebracht, Gott sei Dank. Trotz meiner Angst um die Kinder knurrte mein Magen, als ich die Tür öffnete.

Die Cops saßen um einen kleinen Tisch, Jodi und Rick und noch ein anderer Typ, den ich nicht kannte; alle hatten beschlagene Coladosen vor sich stehen. Als ich mich auf den Stuhl neben Rick setzte, sagte er: »Du hättest mir ruhig sagen können, dass du auch kommst.«

»Hätte ich. Aber so macht es mehr Spaß.«

Jodi sagte: »Ihr beiden, flirten könnt ihr in eurer Freizeit.« Rick schnaubte. Ich zog die Lasche der Coladose auf, damit ich nichts erwidern musste. »Man hat mir diesen Fall übertragen, weil mein Boss sauer ist, dass ich Kontakte zu Vamps habe.« Sie warf mir einen Blick zu. »Seitdem ich an einer Sitzung des Vampirrates teilgenommen habe.«

»Gute Taten bleiben nicht ungestraft«, sagte ich. Jodi und ich waren gemeinsam vor dem Rat erschienen, eine Premiere für einen NOPD-Cop, egal welchen Ranges. Ihr Boss hatte sich auf den Schlips getreten gefühlt, weil er nicht eingeladen gewesen war, und ihr seitdem kindischerweise nur Routinefälle zugeteilt.

»Ich kann euch nicht versprechen, dass es eurer Karriere guttut, vor allem, wenn noch weitere Hexenkinder verschwinden sollten, aber ich soll die Entführungen von Hexenkindern bearbeiten, die brandneuen und die alten Fälle. Die, die meine Tante Elizabeth bearbeitet hat. Wir unterstehen dem Dezernat für Sonderermittlungen«, sagte sie zu mir. Ich nickte. »Die aktuellen Ermittlungen «

»Es gibt keine aktuellen Ermittlungen«, knurrte der Unbekannte.

»Richtig. Na ja, jetzt schon. Ich habe darum gebeten, dass ihr mir zugeteilt werdet, aber die Mitarbeit ist nicht verpflichtend. Wenn ihr auf Ruhm und Beförderung aus seid, solltet ihr lieber gehen. Wenn ihr etwas Gutes bewirken wollt, dann bleibt.«

»Ich bin dabei«, sagte der Unbekannte. Er lehnte sich über den Tisch und streckte mir seine Hand hin. »Sloan Rosen.« Ich ergriff seine Hand und schüttelte sie. Er war ein Mensch, ein Afro-amerikaner, stark tätowiert, sogar auf den Fingern. Knasttattoos. Interessant. Sie erinnerten mich an die von LeShawn.

»Jane Yellowrock.« Ich sah erst Rick an, dann wieder ihn, und zog meine Schlüsse. »Sie haben auch undercover gearbeitet?«

»Bei den Crips. Bis ich letztes Jahr geoutet wurde, als ich vier ihrer Anführer verhaftet habe. Jetzt ist ein Kopfgeld auf mich ausgesetzt, irgendein geheimer Vampclan ist hinter mir her, und die Chefs wissen nicht, was sie mit mir anfangen sollen. Und ich nehme an, Sie sind da, um dafür zu sorgen, dass wir alle mit wehenden Fahnen untergehen.«

Ich setzte ein schiefes Grinsen auf, um zu zeigen, dass ich es ironisch meinte, nicht beleidigend. »Nach Meinung Ihrer Vorgesetzten bringt es uns alle in Gefahr, wenn Sie mit im Team sind. Die Vamps können Sie riechen, und die Crips stehen Schlange, um Sie abzuknallen und uns, wenn nötig, ohne mit der Wimper zu zucken, gleich mit.« Als er langsam und mit geschürzten Lippen nickte, sagte ich: »Aber falls Sie es beruhigt: Vorher macht Leo Pellissier Sie vermutlich alle kalt, um mich in die Finger zu bekommen, weil ich seinen Sohn getötet habe. Allein in meiner Nähe zu sein, kommt einem Todesurteil gleich. Ich persönlich würde auf Leo setzen.«

»Ihr Kinder könnt später klären, wer auf wen das höhere Kopfgeld ausgesetzt hat. Die Arbeit wartet. Rick, verteil mal das Essen; Janes Magen knurrt so laut, dass ich mich selbst kaum höre.«

Rick stand auf und stellte vor jeden von uns eine fettige Tüte. In meiner roch ich Austern, und mir begann das Wasser im Mund zusammenzulaufen. Die Kinder waren noch nicht gefunden, und ich hatte einen Knoten im Magen, trotzdem musste Beast gefüttert werden.

»Bitte lest euch alle aufmerksam die Infos über die entführten Hexenkinder durch«, sagte Jodi. »Sucht nach Zusammenhängen, Verbindungen, nach irgendetwas, was möglicherweise bisher übersehen wurde.« Sie verteilte Ordner an uns wie ein Falschspieler seine Karten. Wir legten sie neben unsere Tüten und öffneten beide. Keine Ahnung, wie Jodi es schaffte, ihre Tüte nicht anzurühren, aber sie redete weiter.

»Weil es nie Beweise dafür gegeben hat, dass die Hexenkinder getötet oder über die Staatsgrenzen gebracht wurden, und weil nie Lösegeld gefordert wurde, ist weder das FBI noch die Landespolizei hinzugezogen worden. Bisher war es in dieser Behörde das übliche Verfahren, diese Vermisstenfälle ad acta zu legen, in der Annahme, es handle sich um jugendliche Ausreißer oder Kindesmitnahme durch einen menschlichen Familienangehörigen, um die Kinder dem Einfluss der Hexen zu entziehen.« Sie sah mich an. »Dank eines offiziellen Schreibens des Büros des Blutmeisters der Stadt hat sich dieses Verfahren nun geändert.«

Büro Bruiser. Bruiser steckte dahinter.

Genugtuung lag in Jodis Blick. »Man hat mir gesagt, du hättest etwas damit zu tun«, sagte sie zu mir. Diese Fälle waren vielleicht nicht förderlich für ihre Karriere, aber sie wollte sie. Es war nicht allgemein bekannt, aber Jodis Mutter war eine Hexe und ihre verstorbene Tante vermutlich ebenfalls. Also hatte sie ein persönliches Interesse daran, herauszufinden, was mit den vermissten Kindern geschehen war, und wenn möglich die Täter ihrer gerechten Bestrafung zuzuführen. Ich neigte den Kopf, um zu sagen, dass es nicht der Rede wert war. War es ja auch nicht. Bruiser war derjenige, dem zu danken war.

»Laut Jane«, fuhr Jodi fort, »werden Hexenkinder in schwarzmagischen Ritualen von kriminellen Vampiren getötet, die so ihre jungen Rogues erwecken. Der Pellissier-Clan wünscht, dass die Täter, so heißt es, ›ans Tageslicht gebracht werden‹.«

Ich sah auf. In meinem Vertrag mit dem Vampirrat stand dieser Wortlaut, eine altertümliche Formulierung für »endgültig töten«.

»George hat uns eine Kopie deines Vertrages geschickt«, sagte sie an mich gewandt. »Die Zahlen sind selbstverständlich geschwärzt. Aber damit haben wir die offizielle Genehmigung, unsere Waffen mit Silberkugeln zu laden und jeden Vampir, den wir bei einem schwarzmagischen Akt antreffen, zu töten.«

»Cool«, sagte Sloan. Es hörte sich an wie »koaaal«.

»Rosen ist unser Mann fürs Elektronische. Er hat die Crips fast ausschließlich durch elektronische Überwachung aus dem Verkehr gezogen. Er hat ihre Bücher gehackt und dem recht schwunghaften Waffen- und Kokainhandel mit einem südamerikanischen Vampclan ein Ende gemacht. Mit den Beweisen, die er beschafft hat, werden wir auch in der Lage sein, drei Menschen dingfest zu machen. Wenn ihr etwas abhören wollt, ist er euer Mann.«

»Ich weiß nicht, ob euch das weiterhilft«, sagte ich, »aber ich glaube, dass ein Rousseau hinter den jungen Rogues und den Entführungen steckt.« Ich berichtete ihnen, was ich wusste und was ich vermutete. Ich wies auf die Akten. »Die roten Ordner waren sehr nützlich.«

Jodi warf mir ein leichtes, wissendes Lächeln zu. »Rick sagte, du batest darum, dass dir Kopien der Hokuspokus-Akten nach Hause geschickt werden. Ein Einsatzwagen von ASAP bringt sie dir.«

Sloan leerte seine Coladose und stellte sie mit einem Scheppern auf den Tisch. Zu Jodi sagte er: »Sind wir fertig? Dann gehe ich jetzt. Abendessen mit der Familie.«

»Nachdem du das alles gegessen hast?« Jodi rutschte zur Seite, damit er seine langen Beine unter dem Tisch hervorziehen konnte.

Sloan blieb neben ihr stehen und wischte sich den Mund mit einer Serviette ab. »Aktiver Stoffwechsel.« Ich konnte gerade noch den letzten Bissen Brot und Austern in den Mund stecken und eine Schale mit Fritten und Zwiebelringen retten, bevor er die leeren Tüten und Bestecke zusammenknüllte. Jodi wischte den Tisch mit einem Desinfektionstuch sauber, das sie aus ihrer Jackentasche geholt hatte.

»Ich halte dich auf dem Laufenden, Yellowrock«, sagte sie, »bis wir die Trueblood-Kinder gefunden haben.«

»Und Bliss«, sagte ich. »Sie wurde von demselben Täter entführt.«

»Richtig. Bliss. Du weißt, dass ihr richtiger Name Ailis Rogan ist, oder?« Als ich den Kopf schüttelte, fragte sie: »Weißt du, ob sie Familie hat? Weil Katies Rausschmeißer nichts darüber in ihrer Akte hat.«

»Nein. Bliss war nie sehr mitteilsam, was ihre Vergangenheit anging.«

»Eine Ausreißerin?«, fragte Sloan. »Ich überprüfe das mal, mal sehen, ob ich was finden kann.«

»Ich schicke dir unsere E-Mail-Adressen«, sagte Jodi zu mir. Sie wedelte mit dem Arm in den Raum mit der Nummer 666 hinein. »Das hier und das Zimmer nebenan ist unser offizieller Arbeitsplatz. Die Chefs fanden das bestimmt unheimlich witzig. Ich besorge uns Computer, ein oder zwei Festnetzanschlüsse, einen leeren Aktenschrank, eine Weißwandtafel und eine Karte. Bis halb eins heute Nacht bin ich noch hier und an meinem Schreibtisch, Papierkram erledigen. Bis später.«

Sie und Sloan Rosen verließen zusammen den Raum. Ohne zu Rick hinüberzusehen, stand ich auf und rutschte auf den noch warmen Stuhl ihm gegenüber.

Neugierig fragte ich: »Was weißt du über einen gewissen Derek Lee, einen ehemaligen Marine? Wohnt «

»Ich kenne Derek Lee. Man munkelt, dass er seine eigene kleine Armee aufgestellt hat und Jagd auf die Gangs macht. Wir haben ein paar ungeklärte Todesfälle, die vermutlich auf sein Konto gehen, wie das Blutbad im Revier der Crips, zum Beispiel, zu dem Jodi gestern gerufen wurde. Aber woher kennst du denn Derek Lee?« Das war eine Cop-Frage, tonlos, knapp und mit drohendem Unterton.

Ich zuckte die Achseln. Drohungen von Cops beeindrucken mich nicht sonderlich. »Ich habe gehört, dass er hinter Vamps und Gangs mit Verbindungen zu Vamps her ist. Ich glaube, dass Derek von Zeit zu Zeit für Leo arbeitet.« Und noch während ich das sagte, machte es klick in meinem Kopf. »Frage: Wenn der Meister der Stadt offiziell zugibt, dass einige seiner Spezies schwarzmagische Rituale praktizieren und dadurch eine Säuberung durch die Vampira Carta sanktioniert wäre, was würde dann mit den Clans geschehen?«

»Ich habe keinen Abschluss in mithranischem Recht, aber ich vermute, dass sie durch den Meister der Stadt aufgelöst oder neu organisiert würden. Warum?«

Heilige Scheiße, dachte ich. Als mein Adrenalinpegel in die Höhe schoss, rührte sich Beast und starrte über den Tisch. »Derek hat einmal die Crips erwähnt. Wenn er sich mit ihnen anlegt, tut er es vielleicht mit Leos inoffizieller Unterstützung.«

Derek war es gewesen, den ich angerufen hatte, bevor ich das Haus verlassen hatte. Nachher würde ich den Ex-Marine und sein Team treffen, um in ein paar leer stehenden Lagerhäusern nach einem Nest zu suchen, in dem eine Vampirin ihre Kinder in Ketten hielt, um die Öffentlichkeit vor ihnen zu schützen. Doch das wollte ich einem Polizisten nicht auf die Nase binden. Und Leo auch nicht. Es sei denn, er hatte mich von Anfang an genau da haben wollen. Hatte er mich etwa vor sich hergetrieben wie ein Beutetier? Beast schnaubte beleidigt.

»Ich weiß ja nicht, woran du gerade denkst, Lady, aber langsam kriege ich wieder Angst.«

Ich warf Rick einen Blick zu. Der mich genau auf die Art ansah, wie eine Frau angesehen werden möchte. Ich kann es nicht in Worte fassen, aber es ist ein Blick, den ich immer sofort erkenne. Er hielt mir die Hand hin, und ich legte meine hinein. Ich lächelte, und der harte Zug um meinen Mund verschwand.

Ich wusste, dass ich vermutlich etwas Gutes vermasselte, bevor ich ihm auch nur den Ansatz einer Chance gegeben hatte. Trotzdem sagte ich: »Hat Leo dir gesagt, du sollst mich verführen?«

Rick ließ meine Hand fallen. Ich ließ sie in der Mitte des Tisches liegen. Er fuhr sich mit einer Papierserviette über den Mund, als würde er Bier oder den Geschmack meines Mundes von unserem Kuss wegwischen. »Niemand sagt mir, mit wem ich schlafen soll.« Und dann ließ er mich allein in Raum 666.

Ich zog die Hand in meinen Schoß. »Das ist ja gut gelaufen.« Beast lachte hustend. Ich erhob mich. Es gab einiges zu tun, vor allem am Computer und in den Akten, die ich fotografiert und an mich selbst geschickt hatte, die Akten aus eben diesem Raum. Seltsam, dass ich immer wieder hier, in dem Hokuspokus-Raum, landete. Als ich das Polizeigebäude verließ, entdeckte ich, dass ich einen Anruf von Derek Lee verpasst hatte. Und was er mir zu berichten hatte, brachte mich zum Lächeln.

Eine halbe Stunde vor Sonnenuntergang hielt ich vor dem Breaux-Mart-Supermarkt und stellte die Beine rechts und links von Mischa auf das Pflaster. Derek hatte gesagt, er wollte mich hier treffen. Der schwarze stahlverkleidete Lieferwagen, der neben mir hielt und den Motor weiterlaufen ließ, hätte wohl jede andere Frau in Unruhe versetzt. Unter Polizisten lief dieses Modell auch als »Bärenfalle« unter anderem, aber nichts davon war besonders nett , weil es sich perfekt dazu eignete, eine Frau oder ein Mädchen unbemerkt hineinzuziehen. Ich griff mir über die Schulter und legte die Hand auf die Flinte, um sie zu ziehen, falls nötig. Ich hatte keine Angst, ich war nur vorsichtig. Sehr vorsichtig. Ein leises Klicken ertönte, und die getönte Scheibe fuhr mit elektronischer Geschmeidigkeit herunter. Ich stellte den Motor ab und klappte den Ständer aus. Derek schob sich die dunkle Sonnenbrille in die Stirn. »Jane mit dem komischen Nachnamen.«

»Derek von den Marines. Wie lange arbeiten Sie schon mit Leo Pellissier zusammen?« Ich und mein vorlautes Mundwerk.

»Sechs Monate. Seitdem die Crips beschlossen haben, meine Jungs zu ihren Jungs zu machen und jeden kaltzumachen, der ihr Angebot nicht annehmen wollte. Warum fragen Sie? Haben Sie ein Problem damit?«

Wieder die Crips. Konnte das Zufall sein? Unwahrscheinlich. Die Puzzleteilchen begannen, sich zusammenzufügen. Doch noch hatte ich keine Vorstellung, wie das Bild am Ende aussehen würde. »Nö. Ich mag die Crips nicht, genauso wenig wie jede andere Gang, die mit Schwarzmagiern und ein paar rebellischen Vamps, die einen Krieg anzetteln wollen, gemeinsame Sache macht.

»Und das tun sie?«

»Ich glaube, ja.«

»Ich bin nicht dumm, Indianerprinzessin. Ich mag die Langzähne nicht. Aber der Teufel Sie wissen schon«, sagte er mit einem bitteren Lächeln.

»Die Geschichte meines Lebens. Wie viele haben Sie mitgebracht?«

Die Seitentür glitt auf und gab den Blick auf sechs junge Männer frei drei von ihnen kannte ich schon von neulich Abend, als wir zusammen das Jagdrevier der Rogues ausgemessen hatten , die im Laderaum des Wagens saßen, alle außer einem in schwarzen Kampfanzügen und bis an die Zähne bewaffnet mit Armee-Geräten oder Armee-Restbeständen. Ich sah Flinten, ein Sturmgewehr, zahlreiche Messer und Vampkiller, aber nichts, das so aussah wie ein Körperpanzer. Als ich sie darauf hinwies, knöpfte einer der Männer sein schwarzes Hemd auf und enthüllte ein Kettenhemd und einen engen Kragen. Darunter trug er ein T-Shirt zum Schutz der Haut. »Versilberter Stahl schützt besser gegen einen Vamp als ein Panzer. Die Gewehre sind mit Silbermunition geladen.« Er deutete mit dem Kinn auf die Flinte auf meinem Rücken. »Was haben Sie mit?«

»So einiges. Die Flinte ist eine Benelli M4 Super 90 mit handgefertigten Silberflechets.«

»Das Modell M4, das die Armee benutzt? Diese M4?« Ich lächelte verhalten, während der erwachsene Mann in den Zwanzigern weiter mit seinen Kenntnissen prahlte, als würde er aus einem Militärhandbuch zitieren: »Die Stahlteile sind mattschwarz phosphatiert und korrosionsbeständig, die Aluminiumteile matt eloxiert. Durch diese Beschichtung ist die Waffe bei Nachteinsätzen nur schwer zu erkennen.«

Aus dem Hintergrund übernahm jetzt ein anderer. »Die Experten halten das Model M4 für idiotensicher. Sie erfordert nur wenig oder keine Wartung, ist in jedem Klima und unter allen Wetterbedingungen funktionstüchtig, und man kann sie in einen See oder Teich werfen und dort längere Zeit lassen, ohne dass sie rostet. Sie kann fünfundzwanzigtausend Schuss abfeuern, ohne dass ein wichtiges Bauteil ersetzt werden muss. Diese Benelli?«

»Diese Benelli«, bestätigte ich, und mein Lächeln wurde intensiver. »Auch wenn mir daran am besten gefällt, dass sie idiotensicher ist.« Die Männer schmunzelten über das Frauchen und ihre hübsche, sichere Waffe. »Sind Sie alle Ex-Soldaten?«

»Warum fragen Sie?«, fragte der erste Mann. Sein Ton ließ keinen Zweifel daran, dass mich ihre Namen auch weiterhin nichts angingen.

»Wir haben die offizielle Genehmigung, jeden Vamp, der einen jungen Rogue beherbergt, zu töten und natürlich auch den Schöpfer. Aber menschliche Kollateralschäden können wir uns nicht leisten. Bei einem Fehler werden die Behörden kein Auge zudrücken. Deswegen suchen wir die Besten der Besten, also Soldaten, keine Gangster. Sie müssen sich sicher sein, absolut sicher, auf was sie schießen.«

»Kein Problem.« Nummer eins warf mir eine lichtempfindliche Infrarotbrille zu. »Ein Mann trägt die da. Er geht allein rein als Späher. Markiert alles, was er als lebendig und warm identifiziert. Dann kommen wir nach und schalten alles aus, was tot und kalt ist.«

Ich korrigierte meine Schätzung seines Alters auf Mitte dreißig, während ich die Brille in meiner Hand drehte. Ich selbst hätte nicht mit Gewissheit gewusst, dass Vamps mit Infrarot nicht zu sehen waren. Man lernt doch nie aus. »Cool«, sagte ich und warf die Brille zurück.

»Unsere Ausrüstung haben wir mit Kopfgeldprämien bezahlt. Mit dem Geld, dass wir dank Ihrer Unterstützung für die Vampköpfe bekommen haben.«

Das ließ mich aufhorchen. Wenn sie tatsächlich mit oder für Leo arbeiteten, warum hatte dann nicht er ihre Ausrüstung bezahlt? Eine Frage, die ich ein anderes Mal klären wollte. »Master Sergeant?« Als er nickte, sagte ich: »Ich fahre vor und halte nach möglichen Beobachtern Ausschau. Haben Sie Funk?«

Derselbe Mann warf mir ein Headset zu. Ich setzte den Helm ab und das Headset auf. »Beeindruckend.« In Asheville hatte ich einmal ein normales Headset für Zivilisten benutzt, als ich für die Sicherheitsfirma, bei der ich meine Ausbildung machte, einen heiklen Fall bearbeitete, eine Serie von Diebstählen in einem diebessicheren Lagerhaus. Das hier war nicht viel anders. »Test.«

»Verstanden, Prinzessin«, sagte eine Stimme in den Ohrstöpseln.

»Ich habe Ihnen die Adressen der infrage kommenden Lagerhäuser gemailt«, sagte ich.

Er drehte einen kleinen Laptop zu mir um, auf dessen Monitor eine Karte zu sehen war.

»Der Warehouse District ist ein teures Pflaster, vielleicht müssen die Aufklärer zu Fuß los. Mit Ihren Waffen fallen Sie zu sehr auf. Hicklin übernimmt das.«

Endlich erfuhr ich einen Namen, wenn auch nur einen halben. Aber es war ein Anfang. Ich musterte Hicklin, einen ungefähr zwanzigjährigen Mann mit zurückgegeltem Haar und einem sorgfältig gestutzten Van-Dyke-Bart. »Hübscher Anzug.«

»Er kratzt«, sagte er.

»Das glaube ich gern.« Ich trat den Kickstarter. Beast schob sich in mein Bewusstsein und blickte durch meine Augen. Ich nickte dem Master Sergeant zu, wendete die Maschine und fuhr in den Warehouse District und in eine Schlacht mit einigen Mitgliedern des Rousseau-Clans. Das würde kein Spaziergang werden.

Wir erreichten den Warehouse District, den Stadtteil, wo die Yuppies besonders trendy waren. Kein Wunder, denn in vielen der ehemaligen Lagerhäuser befanden sich Geschäfte und Wohnungen für sozial Aufstrebende. Wo man hinsah, Museen und Galerien, manche schick, alle teuer. Heute waren in den meisten der alten Gebäude moderne Eigentumswohnungen und Apartments mit Schwimmbädern, Fitnessräumen und Sicherheitspersonal. Auch das Lagerhaus, nach dem ich suchte, würde nicht weniger gut bewacht sein. Ich löste mich von dem hinter mir fahrenden Van und nahm die Seitenstraßen mit ihren engen Kurven, um dort den intensiven, vielfältigen Gerüchen der Reichen und Toten nachzugehen.

Auch Beast witterte, suchte im Wind nach den Gerüchen von Vamps, und gerade als die Sonne hinter dem Horizont verschwand, roch sie etwas. Ein alter Vamp mit Sonnenbrille und einer dicken Schicht Sonnencreme, der offenbar einen frühen Spaziergang unternahm, drehte sich um und starrte mir nach, als ich an ihm vorbeibrauste. Aber er war allein. Und ich kannte ihn: Er war dabei gewesen, als Katie unter die Erde gebracht wurde. Ein Ältester aus dem Desmarais-Clan. Uninteressant für mich. Keine Beute. Ich suchte nach einem Gemisch aus Rousseau-Gerüchen von vielen Vamps an einem Ort.

Eine halbe Stunde später befand ich mich in einer Seitengasse kurz vor Iberville, in der Nähe der Decatur Street, als ich ihren Geruch aufschnappte, erst nur leicht, dann jedoch schnell stärker. Aus einem Ventilationsschacht in einem Backsteingebäude, das den halben Block einnahm, kam die Witterung mehrerer Rousseaus und Fäulnisgestank. Das vermutliche Nest lag auf der Hinterseite und war zu einer ehemaligen Straße hin offen, die jetzt zu einem großen Teil von einem Parkplatz eingenommen wurde. Auf der einen Seite befand sich ein umzäunter Bereich mit Mülltonnen. Im Erdgeschoss waren hinten und an den Seiten keine Fenster, dafür aber drei rotierende Überwachungskameras, eine einbruchssichere Tür, ähnlich einer Garagentür, die aussah, als sei sie aus hochbelastbarem Stahl, und daneben eine Stahleingangstür mit einem winzigen, mit einem Stahlgitter gesicherten Fenster, Sicherheitsglas, wie es in Gefängnissen verwendet wird. Die Tür war noch einmal gesondert mit einer eigenen Zahlencodeanlage, Kamera und Gegensprechanlage ausgestattet: Die Alarmanlage war auf dem neusten Stand. Und hatte alles im Blick. Ich sah in meine Notizen. Dies war eines der Gebäude, die früher Renée Damours gehört hatten, seit den frühen Fünfzigerjahren war der Besitzer ein gewisser Henry Poitier. »Mögliches Ziel«, sagte ich in das Mikro. Langsam fuhr ich um das Gebäude herum und gab den Jungs im Van die Adresse durch.

Drei Geschäfte teilten sich die Frontseite des Gebäudes, darunter auch eine Galerie. Ich parkte Mischa einen Block weiter und nahm den Helm ab. Für einen Einkaufsbummel trug ich zu viele Waffen, deshalb tat ich so, als hätte ich eine Panne. Ich kniete mich neben die Maschine und untersuchte das Rückrad.

Von links schlenderte Hicklin heran, eine Hand in der Hosentasche, die Krawatte gelockert, Stöpsel im Ohr. Seine Stimme kam über mein Headset, entspannt plaudernd, wie ein Mann, der die Zeit nach der Arbeit mit einem Schaufensterbummel totschlägt und vielleicht auf seine Freundin wartet, um mit ihr in einem der hippen, teuren Restaurants in der Nähe essen zu gehen. »Ich sag’s dir, Mann«, sagte er, »der Boss knallt sie, und seine Frau hat keinen blassen Schimmer. Wenn sie ihn erwischt, kommt der Laden mit in die Scheidungsvereinbarung. Und wir verlieren alle unsere Jobs « Währenddessen betrachtete er die Auslagen, sondierte die Lage, suchte nach Kameras und anderen Sicherheitsmaßnahmen. Nach Hintertüren. Er betrat den Eckladen, eine Galerie mit Statuen im Schaufenster, farbenfrohe Sachen mit geschwungenen Formen, die aussahen wie Keramiken. »Bis später, Mann.«

Drinnen flirtete Hicklin mit der Verkäuferin, der geborene Charmeur, und ich durfte mir alles über das Headset anhören, das aussah, als gehöre es zu seinem Handy. Ich schraubte derweil an Mischa herum. Nachdem Hicklin mit Amy ein Date für den späteren Abend ausgemacht hatte, kam er endlich zur Sache und fragte sie, wie lange sie schon in diesem Laden arbeitete. Es stellte sich heraus, dass sie die Tochter des Inhabers war. »Erzählen Sie mir etwas über dieses Gebäude. Ich habe eine Schwester, die hat gerade die Kochschule in Charlotte beendet und zieht jetzt hierher. Ich überlege, ob ich in ein Restaurant für sie investieren soll.«

Amy lehnte sich über den Tresen und tat dem reichen Kunden gern den Gefallen. »Es ist zweihundert Jahre alt oder so und hat einen Meter dicke Wände. Die Frau, der es gehört, ist eine alte Vampirin, irgendwie unheimlich, Sie wissen schon: so richtig alt. Sie hat überhaupt nichts Menschliches mehr. Sie nutzt die hintere Hälfte, alle drei Geschosse, das unterste als Lagerraum und die beiden oberen zum Wohnen. Wenn die überhaupt wohnen.«

»Vamps habe ich schon mal gesehen, aber keinen Uralten. Wie ist sie denn so?«

An der Hinterseite des Gebäudes hatte ich unten keine Fenster gesehen, aber die beiden oberen Geschosse hatten breite Bogenfenster. Bewusst hatte ich es nicht wahrgenommen, aber jetzt fiel mir auf, dass sie mit schweren Vorhängen zugehängt gewesen waren. Durch die garagenartige Tür, die per Fernsteuerung oder Tastatur geöffnet wurde, konnten Autos ins Untergeschoss fahren. Das perfekte Vampnest.

»Klein. Hübsch, auf eine leichenblasse Art. Aber nicht wie ein normaler Mensch.« Während sie nachdachte, drehte Amy eine Strähne ihres schulterlangen Haars um ihre Finger. »Eines Abends war sie mal hier und hat mich gefragt, ob ich daran interessiert sei, ein Blutmahl für einen Freund von ihr zu sein. Sie wollte mich bezahlen, als wäre sie meine Zuhälterin oder so was. Ich fand das nicht so prickelnd. Also habe ich abgelehnt. Und dann ist sie einfach stehen geblieben, ohne sich zu rühren oder zu atmen, zwei ganze Stunden lang. Ich hatte ja Kunden, und wir mussten immer um sie herumgehen, als wäre sie eine Statue oder so. Das war echt gruselig. Verstehen Sie, was ich meine? Und dann war sie plötzlich weg. Aus den Aufzeichnungen der Überwachungskameras ist sie einfach verschwunden. Als wäre sie teleportiert worden oder so, nur dass die Tür ganz schnell auf- und zuging.«

»Wie verlässt und betritt sie das Haus? Gibt es eine Tür, die von ihrem Teil des Lagerhauses in diesen hier führt?«

»Aber nein, wo denken Sie hin. Die ist total paranoid. Sie würde ausflippen, wenn es einen Zugang zu ihrer Seite gäbe. Daddy glaubt, dass sie einen Brandschutzinspektor bestochen hat, damit die beiden Teile getrennt bleiben, weil es doch eigentlich gegen die Brandschutzordnung verstößt.«

Während die beiden besprachen, wann man sich zum Dinner und zu möglicherweise mehr treffen sollte, sagte ich: »Derek, das sieht vielversprechend aus.« Mehr als vielversprechend. Der Witterung nach zu urteilen, waren wir hier richtig. Ich war mir sicher. Aufregung erfasste mich. »Wie wollen Sie vorgehen?«

»Verstanden. Sie warten hier, bis meine Jungs sagen, dass sie bereit sind. Wir wären jetzt gerne unter uns. Sie kennen doch die drei Affen?«

»Aber Sie tun doch nichts Schlechtes. Ich bin schockiert.«

»Wer nichts sieht und nichts hört, kann auch nichts sagen. Ist nicht persönlich gemeint.«

Ich lächelte. »Habe ich auch nicht so verstanden. Und was machen Sie mit den Überwachungskameras?«

»Gehen exakt dreißig Sekunden, bevor die Türen gesprengt werden, aus. Auf mein Zeichen kommen Sie auf die Gebäuderückseite. Wenn Sie die Explosion hören, beeilen Sie sich.«

»Okay.«

»Verstanden. Prinzessin. Es heißt, verstanden.«

Ich grinste nur und wartete. Die Nacht brach herein. Nachts zeigt sich New Orleans von seiner besten Seite: seidige Luft, die über die Haut streichelt, der Geruch des Flusses, Essensdüfte, gemächlich schlendernde Menschen, müde nach einem heißen Tag im Büro. Ich spürte, wie meine Anspannung größer wurde, sich mischte mit Aufregung und Angst, weil ich möglicherweise kurz davorstand, Molly ihre Kinder wiederbringen zu können. Ich taxierte die Passanten. »Derek? Was ist mit den Passanten?«

»Hier hinten läuft alles nach Plan. Auf mein Zeichen, und dreißig, neunundzwanzig «

Ich ließ Mischa an und folgte der trägen Feierabendmenge zu seinem Countdown. Trotzdem kam das gedämpfte Bumm, gerade als ich die Gebäuderückseite erreicht hatte, für mich überraschend. Alle Lichter im Block gingen aus. »Go, go, go, go!«, schrie Derek in meinem Headset. Adrenalin schoss durch meine Adern. Beast sprang auf, ich spürte, wie sich ihre Krallen in meinen Geist bohrten. Ich gab Gas und raste durch die Eingangstür, die nur noch in einer Angel hing, kurz hinter einem Mann mit einer Flinte, einem Schwert und einem schwarzen Rucksack. Derek? Vielleicht.

Ich sprang von der Maschine, zog die Benelli und öffnete den Kipplauf. Der Geruch nach Vamp war überwältigend. Rousseaus. Viele Rousseaus. Der Späher bewegte sich durch das dunkle Gebäude und gab währenddessen Meldung über das, was er mit seiner Infrarotbrille sah. Seinen Angaben nach zu schließen, befand er sich ungefähr sechs Meter vor Derek.

»Flur, gesichert. Links, gesichert. Rechts, gesichert. Treppe « Eine Tür knallte auf, und frische Luft wehte in den Flur. » – gesichert auf dieser Etage. Über uns nichts Verdächtiges festzustellen. Kein Weg runter.«

Links bedeutete den Raum zur Linken, rechts den zur Rechten. Es gab keine Treppe hinunter. So weit hatte ich verstanden. Über das Headset kam: »Garage gesichert. Zwei Fahrzeuge. Beide kalt. In der Garage eine Außentür, eine Innentür. Verschlossen. Stahlverkleidet. Angeln liegen innen. Kamera aus.«

Von draußen hörte ich: »Feuertreppe gesichert. Keine Türen oder Fenster, die sich öffnen lassen. Keine Bewegung.«

»Flur: Tür, kein Fenster«, sagte der Mann vor Derek. »Verschlossen, gepanzert, Angeln innen liegend.«

»Ich mache das«, sagte Derek. Er kniete sich vor mir hin. Ich sah nicht zu, bei dem, was er tat, sondern gab uns nach hinten Deckung. Nur für den Fall, dass wir in einem Raum eine Tür übersehen haben sollten. Oder einen getarnten Ausgang. Oder einen hungrigen Vamp, der unter einem Tisch schlief.

»Zurück.« Derek und der Späher kamen zurück, und wir suchten Deckung. Derek kam mit mir mit. »Fünf, vier « Ich hielt mir die Ohren zu. »Drei, zw « Die Explosion übertönte den Rest. Staub flog in den Flur, begleitet von dem Geruch von faulem Fleisch und altem Blut. Leichenhausgeruch. Derek fluchte.

Der Späher verschwand in der dunklen Öffnung. Mein Zeitgefühl sagte mir, dass wir jetzt seit ungefähr vierzig Sekunden im Haus waren. Da hätte ich mit menschlichen Dienern gerechnet. Bewaffnet. Doch bisher hatte sich keiner blicken lassen.

»Keine Lebenden«, sagte der Späher. »Alle tot. Licht.« Derek und ich eilten hinein, während der Späher seine Brille abzog und auf sein Knie fiel, die Waffe schussbereit im Anschlag. Das Licht flackerte einmal kurz und ging dann an. Bei der plötzlichen Helligkeit durchlief mich ein Kribbeln. Gefolgt von einem Schreck ganz anderer Art.

Der fensterlose Raum maß ungefähr fünfzehn mal zwölf Meter und hatte eine viereinhalb Meter hohe Decke. Die Wände waren in einem sanften Korallenton gestrichen, schwere Orientteppiche lagen übereinander und dicht an dicht, und Ledermöbel, Tische und Lampen standen in Sitzgruppen zusammen, als hätte sich jemand bemüht, dem Raum ein gemütliches Aussehen zu geben. Außer in einer Ecke am anderen Ende dort war der Boden aus Beton und neigte sich leicht zur Mitte, wo sich ein Abfluss befand. An den Wänden reihten sich Pritschen aus geschwärztem Stahl, und an diese Pritschen waren Vamps gekettet. Keine Menschen, keine Hexen. Schnell zählte ich nach. Neun Vamps, zehn Pritschen. Auf der zehnten lagen zerknüllte, fleckige Laken.

»Kameras«, sagte einer, als wir eintraten.

Bei dem plötzlichen Anblick von Menschen für die Vamps schlicht blutiges Fleisch fuhren sie die Fangzähne aus und begannen zu schreien und zu heulen und an den Ketten zu zerren. Stahl schnitt in ihre Handgelenke und Fußfesseln, und der Geruch von frischem Vampblut mischte sich mit dem des alten, verwesenden. Die leere Pritsche beunruhigte mich. Sehr.

Ich sah mich um, die Benelli im Abschlag. Hinter mir ließ der Späher die anderen durch die Garagentür herein. Sofort rannten sie zu den Kameras, und kurz darauf hörte ich das Zischgeräusch von Spraydosen und roch nur noch Chemie. »Wir haben neun Vamps in Ketten. Einer fehlt. Ausgänge sichern«, sagte Derek, als habe er meine Gedanken erraten. Die Garagentür schloss sich wieder.

»Ich übernehme die Tür«, sagte der Späher und rannte zurück zu der Tür, durch die wir gekommen waren.

Damit waren außer uns noch vier potenzielle Schützen im Raum. Ich durchquerte den Raum bis zu dem Bereich mit dem Betonboden. Er maß etwa drei mal drei Meter, über dem Abfluss hing ein Duschkopf, an der Wand befanden sich ein Hebel und eine Handdusche an einem langen Schlauch. In einem Korb erblickte ich Seife und saubere Kleidung, und auf einem schmalen Rolltisch flüssigen Badezusatz und Industriereiniger. Darüber hingen Metzgermesser, die Klingen sahen aus, als würden sie oft benutzt und gepflegt. Scharf. Der schmale Tisch war sauber, aber in die Risse war Blut gesickert. Ich beugte mich darüber und schnüffelte. Viel Blut. Über einen sehr langen Zeitraum. Von vielen Menschen und nicht wenigen Vamps. Unter dem Tisch lag ein Leichensack mit zugezogenem Reißverschluss. Und er war nicht leer.

Furcht kroch meinen Rücken hoch mit kalten, klebrigen Füßen. Ich schwang die Benelli nach hinten, damit sie nicht störte, und kniete mich hin. Mit zitternden Fingern öffnete ich den Reißverschluss. Das Gesicht eines Vamps kam zum Vorschein. Nicht Angelina. Nicht Little Evan. Sie waren nicht beide zusammen in diesen Leichensack gestopft worden. Der Kopf des Vamps war vom Körper abgetrennt worden. Das hieß, er war endgültig tot. Und er stank bereits. Sehr sogar. Er war schon so lange tot, dass seine Haut bereits glitschig und schleimig war. Ich schloss den Sack wieder. Witterte. Doch die Kinder roch ich nirgends. Und Bliss auch nicht. Hier waren sie nicht und waren es auch nie gewesen. Vielleicht in einem der oberen Stockwerke?

Ich stand auf und nahm die Flinte wieder nach vorn, bevor ich zwischen den Pritschen hindurchging. Über jedem Bett befand sich ein kleines Regal, auf dem eine Art Krankenblatt mit persönlichen Angaben und medizinischen Daten lag auch dem Geburtsdatum. Bei den beiden Teenagern blieb ich stehen, einem Jungen und Mädchen auf dicken Schaumstoffmatratzen. Adora und Donatien Damours, Bruder und Schwester. Die Familienähnlichkeit war frappierend, trotz der langen Zähne und der Vampaugen. Sie hatten die gleichen länglichen Gesichter, blonde Haare, ein kräftiges Kinn und eine hohe Stirn. Beide waren geduscht, hatten frisch gewaschene Haare und steckten in sauberen Krankenhemden und Plastik-Füßlingen. Sie sahen hungrig aus. Eingefallen. Ausgehungert. Ich blickte mich um. Auch die anderen waren ausgehungert. Das Mädchen versuchte, das Blut von ihrem Handgelenk zu lecken, aber ihre Fesseln ließen das nicht zu. Sie wimmerte elendig. Ich ging die anderen Krankenblätter durch.

Kranke Dinger. Töte sie, murmelte Beast, während ich las.

Ich war ganz ihrer Meinung, aber es gab Gründe, die dagegensprachen, wichtige Gründe, insbesondere Angelina und Little Evan. Außerdem war es nicht Teil meines Vertrages, die Lang-Angeketteten zu töten. Das hier war allein Sache des Rates. »Kein Tristan Damours«, sagte ich. »Vielleicht stimmen die Gerüchte also, und er ist gesund geworden. Oder er ist das in dem Leichensack.«

»Wir haben Gesellschaft«, sagte eine Stimme in meinem Headset. Dann hörte ich durch die Ohrhörer Schritte auf Stufen. Jemand kam die Treppe im Haus herunter. »Die Hitzesignatur ist die eines Menschen. Zwei Menschen. Moment, nein, einer. Es ist ein Vamp bei ihm.« Sie zeigten keinerlei Bemühungen, unbemerkt zu bleiben. Ich konnte sie sogar ohne das Headset hören.

»Noch einer auf der Feuertreppe«, sagte eine zweite Stimme. »Bewegt sich wie ein Mensch.«

»Dann lasst uns mal mit unseren Gastgebern plaudern«, sagte Derek.

Mit schnellen Schritten liefen die Männer zum Treppenhaus, positionierten sich aber draußen. Einer warf etwas. Mir blieb gerade noch Zeit, mir die Ohren zuzuhalten, da spürte ich die Vibrationen der Explosion durch meine Hände hindurch an meinem Trommelfell. Die Schockgranate machte die Menschen auf der Treppe kurzzeitig orientierungslos, was für eine Wirkung sie allerdings auf einen Vamp hatte, außer ihn zu verärgern, wusste ich nicht.

Derek und seine Jungs stürmten in das enge Treppenhaus und rissen drei Gestalten zu Boden. Die Menschen waren wie gelähmt von dem Lärm, aber der Vamp war wohlauf wenn wohlauf hieß, gereizt und aggressiv. Aber er leistete keinen Widerstand, was seltsam war. Dereks Männer legten ihnen Handschellen an, aus Stahl für die Menschen, aus Silber für den Vamp. Ich betrat das Treppenhaus.

Der Vamp hatte sich nicht gewehrt, weil er in einem Silbernetz aus winzigen ineinandergreifenden Kreuzen gefangen war. Seine Hände und sein Gesicht waren versengt und mit Brandblasen bedeckt. Derek hatte das Netz geworfen, sodass er den Vamp ohne jede Gegenwehr überwältigen konnte. Ich berührte das schimmernde Netz. »Na, das ist ja wirklich cool. So eines will ich auch haben.«

»Ich gebe Ihnen später die Adresse meines Ausrüsters«, sagte Derek. »Der stumme Alarm ist vor drei Minuten ausgegangen. Wir haben vermutlich noch drei Minuten, bevor die Kavallerie erscheint. Reden Sie schnell oder machen Sie kurzen Prozess mit ihm. Das Silbernetz ist nicht gerade angenehm, vielleicht lockert ihm das die Zunge.«

»Gut.« Ich stupste den Vamp mit der Stiefelspitze an. Er war kein schöner Anblick eine frische, noch nicht ganz verheilte Narbe zog sich von der linken Braue an der Nase entlang über beide Lippen bis zur rechten Seite seines Kinns. Er sah hart aus, ein Kämpfer, dem vielleicht das Vampirleben als Gegenleistung für irgendein großes Opfer geschenkt worden war. Und ich hatte ihn auf der Party im Old Nunnery gesehen. »Wo sind die Hexen?«

Er spuckte nach mir. Noch bevor die Spucke auf den Boden auftraf, hatte Derek ihm einen Tritt in die Seite verpasst. Er keuchte vor Schmerz. Ich kniete mich neben ihn, damit er meine Witterung roch. Und ich zog einen Vampkiller, mein Lieblingsmesser, mit einer vierzig Zentimeter langen Klinge und einem handgeschnitzten Griff aus Hirschhorn ein Geschenk von Mollys Mann. Seine Augen weiteten sich. Als sein Blick dem meinem begegnete, lag eine hypnotische Kraft darin. »Lass mich frei.« Die Worte hallten in mir wider, weckten den dringenden Wunsch in mir, es zu tun. Beast legte eine Tatze auf mein Bewusstsein, drückte zu und gab mir die Beherrschung, die mir selbst fehlte. Ich holte Luft und spürte, wie sich der klebrige Befehl von mir löste. Er versuchte es noch einmal. »Lass mich frei, dann gebe ich dir alles, was du dir wünschst.« Er hatte einen leichten italienischen Akzent, offenbar war Englisch nicht seine Muttersprache.

Derek schüttelte den Kopf. »Wir gehören zu Leo. Dadurch sind wir vor einer Bewusstseinskontrolle geschützt.«

»Ich sag dir was, Freundchen«, sagte ich. »Du sagst mir, wo die Damours sind, dann lasse ich dich vielleicht leben.«

Seine Augen wurden wieder menschlicher, das Rote wurde heller, die Pupillen kleiner. Vermutlich hatte er braune Augen, wenn er nicht im Angriffsmodus war. »Du unterwirfst dich mir nicht?«

»Sie ist eine Rogue-Jägerin«, sagte Derek. »Sie unterwirft sich niemandem.« Er starrte die gegenüberliegende Wand an, das Gewehr im Anschlag, darauf bedacht, dem Vamp nicht in die Augen zu sehen, einen eigenartigen Ausdruck auf dem Gesicht.

»Ich habe von ihr gehört. Ihr folgt ihr? Einer Frau? Sie ist ja nicht einmal ein Mensch.«

»Sie ist mehr Mensch als du. Und jetzt gib der netten Dame Antwort, sonst wird sie dich blenden. Ich weiß, dass du davon genesen kannst, aber es wird schmerzhaft sein. Und lange dauern.«

Mehr Mensch als du? Nette Dame? Und er hatte nicht reagiert, als der Vamp gesagt hatte, ich sei kein Mensch Toll. Kann man nicht mal ein Geheimnis oder zwei für sich behalten?

»Was bist du? Du riechst nicht nach Hexe, wie meine Herrin und meine Herren.«

Ich hatte richtig vermutet. Renée, ihr Bruder/Ehemann und der noch namenlose Bruder waren Hexen/Vamps und nicht mehr in Ketten, und niemand wusste, wie lange die Erwachsenen wieder bei Verstand waren. Sie waren Hexen und Hexer, die schwarze Magie praktizierten und trotz dieser Tatsache irgendwie die Säuberung überlebt hatten. Und sie opferten Hexenkinder in ihren Ritualen. Auf einmal passte alles zusammen.

Ich drehte mich auf dem Absatz um und ging zurück zu den Angeketteten. Mit offenem Mund schnüffelte ich die Körper der beiden dreihundert Jahre alten Teenager aus der Familie Damours ab. Knurrend wichen sie zurück und rissen an ihren Ketten, versuchten mich zu fassen zu bekommen, an das Blut in meinen Adern zu kommen. Und dann roch ich es, ganz schwach, unter dem Geruch von Vamp. Beide Kinder hatten das Hexen-Gen.