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Smith unterhielt sich mit Tiny über das Fest, hörte, dass sein Partner Grace daran teilnehmen lassen würde, rief ein Taxi und fuhr zu ihrer Wohnung. Unterwegs überlegte er, dass Tiny vermutlich Recht hatte. Das Risiko war nur gering, besonders, weil Marks’ Männer auch dort sein würden. Außerdem hatte Tiny gelobt, auf sie aufzupassen, als wäre sie der Präsident der Vereinigten Staaten, der Papst und Nelson Mandela in einer Person.
Als Smith die Eingangstür öffnete, überkam ihn ein starkes Bedürfnis, sie nicht zu verlassen. Eine Welle von Selbstzweifeln war die Folge, bis er laut fluchte. Er eilte umher, um seine Sachen zusammenzusuchen, und gab sich dabei vergeblich Mühe, den zarten Hauch ihres Parfüms zu ignorieren, der in der Luft hing. Ehe er endgültig ging, betrachtete er noch einmal das Foto von ihr und ihrem Vater.
Dann legte er seinen Schlüssel auf den Dielentisch, machte die Alarmanlage scharf und ging hinaus.
Unten auf der Straße rief er ein Taxi und fuhr zu dem Hotel an der Wall Street ganz in der Nähe der Hall-Stiftung. In dem Augenblick, als er das Zimmer betrat, rief er Senator Pryne an. Er musste noch Einzelheiten besprechen und ein wenig im Internet recherchieren. Hoffentlich würde ihn das ablenken.
Aber er ließ es nur einmal klingeln, ehe er aufhängte.
Dann setzte er sich aufs Bett und vergrub den Kopf in den Händen.
Alles war irgendwie falsch. Das Hotelzimmer, der Gedanke, in einen anderen Teil der Welt zu fliegen. Sein verdammter Seesack und der Metallkoffer. Alles.
Als er den Kopf wieder hob, starrte er sein Abbild im Spiegel gegenüber an. Er sah einen Mann, der seine Frau vermisste. Einen Mann, der sich vermutlich auf ewig ohne sie verloren fühlen würde. Einen Mann, der dabei war, einen Fehler zu begehen. Sie hatte Recht. Er liebte sie.
Was zum Teufel tat er dann hier?
Aber er musste sie gehen lassen, riet er sich. Damit sie in Sicherheit war.
Blitzartig hörte er wieder, wie Grace ihn einen Feigling nannte.
Wollte er sich bloß selbst in Sicherheit bringen?
 
Grace hörte als Nächstes, wie Kat sie über die Gegensprechanlage fragte: »Ich gehe jetzt nach unten. Sind Sie fertig?«
Grace blickte auf die Uhr. Stunden waren vergangen. Sie würde zu ihrem eigenen Fest zu spät kommen.
»Ich muss mich nur noch umziehen. Ich treffe Sie unten.« Dann zog sie rasch das mitgebrachte Ballkleid an. Ihr war völlig egal, wie sie aussah. Im Bad legte sie ein Brillantcollier an, die Ohringe und korrigierte ihr Make-up.
Dann besprühte sie sich mit einem Hauch Cristalle, trat aus dem Büro und stand überrascht vor Tiny, der immer noch im Vorzimmer saß. Sie hatte den Mann völlig vergessen, und bei der Erinnerung an Smith stiegen ihr erneut Tränen in die Augen.
Tiny erhob sich, als würde er salutieren, und nickte steif. Er trug jetzt einen Smoking.
»Sie sollten gehen«, sagte sie zu ihm.
Er zuckte die Achseln. »Ich bin hier am richtigen Platz.«
»Dann überlegen Sie sich etwas anderes. Es gibt in New York viel zu besichtigen.«
»Tut mir leid, Gräfin. Ich habe meine Befehle.«
Grace richtete sich auf und bedachte ihn mit einem vernichtenden Blick. »Aber nicht von mir. Hier bestimme ich. Sie sind hier nicht willkommen.«
»Ich habe jede Menge Erfahrung damit, nicht willkommen zu sein.«
»Das kann ich mir vorstellen. Aber Sie sollten trotzdem gehen.«
Ehe er den Mund zu einer neuen Antwort öffnen konnte, trat Grace zu Kats Schreibtisch und wählte die Nummer des Sicherheitsdienstes. Sie wusste, dass sie extrem reagierte, aber da der Tatverdächtige in Untersuchungshaft saß, sah sie keinen Grund, sich weiter mit einem Kollegen von Smith zu quälen.
»In meinem Büro befindet sich ein Eindringling«, sagte sie tonlos. »Bitte kommen Sie sofort.«
Als sie auflegte, lächelte Tiny sie nachsichtig an. »Halten Sie das wirklich für nötig?«
»Nicht, wenn Sie jetzt gehen.«
Einen Moment später eilte der Chef des Wachdienstes mit drei Männern den Gang hinab. Das Folgende geschah wie in Zeitlupe. Die Sicherheitsmänner der Stiftung umschwirrten Tiny, wurden aber mit harten Schlägen zu Boden oder gegen die Wand geworfen. Smiths Partner wirbelte wie ein Derwisch mit Fäusten und Beinen herum, und es war offensichtlich, dass er diesen Kampf gegen eine Übermacht gewinnen würde.
Grace sah den Kämpfenden zu und fragte sich bald, wie viele ihrer Angestellten ärztlich behandelt werden müssten. Da erinnerte sie sich an Eddies Geschenk, griff in ihr Abendtäschchen und zog das Pfefferspray heraus. In dem Moment hielten zwei ihrer Männer Tiny gerade im Schultergriff. Eigentlich wollte Grace das Spray nicht benutzen, aber ihr Wachdienst hatte schon genug gelitten. Tiny sah nicht aus, als würde er nun nachgeben, und sie sorgte sich, dass jemand ernsthaft verletzt wurde.
»Tut mir leid«, brüllte sie laut. Alle Beteiligten hielten einen kurzen Moment inne, und sie nutzte die Gelegenheit, um Tiny direkt ins Gesicht zu sprühen.
Der Mann fluchte, wehrte sich aber weiterhin heftig zwinkernd. Immer wieder schlug er um sich, doch die Wachmänner hatten nun die Oberhand und konnten ihn endlich überwältigen.
»Wir bringen ihn nach unten«, sagte der Chef schwer atmend. Er saß rittlings auf Tinys Rücken, während ein anderer diesem Handschellen anlegte. »Dann wird er verhaftet.«
»Ist nicht nötig. Bringt ihn bloß aus dem Gebäude.« Grace hielt inne. »Ist er in Ordnung?«
»Ich bin okay«, knurrte Tiny von unten her. »Solange Sie ihre Hunde zurückpfeifen und ich Sie beschützen kann.«
Der Mann auf seinem Rücken sah Grace verwirrt an.
»Sorgt nur dafür, dass er in Ordnung ist«, murmelte Grace, die sich wie benommen fühlte. »Ich habe ihm einen ordentlichen Schuss verpasst.«
»Gräfin«, protestierte Tiny und hob den Kopf vom Teppich. Seine Augen tränten. Dann begann er zu würgen. »Tun Sie das nicht. Sie wissen doch nicht, ob man den richtigen Mann erwischt hat und ob man den Verdächtigen in Haft wird behalten können.«
Grace sah seine roten, geschwollenen Augen, holte tief Luft und sagte zu dem Chef des Sicherheitsdienstes: »Carmine, ich möchte heute Abend einen unserer Leute ständig in der Nähe haben.«
Der Mann zog die buschigen Brauen hoch. »Klar. Aber vor dem hier brauchen Sie wirklich keine Angst zu haben. Der entkommt uns nicht. Nicht mit dem, was Sie ihm verpasst haben. Marks’ Männer sind ja auch da.Wir haben hier genug blaue Uniformen, um eine Patchworkdecke daraus zu machen.«
Grace stöhnte. »Sag ihnen, sie müssen wieder gehen, es sei denn, sie tragen Zivil. Ich möchte nicht, dass die Leute annehmen müssen, wir hätten eine Bombendrohung erhalten. Aber ich möchte jemanden ständig in der Nähe haben.«
Der Mann nickte und teilte ihr einen seiner Männer zu.
Als Grace zu dem Fest nach unten ging, war sie seltsam erleichtert, weil sie sich so benommen fühlte. Unter gewöhnlicheren Umständen wäre sie unbeschreiblich nervös über den Verlauf des Abends gewesen. Die Leute, die zu teuren Galaveranstaltungen wie diesem Ball kamen, folgten ebenso einem Herdentrieb wie alle anderen. Eine Statusveränderung registrierten sie genauso rasch wie einen Trend an der Börse. Das musste man unter allen Umständen vermeiden. Heute Abend würde geprüft, ob die reichen Spender noch an sie und die Stiftung glaubten.
Grace betrat die Eingangshalle und sah, dass alles bereit war. Die ersten Gäste trafen bereits ein. Die Tische waren in einem immer weiter werdenden Kreis um den Marmoreingang des Museums herum aufgebaut. Auf jedem stand ein Riesenbukett aus weißen und roten Rosen und dramatisch blauen Fingerhüten. Uniformierte Kellner reichten bereits Tabletts mit Häppchen und Getränken herum. Das Streichquartett spielte.
Ehe Grace die ersten Gäste begrüßen konnte, trat Kat zu ihr. Zusammen gingen sie die letzten Einzelheiten durch.
Eine halbe Stunde später drängten sich Gäste im weiträumigen Atrium der Hall-Stiftung. Alle großen und berühmten Leute waren gekommen, um die Stiftung zu unterstützen - und nicht nur die Stiftung, sondern auch Grace. Sie staunte, wie viele Gäste zu ihr kamen, um ihr alles Gute zu wünschen und sie ihrer Unterstützung auf der Position ihres Vaters zu versichern. Sie hatten viel Lobenswertes über das Walker-Gemälde zu sagen, über das Essen, den Veranstaltungsort.
Selbst die alten Herren des Aufsichtsrats schienen darauf bedacht, bei ihr in gutem Licht zu stehen, als sie sahen, wie erfolgreich der Abend begann. Einer nach dem anderen kam zu ihr und sicherte ihr Unterstützung zu. Grace nickte nur und lächelte. Nicht einer von ihnen beklagte sich über Lamonts Kündigung.
Eigentlich hätte sie eine Art Triumphgefühl verspüren müssen, aber nichts durchbrach ihre Benommenheit. So musste sie auch angesichts des gewünschten Erfolgs, für den sie so hart gearbeitet hatte, die alte, eingefleischte Rolle spielen, um den Abend zu überstehen. Sie war genau das, was all diese Leute sehen wollten: Grace Woodward Hall. Die schöne Tochter von Cornelius und Carolina Woodward Hall. Der Trendsetter und Gesellschaftsstar, Präsidentin der Hall-Stiftung.
Ihre Blicke überflogen die Menge, die schönen Kleider, die kostbaren Juwelen, das strahlende Lächeln auf den wohl bekannten Gesichtern, und sie merkte, dass sie in einem Saal voller Menschen stand, die alle genauso aussahen wie sie - aber sie fühlte sich völlig fehl am Platze.
Angesichts dessen, was alles in ihrem Leben in letzter Zeit passiert war, schien diese Reaktion naheliegend. Doch diese Entfremdung war dauerhafter, nicht nur ein vorübergehender Schmerz, der große Veränderungen im Leben unweigerlich begleitet. Sie hatte begonnen, die Welt mit anderen Augen zu betrachten, und alles, was einst vertraut schien, wirkte nun fremd.
Wohin dieser neue Weg sie führen würde, wusste sie nicht.
Grace betrat zum vorgesehenen Zeitpunkt das Podium und stellte den Videofilm über das Leben ihres Vaters vor. Beim Zusehen erinnerte sie sich an die Orte, die Szenen, die Umstände jedes einzelnen Bildes. Sie war mit allem vertraut, was sie sah, aber sie sah nun alles anders, als hätte man die Farben bewusst aufgemischt. Auf dem letzten Foto von ihrem Vater, auf dem er mit der Pfeife im Mund an seinem Schreibtisch saß, sah sie ihn mit Augen, die durch widerstreitende Gefühle sehr müde waren.
Sie wusste, dass jede Lösung der Konflikte, die seine Lügen verursacht hatten, ohne eine Entschuldigung oder Erklärung seinerseits erfolgen musste. Grace fragte sich, ob die Erinnerung an die Liebe, die er ihr erwiesen hatte, ausreichen würde, irgendwie damit zurechtzukommen. Sie war sich nicht sicher.
Als die Bilder von ihrem Vater erloschen, musste sie ein paar Mal schlucken, ehe sie wieder reden konnte.
Dann gingen die Lichter wieder an. Grace sah vor sich in der dicht gedrängten Menschenmenge ihre Mutter. Carolina stand kerzengerade da, elegant wie ein Schwan mit ihrem langen Hals, in einem schwarzen Kleid, das perfekt um die schmalen Schultern saß. Sie wirkte majestätisch und duldsam, aber der Glanz in ihren Augen war nicht annähernd als warm zu bezeichnen.
Als das Walker-Porträt enthüllt wurde, senkte sich Schweigen über die Menge. Jack und Blair traten vor und begannen die Gebote. Daraufhin entwickelte sich ein Wettstreit zwichen Jack und einem Medienmogul, dessen Vorliebe für amerikanische Kunst bekannt war. Die beiden stachelten sich gutmütig zu immer höheren Geboten an, bis der Preis drei Millionen überstieg und Jack das Gemälde endlich ersteigerte, indem er knapp 5 Millionen bot.
Die Menge brach in lauten Applaus aus. Blitzlichter flackerten auf wie ein Feuerwerk. Jack trat auf Grace zu und umarmte sie. Seine strengen Züge zeigten deutlich die Freude über seinen Erfolg.
Etwas später begannen die Gäste sich zu zerstreuen. Grace’ Mutter war eine der Ersten, die sich verabschiedeten.
»Ich finde, es ist gut gelaufen«, sagte Grace und küsste Carolina zum Abschied. »Aber gegen Vaters Partys kommt man natürlich nur schwer an.«
Ihre Mutter streckte eine Hand aus und drückte Grace’ Finger mit überraschender Kraft.
»Es war perfekt, Liebling. Du hast das alles perfekt hinbekommen.« Ihre Blicke trafen sich. »Dein Vater wäre heute Abend sehr, sehr stolz auf dich.«
»Danke, Mutter.« Aber Grace spürte eher Erleichterung als Freude über dieses Lob.
»Ich bin auch sehr stolz auf dich. Und das habe ich Bainbridge gleich gesagt.« Carolina beugte sich vor und küsste Grace auf die Wangen. »Du bist eine sehr gute Präsidentin.«
Dann winkte ihre Mutter noch einmal zum Abschied und verschwand in der Menge.
Grace schüttelte den Kopf. Es war schwer zu begreifen, dass ihre Mutter endlich mal etwas Positives von sich gegeben hatte. Grace hatte schon vor langer Zeit die Hoffnung aufgegeben, jemals etwas Ermutigendes von dieser Frau zu hören. Und es war in einem Moment geschehen, als Grace es tatsächlich brauchte. Sie hielt es nicht gerade für den Beginn einer Veränderung, aber sie schätzte es.
Und dann war alles vorbei.
Grace aber blieb noch und unterhielt sich mit dem Partyservice. Anschließend ging sie hinauf in ihr Büro, um die Tasche mit ihrer Garderobe und ihre Handtasche zu holen. Im Lift überkam sie eine große Einsamkeit und Stille.
Die Ablenkung durch das Fest war für sie sehr gut gewesen, aber wie ein Verband auf einer frischen Wunde hatte es nur vorübergehende Wirkung. Sie lauschte dem elektronischen Piepen in jedem Stockwerk und fragte sich, wo Smith jetzt wohl war. Sie sah ihn in einem Flugzeug irgendwo über dem Meer, Gott weiß in welcher Richtung.
Ein Teil in ihr weigerte sich zu glauben, dass es tatsächlich vorbei war. Ihr Verstand riet ihr, sich mit der neuen Realität abzufinden.
Ihr Büro lag im Dunkeln, aber sie tastete sich ohne Schwierigkeiten zum Schreibtisch vor, glitt um den Konferenztisch und die verschiedenen Stühle herum und schaltete das Licht am Telefon an.
Sie nahm gerade ihre Handtasche aus dem Schreibtischfach, als eine Männerstimme die Stille durchschnitt.
»Na, das war aber ein großer Erfolg!«
Grace blickte auf. Frederique stand in der offenen Tür. Er trat in den Raum und schloss sie hinter sich.
 
Smith war in übelster Stimmung, als er aus dem Fitnessraum des Hotels zurückkam. Er hatte sich absichtlich gequält, aber selbst nach mehreren Meilen auf der Tretmühle und nachdem er so viele Gewichte gestemmt hatte, dass seine Schultern schmerzten, hatte er nicht gefunden, was er brauchte. Er hatte gehofft, sich anschließend so benommen und erschöpft zu fühlen, wie er es aus seinen Militärtagen kannte. Stattdessen war er hellwach und empfand nichts als Muskelschmerzen.
Er wusste, dass er Prynes Büro anrufen musste. Man wartete darauf.
Aber zuerst würde er duschen.
Smith trocknete sich gerade ab, als sein Handy summte. Sein Instinkt regte sich. Als Erstes dachte er an Grace.
»Yeah?«
»Hier ist Joey. Der Portier der Gräfin.«
Smith umklammerte das Telefon fester. »Was ist?«
»Sie … äh … sagten, dass ich Bescheid geben soll, falls jemand in ihre Wohnung will. Also, dieser Typ kam vor einer Weile …«
»Ja?«
»Er ist ein Koch. Ich habe ihn schon mal gesehen. Frederique oder so. Sagte, die Gräfin brauche frische Kleidung nach dem Fest, und er solle sie einpacken und zu ihr in die Stiftung bringen. Ich meine, ich habe ihn schon mal mit ihr gesehen. Letztes Jahr erst. Aber Sie haben gesagt, ich solle Bescheid geben.«
»Haben Sie ihn hineingelassen?«, fragte Smith knapp.
»Nein. Er wurde ein bisschen sauer. Hoffentlich bekomme ich keinen Ärger.«
Gott sei Dank.
»Das war genau richtig, Joey. Ist sie schon zu Hause?« Smith rannte zum Telefon neben seinem Bett.
»Nein, sie ist noch nicht zurück.«
»Was hatte er an?«
»Seine Kochuniform. Er sagte, er habe bei dem Festessen gekocht. Aber er war sehr sauber. Das fand ich komisch.«
Smith wählte schon die Nummer von Tinys Handy. »Richten Sie ihr aus, mich sofort anzurufen. Danke, Joey.«
Als eine Frau Tinys Handy beantwortete, wusste Smith, dass etwas nicht stimmte. Einen Moment später hatte er endlich Tiny am Apparat, der sehr heiser klang und schwer atmete.
»Was ist passiert?«, brüllte Smith.
»Ach, Scheiße, Boss.«
»Rede!« Smith klemmte sich das Telefon ans Ohr, während er sich die Jeans anzog und sein Halfter anschallte.»Wo ist Grace?«
»Weiß ich nicht. Ich war den ganzen Abend in der Notaufnahme. Gerade haben sie mir zum ersten Mal erlaubt, zu telefonieren. Sie ist aber nicht alleine. Sie hat einen der eigenen Typen bei sich. Ich weiß auch, dass Marks und seine Jungs da waren. Sie ist in Ordnung.«
»Zum Teufel, das ist sie nicht! Sie haben den falschen Mann erwischt.« Smith klappte das Handy zu und wählte wieder eine Nummer. Dabei verließ er das Zimmer. Er raste schon die Teppe hinab, als Tiny wieder antwortete. »Wie bist du im Krankenhaus gelandet?«
»Sie hat mich angesprüht.«
Smith betrachtete das Telefon, als hätte er sich verhört. »Wie bitte?«
»Ich habe eine Allergie gegen das Scheißzeug.«
»Verdammt. Pass bloß auf dich auf!«
»Tut mir leid, Boss.«
Smith war schon fast unten. Er legte auf und wählte die Nummer des Detective.
Als Marks antwortete, fragte Smith sofort: »Wie viele Männer sind in der Stiftung?«
»Keiner mehr.Wir haben sie auf ihren Wunsch hin abgezogen. Sie sagte, sie benutzt heute Abend den eigenen Sicherheitsdienst, und angesichts …«
»Bring sofort einen Trupp hin. Egal, wen ihr in Haft habt, das ist nicht der Typ, der die Frauen ermordet hat.«
Smith stürzte durch eine Seitentür aus dem Hotel und rannte los. Er war nur drei Blocks von der Hall-Stiftung entfernt, aber es war wie ein Marathon.
»Wovon redest du?«
»Es ist der verdammte Koch Frederique.«
»Der Küchenchef?«
»Er hat heute Abend versucht, Zugang zu Grace’ Wohnung zu erlangen. Der Portier hat mich benachrichtigt. Ich hab keine Zeit für Einzelheiten.Vertrau mir.«
»Weißt du, wie er aussieht?«
Smith beschrieb Frederique. »Er trägt seine Kochuniform.«
Marks bellte bereits Befehle. Smith legte auf.
Als er in die Eingangshalle der Hall-Stiftung stürzte, lächelte ihm ein Sicherheitsbeamter, den er kannte, vom Empfang zu.»He…«
»Wo ist sie?«
»Die Gräfin? Ich glaube, sie ist schon fort. Nach Hause.«
 
Grace ging rückwärts, bis sie den Sessel hinter sich spürte. »Was machen Sie denn hier?«
Frederique lächelte bloß.
»Ich konnte doch nicht das wichtigste Ereignis dieser Saison verpassen. Die Kanapees waren sehr lecker, aber meine wären ein wenig ausgefallener gewesen. Sie hätten die Gäste viel mehr beeindrucken können. Aber Sie haben mich ja nicht beauftragt.«
Er trat auf sie zu. Sein vierschrötiger Körper zuckte vor Wut.
»Sie haben mich ruiniert. Sie alle«, zischte er leise. »Sie alle haben mich ruiniert. Sie haben mich aus dem Spiel gedrängt. Sie denken, Sie könnten einfach mit einem Leben spielen und es vernichten, nur weil Sie so reich und mächtig sind. Für Sie sind andere Menschen bloß ein Spielzeug. Spielzeug.«
Grace schätzte den Abstand zur Tür. Dann sah sie das Messer in seiner Hand. Das Licht brach sich auf der Klinge. Ihr wurde übel.
Frederiques Stimme wurde immer schriller. »Als ich noch jung und frisch war, da habt ihr mich für eure Partys gebraucht, damit es ein Erfolg wurde. Ich war gefragt. Und dann tauchte ein anderer auf, und plötzlich kannte mich niemand mehr. Es war, als hätte ich nicht mehr existiert.«
Grace überflog mit einem Blick den Schreibtisch nach einem Gegenstand, mit dem sie sich verteidigen konnte, falls er noch näher kam. Wenn sie doch bloß die schwere Konfektschale ihres Vaters noch gehabt hätte, in der er immer die Pfefferminzbonbons aufbewahrte. Das wäre eine gute Waffe gewesen.
 
Smith war schon wieder bei der Drehtür zur Straße, als ein anderer Wachmann rief:»He! Suchen Sie die Gräfin? Sie ist gerade nach oben gegangen, um ihre Handtasche zu holen. Ich habe einen Wagen für uns beide bestellt …«
Smith wirbelte fluchend herum und rannte zm Lift.»Die Polizei ist unterwegs. Schick sie sofort zu ihrem Büro.«
Es dauerte eine Ewigkeit bis zum obersten Stockwerk. Smith würde alles geben, nur damit er sie in Sicherheit wusste. Unversehrt. Am Leben.
Selbst Blackwatch würde er dafür hergeben, sein Leben, alles.
Sie hatte Recht gehabt. Er schützte sich selbst, weil die Liebe zu ihr alles bedrohte, was sein Leben ausmachte. Aber die Alternative war schlimmer. Er würde lieber mit ihr zusammen als ohne sie sein wollen, selbst wenn der Preis dafür die falsche Sicherheit war, dass er sich ausschließlich auf sich selbst verließ.
Er wollte nur noch sie. Er brauchte nur noch sie.
Sie hatte gesagt, sie würde nicht auf ihn warten. Nun, er würde sie nicht danach fragen. Er würde ihr einfach nicht mehr von der Seite weichen.
O Gott, wenn sie nur am Leben war!
Er sprang aus dem Lift und sah den Lichtstreifen unter der Tür zu ihrem Büro. Hoffnung flammte schmerzhaft auf, und er rannte lautlos den Gang herab. Sie war vermutlich hochgekommen, um sich umzuziehen, vermutlich streifte sie gerade die Schuhe mit den hohen Absätzen ab und ging erleichtert seufzend barfuß über den dicken Teppich. Vermutlich war alles in Ordnung.
Bitte, bitte …
Er wollte gerade die Doppeltür aufstoßen, als er eine Männerstimme hörte. Die Drohung in den Worten war unverkennbar, selbst durch die Tür hindurch. Smith war nun nicht mehr ängstlich, sondern eiskalt und tödlich.
Lautlos schob er die Tür einen Spalt auf. Er sah den Mann, das Messer und die nackte Angst in Grace’ Zügen.
Mehr brauchte Smith nicht zu wissen.
Mit einem mächtigen Satz stürzte er durch die Tür. In ihm tobte nur noch Blutdurst, als er Frederique angriff und ihn krachend zu Boden stürzte. Smith war schwerer gebaut und nutzte die Überraschung des Mannes aus, aber mit seiner Wut als Antrieb brauchte er diesen Vorteil nicht einmal.
Frederique wehrte sich, aber er war ein Amateur. Smith konnte ihm das Messer entreißen und rasch Kontrolle erlangen. Nach wenigen Augenblicken lag der Koch benommen auf dem Rücken.
Aber Smith war nicht zu bremsen. Noch ehe ihm bewusst wurde, was er tat, hatte er dem Mann eine Hand um die Kehle gesetzt und umklammerte mit der anderen das Messer. Er war bereit, ihn auf der Stelle umzubringen, weil er Grace dies angetan hatte.
Smith hob den Arm mit dem Messer hoch in die Luft und setzte die Klinge so an, dass er Frederique mitten in die Brust treffen würde. Er hörte selbst sein animalisches Knurren.
»John! Nein!«
Smith erstarrte beim Laut ihrer Stimme. Er schüttelte den Kopf und sah sie an. Ihr Gesicht war unnatürlich fahl. Sie streckte ihm beide Hände entgegen.
»Leg das Messer hin«, sagte sie leise.
Da erst bemerkte er, wie sein Herz raste, seinen stoßweisen Atem, die Waffe in seiner Hand. Er blickte hinab, direkt in Frederiques Augen. Der Mann hatte die Lider vor Entsetzen aufgerissen. Seine Pupillen waren vor Angst geweitet.
»Bist du verletzt?«, fragte er sie heiser.
»Nein. Alles in Ordnung.«
Dann wandte er sich wieder dem Mörder zu. Der Mann begann zu würgen, und Smith sah nur Grace vor seinem inneren Auge, deren Leben langsam erlosch. Dabei griff er wieder fester zu und hob das Messer erneut zum Stoß. Er wollte Frederique zeigen, wie er seine Opfer behandelt hatte.
»John, leg das Messer weg! Bitte bring ihn nicht um!«
Ihre drängende Stimme brachte ihn mit einem Ruck wieder in die Wirklichkeit zurück. Er wusste genau, dass ihn nur eine Haaresbreite von einem Mord trennte. Schließlich warf er das Messer quer durch den Raum, drehte Frederique um und zerrte dem Mann beide Arme grob auf den Rücken.
Smith sah Grace an. »Bist du sicher, dass alles in Ordnung ist?«
Sie lächelte ihn gequält an. »Ja.«
Als Frederique zu protestieren begann, bleckte Smith die Zähne und bückte sich dicht zum Ohr des Mannes.
»Halt besser deine verdammte Schnauze, ehe ich dir die Zunge rausschneide.«
Danach gab Frederique kaum noch einen Laut von sich.
»Grace, ruf deinen Sicherheitsdienst. Marks’ Männer werden in Kürze hier sein.Wir brauchen Handschellen.«
Sie nickte und ging zum Telefon. Er wollte sie umarmen, doch er konnte den Mann unter sich nicht loslassen.
Wenige Minuten später kamen zwei uniformierte Sicherheitsbeamte. Sie legten Frederique Handschellen an, damit Smith sich endlich von ihm lösen konnte. Sofort trat er zu Grace. Er umschlang sie, umfing sie mit seinem Körper, und als sie die Arme nach ihm ausstreckte, spürte er eine Erleichterung, bei der ihm fast schwindlig wurde. Er atmete tief ihren Duft ein, spürte ihren warmen Körper und dachte, dass ein Wunder geschehen wäre.
 
Dann trafen Marks und seine Männer ein. Grace’ Büro wimmelte plötzlich von Uniformen. Frederique wurde fortgebracht. Er wirkte benommen und stammelte, alles sei nur ein Missverständnis.
»Könnt ihr uns eine Minute gönnen?«, fragte Smith über Grace’ Kopf hinweg die herumschwirrenden Polizisten und Sicherheitsleute. Die Polizei wollte ihre Aussage aufnehmen, aber Smith musste einen Moment mit Grace alleine sein.
Als sie endlich unter sich waren, spürte er überrascht, wie sie sich versteifte.
»Du hast mich schließlich doch gerettet«, murmelte sie und wich zurück. »Du bist zur Tür hereingestürzt… und hast mich gerettet. Genau wie ein richtiger Leibwächter.«
Dann trat sie ganz langsam zum Fenster, als traute sie ihren Beinen nicht. Sie hob eine zitternde Hand an den Hals und betrachtete nachdenklich ihre Finger, als würde ihr erst jetzt bewusst, wie heftig sie bebte.
Smith runzelte die Stirn und dachte daran, was ihr jetzt bevorstand. Köperlich war sie unverletzt geblieben, aber sie würde eine ganze Weile lang Probleme haben, allein zu sein. Das hatte er schon einmal erlebt. Er selbst hatte es durchgemacht.
»Grace, du brauchst jetzt Hilfe. Ich kann dir jemanden empfehlen, mit dem du alles bereden kannst.«
»Es wird alles gut. Aber nett von dir, dass du dir Sorgen machst.« Starr sah sie aus dem Fenster auf die funkelnde Stadt. »Könntest du die Polizisten wieder hereinrufen? Ich bin sehr müde und möchte schnellstens nach Hause.«
Es waren förmliche Worte, und ihre Stimme klang gezwungen ruhig, aber dies verriet ihm, dass sie im nächsten Moment zusammenbrechen würde.
»Grace …«
»Und du solltest jetzt wirklich gehen. Du hast deinen Auftrag mehr als erfüllt. Du hast mich gerettet.«
Nach den letzten Worten bekam sie einen Schluckauf.
»Ich bleibe hier.«
Ihre Hand fuhr an die Kehle. »Kein Grund, länger zu bleiben.«
»Ich möchte nur sagen, dass…«
»Oder willst du mich verhaften lassen, weil ich Tiny das angetan habe?«
Smith runzelte die Stirn. »Darüber reden wir später.«
»Es gibt kein ›später‹ für uns.«
»Doch.« Er trat auf sie zu und drehte sie zu sich herum. »Ich weiß nicht, warum, aber ich kann dich nicht verlassen. Es war nicht recht, dass ich heute Nachmittag gegangen bin. Es war, als würde ich einen Teil von mir selbst zurücklassen. Ich will nicht mehr ohne dich sein. Ich weiß nicht mehr, ob ich … ohne dich leben kann.«
Sie sah ihn misstrauisch an. »Und Blackwatch? Und deine Vergangenheit?«
»Wie du sagtest.Wir kommen damit klar.«
»Ja, wirklich?« Sie trat zurück. »Das war aber vorher sehr schwer für dich.Was hat sich verändert?«
Er schüttelte den Kopf. »Nichts. Alles.«
»Na, das ist mir eine Antwort«, lächelte sie traurig. »Und genau das hatte ich von dir erwartet.«
Er runzelte wieder die Stirn. »Grace …«
Ihre Stimme klang müde, als sie ihn unterbrach. »Tut mir leid, John. Aber ich glaube nicht, dass du irgendetwas sagen kannst, was mich davon überzeugen würde, dass alle Probleme, die du zwischen uns gesehen hast, nun verschwunden wären.«
»Wie wäre es damit?«, fragte er und wartete, bis sie aufblickte. »Ich liebe dich.«
Sie zog die Brauen hoch und öffnete leicht den Mund.
»Ich liebe dich. Und ich will ohne dich nicht mehr leben.« Er hielt inne. »Ich will nicht so tun, als hätte ich nun alles gut im Griff. Aber ich verspreche, dass ich mich bessern werde. Ich kann mich ändern. Genauso habe ich es beim Militär geschafft.«
Dabei lächelte er sie schräg an und hoffte inbrünstig, dass sie ihm glaubte. Dass sie an ihn glaubte. Er sah nun endlich, wie viel sie gemeinsam hatten, und betete, dass es nicht zu spät wäre.
Grace starrte ihn nur wortlos an. Das Schweigen zwischen ihnen dauerte unendlich lange an. Smith fühlte Eisklumpen in der Magengrube. Sie hatte gesagt, sie würde ihm nur schwer wieder ihr Herz öffnen können. Und er fragte sich, ob seine Liebe dazu nun ausreichte.
Er wollte sie schon anbetteln, als sie auf ihn zusprang.
Sie klammerte sich so unbeholfen an ihn, dass sie ihn mit dem Schwung fast umwarf. Dann hielt sie ihn so fest, dass er kaum noch Luft bekam, aber ihm war egal, ob er erstickte oder nicht.
Als sie ihn endlich wieder losließ, bückte er sich und küsste sie zärtlich.
»Ich liebe dich«, flüsterte er.Wie ihr Gesicht plötzlich rosig strahlte! Er streichelte ihre Wangen. »Ich muss dir noch sagen, dass ich bereit bin, mich zu ändern. Es wird nicht leicht, aber …«
»Hör auf zu reden und küss mich«, murmelte sie lächelnd.
»Das musst du mir nicht zweimal sagen, Gräfin«, sagte er und presste die Lippen auf ihren Mund.