17 

Mit einem aufgesetzten Lächeln ging Grace
zum Frühstück nach unten. Sie wäre viel lieber allein geblieben,
aber die Teilnahme an den Mahlzeiten war auf Willig Pflicht. Wenn
sie oben geblieben wäre, hätte das nur eine weitere Konfrontation
mit ihrer Mutter heraufbeschworen. Grace’ Nerven hingen nur noch an
einem seidenen Faden, daher wollte sie weitere Konflikte
vermeiden.
Nur noch zwei Tage, dachte sie, als sie das
Esszimmer betrat.
Überrascht sah sie Jack mit seiner Freundin am
großen Tisch sitzen.
»Blair!«, rief sie froh. »Wann bist du denn
angekommen?«
»Gestern Abend. Sehr spät.«
Blair war eine schlanke Blondine mit kurzem
Haarschnitt und strahlend großen grauen Augen. Sie passte in Größe
und Figur wunderbar zu Jack. Beide wirkten in ihrer teuren
Garderobe und mit ihren klassischen Zügen wie füreinander
bestimmt.
Grace umarmte sie und trat zurück, sich bewusst,
dass Smith im gleichen Moment in der Tür erschien.
»Was macht der Zahn?«
»Tut noch ein bisschen weh«, lachte Blair und rieb
sich die Wange. »Aber mir ging es dann plötzlich besser, daher bin
ich gestern Abend noch hergekommen.«
»Sie ist sehr robust«, meinte Jack lachend.
Die Frau sah ihn von der Seite her an. »Ich kann
allerdings heute nicht mit segeln gehen. Um mit Alex und dir aufs
Meer hinauszufahren, fühle ich mich nicht stark genug.
»Komisch, dass du das letzte Mal, als er uns
eingeladen hat, auch eine gute Ausrede hattest«, kicherte Jack.
»Bist du sicher, diese Zahnschmerzen sind echt?«
»Ist Alex auch hier?«, fragte Grace und setzte sich
auf den von Jack angebotenen Stuhl.
Alex Moorhouse war einer der besten Segler Amerikas
und ein alter Freund von Jack. Grace war ihm schon mehrmals
begegnet und fand ihn sehr nett.
»Ja, und ich würde jede Chance ergreifen, mit
Moorhouse rauszufahren. Der Mann ist wunderbar
adrenalinsüchtig.«
Da betrat Carolina den Raum, woraufhin alle
aufstanden. Sie trug ein Kostüm aus feinem Tweed. Ihr Haar war
genau so zu einem Chignon aufgesteckt, wie sie es schon seit Jahren
trug. Als der Blick der Mutter sie streifte, spielte Grace mit
ihren Haaren, die sie heute offen und schulterlang trug.
Carolinas Blick verharrte missbilligend auf Smiths
Jeans. Dann lächelte sie dem neuen Gast zu. »Blair, meine Liebe,
wie geht es dir? Setzt euch doch bitte.«
Jack rückte ihr den Stuhl zurecht. Dann läutete
Carolina ein Glöckchen. Marta brachte Rührei und Obst auf einer
großen Silberplatte herein. Sie trat zu jedem Gast und bot
geschickt von beidem an.
Als Grace an die Reihe kam, konnte sie sich nicht
entschließen. »Danke, Marta. Sieht aber wunderbar aus. Mutter, wir
fahren heute zu den Blankenbakers. Möchtest du mitkommen?«
»Nein, ich lunche heute mit Harrington Wright. Aber
zuerst muss ich Stella Linnan besuchen, denn es geht ihr nicht gut.
Und dann …«
Grace ließ die Aufzählung von Carolinas Tagesplan
über sich hinwegwehen wie Nebelschwaden. Sie dachte stattdessen an
John und was er heute Morgen zu ihr gesagt hatte. Sie war
überrascht, wie viel er über sich preisgegeben hatte, doch es war
schade, dass so wenig davon für ihre Beziehung sprach. Immer wieder
ging sie die Unterhaltung in Gedanken durch, auf der Suche nach
einem Weg, wie sie John Möglichkeiten aufzeigen konnte statt bloß
Hindernisse.
Seine Vergangenheit war ein großer Stolperstein.
Sie bezweifelte nicht, dass er mächtige Feinde hatte, aber sie
wollte einfach glauben, dass es auch für dieses Hindernis eine
Lösung gab.
»Grace?«, sagte die Mutter mit scharfer
Stimme.
Grace riss sich von diesen Gedanken los und blickte
zum Tischende. Ihre Mutter hatte die Serviette zu einem
ordentlichen Quadrat gefaltet und neben den Teller gelegt. Sie
erhob sich gerade. Offensichtlich war das Frühstück vorbei.
»Ja bitte?«
»Ich möchte dich einen Moment sprechen.«
Grace griff nach einer Scheibe Toast und folgte der
Mutter zögernd durch die Halle in den kleinen Salon, in dem
Carolina ihre Korrespondenz erledigte.
Der Raum war kornblumenblau gehalten und enthielt
sehr feine französische Antiquitäten. Grace hatte sich hier nie
wohl gefühlt. Hier war alles klein, zierlich und zerbrechlich. Für
sie war es wie ein vermintes Feld. Es war, als wäre jeder Stuhl für
das Federgewicht ihrer zierlichen Mutter angefertigt worden und
würde sofort unter ihr zusammenbrechen,
was Peinlichkeit und scharfe Kritik nach sich ziehen würde.
Als Carolina die Doppeltür hinter ihnen schloss,
schnürte es Grace die Kehle zu. Es war schwer zu begreifen, wie ein
so freundlicher, eleganter Raum sich wie ein Kerker anfühlen
konnte, aber genau so war es für sie.
»Schön, dass es Blair gut zu gehen scheint«, sagte
Carolina. Sie war stehen geblieben, um ein Blumenbukett auf einem
zierlichen Tischchen zu begutachten. Sie zupfte zwei Blütenblätter
von einer weißen Rose und warf sie in den ansonsten leeren kleinen
Decoupé-Papierkorb. »Obwohl die Geschichte mit dem Zahn schrecklich
schmerzhaft klang.«
»Ja.«
»Sie sieht süß aus, findest du nicht?«
»Ja.«
Grace wusste genau, dass sie nicht herbeizitiert
worden war, um über Jacks Freundin zu diskutieren, und wartete auf
den wahren Grund der Unterhaltung.
Dann trat Carolina zu ihrem Schreibtisch, einem
Louis-XVI-Meisterwerk, dessen makellose Oberfläche nur wenige
Spuren aufwies. In einer Ecke stand eine Seidenschachtel mit ihrem
persönlichen Briefpapier, auf das in der oberen rechten Ecke ihr
Name und die Willig-Addresse gedruckt waren.Auf dem Stapel mit den
Briefbogen lag ein goldener Kugelschreiber, so dünn wie ein
Blumenstengel, und ein kleines ledergebundenes Adressbuch.
»Setz dich, Grace.«
Grace setzte sich vorsichtig auf den Stuhl neben
dem Schreibtisch der Mutter. Die Sonne fiel ihr durch ein
Ostfenster direkt in die Augen, so dass sie kaum sehen konnte. Sie
zwinkerte.
»Ich bin überrascht, dass du dein Haar so trägst.
Das wirkt ein wenig aufsässig, nicht wahr?«
Darauf folgte eine lange Pause.
»Mutter, worüber möchtest du mit mir reden?«
Carolina kreuzte die Beine an den Knöcheln und
glättetete den makellosen Rock sehr sorgfältig. »Ich fürchte, du
hast mich in eine sehr peinliche Situation gebracht.«
»Ja?«
»Ich habe dich heute Morgen gesehen. Mit diesem
Mann.«
Grace spürte, wie sich alles in ihr zusammenzog.
»Welchem Mann?«
»Du weißt genau, wen ich meine.«
»Ja, und?«
»Du hast mit ihm gestritten. Auf dem Rasen. Ich
habe dich von meinem Schlafzimmerfenster aus gesehen.«
Ihr Tonfall deutete an, dass sie lieber einen
verrottenden Kadaver auf dem Rasen gesehen hätte.
Grace kämpfte gegen das Bedürfnis an, auf ihre
Hände zu starren, denn so hatte sie als junges Mädchen immer
reagiert, wenn sie solcher Kritik ausgesetzt war. Sie sagte sich,
sie sei jetzt erwachsen, und versuchte, dem Blick der Mutter nicht
auszuweichen. Ihre Augen schmerzten in dem direkten Sonnenlicht,
der Rücken tat auf dem unbequemen Stühlchen weh, und da hatte sie
plötzlich die deutliche Vision, auch mit fünfzig noch die gehorsame
Tochter zu spielen. Dabei krampfte sich ihr Magen zusammen.
»Ja?«, sagte sie leise und fragend.
»Grace, Damen streiten sich nicht so. Und ganz
sicher nicht in aller Öffentlichkeit.« Dann folgte eine bedeutsame
Pause. »Und erst recht nicht mit einem Mann, mit dem sie nicht
verheiratet sind.«
Grace rückte auf dem Stuhl hin und her. Er
wackelte, weil er spürte, dass sie nun wirklich genug hatte. Zum
ersten Mal in ihrem Leben kam Grace der Gedanke, dass sie die
Missbilligung ihrer Mutter nicht einfach hinzunehmen
brauchte.
Das war eine sehr machtvolle Erkenntnis.
Sie wusste nur noch nicht genau, wie sie sie in die
Tat umsetzen konnte.
»Nun?«, fragte Carolina. »Was hast du dazu zu
sagen?«
Warum stehe ich jetzt nicht einfach auf und
gehe?, dachte Grace.
Grace erhob sich, trat aus dem Sonnenlicht und
blickte in Richtung der geschlossenen Tür.
»Wohin gedenkst du zu gehen?« Die Stimme ihrer
Mutter klang scharf und überrascht.
Wohin auch immer, dachte Grace. Nur weg
von dir.
»Ich verlange eine Antwort«, ertönte Carolinas
schrille Stimme. »Warum hast du mit dem Mann gestritten?«
»Darauf kann ich dir keine Antwort geben, Mutter«,
murmelte Grace und ging.
Ihre Hand griff gerade nach der Türklinke, als ihre
Mutter sagte: »Sag mir nur nicht, dass er dein Liebhaber
ist.«
Grace blickte zurück über die Schulter und sah,
dass die Mutter trotz ihrer eisenharten Stimme sehr blass
aussah.
Grace holte tief und langsam Luft. Dann sagte sie
sehr betont: »Selbst wenn er das wäre, ginge dich das überhaupt
nichts an.«
Carolina erhob sich. »Du bist verheiratet. Wie
kannst du dich so entwürdgen, mit diesem … diesem …«
»Diesem was, Mutter?«
»Diesem Grobian herumzuflirten.«
Grace hätte über diese altmodische Bezeichnung
beinahe gekichert.
»Sei nicht albern«, murmelte sie nur.
»Er hat zum Frühstück Jeans getragen!«
»Jesus, Mutter!« Jetzt riss Grace die Geduld. »Das
hier ist ein Privathaus, kein königlicher Palast. Er kann tragen,
was er will.«
»Er ist ein höchst unpassender Gast, und ich
verstehe nicht, warum du ihn unbedingt herbringen musstest. Darf
ich dich daran erinnern, dass du mit einem Mann verheiratet bist,
der königliches Blut in den Adern hat?«
»Erspar mir deine Floskeln, okay? Ranulf kann Smith
nicht einmal das Wasser reichen …«
Carolina schnappte hörbar nach Luft. »Sag so was
nicht …!«
»Es stimmt aber.«
»Du … du …« Und dann schloss Carolina den Mund, als
wäre eine Feder zugeschnappt. Nach einem tiefen Atemzug sagte sie:
»Ich habe dir im Moment nichts weiter zu sagen.«
»Gut. Denn ich war im Begriff zu gehen.«
Als Grace die Tür hinter sich schloss, war sie
nicht sicher, ob sie bei der Diskussion gewonnen oder verloren
hatte. Sie erkannte auch, dass es überhaupt keine Rolle spielte.
Sie hatte sich immerhin behauptet.
Eine Stunde später spielte Grace draußen mit Blair
Krockett. Da kam ihre Mutter zu ihnen und sagte, die
Abendgesellschaft sei abgesagt, denn sie würde woanders speisen.
Ohne eine weitere Erklärung und ohne ihre Tochter auch nur eines
Blickes zu würdigen, kehrte sie ins Haus zurück.
John Smith aber bedachte sie mit einem
vernichtenden Blick.
Sie verbrachten den Nachmittag bei den
Blankenbakers, wo sie das Porträt besichtigten. Grace war
begeistert von
dem Meisterwerk, aber enttäuscht, dass Jack bei dieser ersten
Besichtigung nicht dabei war. Mr. Blankenbaker schlug vor, die
nötigen Dokumente aufzusetzen, die die Schenkung offiziell machten,
und das Gemälde rechtzeitig für den Jahresball ins Hall-Museum
bringen zu lassen.
Sie kehrten nach Willig zurück, als die Sonne schon
sehr tief hinter dem Haus stand und der Ozean still im Abendlicht
lag. Als sie die Halle betraten, beschloss Grace, sich ein
ausgiebiges Bad zu gönnen. Genau das brauchte sie jetzt, um sich zu
entspannen.
Entweder das oder eine Gehirntransplantation.
»Wohin gehst du?«, fragte John.
Sie sah ihn über die Schulter hinweg an. Er hatte
den ganzen Tag lang nicht viel gesagt, war aber kaum von ihrer
Seite gewichen. Nach allem, was er heute Morgen von sich gegeben
hatte, war diese Nähe eine bittersüße Qual.
Da kam ihr plötzlich ein Gedanke. Als sie und John
miteinander redeten, war das einzig und allein auf der rationalen
Ebene geschehen. Nur verstandesmäßig. Nur logisch.
Vielleicht konnte sie ihn dazu bringen, nicht so
viel zu denken?
Grace lächelte ihn sanft an. »Ich gehe in die
Badewanne.«
Er nickte und folgte ihr die Treppe hinauf.
Sie hatte noch nie einen Mann verführt.Vielleicht
war es Zeit, das mal auszuprobieren.
Er hatte gesagt, dass er sie begehre.Vielleicht
konnte sein Körper seine kühlen Gedanken einmal außer Kraft
setzen?
Smith blieb vor ihrem Zimmer stehen und beschloss,
die Zeit, in der sie ihr Bad nahm, mit ein paar Fitnessübungen
zu verbringen. Irgendwie musste er seine Energie ja
loswerden.
»Ich bin gleich gegenüber«, sagte er. »Nimm das
Alarmgerät mit.«
»Das geht nicht.«
»Warum nicht?«
»Ich glaube, es ist kaputt.«
Er runzelte die Stirn. »Ich habe es doch gestern
erst getestet.«
Achselzuckend betrat sie ihr Zimmer. »Keine Ahnung.
Vielleicht irre ich mich.«
Und dann schlug sie ihm die Tür vor der Nase
zu.
Er klopfte. »Grace? Ich muss das verdammte Ding
erst prüfen.«
Schweigen.
»Oh, verdammt, Grace. Grace?«
Er stürzte ins Zimmer und erstarrte.
Sie streifte gerade ihre Hose ab. Den Pullover
hatte sie schon ausgezogen. Er sah nur ihre zarte, helle Haut und
ein paar Seidenfetzen.
Smith zwinkerte, als wäre sein Solarplexus
getroffen.
Süßer Heiland, dachte er.
Grace hob gelassen und ohne Verlegenheit ihre Hose
auf, faltete sie und legte sie auf die Kommode.
Ihr Bild erfüllte schlagartig sein gesamtes Gehirn,
und er versuchte krampfhaft, sich an einen letzten, rationalen
Gedanken zu klammern.
Aber das war unmöglich, weil sie wie eine Fata
Morgana keinen Schritt weit entfernt in BH und Höschen
dastand.
»Wo ist das Alarmgerät?«, knurrte er.
Sie zuckte die Achseln. »Keine Ahnung. Wohl
irgendwo in meinem Bett.«
»Verd…«
Grace griff hinter sich und ließ den BH
aufschnappen. Langsam zog sie einen Satinträger über die Schulter,
dann den anderen.Als das spitzenbesetzte Ding auf den Boden fiel
und er ihre nackten Brüste sah, wurden ihm die Knie weich.
»Was zum Teufel machst du da?«, verlangte er zu
wissen.
»Ich gehe jetzt in die Badewanne.«
Damit wandte sie sich um, ermöglichte ihm dabei
einen Blick auf ihren perfekten Hintern und verschwand im Bad. Er
sah, wie sie sich vorbeugte und das Wasser anstellte.
Es war ein Anblick, der den stärksten Mann
umgeworfen hätte.
Smith lehnte sich an die Tür. Er ging gedanklich
verschiedene Optionen durch, aber alle hatten ihre Grenzen, und er
schien einfach nicht fähig, den Raum zu verlassen. Ihm ging einzig
und allein die Vision durch den Kopf, sie in die Arme zu nehmen und
zum Bett zu tragen.
Grace stand mehrere Minuten lang vornübergebeugt an
der Wanne und drehte an den Wasserhähnen, um genau die richtige
Temperatur einzustellen. Dann drehte sie sich zu ihm um. Sie benahm
sich zwar sehr provokativ, aber ihr Blick verriet auch eine
Unsicherheit, die sie sehr begehrenswert machte.
Sie hat keine Ahnung, was sie da tut, dachte er und
versuchte zu lächeln.
Aber dann hakte sie die Daumen unter den Bund ihres
Slips.
Und Smith wurde todernst.
Sie bewegte die Hüften, damit der Seidenslip über
die Schenkel glitt, und schleuderte ihn dann mit einem Fuß ab.
Wasserdampf umgab sie in dichten Schwaden. Es war eindeutig, dass
sie auf ihn wartete.
Verschwinde hier, dachte er, ehe es kein Zurück
mehr gibt.
Er musste jedes Quäntchen seiner Willenskraft
aufbieten, um sich umzudrehen und das Zimmer zu verlassen.
Draußen auf der Veranda ging er so weit um das Haus
herum, bis er zu ihrem Bad kam. Als er durch das Fenster blickte,
lag sie in der Wanne.
Da fluchte er laut, weil die Lust weiter in seinen
Lenden pulsierte.
Smith zog einen Zigarillo aus der Tasche, steckte
ihn an und versuchte zu ignorieren, dass seine Hände dabei
zitterten.
Es dauerte eine ganze Weile, bis er wieder einen
klaren Gedanken fassen konnte.
Mit einem tiefen Zug lehnte er sich an das Geländer
und dachte an ihre Liebeserklärung. Konnte es wahr sein? Konnte
eine Frau wie sie ihn tatsächlich lieben?
Was würde er opfern müssen, um eine Frau wie sie in
seinem Leben zu haben? Er dachte an Blackwatch, seine
Arbeit, seine Klienten. Er sah die Bilder tausender Hotelzimmer,
von Flugzeugen, Privatjets, von Menschen, die ihn angstvoll
ansahen, aber auch voll Hoffnung und Vertrauen.
Grace hatte etwas in ihm geweckt, was er selbst
allmählich in Frage gestellt hatte. Wie lange konnte er das noch
fortsetzen? Seine wurzellose Existenz hatte ihn viele Jahre
ernährt, war für ihn der einzige Weg gewesen, sein Leben zu leben.
Aber vielleicht gab es doch noch etwas anderes für ihn?
Und wenn Grace nun zu diesem Leben gehörte?
Er sah mit zusammengekniffenen Augen, wie sie sich
in dem Porzellanbad reckte und die Augen schloss. Sie hatte die
Haare auf dem Kopf zusammengesteckt, doch ein paar
Strähnen hatten sich in der feuchten Wärme gelöst und umrahmten
ihr Gesicht. Ihr Profil war eine perfekte Komposition aus Linien
und Flächen, die zusammen große Schönheit ergaben, aber nicht das
fesselte seine Aufmerksamkeit. Er merkte, dass für ihn ihre
körperliche Schönheit nur vordergründig von Interesse war.Viel mehr
zog ihn die Mischung aus Stärke und Schwäche an, die er bei ihr
entdeckt hatte.
Dann sah er, wie sie eine Hand hob und sich über
die Wangen strich. Als sie es wiederholt tat, bemerkte er, dass sie
weinte.
»O Grace«, sagte er leise.
Sie hatte Recht. Sie machten einander völlig
verrückt.
Smith beobachtete sie, bis sie aus der Wanne stieg.
Dann ging er wieder ins Haus und wartete gegenüber in seinem
Zimmer. Zwanzig Minuten später trat sie fertig gekleidet zum Dinner
aus der Tür. Schweigend gingen sie nach unten.
Doch kurz vor der Treppe bot er ihr seinen
Arm.
Er beugte sich dicht zu ihr: »Du bist die
sinnlichste Frau, die ich jemals gesehen habe. Ich werde das Bild,
wie du nackt vor der Wanne standest, mit ins Grab nehmen.«
Sie verharrte und stieß ein leises, verächtliches
Lachen aus. »Das bezweifle ich. Ich bin für vieles bekannt, aber
nicht dafür, sexy zu sein.«
Er hielt sie fest. »Was zum Teufel redest du
da?«
Sie zuckte die Achseln und wirkte irgendwie
resigniert, was er nicht an ihr kannte.
»Du bist nicht mit mir in die Wanne gekommen, oder?
Das war der Grund, warum ich mich so benommen habe … Aber ich hätte
es besser wissen sollen. Ranulf hat immer gesagt, ich sei zwar
schön, aber nicht verführerisch. Das ist vermutlich das Einzige,
das er an mir richtig erkannt hat.«
»Was hat er gesagt?«
Als sie seinem Blick auswich, dachte Smith wieder
an die Nacht, in der sie sich ihm entzogen hatte und in Panik
geraten war, als er sie nicht sofort frei gab. Vielleicht hatte das
mehr zu bedeuten als bloß die Verweigerung von
Gelegenheitssex.
»Grace, was hat er dir angetan?«
Sie zögerte. »Sagen wir, er war sexuell nicht
sonderlich von mir begeistert. Und das hat er mich deutlich spüren
lassen.«
Da stieg eine Riesenwut in Smith hoch. Er
versuchte, sie zu bezähmen, indem er sich fragte, was zum Teufel
mit dem Mann nicht stimmte und wie er diesen aristokratischen
Scheißkerl in die Finger bekommen könnte.
»Lass mich dir eins sagen«, erwiderte Smith
finster. »Ranulf ist ein Arschloch. Du bist unbeschreiblich
erotisch.«
Sie verdrehte die Augen. »Das ist nicht
nötig.«
Er trat dichter zu ihr, nahm ihre Hand und legte
sie auf sein erregtes Glied. Sie holte scharf Luft.
»Ich meine das völlig ernst.« Dann senkte er den
Kopf, bis sein Mund nur wenige Zoll über ihren Lippen schwebte.
»Ich kann an nichts anderes denken als an dich.«
Grace lehnte sich an ihn.
»Ich möchte, dass du bei mir bleibst«, flüsterte
sie.
Jesus, er wollte dasselbe.
»Weißt du was«, stieß er heiser hervor, »der Grund,
warum ich gegangen bin, war nicht, dass ich nicht scharf auf dich
bin. Ich versuche bloß, dich fair zu behandeln, das ist alles.
Ehrlich.«
Dann küsste er sie rasch und hart und bot ihr
wieder den Arm.
Zusammen schritten sie die prächtige Treppe
hinab.
Smith lehnte sich zurück, als Marta seinen Teller
abräumte. Dann wurde ein Servierwagen mit den Desserts neben ihn
gefahren, aber er schüttelte den Kopf. Mit vor der Brust
verschränkten Armen beobachtete er Grace zwischen den
Kerzenleuchtern. Sie spielte mit ihrem Weinglas. Ihr Blick blieb
auf das geschliffene Kristallgefäß geheftet, während sie über etwas
lachte, was Walker gerade von sich gegeben hatte.
»Natürlich habe ich dich heute abgewiesen«, sagte
sie. »Blair brauchte meine Gesellschaft mehr als du und Alex einen
Segelkumpanen auf dem Boot.«
»Komm schon, du sagst doch aus Gewohnheit immer
Nein. Du hast mich schon im Kindergarten abgelehnt, und das hat
sich nie geändert. Glücklicherweise hat mein Selbstbewusstein
keinen Schaden genommen.« Walker lächelte nachsichtig und schenkte
sich Wein nach. »Aber nur, weil ich daran gewöhnt bin.«
Dann rückte der Mann seinen Stuhl zurück, streckte
die Beine aus und kreuzte sie an den Knöcheln. Das Weinglas hielt
er lässig in der Hand.
»Immerhin liebst du mich«, sagte er zu Blair
gewandt.
Die Frau beugte sich zu ihm und küsste ihn auf die
Wange. »Ja, das stimmt.«
»Wie lange sind wir schon zusammen?«
»Ungefähr fünf Jahre.«
»Weißt du was, ich habe über uns beide
nachgedacht.«
Blair verdrehte die Augen und lächelte ihn an. »Was
hast du dir denn dieses Mal ausgedacht?« Sie sah Grace an. »Letzten
Winter hat er mich in ein Flugzeug verfrachtet, mir gesagt, ich
solle einschlafen, und ich bin erst über dem Atlantik wieder
wachgeworden.Wir waren unterwegs nach Portofino. Das war wunderbar,
aber ein bisschen überraschend.«
Walker setzte lachend das Glas auf den Tisch.
»Na, diesmal gibt es keinen Flug, und ich hoffe,
dass du dabei nicht einschläfst.« Er griff in die Innentasche
seines Jacketts und zog ein kleines Samtkästchen heraus. »Ich
möchte, dass du meine Frau wirst.Willst du mich heiraten?«
Smiths Blick fuhr zu Grace, die überglücklich in
die Hände klatschte.
Walker ließ das Kästchen aufschnappen und schob es
Blair zu. Er lächelte ein wenig schief, als sie sprachlos auf den
großen Brillanten starrte.
»Weißt du, Blair, ich überrasche dich einfach zu
gerne.«
Die Frau hob den Blick von dem Verlobungsring.
»Meinst du das ernst?«
Darauf folgte eine winzige Pause.
»Es ist Zeit, dass wir uns entscheiden.« Er
lächelte. »Und ich habe dir vor Zeugen einen Antrag gemacht, damit
du weißt, dass ich nicht die Absicht habe, mich wieder zu
drücken.«
Blair nahm den Ring aus dem Kästchen und streifte
ihn über. Dann holte sie tief Luft und sagte lächelnd: »Okay,
ziehen wir es durch.«
Walker beugte sich vor und küsste sie. Dann
flüsterten die beiden miteinander. Smith sah Grace prüfend an. Sie
starrte zärtlich lächelnd in die Kerzenflamme.
Eine Weile später verabschiedeten sie sich und
suchten ihre Zimmer auf. Smith folgte Grace bis vor ihre Tür.
»Darf ich mit hineinkommen?«, fragte er.
»Natürlich.«
Er folgte ihr ins Zimmer. Sie trat zu ihrem
Schreibtisch und begann, ihre Ohrringe abzunehmen.
»Ich habe hinsichtlich dir und Walker tatsächlich
die falschen Schlüsse gezogen, nicht wahr?«
Sie drehte sich um. Ihre Finger drehten den
Brillantsolitär. Ihre Stimme klang müde. »Und jetzt glaubst du mir
endlich?«
»So, wie du ihn heute Abend angesehen hast,
müsstest du Eis in den Adern haben, falls du dich nicht aufrichtig
über seine Verlobung gefreut hast. Besonders, weil er Blair direkt
vor deinen Augen gefragt hat.«
Grace nickte und beschäftigte sich weiter mit ihren
Ohrringen. Ihre Haut schimmerte in dem dämmrigen Licht fast
durchsichtig. Er wollte sie berühren.
Anschließend setzte sie sich auf die Bettkante und
zog ihre Schuhe aus. »Danke, dass du mit mir redest.«
Er nickte, sah zu, wie sie einen Schuh von sich
kickte und dann die Schnalle des anderen löste. Sein Blick
verharrte auf der eleganten Form ihrer Knöchel und Waden.
»Du hast Recht«, murmelte sie. »Ich freue mich sehr
für Jack. Ich hoffe, es ist gut für die beiden, denn selbst unter
den besten Voraussetzungen ist die Ehe eine Herausforderung. Außer
für meine Eltern natürlich. Da war alles perfekt.«
»Bist du sicher?«, fragte er leise. »Perfektion ist
in dieser Welt nur sehr schwer zu erreichen.«
»Stimmt«, erwiderte sie, »aber meine Eltern haben
es fast geschafft. Er war der Star in der Geschäftswelt und ein
bekannter Philanthrop. Sie war eine Gesellschaftskolumnistin. Sie
waren irgendwie genau richtig füreinander.«
»Hattest du das Gleiche erwartet, als du den Grafen
geheiratet hast?«
Ihr Blick wirkte überrascht, aber dann schüttelte
sie den Kopf. »Nein, ich wollte noch nie an der Spitze stehen. Ich
wollte immer nur im Team spielen. Ich dachte, Ranulf hätte das
gewusst, und irgendwie hat er es auch begriffen. Aber
Geld spielte eine große Rolle, und er konnte meine Mitgift gut
gebrauchen. Dazu noch das, was ich verdiene.«
Er sah sie wieder in ihrem Büro, wo sie lange
Stunden arbeitete und für so viele Menschen eine zuverlässige
Stütze war.
»Du verdienst etwas Besseres«, sagte Smith leise
und eindringlich.
Sie sah hoch zu ihm und nickte. »Das wird mir jetzt
auch langsam klar.«
Gegen alle Vernunft trat er zu ihr, streckte eine
Hand aus und strich ihr über die zarte Wange.
»Das ist gut«, sagte er sanft. »Bis morgen früh,
Grace.«