6 007
Als sie in die Eingangshalle kamen, war der Wachmann verschwunden.
»Er macht vermutlich gerade seine Runde«, sagte Grace, deren Stimme in der riesigen Halle verloren klang. »Das ist seine Aufgabe. Ich rufe meinen Fahrer.«
Während sie ihr Handy aus der Tasche zog, sah sie Smith an. Seine Blicke erfassten jede Einzelheit des ausladenden neoklassizistischen Atriums.
»Jetzt verstehe ich, warum man dieses Gebäude als ein historisches Denkmal betrachtet«, bemerkte er. »Es war das Gegenstück zum Chrysler-Building, nicht wahr?«
Grace nickte. »Beide wurden innerhalb von zwei Jahren errichtet. Mir gefallen die Lifttüren am besten. Das ägyptische Motiv, das viele Silber und Messing. Die Decke ist auch nicht schlecht.«
Beide blickten hoch zu der reich verzierten Decke drei Stockwerke über ihnen.
Dann wandte Smith sich zu einer mächtigen Doppeltür, über der auf einer weißen Marmorplatte »Woodward Hall Museum« eingraviert war.
»Ist das Museum jeden Tag für die Öffentlichkeit zugänglich?«
»Ja, außer dienstags.«
»Wie groß ist es?«
»Es nimmt die ersten vier Stockwerke ein und hat ein eigenes Liftsystem. Auf drei Etagen befindet sich die Sammlung, im vierten Stock sind die Bibliothek, die Verwaltung und die Werkstatt, wo die Restaurierungen ausgeführt werden.«
»Ich hätte morgen gerne eine Tour durch das gesamte Gebäude. Und die Baupläne.«
»In Ordnung.« Sie drückte die Nummer des Fahrers.
Als die Limousine draußen vorfuhr, schritten die beiden hinaus in die Dunkelheit. Sie hatten etwa zwanzig Meter auf den Granitplatten bis zur Straße zurückzulegen, wobei sie an der riesigen Statue von George Washington vorbeikamen. Dann folgten ein paar Stufen hinab.
Grace warf einen Blick zurück über die Schulter, weil Smith nicht neben ihr herging. Dabei trafen sich ihre Blicke und verloren sich wieder, weil er die Plaza und die Straßen ringsum überblickte. Es waren keine weiteren Fußgänger unterwegs, und nur gelegentlich fuhr ein Taxi vorbei. Grace hatte keine Angst mehr.
Er war als Killer ausgebildet. Es war eigentlich eine Naturbegabung.
Das war ihr neuer Wohngenosse.
»Sind Sie bewaffnet?«, fragte sie plötzlich.
»Das bin ich immer.«
Sie erschauderte.
Ihr Fahrer wirkte überrascht, doch er stieg aus, öffnete ihr die Tür und blickt dann zu Smith hoch.
»Guten Abend, Sir.«
Smith nickte und setzte sich neben Grace auf den Rücksitz.
Es war recht kühl im Wagen, aber Grace hatte das plötzliche Bedürfnis, das Fenster zu öffnen, nur um ein Gefühl von mehr Raum um sich zu haben. Smith saß ihr zwar gegenüber und wirkte gelassen und beherrscht, aber es ging etwas sehr Starkes und Beherrschendes von ihm aus.
Ach, mach dir nichts daraus, ermahnte sie sich. Er ist nicht Jesus.
Dann lächelte sie und blickte aus dem Fenster.
In dem Fall würde er nämlich eine weiße Toga und Sandalen tragen.Vermutlich hätte er auch einen Heiligenschein. Vielleicht würden ein paar Engelchen ihn umschwirren. Mit Sicherheit würde er keine schwarze Lederjacke tragen, konzentriert geradeaus starren und bewaffnet sein.
Nach dem Stress der letzten Zeit, und mit dem Bild von ihm in einer weißen Toga vor Augen bekam sie fast einen Lachanfall, aber sie musste sich beherrschen. Schließlich dürfte auch er ein paar Schwächen haben.Vermutlich sang er völlig schräg unter der Dusche, schnarchte wie ein Hund und trug ausgefranste Boxershorts.
Bei dem neuen Bild von seinem halbnackten Körper vor dem inneren Auge zuckte sie zusammen und begann, ihre Schläfen zu reiben. Die Unterwäschewerbung, die ihr in den Sinn kam, half auch nicht bei dem Versuch, den Mann neben sich zu entschärfen.
Grace betrachtete ihn zwischen den Fingern hindurch. Er starrte aus dem Wagenfenster, während sie über die Park Avenue rasten. Unter jeder Straßenlaterne, die sie passierten, ließ das Licht kurz seine kantigen Gesichtszüge aufleuchten und wieder verlöschen.
Wann hatte er sich wohl das Nasenbein gebrochen? Und wie oft?
»Ist John Smith Ihr echter Name?«, fragte sie laut.
Sein Kopf ruckte zu ihr herum. Sie rechnete wegen seiner versteinerten Miene damit, dass er die Frage nicht beantworten würde, aber dann zuckte er mit den Achseln. »Ziemlich echt.«
»Wie soll ich Sie nennen?«
»Wie Sie wollen.«
»Würden Sie auf Pookie reagieren?«
Er sah wieder aus dem Fenster, doch sie bemerkte, wie es um seine Mundwinkel herum zuckte. »Nein.«
Ihr Blick glitt über seinen kurzen Haarschnitt zu dem ausgeprägten Kinn und verweilte dann auf seinen Lippen. Ein heißer Schock durchfuhr sie, als sie sich an seinen Kuss erinnerte.
Smith wandte sich ihr zu und sah sie mit zusammengekniffenen Augen an, als wüsste er, woran sie gerade dachte.
»Wollten Sie noch etwas sagen?«, fragte er entwaffnend freundlich.
Sie wandte sich ab.
»Keine weiteren Fragen, Gräfin?« Seine Stimme klang spöttisch.
»Keine, die Sie beantworten würden«, murmelte sie.
Außerdem keine, deren Antworten sie irgendetwas angingen. Sie hatte sich gefragt, ob er verheiratet war. Sie hatte keinen Ring an seinen Fingern bemerkt, aber viele Männer trugen keinen Ehering.
Als sie vor ihrem Wohngebäude vorfuhren, beugte er sich zu ihr vor und knurrte leise:
»Seien Sie vorsichtig mit Ihren Blicken, Gräfin. Die bitten vielleicht um Dinge, die Sie eigentlich nicht wollen.«
Dann öffnete er die Wagentür und stieg aus.
O Gott, dachte sie. Wie konnte sie bloß mit ihm unter einem Dach leben?
Grace holte tief Luft. Immerhin konnte sie es sich heute Abend noch einmal überlegen, denn sicher würde er erst morgen bei ihr einziehen. Vielleicht auch erst einen Tag später. Sie hatte genug Zeit, sich an den Gedanken zu gewöhnen.
Grace raffte ihre Stola zusammen und stieg aus dem Wagen. Smith schritt neben ihr her unter dem grüngoldenen Baldachin auf den Eingang zu, und sie überlegte krampfhaft, wie sie den Abend mit einer freundlichen, sicheren Phrase beenden könnte. Der Portier öffnete ihnen die Tür, und sie formulierte im Kopf gerade eine der netten, witzigen Bemerkungen, für die sie bekannt war.
Allerdings versagte ihr Verstand gerade völlig. Unter den gegebenen Umständen war es wohl am besten, einfach nur Gute Nacht zu sagen und zu gehen.
Als er das Haus hinter ihr betrat, erstarrte sie.
»Äh … Sie kommen mit? Heute Abend?« Ihre Stimme klang eine ganze Oktave höher als sonst. Der Portier verzog sich diskret.
Smith winkte dem Fahrer zu. Die Limousine fuhr davon.
»Das war doch unsere Abmachung.« Er sah sie gleichmütig an. »Haben wir da ein Problem? Schon wieder?«
»Worin wollen Sie denn schlafen?«, platzte sie heraus.
»Meine eigene Haut ist dafür normalerweise gut genug.«
»Oh … ja … natürlich. Hmm …« Und sie hatte bereits die Fantasie von der Unterwäschewerbung herausfordernd gefunden! »Hmm …«
»Worauf warten Sie?«
Diese Frage konnte sie kaum wahrheitsgemäß beantworten. Er brauchte ja nicht zu wissen, dass sie die Vorstellung aus ihrem Kopf zu vertreiben versuchte, wie er splitternackt aussah.
Sie ging ihm voran durch die große Eingangshalle des Gebäudes, während sie innerlich bedauerte, überhaupt keine Zeit gehabt zu haben, sich auf seine Ankunft in ihrer Wohnung vorzubereiten. Er würde im Zimmer nebenan schlafen.
Und ihr Bad mitbenutzen.
Da entfuhr ihr ein Kichern, weil ihr einfiel, dass das Gästebadezimmer gerade renoviert wurde. Es hatte nicht einmal einen Wasseranschluss. Er würde ihre Handtücher, ihre Seife, ihre Dusche benutzen müssen.
»Was ist denn so komisch?« Smith griff an ihr vorbei und drückte den Aufzugknopf. Seine blauen Augen wandten sich ihr so gelassen zu, als würde es ihn eigentlich nicht interessieren.
Daher verriet sie es ihm.
»Ich frage mich gerade, wie Sie es finden, wenn Sie morgen früh beim Duschen meine Lavendelseife benutzen müssen.« Dann unterdrückte sie einen weiteren Lachanfall. »Sind Sie sicher, dass Sie nichts brauchen? Keinen Rasierapparat? Keinen Kamm? Oder rollen Sie sich einfach so, wie Sie sind, aus der Kiste?«
»Na, wer hätte das gedacht, die Gräfin kann sich auch normal ausdrücken!«, bemerkte Smith. Dann kam der Lift.
»Ich kenne mich im Umgangston ziemlich gut aus«, erwiderte sie. »Erst letzte Woche ist mir eine Dose auf den Fuß gefallen, und ich habe geflucht wie ein Straßenjunge.«
»War es eine Dose Kaviar?«
»Nein, Schuhcreme.«
»Na, schon wieder eine Überraschung.« Er verbeugte sich leicht aus der Hüfte heraus, als er ihr die Tür aufhielt. »Hoheit.«
Sie runzelte die Stirn. Er verspottete sie schon wieder, und dummerweise fühlte sie sich davon verletzt.
Immerhin würde er mit ihr zusammenleben. Selbst wenn sie niemals Freunde sein würden, konnten sie doch wohl beide versuchen, einander mit Respekt zu behandeln? Sie würde sich sicherlich Mühe geben, mit ihm auszukommen. Auch wenn sie immer zwischen dem Bedürfnis schwankte, ihn anzuherrschen oder ihn …
Sie wollte nicht wieder daran denken, wie es war, als er sie geküsst hatte.
»Nennen Sie mich bitte Grace«, murmelte sie und betrat den Lift. »Diese Sache mit den Titeln geht mir auf die Nerven.«
 
Smith fühlte sich in der engen Kabine des Lifts sehr eingeengt und wartete nur darauf, dass die Türen sich wieder öffneten.
Grace stand vor ihm, so dass er ungestört ihren Nacken betrachten konnte. Das war das Letzte, was er momentan brauchte. Den ganzen Weg nach oben stellte er sich vor, wie seine Hände ihre Taille umfassten und sie an seinen Körper zogen. Er würde ihren Kopf herumdrehen und sie zärtlich und ausgiebig küssen.
Falls dieser verdammte Lift sich noch langsamer bewegte, würden sie bald in den Keller fallen, fluchte er innerlich.
Die Arbeit mit der Gräfin würde schwierig werden. Neben ihr in der Limousine hatte er ständig aus dem Fenster geblickt, damit sein Blick nicht auf den vom Kleid ziemlich enthüllten Beinen verharrt hätte. Und als er spürte, dass sie ihn ansah, hatte er sich versucht gefühlt, ihr genau das zu geben, worum ihre großen Augen zu betteln schienen.
Er hatte sich sogar geärgert, als er hörte, dass sie ihrem Mann treu gewesen war. Als hätte dieser Aristokrat es verdient - so, wie er bei der Beerdigung ihres Vaters ausgesehen hatte.
Als die Türen endlich aufglitten, verspürte er große Erleichterung.
An beiden Enden des kurzen Gangs befand sich eine nicht näher bezeichnete Tür. Über einer dritten leuchtete in Rot das Wort Ausgang auf.
Er hörte das Rasseln von Schlüsseln. Sie öffnete die linke Tür. Sobald sie drinnen war, trat sie seufzend die Schuhe von den Füßen und tapste erleichtert barfuß weiter, um alle Lichter anzuschalten.
Smith war von ihrer Wohnung beeindruckt, aber nicht überrascht. Er hatte damit gerechnet, dass sie in einer üppigen Umgebung wohnen würde. Die Räume waren vier Meter hoch, die Aussicht war spektakulär. Viele originale Ausstattungsteile stammten aus der Zeit vor der Jahrhundertwende. Allein der Holzboden und die Täfelung waren ein Vermögen wert. Ihre Möbel und Gemälde hatten ausgesprochene Museumsqualität.
»Gehen Sie voran«, sagte er mit einem Kopfnicken.
Er folgte ihr ins Wohnzimmer, wo er mehrere Doppeltüren bemerkte, die auf eine beleuchtete Terrasse hinausführten. Die Sofas hatten Seidenbezüge, die kleinen Beistelltischchen waren antik, die Lampen wirkten orientalisch. Eine Ecke des Raums wurde von einem Flügel beherrscht.
Smith trat zu einem beeindruckenden Marmorkamin, über dem ein Ölgemälde mit einer Berglandschaft hing. Ein britischer Soldat in rotem Rock war von einem Lichtstrahl umflossen, der aus einem dräuenden Wolkenhimmel fiel.
»Nettes Bild«, bemerkte er.
»Danke. Ich habe es gerade erst gekauft. Es ist ein Thomas Cole. Ich sammle die Hudson-Schule.«
Smith hatte den deutlichen Eindruck, dass sie den Rundgang rasch hinter sich bringen wollte, aber er ließ sich nicht gerne hetzen. Während er die Einrichtung betrachtete, fielen ihm die Sensoren im Raum auf. Ohne Zweifel hatte sie eine gute Alarmanlage. Doch eingeschaltet hatte sie das Ding wohl nicht, denn sie hatte nichts Entsprechendes unternommen, nachdem sie die Wohnng betreten hatten.
Er blieb neben einem Tisch stehen, auf dem ein paar Fotos standen. Auf einigen war sie strahlend neben verschiedenen Personen zu sehen, von denen er einige als Prominente erkannte. Ein Bild interessierte ihn besonders. Es war ein ehrliches Schwarzweißporträt von ihr und ihrem Vater in einem breiten Silberrahmen. Beide lächelten strahlend. Ihr Blick hing voller Liebe und Zuneigung an dem Mann. Es hatte nichts Gestelltes, nichts, was vorgetäuscht war. Nur ein Vater und eine Tochter, die einander liebten.
»Das wurde erst letztes Jahr aufgenommen«, murmelte sie. Als sie neben ihn trat, erkannte er ihr Parfüm, diese feine Mischung aus Zitrone und Blüten. »Es war in Willig, unserem Haus in Newport. Am vierten Juli. Wir wussten beide nicht, wie wenig Zeit wir noch zusammen haben würden.«
Sie wandte sich abrupt ab. »Das Esszimmer ist hier.«
Aber Smith trat zu dem Flügel und betrachtete ihn anerkennend. Es war ein Steinway. Die schwarze Lackpolitur glänzte im Lampenlicht. Er klappte den Deckel auf und fasste mit Daumen und kleinem Finger die C-Oktave. Ein warmer, voller Klang. Dann nahmen seine Hände eine andere Position ein, um einen Dur- und Mollakkord zu spielen. Gute Mechanik, perfekt gestimmt.
Nettes Stück.
»Spielen Sie Klavier?« Ihre Stimme klang überrascht, als die Töne verklungen waren.
Smith klappte den Deckel zu. »Nein.«
Er würde ihr nichts darüber verraten, dass Musik seine Zuflucht gewesen war in seiner Kindheit und eines der wenigen Mittel, mit denen er auch als Erwachsener seinen Frieden fand.
Die meiste Zeit ging es in seinem Leben aber nicht um Ruhe und Frieden, sondern um Konzentration, höchste Aufmerksamkeit und Wachsamkeit. Bei den seltenen Gelegenheiten, wenn er eine Pause nötig hatte, konnte ein Klavier ihn stets beruhigen, ihn in stillere Gewässer geleiten. Tai-Chi war seine weitere Entspannungsmethode.
Smith folgte ihr ins nächste Zimmer, in dem ein langer Mahagonitisch mit zwölf Stühlen stand. Der Kristallleuchter darüber, der von einer verschnörkelten Alabaster-Rosette herabhing, strahlte auf. Wie im Wohnzimmer hingen beigefarbene Seidenvorhänge vor den Fenstern, die von Satinbändern mit Fransen zurückgehalten wurden.
Smith sah Grace über die polierte Tischplatte hinweg an. In dem roten Abendkleid mit ihrem Brillantschmuck passte sie gut in diese hoheitsvolle Umgebung.
Er fragte sich, wie sie wohl aussah, wenn sie das Haar offen trug … wenn sie sich liebten. Er stellte sich vor, wie sie im Bann der Leidenschaft den Kopf in den Nacken warf, die manikürten Fingernägel in die Laken krallte und ihr Körper beim Orgasmus erbebte, während sie lustvolle Laute ausstieß.
Na, das wäre ein Anblick …
Aber es war verdammt klar, dass er das nie erleben würde. Denn nur falls sie sich an einem Hühnerknochen verschluckte und der Heimlich-Griff erforderlich war oder falls sie in Ohnmacht fiel und wiederbelebt werden müsste, würde er diese Lippen und diesen Körper jemals wieder berühren.
Als er sie damals auf dem Gang an sich gerissen hatte, war sie nicht seine Klientin gewesen. Sie war eine begehrenswerte Frau, die mit ihm spielte und der man eine Lektion erteilen musste. Und nun hatte er die Verantwortung für ihr Leben übernommen. Das bedeutete, dass seine Fantasie zwar alle möglichen Spielchen mit ihm treiben mochte, aber er würde keinen Finger rühren, um sie Wirklichkeit werden zu lassen.
Smith folgte ihr durch die Schwingtüren in eine großzügige Küche. In einer Ecke befand sich ein Herd von Restaurantausmaßen; ein riesiger Edelstahlkühlschrank stand in einer anderen, mit mehreren Metern Granit-Arbeitsplatten miteinander verbunden. Im Vergleich zu der antiken Einrichtung in der übrigen Wohnung war es eine sehr technisch wirkende Küche.
»So, jetzt haben Sie alles gesehen.« Ihre Stimme verklang.
»Haben Sie Hauspersonal?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nur eine Hilfe tagsüber. Wenn Sie nichts dagegen haben, zeige ich Ihnen jetzt Ihr Zimmer.«
»Ich möchte auch sehen, wo Sie schlafen.«
Ihr Blick wanderte seitwärts. »Natürlich.«
Auf dem Weg zur anderen Seite des Penthouse hob sie die Schuhe auf. Wie menschlich und normal sie wirken konnte.Trotz der Brillanten und des teuren Kleides war sie einfach bloß eine Frau, die müde war und deren Füße vermutlich den ganzen Abend wehgetan hatten.
»Wie lange leben Sie schon hier?«, fragte er.
»Etwa fünf Jahre.«
Sie führte ihn in einen großen Raum mit zwei Doppelbetten. Die Wände waren mit blauer Seide bespannt, aber der Orientteppich auf dem Dielenboden hatte einen Plastikbezug.
Sie zögerte, ehe sie eine Doppeltür öffnete. Dahinter stand eine frei stehende Badewanne auf Klauenfüßen in der Mitte, umgeben von anderen Sanitärgegenständen auf dem Boden. »Wie ich schon sagte, müssen Sie mein Bad mitbenutzen, weil dieses gerade renoviert wird.«
Ihr Blick flatterte kurz zu ihm und wieder fort.
»Mein Schlafzimmer ist da drüben.«
Sie ging ihm voran den Gang entlang.
Ihr Schlafraum war in verschiedenen Beigetönen gehalten. Eine breite Glastür und mehrere Fenster führten auf die Terrasse hinaus. Anerkennend bemerkte er die Sensoren der Alarmanlage.
Als er sich weiter umsah, fiel ihm ein gerahmtes Foto auf einem Schreibtisch im Pionierstil auf. Er trat darauf zu und studierte eingehend die Züge von Graf Ranulf von Sharone.
»Gutaussehender Bursche«, bemerkte er.
»Wie? Oh, das. Ich wollte es schon länger wegstellen.«
»Hängen wir etwa an vergangenen Illusionen, Gräfin?«
Als er zu ihr hinübersah, bemerkte er überrascht, dass sie den Mund fest zusammengepresst hatte und ihre grünen Augen hart und wütend glitzerten, obwohl seine Bemerkung eher im Plauderton gewesen war.
Sie war über die Trennung noch nicht hinweg, dachte er. Auch wenn sie behauptete, dass sie den Mann nicht geliebt hatte.
»Ich möchte eins klarstellen, Mr. Smith. Ich schätze es gar nicht, wenn man sich über mich lustig macht.«
Als er sie ansah, freute er sich über ihre Willensstärke. »Bitte nennen Sie mich John. Diese Sache mit Mister geht mir auf die Nerven.«
Mit einer raschen Bewegung hob sie den raschelnden Saum ihres Kleides an und schritt mit hochgerecktem Kopf auf ihn zu.
Sie hielt seinem Blick beleidigt und wütend stand. Aber Smith durchfuhr ein heißer Kitzel. Nicht viele Menschen boten ihm Widerstand. Tiny gehörte dazu, Eddie vielleicht auch. Die Reichen, die ihn beauftragten, behandelten ihn stets unterwürfig und respektvoll, genau wie die Regierungsbeamten und Poliker, mit denen er zu tun hatte. Normale Menschen hielten sich gewöhnlich fern von ihm.
Aber diese Frau, die fast zwanzig Zentimeter kleiner war als er, die keine Schuhe an den Füßen hatte, aber ein Abendkleid trug, sah ihn mit einer Autorität und einem Selbstbewusstsein an, das ihn an seinen Kommandeur auf der Militärakademie erinnerte.
Er hatte sie für eine schöne Kleiderpuppe gehalten, die sich immer anständig benahm. Aber wenn sie sauer war, war sie nicht nur schön, sie war großartig.
»Mister Smith, sollten wir tatsächlich unter einem Dach miteinander wohnen, werden Sie Ihre Arroganz eine Stufe herabschrauben müssen, ebenso wie Ihre verächtliche Haltung. Ich habe mich mit einem Vater abfinden müssen, der mich beherrschen wollte, und einem Mann, der das auch versuchte. Ich werde keinen weiteren autoritären Mann mehr neben mir dulden.«
Gott, er wollte sie küssen! Er wollte nichts lieber als sie küssen.
Dann grinste er. Eine Art Sonnenstrahl durchfuhr seine Adern und weckte Dinge in ihm, die seit Jahren unbemerkt geblieben waren. Er wollte lachen, den Kopf in den Nacken werfen und laut und kräftig lachen.
Wer hätte gedacht, was für ein Feuer in dieser kühlen, eleganten Frau schlummerte? Aber warum überraschte ihn das? Er hatte ihre Leidenschaft bereits einmal gespürt.
»Verstehen wir einander nun?«, fragte sie herausfordernd. »Ich bin bereit, Ihnen mein Leben anzuvertrauen und Ihren Anweisungen zu folgen, aber ich lasse mich nicht veralbern.«
Er neigte knapp den Kopf, was alles hätte bedeuten können.
Er dachte, wenn alles vorbei war, könnten sie vielleicht einmal eine Nacht miteinander verbringen. Mit dieser Aussicht würden seine Fantasien ihn nicht ständig frustrieren. Sie wären bloß ein Vorspiel.
Keine schlechte Idee, fand er und war ziemlich stolz auf sich.
Grace stieß einen frustrierten Laut aus und nickte in Richtung einer offenen Tür. »Dort ist mein Bad.«
»Und hier?« Er deutete auf die andere Doppeltür.
Sie öffnete sie. Mehrere Strahler beleuchteten Reihen von Kleidern, Kostümen, Blusen, Röcken, Ballgewändern. Schuhe in allen möglichen Farben und Formen waren auf dem Boden aufgereiht.
Dann holte sie tief Luft. Smith sah, wie ihre Schultern herabsackten. Sie wandte sich ihm zu. Ihre Wut war verflogen. Nun sah sie nur noch erschöpft aus.
»Wann haben Sie das letzte Mal eine Nacht durchgeschlafen?«, fragte er.
Ihre Miene zeigte Überraschung.
»Bevor mein Vater starb.« Sie verstummte. »Nein, eigentlich vor meiner Hochzeit.«
Dann sah sie sich um, schien zu bemerken, dass nichts weiter zu erklären war, und verstummte wieder.
»Um wie viel Uhr stehen Sie auf?«, fragte er.
»Früh. So gegen sechs. Ich gehe joggen.«
»Ich komme mit.«
»Gut.« Sie zögerte. »Werden Sie den ganzen Tag in meiner Nähe bleiben?«
»Ja.«
»Wird Ihnen das nicht langweilig?«
»Ich bin dabei sehr beschäftigt.«
»Womit?«
»Sie zu beobachten.«
Ihr Blick blitzte zu ihm hoch. Ihre Augen wirkten nun verletzlich und unbewusst fragend, was ihn sehr erregte.
Grace runzelte die Stirn, als wäre ihr gerade etwas eingefallen. »Sagen Sie mir eins: Gefällt Ihnen Ihre Arbeit?«
Wenn man jemanden wie sie beschützte, yeah, das gefiel ihm gut. Aber Smith beantwortete die Frage nicht.
»Schlafen Sie gut«, sagte er stattdessen und wollte das Zimmer verlassen. »Halten Sie die Tür offen. Ich muss Sie hören können.«
»Smith?«
Er blieb abrupt stehen und sah sie über die Schulter hinweg an.
»Danke. Ich schätze das wirklich …«
Er unterbrach sie, indem er das sagte, was er allen anderen Klienten auch sagte. »Verschwenden Sie Ihre Zeit nicht mit Dankbarkeit.Wir haben eine professionelle Abmachung. Sie müssen mich am Ende bloß bezahlen, dann sind wir quitt.«
Ihre Augen verdunkelten sich. »In Ordnung.«
Als er sich abwandte, duchfuhr ein seltsames Gefühl seine Brust.
Er erkannte, dass er sie verletzt hatte. Schon wieder.
Und irgendwie gefiel ihm das nicht.
Als er sein Schlafzimmer betrat, fragte er sich, was mit ihm nicht stimmte. Wann hatte er begonnen, sich um die Gefühle anderer zu scheren?
Besonders um die Gefühle der Gräfin?