6 

Als sie in die Eingangshalle kamen, war der
Wachmann verschwunden.
»Er macht vermutlich gerade seine Runde«, sagte
Grace, deren Stimme in der riesigen Halle verloren klang. »Das ist
seine Aufgabe. Ich rufe meinen Fahrer.«
Während sie ihr Handy aus der Tasche zog, sah sie
Smith an. Seine Blicke erfassten jede Einzelheit des ausladenden
neoklassizistischen Atriums.
»Jetzt verstehe ich, warum man dieses Gebäude als
ein historisches Denkmal betrachtet«, bemerkte er. »Es war das
Gegenstück zum Chrysler-Building, nicht wahr?«
Grace nickte. »Beide wurden innerhalb von zwei
Jahren errichtet. Mir gefallen die Lifttüren am besten. Das
ägyptische Motiv, das viele Silber und Messing. Die Decke ist auch
nicht schlecht.«
Beide blickten hoch zu der reich verzierten Decke
drei Stockwerke über ihnen.
Dann wandte Smith sich zu einer mächtigen
Doppeltür, über der auf einer weißen Marmorplatte »Woodward Hall
Museum« eingraviert war.
»Ist das Museum jeden Tag für die Öffentlichkeit
zugänglich?«
»Ja, außer dienstags.«
»Wie groß ist es?«
»Es nimmt die ersten vier Stockwerke ein und hat
ein eigenes
Liftsystem. Auf drei Etagen befindet sich die Sammlung, im vierten
Stock sind die Bibliothek, die Verwaltung und die Werkstatt, wo die
Restaurierungen ausgeführt werden.«
»Ich hätte morgen gerne eine Tour durch das gesamte
Gebäude. Und die Baupläne.«
»In Ordnung.« Sie drückte die Nummer des
Fahrers.
Als die Limousine draußen vorfuhr, schritten die
beiden hinaus in die Dunkelheit. Sie hatten etwa zwanzig Meter auf
den Granitplatten bis zur Straße zurückzulegen, wobei sie an der
riesigen Statue von George Washington vorbeikamen. Dann folgten ein
paar Stufen hinab.
Grace warf einen Blick zurück über die Schulter,
weil Smith nicht neben ihr herging. Dabei trafen sich ihre Blicke
und verloren sich wieder, weil er die Plaza und die Straßen ringsum
überblickte. Es waren keine weiteren Fußgänger unterwegs, und nur
gelegentlich fuhr ein Taxi vorbei. Grace hatte keine Angst
mehr.
Er war als Killer ausgebildet. Es war eigentlich
eine Naturbegabung.
Das war ihr neuer Wohngenosse.
»Sind Sie bewaffnet?«, fragte sie plötzlich.
»Das bin ich immer.«
Sie erschauderte.
Ihr Fahrer wirkte überrascht, doch er stieg aus,
öffnete ihr die Tür und blickt dann zu Smith hoch.
»Guten Abend, Sir.«
Smith nickte und setzte sich neben Grace auf den
Rücksitz.
Es war recht kühl im Wagen, aber Grace hatte das
plötzliche Bedürfnis, das Fenster zu öffnen, nur um ein Gefühl von
mehr Raum um sich zu haben. Smith saß ihr
zwar gegenüber und wirkte gelassen und beherrscht, aber es ging
etwas sehr Starkes und Beherrschendes von ihm aus.
Ach, mach dir nichts daraus, ermahnte sie sich. Er
ist nicht Jesus.
Dann lächelte sie und blickte aus dem
Fenster.
In dem Fall würde er nämlich eine weiße Toga und
Sandalen tragen.Vermutlich hätte er auch einen Heiligenschein.
Vielleicht würden ein paar Engelchen ihn umschwirren. Mit
Sicherheit würde er keine schwarze Lederjacke tragen, konzentriert
geradeaus starren und bewaffnet sein.
Nach dem Stress der letzten Zeit, und mit dem Bild
von ihm in einer weißen Toga vor Augen bekam sie fast einen
Lachanfall, aber sie musste sich beherrschen. Schließlich dürfte
auch er ein paar Schwächen haben.Vermutlich sang er völlig schräg
unter der Dusche, schnarchte wie ein Hund und trug ausgefranste
Boxershorts.
Bei dem neuen Bild von seinem halbnackten Körper
vor dem inneren Auge zuckte sie zusammen und begann, ihre Schläfen
zu reiben. Die Unterwäschewerbung, die ihr in den Sinn kam, half
auch nicht bei dem Versuch, den Mann neben sich zu
entschärfen.
Grace betrachtete ihn zwischen den Fingern
hindurch. Er starrte aus dem Wagenfenster, während sie über die
Park Avenue rasten. Unter jeder Straßenlaterne, die sie passierten,
ließ das Licht kurz seine kantigen Gesichtszüge aufleuchten und
wieder verlöschen.
Wann hatte er sich wohl das Nasenbein gebrochen?
Und wie oft?
»Ist John Smith Ihr echter Name?«, fragte sie
laut.
Sein Kopf ruckte zu ihr herum. Sie rechnete wegen
seiner versteinerten Miene damit, dass er die Frage nicht
beantworten
würde, aber dann zuckte er mit den Achseln. »Ziemlich echt.«
»Wie soll ich Sie nennen?«
»Wie Sie wollen.«
»Würden Sie auf Pookie reagieren?«
Er sah wieder aus dem Fenster, doch sie bemerkte,
wie es um seine Mundwinkel herum zuckte. »Nein.«
Ihr Blick glitt über seinen kurzen Haarschnitt zu
dem ausgeprägten Kinn und verweilte dann auf seinen Lippen. Ein
heißer Schock durchfuhr sie, als sie sich an seinen Kuss
erinnerte.
Smith wandte sich ihr zu und sah sie mit
zusammengekniffenen Augen an, als wüsste er, woran sie gerade
dachte.
»Wollten Sie noch etwas sagen?«, fragte er
entwaffnend freundlich.
Sie wandte sich ab.
»Keine weiteren Fragen, Gräfin?« Seine Stimme klang
spöttisch.
»Keine, die Sie beantworten würden«, murmelte
sie.
Außerdem keine, deren Antworten sie irgendetwas
angingen. Sie hatte sich gefragt, ob er verheiratet war. Sie hatte
keinen Ring an seinen Fingern bemerkt, aber viele Männer trugen
keinen Ehering.
Als sie vor ihrem Wohngebäude vorfuhren, beugte er
sich zu ihr vor und knurrte leise:
»Seien Sie vorsichtig mit Ihren Blicken, Gräfin.
Die bitten vielleicht um Dinge, die Sie eigentlich nicht
wollen.«
Dann öffnete er die Wagentür und stieg aus.
O Gott, dachte sie. Wie konnte sie bloß mit ihm
unter einem Dach leben?
Grace holte tief Luft. Immerhin konnte sie es sich
heute Abend noch einmal überlegen, denn sicher würde er erst
morgen bei ihr einziehen. Vielleicht auch erst einen Tag später.
Sie hatte genug Zeit, sich an den Gedanken zu gewöhnen.
Grace raffte ihre Stola zusammen und stieg aus dem
Wagen. Smith schritt neben ihr her unter dem grüngoldenen Baldachin
auf den Eingang zu, und sie überlegte krampfhaft, wie sie den Abend
mit einer freundlichen, sicheren Phrase beenden könnte. Der Portier
öffnete ihnen die Tür, und sie formulierte im Kopf gerade eine der
netten, witzigen Bemerkungen, für die sie bekannt war.
Allerdings versagte ihr Verstand gerade völlig.
Unter den gegebenen Umständen war es wohl am besten, einfach nur
Gute Nacht zu sagen und zu gehen.
Als er das Haus hinter ihr betrat, erstarrte
sie.
»Äh … Sie kommen mit? Heute Abend?« Ihre Stimme
klang eine ganze Oktave höher als sonst. Der Portier verzog sich
diskret.
Smith winkte dem Fahrer zu. Die Limousine fuhr
davon.
»Das war doch unsere Abmachung.« Er sah sie
gleichmütig an. »Haben wir da ein Problem? Schon wieder?«
»Worin wollen Sie denn schlafen?«, platzte sie
heraus.
»Meine eigene Haut ist dafür normalerweise gut
genug.«
»Oh … ja … natürlich. Hmm …« Und sie hatte bereits
die Fantasie von der Unterwäschewerbung herausfordernd gefunden!
»Hmm …«
»Worauf warten Sie?«
Diese Frage konnte sie kaum wahrheitsgemäß
beantworten. Er brauchte ja nicht zu wissen, dass sie die
Vorstellung aus ihrem Kopf zu vertreiben versuchte, wie er
splitternackt aussah.
Sie ging ihm voran durch die große Eingangshalle
des Gebäudes, während sie innerlich bedauerte, überhaupt keine Zeit
gehabt zu haben, sich auf seine Ankunft in ihrer Wohnung
vorzubereiten. Er würde im Zimmer nebenan schlafen.
Und ihr Bad mitbenutzen.
Da entfuhr ihr ein Kichern, weil ihr einfiel, dass
das Gästebadezimmer gerade renoviert wurde. Es hatte nicht einmal
einen Wasseranschluss. Er würde ihre Handtücher, ihre Seife, ihre
Dusche benutzen müssen.
»Was ist denn so komisch?« Smith griff an ihr
vorbei und drückte den Aufzugknopf. Seine blauen Augen wandten sich
ihr so gelassen zu, als würde es ihn eigentlich nicht
interessieren.
Daher verriet sie es ihm.
»Ich frage mich gerade, wie Sie es finden, wenn Sie
morgen früh beim Duschen meine Lavendelseife benutzen müssen.« Dann
unterdrückte sie einen weiteren Lachanfall. »Sind Sie sicher, dass
Sie nichts brauchen? Keinen Rasierapparat? Keinen Kamm? Oder rollen
Sie sich einfach so, wie Sie sind, aus der Kiste?«
»Na, wer hätte das gedacht, die Gräfin kann sich
auch normal ausdrücken!«, bemerkte Smith. Dann kam der Lift.
»Ich kenne mich im Umgangston ziemlich gut aus«,
erwiderte sie. »Erst letzte Woche ist mir eine Dose auf den Fuß
gefallen, und ich habe geflucht wie ein Straßenjunge.«
»War es eine Dose Kaviar?«
»Nein, Schuhcreme.«
»Na, schon wieder eine Überraschung.« Er verbeugte
sich leicht aus der Hüfte heraus, als er ihr die Tür aufhielt.
»Hoheit.«
Sie runzelte die Stirn. Er verspottete sie schon
wieder, und dummerweise fühlte sie sich davon verletzt.
Immerhin würde er mit ihr zusammenleben. Selbst
wenn sie niemals Freunde sein würden, konnten sie doch wohl beide
versuchen, einander mit Respekt zu behandeln? Sie würde sich
sicherlich Mühe geben, mit ihm auszukommen. Auch wenn sie immer
zwischen dem Bedürfnis schwankte, ihn anzuherrschen oder ihn
…
Sie wollte nicht wieder daran denken, wie es war,
als er sie geküsst hatte.
»Nennen Sie mich bitte Grace«, murmelte sie und
betrat den Lift. »Diese Sache mit den Titeln geht mir auf die
Nerven.«
Smith fühlte sich in der engen Kabine des Lifts
sehr eingeengt und wartete nur darauf, dass die Türen sich wieder
öffneten.
Grace stand vor ihm, so dass er ungestört ihren
Nacken betrachten konnte. Das war das Letzte, was er momentan
brauchte. Den ganzen Weg nach oben stellte er sich vor, wie seine
Hände ihre Taille umfassten und sie an seinen Körper zogen. Er
würde ihren Kopf herumdrehen und sie zärtlich und ausgiebig
küssen.
Falls dieser verdammte Lift sich noch langsamer
bewegte, würden sie bald in den Keller fallen, fluchte er
innerlich.
Die Arbeit mit der Gräfin würde schwierig werden.
Neben ihr in der Limousine hatte er ständig aus dem Fenster
geblickt, damit sein Blick nicht auf den vom Kleid ziemlich
enthüllten Beinen verharrt hätte. Und als er spürte, dass sie ihn
ansah, hatte er sich versucht gefühlt, ihr genau das zu geben,
worum ihre großen Augen zu betteln schienen.
Er hatte sich sogar geärgert, als er hörte, dass
sie ihrem
Mann treu gewesen war. Als hätte dieser Aristokrat es verdient -
so, wie er bei der Beerdigung ihres Vaters ausgesehen hatte.
Als die Türen endlich aufglitten, verspürte er
große Erleichterung.
An beiden Enden des kurzen Gangs befand sich eine
nicht näher bezeichnete Tür. Über einer dritten leuchtete in Rot
das Wort Ausgang auf.
Er hörte das Rasseln von Schlüsseln. Sie öffnete
die linke Tür. Sobald sie drinnen war, trat sie seufzend die Schuhe
von den Füßen und tapste erleichtert barfuß weiter, um alle Lichter
anzuschalten.
Smith war von ihrer Wohnung beeindruckt, aber nicht
überrascht. Er hatte damit gerechnet, dass sie in einer üppigen
Umgebung wohnen würde. Die Räume waren vier Meter hoch, die
Aussicht war spektakulär. Viele originale Ausstattungsteile
stammten aus der Zeit vor der Jahrhundertwende. Allein der
Holzboden und die Täfelung waren ein Vermögen wert. Ihre Möbel und
Gemälde hatten ausgesprochene Museumsqualität.
»Gehen Sie voran«, sagte er mit einem
Kopfnicken.
Er folgte ihr ins Wohnzimmer, wo er mehrere
Doppeltüren bemerkte, die auf eine beleuchtete Terrasse
hinausführten. Die Sofas hatten Seidenbezüge, die kleinen
Beistelltischchen waren antik, die Lampen wirkten orientalisch.
Eine Ecke des Raums wurde von einem Flügel beherrscht.
Smith trat zu einem beeindruckenden Marmorkamin,
über dem ein Ölgemälde mit einer Berglandschaft hing. Ein
britischer Soldat in rotem Rock war von einem Lichtstrahl
umflossen, der aus einem dräuenden Wolkenhimmel fiel.
»Nettes Bild«, bemerkte er.
»Danke. Ich habe es gerade erst gekauft. Es ist ein
Thomas Cole. Ich sammle die Hudson-Schule.«
Smith hatte den deutlichen Eindruck, dass sie den
Rundgang rasch hinter sich bringen wollte, aber er ließ sich nicht
gerne hetzen. Während er die Einrichtung betrachtete, fielen ihm
die Sensoren im Raum auf. Ohne Zweifel hatte sie eine gute
Alarmanlage. Doch eingeschaltet hatte sie das Ding wohl nicht, denn
sie hatte nichts Entsprechendes unternommen, nachdem sie die Wohnng
betreten hatten.
Er blieb neben einem Tisch stehen, auf dem ein paar
Fotos standen. Auf einigen war sie strahlend neben verschiedenen
Personen zu sehen, von denen er einige als Prominente erkannte. Ein
Bild interessierte ihn besonders. Es war ein ehrliches
Schwarzweißporträt von ihr und ihrem Vater in einem breiten
Silberrahmen. Beide lächelten strahlend. Ihr Blick hing voller
Liebe und Zuneigung an dem Mann. Es hatte nichts Gestelltes,
nichts, was vorgetäuscht war. Nur ein Vater und eine Tochter, die
einander liebten.
»Das wurde erst letztes Jahr aufgenommen«, murmelte
sie. Als sie neben ihn trat, erkannte er ihr Parfüm, diese feine
Mischung aus Zitrone und Blüten. »Es war in Willig, unserem Haus in
Newport. Am vierten Juli. Wir wussten beide nicht, wie wenig Zeit
wir noch zusammen haben würden.«
Sie wandte sich abrupt ab. »Das Esszimmer ist
hier.«
Aber Smith trat zu dem Flügel und betrachtete ihn
anerkennend. Es war ein Steinway. Die schwarze Lackpolitur glänzte
im Lampenlicht. Er klappte den Deckel auf und fasste mit Daumen und
kleinem Finger die C-Oktave. Ein warmer, voller Klang. Dann nahmen
seine Hände eine andere Position ein, um einen Dur- und Mollakkord
zu spielen. Gute Mechanik, perfekt gestimmt.
Nettes Stück.
»Spielen Sie Klavier?« Ihre Stimme klang
überrascht, als die Töne verklungen waren.
Smith klappte den Deckel zu. »Nein.«
Er würde ihr nichts darüber verraten, dass Musik
seine Zuflucht gewesen war in seiner Kindheit und eines der wenigen
Mittel, mit denen er auch als Erwachsener seinen Frieden
fand.
Die meiste Zeit ging es in seinem Leben aber nicht
um Ruhe und Frieden, sondern um Konzentration, höchste
Aufmerksamkeit und Wachsamkeit. Bei den seltenen Gelegenheiten,
wenn er eine Pause nötig hatte, konnte ein Klavier ihn stets
beruhigen, ihn in stillere Gewässer geleiten. Tai-Chi war seine
weitere Entspannungsmethode.
Smith folgte ihr ins nächste Zimmer, in dem ein
langer Mahagonitisch mit zwölf Stühlen stand. Der Kristallleuchter
darüber, der von einer verschnörkelten Alabaster-Rosette herabhing,
strahlte auf. Wie im Wohnzimmer hingen beigefarbene Seidenvorhänge
vor den Fenstern, die von Satinbändern mit Fransen zurückgehalten
wurden.
Smith sah Grace über die polierte Tischplatte
hinweg an. In dem roten Abendkleid mit ihrem Brillantschmuck passte
sie gut in diese hoheitsvolle Umgebung.
Er fragte sich, wie sie wohl aussah, wenn sie das
Haar offen trug … wenn sie sich liebten. Er stellte sich vor, wie
sie im Bann der Leidenschaft den Kopf in den Nacken warf, die
manikürten Fingernägel in die Laken krallte und ihr Körper beim
Orgasmus erbebte, während sie lustvolle Laute ausstieß.
Na, das wäre ein Anblick …
Aber es war verdammt klar, dass er das nie erleben
würde. Denn nur falls sie sich an einem Hühnerknochen verschluckte
und der Heimlich-Griff erforderlich war oder falls sie in Ohnmacht
fiel und wiederbelebt werden müsste, würde er diese Lippen und
diesen Körper jemals wieder berühren.
Als er sie damals auf dem Gang an sich gerissen
hatte, war sie nicht seine Klientin gewesen. Sie war eine
begehrenswerte Frau, die mit ihm spielte und der man eine Lektion
erteilen musste. Und nun hatte er die Verantwortung für ihr Leben
übernommen. Das bedeutete, dass seine Fantasie zwar alle möglichen
Spielchen mit ihm treiben mochte, aber er würde keinen Finger
rühren, um sie Wirklichkeit werden zu lassen.
Smith folgte ihr durch die Schwingtüren in eine
großzügige Küche. In einer Ecke befand sich ein Herd von
Restaurantausmaßen; ein riesiger Edelstahlkühlschrank stand in
einer anderen, mit mehreren Metern Granit-Arbeitsplatten
miteinander verbunden. Im Vergleich zu der antiken Einrichtung in
der übrigen Wohnung war es eine sehr technisch wirkende
Küche.
»So, jetzt haben Sie alles gesehen.« Ihre Stimme
verklang.
»Haben Sie Hauspersonal?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nur eine Hilfe tagsüber.
Wenn Sie nichts dagegen haben, zeige ich Ihnen jetzt Ihr
Zimmer.«
»Ich möchte auch sehen, wo Sie schlafen.«
Ihr Blick wanderte seitwärts. »Natürlich.«
Auf dem Weg zur anderen Seite des Penthouse hob sie
die Schuhe auf. Wie menschlich und normal sie wirken konnte.Trotz
der Brillanten und des teuren Kleides war sie einfach bloß eine
Frau, die müde war und deren Füße vermutlich den ganzen Abend
wehgetan hatten.
»Wie lange leben Sie schon hier?«, fragte er.
»Etwa fünf Jahre.«
Sie führte ihn in einen großen Raum mit zwei
Doppelbetten. Die Wände waren mit blauer Seide bespannt, aber der
Orientteppich auf dem Dielenboden hatte einen Plastikbezug.
Sie zögerte, ehe sie eine Doppeltür öffnete.
Dahinter stand eine frei stehende Badewanne auf Klauenfüßen in der
Mitte, umgeben von anderen Sanitärgegenständen auf dem Boden. »Wie
ich schon sagte, müssen Sie mein Bad mitbenutzen, weil dieses
gerade renoviert wird.«
Ihr Blick flatterte kurz zu ihm und wieder
fort.
»Mein Schlafzimmer ist da drüben.«
Sie ging ihm voran den Gang entlang.
Ihr Schlafraum war in verschiedenen Beigetönen
gehalten. Eine breite Glastür und mehrere Fenster führten auf die
Terrasse hinaus. Anerkennend bemerkte er die Sensoren der
Alarmanlage.
Als er sich weiter umsah, fiel ihm ein gerahmtes
Foto auf einem Schreibtisch im Pionierstil auf. Er trat darauf zu
und studierte eingehend die Züge von Graf Ranulf von Sharone.
»Gutaussehender Bursche«, bemerkte er.
»Wie? Oh, das. Ich wollte es schon länger
wegstellen.«
»Hängen wir etwa an vergangenen Illusionen,
Gräfin?«
Als er zu ihr hinübersah, bemerkte er überrascht,
dass sie den Mund fest zusammengepresst hatte und ihre grünen Augen
hart und wütend glitzerten, obwohl seine Bemerkung eher im
Plauderton gewesen war.
Sie war über die Trennung noch nicht hinweg, dachte
er. Auch wenn sie behauptete, dass sie den Mann nicht geliebt
hatte.
»Ich möchte eins klarstellen, Mr. Smith. Ich
schätze es gar nicht, wenn man sich über mich lustig macht.«
Als er sie ansah, freute er sich über ihre
Willensstärke. »Bitte nennen Sie mich John. Diese Sache mit Mister
geht mir auf die Nerven.«
Mit einer raschen Bewegung hob sie den raschelnden
Saum ihres Kleides an und schritt mit hochgerecktem Kopf auf ihn
zu.
Sie hielt seinem Blick beleidigt und wütend stand.
Aber Smith durchfuhr ein heißer Kitzel. Nicht viele Menschen boten
ihm Widerstand. Tiny gehörte dazu, Eddie vielleicht auch. Die
Reichen, die ihn beauftragten, behandelten ihn stets unterwürfig
und respektvoll, genau wie die Regierungsbeamten und Poliker, mit
denen er zu tun hatte. Normale Menschen hielten sich gewöhnlich
fern von ihm.
Aber diese Frau, die fast zwanzig Zentimeter
kleiner war als er, die keine Schuhe an den Füßen hatte, aber ein
Abendkleid trug, sah ihn mit einer Autorität und einem
Selbstbewusstsein an, das ihn an seinen Kommandeur auf der
Militärakademie erinnerte.
Er hatte sie für eine schöne Kleiderpuppe gehalten,
die sich immer anständig benahm. Aber wenn sie sauer war, war sie
nicht nur schön, sie war großartig.
»Mister Smith, sollten wir tatsächlich unter einem
Dach miteinander wohnen, werden Sie Ihre Arroganz eine Stufe
herabschrauben müssen, ebenso wie Ihre verächtliche Haltung. Ich
habe mich mit einem Vater abfinden müssen, der mich beherrschen
wollte, und einem Mann, der das auch versuchte. Ich werde keinen
weiteren autoritären Mann mehr neben mir dulden.«
Gott, er wollte sie küssen! Er wollte nichts lieber
als sie küssen.
Dann grinste er. Eine Art Sonnenstrahl durchfuhr
seine Adern und weckte Dinge in ihm, die seit Jahren unbemerkt
geblieben waren. Er wollte lachen, den Kopf in den Nacken werfen
und laut und kräftig lachen.
Wer hätte gedacht, was für ein Feuer in dieser
kühlen, eleganten Frau schlummerte? Aber warum überraschte ihn das?
Er hatte ihre Leidenschaft bereits einmal gespürt.
»Verstehen wir einander nun?«, fragte sie
herausfordernd. »Ich bin bereit, Ihnen mein Leben anzuvertrauen und
Ihren Anweisungen zu folgen, aber ich lasse mich nicht
veralbern.«
Er neigte knapp den Kopf, was alles hätte bedeuten
können.
Er dachte, wenn alles vorbei war, könnten sie
vielleicht einmal eine Nacht miteinander verbringen. Mit dieser
Aussicht würden seine Fantasien ihn nicht ständig frustrieren. Sie
wären bloß ein Vorspiel.
Keine schlechte Idee, fand er und war ziemlich
stolz auf sich.
Grace stieß einen frustrierten Laut aus und nickte
in Richtung einer offenen Tür. »Dort ist mein Bad.«
»Und hier?« Er deutete auf die andere
Doppeltür.
Sie öffnete sie. Mehrere Strahler beleuchteten
Reihen von Kleidern, Kostümen, Blusen, Röcken, Ballgewändern.
Schuhe in allen möglichen Farben und Formen waren auf dem Boden
aufgereiht.
Dann holte sie tief Luft. Smith sah, wie ihre
Schultern herabsackten. Sie wandte sich ihm zu. Ihre Wut war
verflogen. Nun sah sie nur noch erschöpft aus.
»Wann haben Sie das letzte Mal eine Nacht
durchgeschlafen?«, fragte er.
Ihre Miene zeigte Überraschung.
»Bevor mein Vater starb.« Sie verstummte. »Nein,
eigentlich vor meiner Hochzeit.«
Dann sah sie sich um, schien zu bemerken, dass
nichts weiter zu erklären war, und verstummte wieder.
»Um wie viel Uhr stehen Sie auf?«, fragte er.
»Früh. So gegen sechs. Ich gehe joggen.«
»Ich komme mit.«
»Gut.« Sie zögerte. »Werden Sie den ganzen Tag in
meiner Nähe bleiben?«
»Ja.«
»Wird Ihnen das nicht langweilig?«
»Ich bin dabei sehr beschäftigt.«
»Womit?«
»Sie zu beobachten.«
Ihr Blick blitzte zu ihm hoch. Ihre Augen wirkten
nun verletzlich und unbewusst fragend, was ihn sehr erregte.
Grace runzelte die Stirn, als wäre ihr gerade etwas
eingefallen. »Sagen Sie mir eins: Gefällt Ihnen Ihre Arbeit?«
Wenn man jemanden wie sie beschützte, yeah, das
gefiel ihm gut. Aber Smith beantwortete die Frage nicht.
»Schlafen Sie gut«, sagte er stattdessen und wollte
das Zimmer verlassen. »Halten Sie die Tür offen. Ich muss Sie hören
können.«
»Smith?«
Er blieb abrupt stehen und sah sie über die
Schulter hinweg an.
»Danke. Ich schätze das wirklich …«
Er unterbrach sie, indem er das sagte, was er allen
anderen Klienten auch sagte. »Verschwenden Sie Ihre Zeit nicht mit
Dankbarkeit.Wir haben eine professionelle Abmachung. Sie müssen
mich am Ende bloß bezahlen, dann sind wir quitt.«
Ihre Augen verdunkelten sich. »In Ordnung.«
Als er sich abwandte, duchfuhr ein seltsames Gefühl
seine Brust.
Er erkannte, dass er sie verletzt hatte. Schon
wieder.
Und irgendwie gefiel ihm das nicht.
Als er sein Schlafzimmer betrat, fragte er sich,
was mit ihm nicht stimmte. Wann hatte er begonnen, sich um die
Gefühle anderer zu scheren?
Besonders um die Gefühle der Gräfin?