10 011
Eddie juchzte vor Freude auf, als Smith ihm eine Tüte mit Essensresten auf den Vordersitz warf. »Wunderbar! Was gibt es denn? Hummer? Filet Mignon?«
Die beiden warteten im Wagen, während Grace sich vor dem Club von der Mutter verabschiedete.
»Spaghetti, glaube ich.«
Eddie reckte den Hals nach hinten »Kannst du das wiederholen? Du isst in einem solchen Laden und bestellst dir verdammte Spaghetti?«
»Ich habe das nicht bestellt.«
Grace’ Züge wirkten trotz des Lächelns angespannt. Komisch, dass ihre Mutter das nicht zu bemerken schien.
»Wie meinst du das, du hast das nicht bestellt? Ist da eine Fee aufgetaucht, hat mit dem Zauberstab gewunken, und da stand der Teller?«
»Keine Ahnung, ich hatte eher den Eindruck, dass mir das ein böser kleiner Schurke vorgesetzt hat.«
Eddie lachte. »Damit ist der Laden für mich gestorben.«
»Sehr gescheit von dir.«
Nachdem ihre Mutter in einer schwarzen Limousine davongerauscht war, kam Grace zu ihrem Fahrzeug. Smith hielt ihr die Tür auf. Eddie fuhr sofort los. Smith sah kurz zu Grace hinüber. Sie sah völlig erschöpft aus, beklagte sich aber mit keinem Wort.Weder seufzte sie vor Müdigkeit und Frustration, noch beklagte sie sich wortreich über ihre Mutter.
Sie war einfach nur still und geduldig und strahlte eine zarte Kraft aus.
Seltsam, diese beiden Worte hatte er noch nie im Zusammenhang gedacht.
»Schwieriger Abend?«, fragte er.
Grace lehnte den Kopf zurück und sah ihn von der Seite her an. Sie hatte die Lider halb geschlossen. »Hätte schlimmer sein können.«
Damit wandte sie sich ab.
Sie waren etwa drei Blocks weiter, als Smith Eddie zuzischte: »Ich glaube, wir werden verfolgt. Fahr rechts ran.«
Grace’ Kopf ruckte vor, weil Eddie so abrupt bremste. Eine weiße Limousine fuhr an ihnen vorbei.
»Folg dem Wagen«, befahl Smith.
Der Explorer fädelte sich wieder in den Verkehr ein. Smith versuchte, das Nummernschild zu lesen, aber Taxis und andere Autos verdeckten es immer wieder. Kurz vor einer Kreuzung glaubte er, Glück zu haben. Die Ampel sprang auf Gelb, und nur ein Wagen war zwischen ihnen und ihrer Beute.
Doch dann raste die Limousine unvermittelt bei Rot über die Kreuzung und verschwand in einer kleinen Seitenstraße. Eddie ließ den Motor aufheulen, um das Fahrzeug vor ihnen zu überholen, aber im letzten Augenblick scherte ein Taxi zwischen ihnen ein. Smith sah die Heckleuchten der Limousine in der Dunkelheit verschwinden.
»Hast du was mitbekommen, Eddie?«
»Nein, ich war zu beschäftigt, näher an den Typen ranzukommen.«
Smith sah Grace an. »Dann fahr uns nach Hause.«
»Klar, Boss.«
Als sie vor dem Gebäude anhielten, stieg Smith zuerst aus, um Grace aus dem Wagen zu helfen. Sie blieb dicht neben ihm stehen, so dass er um sie herumgreifen musste, um den Seesack und den Metallkoffer vom Sitz zu nehmen, die Eddie aus seinem Hotel abgeholt hatte.
»Danke, dass du mein Zeug abgeholt hast«, rief er dem Freund zu.
»Kein Problem. Der Portier hat vor zwanzig Minuten die Lebensmittel in Empfang genommen. Er sagte, er würde sie auf dem Gang abstellen.Wann brauchst du mich morgen?«
»Halb acht.«
»Alles klar.«
Und dann beugte sich Grace, obwohl sie zum Umfallen müde war, ins Auto und lächelte Eddie an. »Wenn Sie die Pasta aufwärmen wollen, dann tun Sie das am besten auf einem Herd. Hochstellen und öfter umrühren. So bleibt das Gemüse knackig. Ich glaube, es wird Ihnen schmecken. Der Küchenchef kommt aus der Toskana. Gute Nacht, Eddie.«
Smith sah seinen Freund kurz an. Eddie wirkte amüsiert, aber auch wie verzaubert von ihrem Charme.
»Gute Nacht, Eddie«, sagte er trocken.
»Yeah, Boss«, erwiderte der Mann abwesend und fuhr los.
Sie gingen auf das Wohngebäude zu. »Woher wussten Sie, was ich zum Abendessen hatte?«, fragte Smith.
»Sie sind nicht der Einzige hier mit einer guten Beobachtungsgabe.«
Als Grace versuchte, die Wohnungstür aufzuschließen, fiel Smith auf, dass ihre Hände zitterten. Sie musste es mehrfach versuchen, ehe die Tür nachgab. Dann griff sie nach einer der Lebensmitteltüten, doch Smith meinte, sie brauche sich darum keine Sorgen zu machen.
»Dann gehe ich jetzt ins Bett«, sagte sie, stellte die Alarmanlage ab und rückte die Tüten in den Eingang.
Er folgte ihr den Gang entlang, stellte seinen Seesack und den Metallkoffer neben dem Bett ab, in dem er letzte Nacht geschlafen hatte, und folgte ihr weiter in ihr Schlafzimmer. Als sie ihn fragend ansah, erklärte er, er wolle nur kurz ihr Zimmer kontrollieren.
Er überprüfte das große Schlafzimmer, dann die übrige Wohnung, packte die Lebensmittel aus und ging in sein Zimmer. Gerade streifte er seine Lederjacke ab, als er am Ende des Ganges Wasser rauschen hörte.
Smith warf die Jacke über einen Stuhl.Vor seinen Augen tauchte ein Bild auf, wie sie das schwarze Kleid abgestreift hatte und ihr das Haar über die Schultern floss. Die Locken würden gerade eben über ihren Brustwarzen enden, und er würde sie sanft beiseitestreichen müssen, um sie zu küssen. Er malte sich aus, wie die blonden Wellen im Liebesakt über seine Brust fielen und sein Gesicht bedeckten.
Dann wurde das Wasser abgestellt.
Er brauchte einfach nur den Gang entlangzugehen, dachte er. Ihr Zimmer betreten und sie in den Am nehmen. Denn er hatte das sichere Gefühl, dass sie zwar ihrer Abmachung, einander nicht zu nahe zu treten, zugestimmt hatte, aber von ihrer Leidenschaft überwältigt würde.
Ein Kuss, und sie gehörte ihm.
Smith pulsierte das But in den Schläfen. Reglos stand er da.
Was machte sie nur gerade?
Er schüttelte den Kopf.
Was zum Teufel machte er nur gerade?
Umsichtig und mit gezielten Bewegungen schnallte er sein Schulterhalfter ab und nahm die Waffe heraus. Mit einem Blick auf das stumpf glänzende Metall schlossen sich seine Finger nahtlos um den kühlen Griff. Die Waffe war eigens und nach sehr genauen Angaben für ihn angefertigt worden. In dem Metallkoffer befanden sich zwei weitere identische Modelle.
Das vertraute Gewicht in der Hand wirkte beruhigend.
Aber seine Gedanken an Grace machten ihm zu schaffen.
Er dachte an den eleganten Mann im Congress Club, der sie auf die Wangen geküsst und den sie angelächelt hatte. Smith hatte in dem Augenblick nicht weiter darüber nachgedacht, aber jetzt fielen ihm seine aggressiven Gedanken dabei als ungewöhnlich auf: Er benahm sich ja wie ein eifersüchtiger Liebhaber.
Und überhaupt nicht wie ein professioneller Leibwächter.
Vielleicht brauchte er wirklich Urlaub. Ein paar Wochen irgendwo in der Wärme, wo die Drinks reichlich flossen und die Frauen leicht zu haben waren.
Genau, das brauchte er.
Einen gottverdammten Urlaub.
Smith runzelte die Brauen. Erst jetzt ging ihm auf, dass er noch nie in seinem Leben Urlaub gemacht hatte.
 
Ein paar Tage später stellte Smith fest, dass seine Besessenheit von Grace nur noch schlimmer geworden war, und das war furchtbar. Er war sexuell frustriert, schlief schlecht und war sehr gereizt.
Eigentlich war er auch sonst nicht gerade für seine Ausgeglichenheit bekannt.
Er saß wie üblich am Konferenztisch und sah zu Grace hinüber. Sie war in irgendeine Akte vertieft, und Smith versuchte zu ignorieren, dass ihre Seidenbluse sich vorn etwas geöffnet hatte und mehr Haut als üblich zu sehen war.
Immer erregter rückte er unruhig auf seinem Sessel hin und her.
Großartig. Einen Steifen bei der Arbeit!
Wirklich professionell.
Smiths Stimmung sank immer mehr auf den Nullpunkt. Daher suchte er sein Handy und wählte Detective Marks’ Nummer. Er wusste, dass die neuesten Informationen über den Fall ihn von der verdammten Bluse dieser Frau ablenken würden.
»Wie steht’s, Marks?«
»Oh, Jesus, nicht gut.« Marks klang erschöpft. »Der Polizeipräsident ist hinter mir her, weil diese Frauen bei allen Kultureinrichtungen der Stadt mitmischen. Die Presse hetzt wie verrückt und verlangt die Bestätigung, dass der Times-Artikel schon bei der ersten Leiche gefunden worden war. Ich versuche herauszufinden, welches Arschloch das weitergegeben hat. Bisher haben wir keinen einzigen Verdächtigen.«
Smith sprach leise weiter. »Habt ihr die Portiers der Gebäude verhört?«
»Yeah. In beiden, und zwar die Tag- und die Nachtschicht. Es sind seit über fünf Jahren dieselben Jungs. Alle haben sich als sauber herausgestellt, und alle haben angegeben, in der Nacht der Morde nichts Verdächtiges bemerkt zu haben. Die Eintragsbücher für Lieferungen und Besucher haben auch nichts ergeben.Alle haben sich eingetragen und wieder ausgecheckt. Es gibt keine Lücken.
»Irgendwelche Namen, die in beiden Büchern auftauchen?«
»Eine ganze Reihe. Diese Reichen scheinen immer dieselben Leute zu benutzen: Putzfrauen, Lieferanten, Schneider, Gärtner usw. Es ist wie eine riesige Drehtür.Wir arbeiten uns gerade durch die Lebensläufe von allen.«
»Gibt es irgendwelche Verbindungen zwischen den Männern der beiden Frauen? Geschäftlich? Freizeit?«
»Das habe ich noch nicht überprüft. Gute Idee.« Marks schwieg einen Moment. »Wie geht es denn der Gräfin?«
»Hält sich tapfer. Wenn man bedenkt, unter welchem Druck sie steht.«
»Nette Frau. Jemand mit so viel Geld könnte richtig unangenehm sein, aber sie benimmt sich überraschend normal.«
Sie unterhielten sich noch ein Weile über forensische Details an beiden Tatorten. Als Smith das Gespräch beendete, blickte er wieder auf. Kat war gerade hereingekommen, und Grace lachte über etwas, was das Mädchen gesagt hatte. Kat lächelte strahlend.
Das sah man oft bei Menschen in Grace’ Nähe, dachte Smith. Ob in ihrem Büro oder im Vorübergehen auf dem Gang - wer sie traf, sah anschließend glücklicher aus.
»Überraschend normal« traf das nicht ganz.
»Danke, Kat«, sagte Grace und ordnete die Papiere auf dem Schreibtisch. »Sie sind hier eine große Hilfe.«
Die Assistentin strahlte. »Ich arbeite die Änderungen sofort ein.«
»Keine Sorge. Es ist schon nach sechs. Machen wir Feierabend.« Grace’ Blick wanderte zu Smith und huschte dann schnell zurück.
»Ich habe es heute nicht so eilig«, meinte Kat.
»Nein, wirklich? Haben Sie wieder eine Verabredung?« Grace sah die andere forschend an.
»Nur auf einen Drink. Er ist ein Computer-Typ. Aber ich hoffe, wir reden über andere Dinge als bloß über Java oder Sims.« Kat nahm die Akte und ging zur Tür. »Einen schönen Abend, Mr. Smith.«
Smith nickte ohne aufzublicken. Grace sah zu ihm hinüber und dann zu Kat.
»Einen schönen Abend, Kat«, sagte sie leise, aber mit besorgter Miene.
Als Kat die Tür hinter sich geschlossen hatte, sah sie Smith mit zusammengekniffenen Augen an. »Sie könnten ruhig ein bisschen freundlicher zu ihr sein.«
»Zu wem?«
»Zu Kat.«
Er runzelte die Stirn. »Wie meinen Sie das?«
»Ich glaube, sie ist ein bisschen in Sie verknallt.«
Smith zuckte die Achseln und stapelte die Akten, die er durchgesehen hatte. Er untersuchte einen Betrug für einen Freund. »Dafür kann ich doch nichts.«
Grace stand auf. »Nein. Aber ihre Schuld ist es auch nicht. Wenn Sie sie weiter so ignorieren, verletzen Sie ihre Gefühle.«
Weder ihr Blick noch ihre Stimme klangen anklagend, aber Smith fühlte sich in die Enge getrieben. Die Vorstellung, dass sein Benehmen ihren Erwartungen nicht entsprach, machte ihm zu schaffen, aber den Grund dafür wollte er lieber nicht suchen.
Denn eigentlich sollte es ihm egal sein, was sie von ihm hielt.
Smith lächelte verkniffen. »Soll ich sie vielleicht auf einen Drink einladen oder so?«
»Warum sind Sie nicht einfach höflich zu ihr?«
Aus dem ersten Impuls heraus wollte er eine scharfe Bemerkung machen, damit sie das Thema fallenließ, aber da verließ ihn der Mut, weil er erkannte, dass sie ihn keineswegs kontrollieren wollte. Sie sorgte sich ernsthaft um die Gefühle des Mädchens.
Smith musste lachen. Es war viel leichter, gegen etwas anzukämpfen, als ernsthaft darüber nachzudenken. In seinem gegenwärtigen Zustand war ihm allerdings eher nach Streit zumute. Er war viel aggressiver als sonst, weil sie so attraktiv war und er so frustriert.
Und das sollte etwas heißen.
»Okay«, erwiderte er finster.
Sie lächelte. »Na, so schlimm war das doch nicht, oder?«
Als wäre er ein kleiner Junge, der getröstet werden musste.
Diese sanfte, aber kritische Bemerkung reichte. Smith explodierte. Er stand auf und stampfte durch den Raum. Das Lächeln auf ihren Lippen erstarb.
Aber als er sich vor ihr aufbaute, wollte er sie nur noch küssen.
Stattdessen sagte er: »Ich bin bereit, Zugeständnisse zu machen. Aber mir gefällt es nicht, so herablassend behandelt zu werden.«
Grace sah ihn verwundert und eindringlich an, und dann glitt ihr Blick hinab zu seinem Brustkorb, als müsste sie sich in Erinnerung rufen, wie sie sich in seiner Nähe fühlte. Sie öffnete die Lippen.
Heiliger Jesus.
Er wollte nichts anderes mehr auf dieser Welt, als sie zu küssen.
Doch ehe er die Beherrschung verlor, kehrte Smith mitsamt seiner üblen Laune und seiner Lust auf sie zum Konferenztisch zurück, packte seine Sachen zusammen und stutzte sich innerlich zurecht.
Verdammt, ausgerechnet diese Frau! Warum war er bloß so auf sie abgefahren? Er hasste doch Komplikationen, und es gab wohl nichts Komplizierteres als eine schöne, reiche Frau, die außerdem seine Klientin war.Warum konnte er es nicht einfach lassen? Er hatte im Laufe der Jahre viele Frauen vergessen. Fast alle, mit denen er jemals zusammen gewesen war.
Aber diese hier? Sie schwirrte ihm einfach unentwegt im Kopf herum.
Jeden Abend, auf dem Höhepunkt seiner Wahnsinnsideen, war er überzeugt, sie könnten miteinander ins Bett gehen, sobald sein Auftrag beendet wäre, und alles würde wunderbar sein. Sie verbrächten ein paar heiße Stunden miteinander, vielleicht noch ein, zwei Tage. Dann zöge er weiter.
Wenn er so im Dunkeln an die Decke starrte, schien das ein vernünftiger Plan. Aber bei hellem Tageslicht erkannte er, was für eine schreckliche Vorstellung es war. Wenn sie mit einem Mann schlief, würde sie ohne jeden Zweifel alles wollen, was Smith ihr nicht geben konnte. Sie wollte mehr als nur ein paar Stunden, mehr als nur ein, zwei Tage. Sie würde eine Beziehung wollen. Ein Gefühl von Sicherheit. Stabilität.
Außerdem würde sie Kirchenglocken erwarten, Freudenschreie. Den Zeitungen zufolge war sie von den begehrtesten Junggesellen der Welt umworben worden.Von Männern, die nichts anderes zu tun hatten, als ihr zu Gefallen zu sein. Elegante Männer, die mit Brillanten und Perlen auf ihrer Schwelle auftauchten. Männer, die fähig waren, ihr süße Liebesworte ins Ohr zu flüstern und diesen Blödsinn auch noch glaubwürdig klingen zu lassen.
Smith konnte so was nicht, selbst dann nicht, wenn sein Leben davon abhing. Oder wenn er sie damit bloß ins Bett lotsen wollte, damit er sie endlich aus seinen Gedanken vertreiben könnte.
Sie lebte in einer anderen Welt. Er existierte am Rand der Gesellschaft, in der Grauzone zwischen Kriminalität und Bürgertum. Sie war ein Idol, ein romantischer Traum für ein ganzes Land. Sie verbrachte ihre Tage in dem Wolkenkratzer ihrer Familie, die Abende in Ballsälen, die Wochenenden in Newport. Er hingegen verhandelte mit Entführern, schoss auf Gauner und Betrüger, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen.
Sie war ganz Satin und Platin, er Leder und Waffenmetall.
Oh, zum Teufel, jetzt klang er schon wie ein Country-&-Western-Sänger.
Er blickte auf. Grace war aufgestanden und starrte aus dem Fenster, vor dem gerade die Sonne unterging. Sein Blick glitt von ihrer blonden Aufsteckfrisur herab bis zu den spitzen Absätzen ihrer Schuhe.
Dabei durchfuhr ihn eine heiße Welle sinnlicher Lust.
Er streifte seine Lederjacke über und lächelte gequält bei dem Gedanken, was für ein Glück es war, dass er sich immer so gut unter Kontrolle hatte.
Denn ohne das jahrelange Militärtraining und die Tatsache, dass sein Verstand immer seinen Körper beherrschte, würde er sie in diesem Augenblick lieben.
 
Grace hatte ein paar Nächte später wieder den gleichen Traum, in dem ihr Vater zu ihr zurückkam.
Sie bewegte sich im Schlaf, weil sie glaubte, ihn im Türrahmen ihres Schlafzimmers zu sehen. Sie erkannte im Dämmerlicht, wie er die Lippen bewegte, konnte aber seine Stimme nicht hören, denn sie driftete immer weiter fort, wie bei einem schwachen Radiosender.
»Was?«, fragte sie innerlich. »Was hast du mir zu sagen?« Seine Miene wirkte besorgt, und sie sah, dass er nun rascher sprach.
Ich kann dich nicht hören.
Aber dann hörte sie zum ersten Mal seit seinem Tod seine Stimme.
Calla Lilie.
Grace fuhr im Bett auf. Ihr Herz raste, der Atem schien ihr in der Kehle stecken zu bleiben. Sie schob die Decke fort, setzte die Füße auf den Boden und richtete sich kerzengerade auf, ehe sie sich umdrehte und zur Zimmertür blickte. Er war verschwunden.
Er war ja nie dort gewesen, schalt sie sich.
Dann taumelte sie ins Bad und tastete im Dunkeln nach einem Glas. Sie drehte den Wasserhahn auf und hielt ihre Handgelenke längere Zeit unter den Strahl, um sich abzukühlen. Sie sagte sich, dass das Waschbecken real war, der Marmor unter ihren Füßen war real, der erste Lichtschimer vor den Fenstern war real.
Aber nicht die Gestalt ihres Vaters.
Sie füllte das Glas, nahm ein paar tiefe Züge und schmeckte den vertrauten metallischen Geschmack. Als sie das Glas wieder unter den Strahl hielt, holte sie tief Luft und erstarrte.
Ein leichter Tabakduft stieg ihr in die Nase, der sie zum Niesen brachte. Wie immer, wenn ihr Vater sich eine Pfeife angesteckt hatte.
Da entglitt ihr das Glas - ebenso ihre rationalen Gedanken.
Smith hatte sich ein Zigarillo angezündet und starrte in die Nacht hinaus. Da hörte er das Splittern. Er drückte den Zigarillo aus, griff nach seiner Waffe und rannte auf den Gang hinaus.
Als er in Grace’ Zimmer stürzte, hörte er ihre Stimme aus dem Bad.
»Ich bin hier.«
Als er das Licht einschaltete, stand sie auf Zehenspitzen da, umgeben von Glassplittern auf dem Boden.
»Alles okay, alles okay«, sagte sie und blinzelte ins Licht. »Ich habe bloß ein Glas fallen lassen.«
Sie war nun wieder klarer und starrte auf seinen nackten Oberkörper. Erst da fiel ihm ein, dass er ja nur Boxershorts trug. Als sie die Augen aufriss, wusste er, dass sie seine Narben entdeckt hatte.
»Haben Sie sich wirklich nicht verletzt?«, fragte er heiser und ließ den Blick an ihr auf und ab gleiten, versuchte aber, dabei professionell zu bleiben.
Doch das gelang ihm nicht.Wie um seine Fantasien noch mehr anzuheizen, trug sie bloß ein hauchdünnes spitzenbesetztes Seidenhemd. Sein Blick fiel auf ihre Brüste, die sich unter dem dünnen Stoff abzeichneten, und er wäre am liebsten auf die Knie gegangen. Die Scherben waren ihm nun völlig egal.
»Alles in Ordnung. Tut mir leid, Sie geweckt zu haben.« Grace blickte zu Boden, als suchte sie einen Ausweg.
»Bitte bewegen Sie sich nicht. Sie werden sich verletzen.« Smith legte seine Waffe auf den Waschtisch.
Misstrauisch beäugte sie den Revolver. »Ich glaube, es reicht, wenn ich nur …«
»Bleiben Sie still«, schnappte er. »Hier ist überall Glas. Es dauert nur einen Moment.«
Damit ging er in sein Zimmer und zog ein Hemd und Stiefel an. Dann betrat er das Bad, trat über die Scherben hinweg auf sie zu und hob sie hoch.
»Was machen Sie denn?«, rief sie aufgeregt, doch da lag sie bereits in seinen Armen. Er reagierte nicht. Das unter seinen dicken Sohlen knirschende Glas reichte als Antwort.
Sobald er den Teppich erreichte, setzte er sie augenblicklich ab, so dass sie ein wenig taumelte. Er wusste, dass er sie rasch loslassen musste, sonst würde etwas passieren. Er würde sie aufs Bett legen und sich auf sie werfen.
Smith war in übelster Stimmung. Daher ging er in die Küche und holte Besen und Kehrblech. Ehe er den Raum wieder verließ, sah er sie an.
Im schwachen Schein ihrer Nachttischlampe saß sie, in einen dicken Bademantel gehüllt, auf der Bettkante. Sie hatte ihm den Rücken zugewandt und schien hinaus in die Dunkelheit zu starren.
Geh jetzt, ermahnte er sich. Das geht dich nichts an, was ihr jetzt im Kopf herumschwirrt. Du bist ihr Leibwächter und nicht ihr Psychoanalytiker.
»Alles in Ordnung?«, fragte er trotzdem.
»Ja«, sagte sie mit dünner Stimme. Als er sich nicht bewegte, sah sie ihn über die Schulter hinweg an. »Ehrlich.«
»Soll ich das Licht anlassen?«
Sie nickte.
»Gute Nacht«, sagte er, worauf sie eine Erwiderung murmelte.
Smith ging in die Küche, stellte den Besen fort und wollte schon wieder in sein Zimmer gehen, als er das leise Geräusch hörte. Es war kam hörbar, und er verharrte, ob es sich wiederholen würde. Bei zweiten Mal erkannte er es als einen Schluchzer.
Leise ging er den Korridor entlang bis zu ihrer Tür. Sie hatte die Arme um den Oberkörper geschlungen und wiegte sich auf der Bettkante vor und zurück.
»Grace?«, fragte er leise. Zum ersten Mal hatte er sie beim Vornamen genannt.
Sie zuckte zusammen und wischte sich hastig über die Augen. »Ja?«
»Warum weinen Sie?«
»Ich weine doch gar nicht.« Er sah, wie sie die Schultern anspannte.
»Sagen Sie mir, warum Sie aufgewacht sind.«
Sie winkte ab. »Nicht der Rede wert.«
Smith holte tief Luft. Noch nie hatte er eine schluchzende Frau anziehend gefunden. Sie hatten keinerlei Macht über ihn. Ihn zog eher Stärke an, nicht Schwäche.
Aber er konnte sich nicht von diesem Anblick lösen, wie sie verloren auf dem großen Bett dasaß und versuchte, gelassen zu wirken.
»Irgendetwas stimmt aber nicht.«
Als sie sich zu ihm umdrehte, blitzten ihre grünen Augen ihn wütend an.
Da musste er lächeln, denn er kannte diese Art Reaktion. Sie versuchte, ihn wegzustoßen.
»Ich dachte, wir dürften einander nicht näher kennen lernen?«, zischte sie wütend.
Er zuckte die Achseln. »Vielleicht hatte ich da Unrecht.«
Nein, er hatte Recht gehabt. Aber obwohl sein Instinkt ihm warnend riet, zurück in sein Zimmer zu gehen, würde er bei ihr bleiben, bis sie sich wieder beruhigt hatte.
Sie sah ihn nun fest an. »Okay, dann sind Sie jetzt an der Reihe.«
Mit einem entschiedenen Schniefen verschränkte sie die Arme vor der Brust. Als er stumm blieb, sah sie ihn scharf an.
»Wie? Nichts, was Sie mir erzählen möchten? Keine dunklen Geheimnisse, die Sie mit mir teilen wollen?«
»Es geht hier nicht um mich«, entgegnete er verschlossen.
»Geht es denn irgendwann auch einmal um Sie?«
Nicht in hundert Jahren, dachte er.
»Also«, begann er in sachlichem Ton, »Sie stehen momentan unter starkem Druck. Und darüber reden hilft vielleicht.«
»Scheißkerl.« Sie blitzte ihn an. »Wie wäre es damit?«
Er lächelte, weil er sich über ihren Trotz freute. »Ganz schön harte Worte für eine Gräfin.«
»Also, momentan fühle ich mich nicht besonders aristokratisch. Ich bin es leid, ständig innerlich abzuschalten und so zu tun, als wäre alles in Ordnung.« Sie holte tief Luft. »Diese Art Haltung ist sehr anstrengend und auch sehr langweilig, wenn alles andere im Leben schiefgeht.«
Jetzt legte sie sich wieder ins Bett und zog die spitzenbesetzte Decke bis ans Kinn. »Bitte entschuldigen Sie mich. Ich brauche meinen Schlaf.«
Smith trat zum Bett. Er sah, wie sie die Augen aufriss, als er sich auf die Kante setzte.
»Wissen Sie was«, brummte er gedehnt. »Ich biete Ihnen Auge um Auge.«
»Wie bitte?«
»Ich erzähle Ihnen etwas über mich, und dann erzählen Sie mir etwas über sich. Soll ich mit der Ranger-Schule anfangen? Oder mit der mörderischen Hitze im ersten Golfkrieg? Möchten Sie wissen, was mir Magenbeschwerden verursacht? Bestimmt nicht mexíkanisches Essen.«
Sie sah ihn nachdenklich an. »Meinen Sie das ernst?«
Verdammt, es schien so.
»Ja.«
Grace stützte sich auf einen Ellbogen und lehnte sich gegen das gepolsterte Kopfende. In seinen Augen war sie die personifizierte Versuchung. Ihr Haar, das in weichen Wellen um die Schultern fiel, glänzte im Lampenschein. Sie war eine klassische Schönheit, aber mit den leicht geöffneten Lippen und der vom Weinen leicht geröteten Nase wirkte sie zusätzlich sehr verletzlich.
Er zwang sich, nicht daran zu denken, was ihr Seidenhemdchen verbarg und was es frei legte.
»Ich möchte die Geschichte von den Narben hören«, sagte sie unvermittelt.
Smith musste sich körperlich zusammenreißen, um nicht zusammenzuzucken.
Scheiße. An so was hatte er nicht gedacht.
Er war bereit gewesen, ihr kurz zu schildern, wie man einen hartgesottenen Kompanieführer behandelt.Vielleicht eine kleine Kriegsgeschichte mit einem guten Ausgang, etwa als er den alten Mann und seine Familie gerettet hatte. Und seine Laktoseintoleranz war auch keine große Sache für ihn.
Aber die Narben? Er hatte bisher mit niemandem darüber geredet, nicht einmal mit Eddie und Tiny.
Denn nicht alle Wunden hatte er als Erwachsener erlitten.
»Sie haben gesagt, ich könnte es mir aussuchen«, flüsterte Grace. »Und das ist meine Wahl.«
Smith räusperte sich und suchte nach Worten, fand aber keine.
Da legte sie sanft eine Hand auf seine Schulter. Er zuckte zusammen. Dann spürte er, wie ihre Finger sich langsam seinen Rücken entlangbewegten, als würden sie seine Haut abtasten. Hier und dort verharrten sie.
Smith wäre am liebsten fortgerannt, doch er konnte sich nicht rühren. Sein Körper war wie ein schweres Gewicht.
Als sie die Narbe an der Seite berührte, eine der ältesten, ließ sie die Finger ruhen. »Woher stammt diese hier?«
Blitzartig und mit grausamer Deutlichkeit tauchte ein Bild vor seinem inneren Auge auf, und er sah die Ereignisse vor sich, die sich vor Jahrzehnten ereignet hatten. Ihm wurde übel, daher blieb er stumm.
»Bitte.«
Dieses leise ausgesprochene Wort enthielt das Versprechen von Trost, den er nie bekommen hatte. Doch noch nie zuvor hatte er sich Trost gewünscht.
Er reagierte, ehe er es sich anders überlegen konnte.
»Brandwunde von einer Zigarette.« Smith erkannte seine eigene Stimme nicht wieder. Sie klang steif und heiser und wie aus weiter Ferne. »Mein Vater hat geraucht. Streichhölzer fand er immer, aber mit Aschenbechern war es anders. Mit der Zeit schaffte ich es, schneller wegzurennen, aber das hat lange gedauert.«
Er hörte ein zischendes Geräusch und merkte, dass sie scharf Luft geholt hatte.
Smith blieb stumm. Mehr Einzelheiten brauchte sie nicht zu erfahren.
»Das tut mir so leid!«
Alles läuft verkehrt, schrie eine Stimme in ihm.
Mit keiner einzigen Frau in seinem Leben, die ihn berühren durfte, hatte er darüber gesprochen. Niemals hätte er das erlaubt. Sogar die wenigen, die selbst ein paar Wunden davongetragen hatten, wussten instinktiv, dass sie seine Horrormale nicht erwähnen durften. Und jetzt wollte diese betörend schöne Frau, diese Lady, die von nichts eine Ahnung haben konnte, was ihm alles angetan worden war, wo er gelebt und mit welchen Leuten er Umgang hatte, diese zarte Frau wollte seine Albträume teilen.
»Sind sie alle von …« Sie beendete die Frage nicht.
In seinem Kiefer zuckte ein Muskel.
Er zwang sich zu einem Achselzucken. »Sagen wir einfach, ich habe einiges erlebt.«
»Ich möchte sie sehen, alle.«
Ruckartig entzog er sich ihr. »Das ist jetzt weit genug gegangen.«
»Das glaube ich nicht«, sagte sie und rückte näher.
Smith war nicht in der Lage, irgendetwas Vernünftiges zu denken oder zu tun, weil ihre Finger nun zu seinem Hemdsaum glitten. Brutal umklammerte er ihre Handgelenke.
»Besser nicht!«
»Doch. Ich habe keine Angst vor Ihrer Vergangenheit.«
»Das sollten Sie aber.«
»Ich habe aber keine Angst. Und vor Ihnen auch nicht.«
Sanft entzog sie ihm ihre Hände und strich langsam über den Stoff. Smith atmete nun stoßweise, und sein Körper begann unter dem Druck ihres Willens zu erbeben.
Als ein Luftzug seine Haut überstrich, konnte er es nicht mehr aushalten. Er stieß sich ruckartig vom Bett hoch und zerrte sich das Hemd über den Kopf. Dann streckte er die Arme weit aus und spürte, wie seine Muskeln sich dehnten.
»Hier, da haben Sie alles auf einen Blick«, stieß er zähneknirschend hervor. »Vorn und hinten.«
Sein Blick war auf ihr Gesicht geheftet.
»Kommen Sie, Gräfin. Wollen Sie nicht mehr sehen? Wird es Ihnen zu viel?« Seine Stimme klang spöttisch und schneidend. Angesichts ihres Mitgefühls fühlte er sich plötzlich schwach und verletzlich. Er hasste es.
Grace schüttelte den Kopf. Ihr Blick war zornig, als hätte sie seine Vergangenheit selbst erlebt und spürte den Nachhall seines Schmerzes im eigenen Körper.
»Jetzt haben Sie es nicht mehr so eilig, mich anzufassen, nicht wahr? Jetzt, wo Sie alles gesehen haben.«
Smith hoffte, wenn er sie nur heftig genug wegstieß, würde sie ihn in Ruhe lassen. Andere Frauen, die versucht hatten, ihm näherzukommen, waren vor seiner Wut geflohen.
Aber Grace blieb.
Langsam stand sie auf und streckte eine schlanke, feingliedrige Hand aus. Als sie sanft seinen Bauch berührte, holte er keuchend Luft.
Sein erster Impuls war, laut aufzuschreien. Er war zornig, dass sie ihn herausgefordert und so bloßgestellt hatte, dass sie so dicht vor ihm stand, dass er ihren Duft spüren konnte. Dass sie ihm Mitleid und Verständnis und Wärme bot, ihm, der vernarbt, hart und hässlich war.
»Sie sind so schön«, sagte sie leise und blickte zu ihm hoch.
»Sie müssen blind sein.«
Langsam schüttelte sie den Kopf. »Ich sehe Sie ganz deutlich.«
Grace malte eine Linie über seinen Bauch und hielt am Bund der Boxershorts inne. Er spürte, wie er unter ihrer Berührung härter wurde, merkte plötzlich, dass er ja halbnackt war und sie fast nichts trug und dass sie beide allein in dem dämmrigen Zimmer waren.
Er griff nach ihren Armen und riss sie heftig an sich. Sie reagierte, indem sie den Kopf in den Nacken warf, um ihm weiterhin in die Augen zu sehen.
»Behalten Sie Ihre Hände besser bei sich.« Er versuchte, seine Stimme so schroff wie möglich klingen zu lassen. »Wenn Sie mich so berühren, vergesse ich, dass Sie doch nicht Florence Nightingale sind.«
»Was denken Sie stattdessen?«
Er schüttelte sie leicht und beobachtete, wie ihr Haar dabei um die Schultern flog und im Licht aufglänzte.
»Verdammt«, knurrte er. »Lassen Sie das.«
Ihre Augen leuchteten sanft. Erregt. Er wusste, was sie dachte, und Worte waren eigentlich nicht mehr nötig. Mit diesem verschleierten Blick drückte sie genau aus, was sie wollte. Sie wollte ihn.
Trotz seiner Wut.Trotz seiner Narben.
Da regte sich die anständige Stimme in seinem Kopf.
»Hören Sie, Gräfin, mein Körper ist zumVögeln gemacht. Wissen Sie überhaupt, was das ist? Wir reden von einmaligen Fucks, stehend an eine Mauer gelehnt - weiß nicht, wie sie heißt und ist mir auch völlig egal. Das wollen Sie nicht.«
Sie senkte den Blick, als hätte er ihr etwas weggenommen.
»Teufel!« Vor Frustration atmete er scharf aus. Alles, was er jemals geträumt hatte, lag in seinen Armen, aber er musste sie gehen lassen. »Verstehen Sie? Sie verdienen etwas Besseres, als ich Ihnen geben kann. Sie brauchen jemanden, der Sie liebt. Der Sie nicht bloß fickt und Sie und Ihr Bett völlig durcheinanderbringt.«
»Das würden Sie niemals tun.«
»O doch.« Smith konnte sich nicht von ihr abwenden, aber er wollte sie nicht küssen, weil er dann völlig verloren wäre.
Daher vergrub er die Hände in ihren Locken und zog sanft daran. Die Strähnen fielen ihr über die Brust, die heftig auf und ab wogte. Sie atmete mit halb geöffnetem Mund. Er hob eine Strähne an und roch daran. Jasmin. Als er das Haar losließ, fiel die Locke zwischen ihre Brüste und ringelte sich um eine seidenbedeckte Brustwarze.
O Gott, wie sehr er sie begehrte.
Er blickte auf ihren Mund. Die Lippen waren zart und voll.
»Ich will Ihnen nicht wehtun«, sagte er düster. Dieser Satz war wahr und überraschte ihn.
»Ich weiß.« Sie berührte sein Gesicht und fuhr mit der Handfläche über seine Bartstoppeln. »Aber ich will auch nicht beschützt werden. Das nicht. Nicht heute Nacht …«
Er kämpfte hart gegen sich selbst an. Sich ihr zu entziehen war … unmöglich.
Dann beugte Smith sich vor und strich sanft mit den Lippen über ihren Mund. Als sie aufstöhnte, drückte er fester zu und umschlang sie gleichzeitig. Er ließ seine Zunge herausgleiten, um ihre Unterlippe zu berühren, und spürte, wie ihre Hände ihn umklammerten. Er drängte sich dichter an sie, erkundete ihren Mund, bohrte sich tiefer und tiefer …
Seine Hände glitten zu den Trägern des Nachthemds. Langsam streifte er die Satinbänder von ihren Schultern, bis sie nackt vor ihm stand, das Hemchen nur ein kleines Seidenbündel um ihre Füße. Das Blut dröhnte ihm in den Schläfen. Er zog sie aufs Bett und legte sie rücklings auf die spitzenbedeckte Seidendecke. Dann küsste er ihr Schlüsselbein, glitt tiefer, liebkoste ihre Brüste und ihren Bauch.
Immer drängender strichen seine Hände über die Rundung ihrer Hüften und an den Schenkeln entlang. Er streichelte ihre Beine und fegte dabei die dünne Seide beiseite.
Als Smiths Hand an der Innenseite ihres Schenkels emporglitt, spürte er die Hitze, die ihre zarte Haut dort ausstrahlte. Er wagte sich höher, genoss es, wie sie sich unter ihm wand und aufbäumte, und blickte hoch. Der Anblick, wie sie mit durchgebogenem Rücken dort lag, den Kopf schräg gelegt, damit sie ihn beobachten konnte, war das Erotischste, was er je gesehen hatte.
Er presste den Mund auf ihren Bauch unterhalb des Nabels und rang um Selbstkontrolle. Seine Finger glitten immer weiter auf ihre Mitte zu, und seine Lippen folgten und küssten ihre Haut durch die Seide hindurch. Er wollte alles von ihr erkunden: mit den Fingern, der Zunge, dem ganzen Körper.
Smith war nun so erregt, dass er es zunächst nicht merkte, wie ihre Hände sich gegen seine Schultern pressten. Sie begann um sich zu schlagen, aber er nahm an, es geschähe aus Leidenschaft.
Doch er irrte sich.
»Nein! Halt!«, rief Grace beunruhigt und rollte sich zusammen.
Dann zerrte sie an ihrem Nachthemd, gab aber bald auf und bedeckt sich mit einem Kissen. Sie zitterte und war sehr blass.
Smith rutschte an den Rand des Betts und vergrub den Kopf in den Händen. Er bekämpfte seine tobende Begierde und verfluchte sich mit jedem stoßweisen Atemzug.
»Es … tut mir leid«, hauchte sie leise. Dann berührte sie seinen Arm.
Er zuckte zurück. Das war jetzt das Letzte, dass sie ihn berührte. Nicht, während er immer noch versuchte, sein inneres Tier zu zähmen.
»Es ist nicht, dass ich dich nicht will …«
»Aber es war wohl schwerer als gedacht, sich auf der anderen Zaunseite umzutun«, höhnte er heiser.
»Gütiger Gott, nein, nur … es ist … mein Mann …«
»Ich möchte eigentlich nichts über ihn wissen, falls Sie nichts dagegen haben.« Smith erhob sich. Er musste jetzt gehen. »Gute Nacht, Gräfin.«
Er eilte hinaus und schritt eilig zurück in sein Zimmer. Am liebsten hätte er alle Türen zwischen ihnen geschlossen. Für immer. Er wusste, dass sein Willen aus Stahl hätte sein müssen, um sie beide voneinander zu trennen.