10 

Eddie juchzte vor Freude auf, als Smith ihm
eine Tüte mit Essensresten auf den Vordersitz warf. »Wunderbar! Was
gibt es denn? Hummer? Filet Mignon?«
Die beiden warteten im Wagen, während Grace sich
vor dem Club von der Mutter verabschiedete.
»Spaghetti, glaube ich.«
Eddie reckte den Hals nach hinten »Kannst du das
wiederholen? Du isst in einem solchen Laden und bestellst dir
verdammte Spaghetti?«
»Ich habe das nicht bestellt.«
Grace’ Züge wirkten trotz des Lächelns angespannt.
Komisch, dass ihre Mutter das nicht zu bemerken schien.
»Wie meinst du das, du hast das nicht bestellt? Ist
da eine Fee aufgetaucht, hat mit dem Zauberstab gewunken, und da
stand der Teller?«
»Keine Ahnung, ich hatte eher den Eindruck, dass
mir das ein böser kleiner Schurke vorgesetzt hat.«
Eddie lachte. »Damit ist der Laden für mich
gestorben.«
»Sehr gescheit von dir.«
Nachdem ihre Mutter in einer schwarzen Limousine
davongerauscht war, kam Grace zu ihrem Fahrzeug. Smith hielt ihr
die Tür auf. Eddie fuhr sofort los. Smith sah kurz zu Grace
hinüber. Sie sah völlig erschöpft aus, beklagte sich aber mit
keinem Wort.Weder seufzte sie vor Müdigkeit und Frustration, noch
beklagte sie sich wortreich über ihre Mutter.
Sie war einfach nur still und geduldig und strahlte
eine zarte Kraft aus.
Seltsam, diese beiden Worte hatte er noch nie im
Zusammenhang gedacht.
»Schwieriger Abend?«, fragte er.
Grace lehnte den Kopf zurück und sah ihn von der
Seite her an. Sie hatte die Lider halb geschlossen. »Hätte
schlimmer sein können.«
Damit wandte sie sich ab.
Sie waren etwa drei Blocks weiter, als Smith Eddie
zuzischte: »Ich glaube, wir werden verfolgt. Fahr rechts
ran.«
Grace’ Kopf ruckte vor, weil Eddie so abrupt
bremste. Eine weiße Limousine fuhr an ihnen vorbei.
»Folg dem Wagen«, befahl Smith.
Der Explorer fädelte sich wieder in den Verkehr
ein. Smith versuchte, das Nummernschild zu lesen, aber Taxis und
andere Autos verdeckten es immer wieder. Kurz vor einer Kreuzung
glaubte er, Glück zu haben. Die Ampel sprang auf Gelb, und nur ein
Wagen war zwischen ihnen und ihrer Beute.
Doch dann raste die Limousine unvermittelt bei Rot
über die Kreuzung und verschwand in einer kleinen Seitenstraße.
Eddie ließ den Motor aufheulen, um das Fahrzeug vor ihnen zu
überholen, aber im letzten Augenblick scherte ein Taxi zwischen
ihnen ein. Smith sah die Heckleuchten der Limousine in der
Dunkelheit verschwinden.
»Hast du was mitbekommen, Eddie?«
»Nein, ich war zu beschäftigt, näher an den Typen
ranzukommen.«
Smith sah Grace an. »Dann fahr uns nach
Hause.«
»Klar, Boss.«
Als sie vor dem Gebäude anhielten, stieg Smith
zuerst
aus, um Grace aus dem Wagen zu helfen. Sie blieb dicht neben ihm
stehen, so dass er um sie herumgreifen musste, um den Seesack und
den Metallkoffer vom Sitz zu nehmen, die Eddie aus seinem Hotel
abgeholt hatte.
»Danke, dass du mein Zeug abgeholt hast«, rief er
dem Freund zu.
»Kein Problem. Der Portier hat vor zwanzig Minuten
die Lebensmittel in Empfang genommen. Er sagte, er würde sie auf
dem Gang abstellen.Wann brauchst du mich morgen?«
»Halb acht.«
»Alles klar.«
Und dann beugte sich Grace, obwohl sie zum Umfallen
müde war, ins Auto und lächelte Eddie an. »Wenn Sie die Pasta
aufwärmen wollen, dann tun Sie das am besten auf einem Herd.
Hochstellen und öfter umrühren. So bleibt das Gemüse knackig. Ich
glaube, es wird Ihnen schmecken. Der Küchenchef kommt aus der
Toskana. Gute Nacht, Eddie.«
Smith sah seinen Freund kurz an. Eddie wirkte
amüsiert, aber auch wie verzaubert von ihrem Charme.
»Gute Nacht, Eddie«, sagte er trocken.
»Yeah, Boss«, erwiderte der Mann abwesend und fuhr
los.
Sie gingen auf das Wohngebäude zu. »Woher wussten
Sie, was ich zum Abendessen hatte?«, fragte Smith.
»Sie sind nicht der Einzige hier mit einer guten
Beobachtungsgabe.«
Als Grace versuchte, die Wohnungstür
aufzuschließen, fiel Smith auf, dass ihre Hände zitterten. Sie
musste es mehrfach versuchen, ehe die Tür nachgab. Dann griff sie
nach einer der Lebensmitteltüten, doch Smith meinte, sie brauche
sich darum keine Sorgen zu machen.
»Dann gehe ich jetzt ins Bett«, sagte sie, stellte
die Alarmanlage ab und rückte die Tüten in den Eingang.
Er folgte ihr den Gang entlang, stellte seinen
Seesack und den Metallkoffer neben dem Bett ab, in dem er letzte
Nacht geschlafen hatte, und folgte ihr weiter in ihr Schlafzimmer.
Als sie ihn fragend ansah, erklärte er, er wolle nur kurz ihr
Zimmer kontrollieren.
Er überprüfte das große Schlafzimmer, dann die
übrige Wohnung, packte die Lebensmittel aus und ging in sein
Zimmer. Gerade streifte er seine Lederjacke ab, als er am Ende des
Ganges Wasser rauschen hörte.
Smith warf die Jacke über einen Stuhl.Vor seinen
Augen tauchte ein Bild auf, wie sie das schwarze Kleid abgestreift
hatte und ihr das Haar über die Schultern floss. Die Locken würden
gerade eben über ihren Brustwarzen enden, und er würde sie sanft
beiseitestreichen müssen, um sie zu küssen. Er malte sich aus, wie
die blonden Wellen im Liebesakt über seine Brust fielen und sein
Gesicht bedeckten.
Dann wurde das Wasser abgestellt.
Er brauchte einfach nur den Gang entlangzugehen,
dachte er. Ihr Zimmer betreten und sie in den Am nehmen. Denn er
hatte das sichere Gefühl, dass sie zwar ihrer Abmachung, einander
nicht zu nahe zu treten, zugestimmt hatte, aber von ihrer
Leidenschaft überwältigt würde.
Ein Kuss, und sie gehörte ihm.
Smith pulsierte das But in den Schläfen. Reglos
stand er da.
Was machte sie nur gerade?
Er schüttelte den Kopf.
Was zum Teufel machte er nur gerade?
Umsichtig und mit gezielten Bewegungen schnallte er
sein Schulterhalfter ab und nahm die Waffe heraus. Mit
einem Blick auf das stumpf glänzende Metall schlossen sich seine
Finger nahtlos um den kühlen Griff. Die Waffe war eigens und nach
sehr genauen Angaben für ihn angefertigt worden. In dem
Metallkoffer befanden sich zwei weitere identische Modelle.
Das vertraute Gewicht in der Hand wirkte
beruhigend.
Aber seine Gedanken an Grace machten ihm zu
schaffen.
Er dachte an den eleganten Mann im Congress
Club, der sie auf die Wangen geküsst und den sie angelächelt
hatte. Smith hatte in dem Augenblick nicht weiter darüber
nachgedacht, aber jetzt fielen ihm seine aggressiven Gedanken dabei
als ungewöhnlich auf: Er benahm sich ja wie ein eifersüchtiger
Liebhaber.
Und überhaupt nicht wie ein professioneller
Leibwächter.
Vielleicht brauchte er wirklich Urlaub. Ein paar
Wochen irgendwo in der Wärme, wo die Drinks reichlich flossen und
die Frauen leicht zu haben waren.
Genau, das brauchte er.
Einen gottverdammten Urlaub.
Smith runzelte die Brauen. Erst jetzt ging ihm auf,
dass er noch nie in seinem Leben Urlaub gemacht hatte.
Ein paar Tage später stellte Smith fest, dass
seine Besessenheit von Grace nur noch schlimmer geworden war, und
das war furchtbar. Er war sexuell frustriert, schlief schlecht und
war sehr gereizt.
Eigentlich war er auch sonst nicht gerade für seine
Ausgeglichenheit bekannt.
Er saß wie üblich am Konferenztisch und sah zu
Grace hinüber. Sie war in irgendeine Akte vertieft, und Smith
versuchte
zu ignorieren, dass ihre Seidenbluse sich vorn etwas geöffnet
hatte und mehr Haut als üblich zu sehen war.
Immer erregter rückte er unruhig auf seinem Sessel
hin und her.
Großartig. Einen Steifen bei der Arbeit!
Wirklich professionell.
Smiths Stimmung sank immer mehr auf den Nullpunkt.
Daher suchte er sein Handy und wählte Detective Marks’ Nummer. Er
wusste, dass die neuesten Informationen über den Fall ihn von der
verdammten Bluse dieser Frau ablenken würden.
»Wie steht’s, Marks?«
»Oh, Jesus, nicht gut.« Marks klang erschöpft. »Der
Polizeipräsident ist hinter mir her, weil diese Frauen bei allen
Kultureinrichtungen der Stadt mitmischen. Die Presse hetzt wie
verrückt und verlangt die Bestätigung, dass der
Times-Artikel schon bei der ersten Leiche gefunden worden
war. Ich versuche herauszufinden, welches Arschloch das
weitergegeben hat. Bisher haben wir keinen einzigen
Verdächtigen.«
Smith sprach leise weiter. »Habt ihr die Portiers
der Gebäude verhört?«
»Yeah. In beiden, und zwar die Tag- und die
Nachtschicht. Es sind seit über fünf Jahren dieselben Jungs. Alle
haben sich als sauber herausgestellt, und alle haben angegeben, in
der Nacht der Morde nichts Verdächtiges bemerkt zu haben. Die
Eintragsbücher für Lieferungen und Besucher haben auch nichts
ergeben.Alle haben sich eingetragen und wieder ausgecheckt. Es gibt
keine Lücken.
»Irgendwelche Namen, die in beiden Büchern
auftauchen?«
»Eine ganze Reihe. Diese Reichen scheinen immer
dieselben
Leute zu benutzen: Putzfrauen, Lieferanten, Schneider, Gärtner
usw. Es ist wie eine riesige Drehtür.Wir arbeiten uns gerade durch
die Lebensläufe von allen.«
»Gibt es irgendwelche Verbindungen zwischen den
Männern der beiden Frauen? Geschäftlich? Freizeit?«
»Das habe ich noch nicht überprüft. Gute Idee.«
Marks schwieg einen Moment. »Wie geht es denn der Gräfin?«
»Hält sich tapfer. Wenn man bedenkt, unter welchem
Druck sie steht.«
»Nette Frau. Jemand mit so viel Geld könnte richtig
unangenehm sein, aber sie benimmt sich überraschend normal.«
Sie unterhielten sich noch ein Weile über
forensische Details an beiden Tatorten. Als Smith das Gespräch
beendete, blickte er wieder auf. Kat war gerade hereingekommen, und
Grace lachte über etwas, was das Mädchen gesagt hatte. Kat lächelte
strahlend.
Das sah man oft bei Menschen in Grace’ Nähe, dachte
Smith. Ob in ihrem Büro oder im Vorübergehen auf dem Gang - wer sie
traf, sah anschließend glücklicher aus.
»Überraschend normal« traf das nicht ganz.
»Danke, Kat«, sagte Grace und ordnete die Papiere
auf dem Schreibtisch. »Sie sind hier eine große Hilfe.«
Die Assistentin strahlte. »Ich arbeite die
Änderungen sofort ein.«
»Keine Sorge. Es ist schon nach sechs. Machen wir
Feierabend.« Grace’ Blick wanderte zu Smith und huschte dann
schnell zurück.
»Ich habe es heute nicht so eilig«, meinte
Kat.
»Nein, wirklich? Haben Sie wieder eine
Verabredung?« Grace sah die andere forschend an.
»Nur auf einen Drink. Er ist ein Computer-Typ. Aber
ich
hoffe, wir reden über andere Dinge als bloß über Java oder Sims.«
Kat nahm die Akte und ging zur Tür. »Einen schönen Abend, Mr.
Smith.«
Smith nickte ohne aufzublicken. Grace sah zu ihm
hinüber und dann zu Kat.
»Einen schönen Abend, Kat«, sagte sie leise, aber
mit besorgter Miene.
Als Kat die Tür hinter sich geschlossen hatte, sah
sie Smith mit zusammengekniffenen Augen an. »Sie könnten ruhig ein
bisschen freundlicher zu ihr sein.«
»Zu wem?«
»Zu Kat.«
Er runzelte die Stirn. »Wie meinen Sie das?«
»Ich glaube, sie ist ein bisschen in Sie
verknallt.«
Smith zuckte die Achseln und stapelte die Akten,
die er durchgesehen hatte. Er untersuchte einen Betrug für einen
Freund. »Dafür kann ich doch nichts.«
Grace stand auf. »Nein. Aber ihre Schuld ist es
auch nicht. Wenn Sie sie weiter so ignorieren, verletzen Sie ihre
Gefühle.«
Weder ihr Blick noch ihre Stimme klangen anklagend,
aber Smith fühlte sich in die Enge getrieben. Die Vorstellung, dass
sein Benehmen ihren Erwartungen nicht entsprach, machte ihm zu
schaffen, aber den Grund dafür wollte er lieber nicht suchen.
Denn eigentlich sollte es ihm egal sein, was sie
von ihm hielt.
Smith lächelte verkniffen. »Soll ich sie vielleicht
auf einen Drink einladen oder so?«
»Warum sind Sie nicht einfach höflich zu
ihr?«
Aus dem ersten Impuls heraus wollte er eine scharfe
Bemerkung machen, damit sie das Thema fallenließ, aber da
verließ ihn der Mut, weil er erkannte, dass sie ihn keineswegs
kontrollieren wollte. Sie sorgte sich ernsthaft um die Gefühle des
Mädchens.
Smith musste lachen. Es war viel leichter, gegen
etwas anzukämpfen, als ernsthaft darüber nachzudenken. In seinem
gegenwärtigen Zustand war ihm allerdings eher nach Streit zumute.
Er war viel aggressiver als sonst, weil sie so attraktiv war und er
so frustriert.
Und das sollte etwas heißen.
»Okay«, erwiderte er finster.
Sie lächelte. »Na, so schlimm war das doch nicht,
oder?«
Als wäre er ein kleiner Junge, der getröstet werden
musste.
Diese sanfte, aber kritische Bemerkung reichte.
Smith explodierte. Er stand auf und stampfte durch den Raum. Das
Lächeln auf ihren Lippen erstarb.
Aber als er sich vor ihr aufbaute, wollte er sie
nur noch küssen.
Stattdessen sagte er: »Ich bin bereit,
Zugeständnisse zu machen. Aber mir gefällt es nicht, so
herablassend behandelt zu werden.«
Grace sah ihn verwundert und eindringlich an, und
dann glitt ihr Blick hinab zu seinem Brustkorb, als müsste sie sich
in Erinnerung rufen, wie sie sich in seiner Nähe fühlte. Sie
öffnete die Lippen.
Heiliger Jesus.
Er wollte nichts anderes mehr auf dieser Welt, als
sie zu küssen.
Doch ehe er die Beherrschung verlor, kehrte Smith
mitsamt seiner üblen Laune und seiner Lust auf sie zum
Konferenztisch zurück, packte seine Sachen zusammen und stutzte
sich innerlich zurecht.
Verdammt, ausgerechnet diese Frau! Warum war er
bloß so auf sie abgefahren? Er hasste doch Komplikationen, und es
gab wohl nichts Komplizierteres als eine schöne, reiche Frau, die
außerdem seine Klientin war.Warum konnte er es nicht einfach
lassen? Er hatte im Laufe der Jahre viele Frauen vergessen. Fast
alle, mit denen er jemals zusammen gewesen war.
Aber diese hier? Sie schwirrte ihm einfach
unentwegt im Kopf herum.
Jeden Abend, auf dem Höhepunkt seiner
Wahnsinnsideen, war er überzeugt, sie könnten miteinander ins Bett
gehen, sobald sein Auftrag beendet wäre, und alles würde wunderbar
sein. Sie verbrächten ein paar heiße Stunden miteinander,
vielleicht noch ein, zwei Tage. Dann zöge er weiter.
Wenn er so im Dunkeln an die Decke starrte, schien
das ein vernünftiger Plan. Aber bei hellem Tageslicht erkannte er,
was für eine schreckliche Vorstellung es war. Wenn sie mit einem
Mann schlief, würde sie ohne jeden Zweifel alles wollen, was Smith
ihr nicht geben konnte. Sie wollte mehr als nur ein paar Stunden,
mehr als nur ein, zwei Tage. Sie würde eine Beziehung wollen. Ein
Gefühl von Sicherheit. Stabilität.
Außerdem würde sie Kirchenglocken erwarten,
Freudenschreie. Den Zeitungen zufolge war sie von den begehrtesten
Junggesellen der Welt umworben worden.Von Männern, die nichts
anderes zu tun hatten, als ihr zu Gefallen zu sein. Elegante
Männer, die mit Brillanten und Perlen auf ihrer Schwelle
auftauchten. Männer, die fähig waren, ihr süße Liebesworte ins Ohr
zu flüstern und diesen Blödsinn auch noch glaubwürdig klingen zu
lassen.
Smith konnte so was nicht, selbst dann nicht, wenn
sein
Leben davon abhing. Oder wenn er sie damit bloß ins Bett lotsen
wollte, damit er sie endlich aus seinen Gedanken vertreiben
könnte.
Sie lebte in einer anderen Welt. Er existierte am
Rand der Gesellschaft, in der Grauzone zwischen Kriminalität und
Bürgertum. Sie war ein Idol, ein romantischer Traum für ein ganzes
Land. Sie verbrachte ihre Tage in dem Wolkenkratzer ihrer Familie,
die Abende in Ballsälen, die Wochenenden in Newport. Er hingegen
verhandelte mit Entführern, schoss auf Gauner und Betrüger, um
seinen Lebensunterhalt zu verdienen.
Sie war ganz Satin und Platin, er Leder und
Waffenmetall.
Oh, zum Teufel, jetzt klang er schon wie ein
Country-&-Western-Sänger.
Er blickte auf. Grace war aufgestanden und starrte
aus dem Fenster, vor dem gerade die Sonne unterging. Sein Blick
glitt von ihrer blonden Aufsteckfrisur herab bis zu den spitzen
Absätzen ihrer Schuhe.
Dabei durchfuhr ihn eine heiße Welle sinnlicher
Lust.
Er streifte seine Lederjacke über und lächelte
gequält bei dem Gedanken, was für ein Glück es war, dass er sich
immer so gut unter Kontrolle hatte.
Denn ohne das jahrelange Militärtraining und die
Tatsache, dass sein Verstand immer seinen Körper beherrschte, würde
er sie in diesem Augenblick lieben.
Grace hatte ein paar Nächte später wieder den
gleichen Traum, in dem ihr Vater zu ihr zurückkam.
Sie bewegte sich im Schlaf, weil sie glaubte, ihn
im Türrahmen ihres Schlafzimmers zu sehen. Sie erkannte im
Dämmerlicht, wie er die Lippen bewegte, konnte aber seine
Stimme nicht hören, denn sie driftete immer weiter fort, wie bei
einem schwachen Radiosender.
»Was?«, fragte sie innerlich. »Was hast du mir zu
sagen?« Seine Miene wirkte besorgt, und sie sah, dass er nun
rascher sprach.
Ich kann dich nicht hören.
Aber dann hörte sie zum ersten Mal seit seinem Tod
seine Stimme.
Calla Lilie.
Grace fuhr im Bett auf. Ihr Herz raste, der Atem
schien ihr in der Kehle stecken zu bleiben. Sie schob die Decke
fort, setzte die Füße auf den Boden und richtete sich kerzengerade
auf, ehe sie sich umdrehte und zur Zimmertür blickte. Er war
verschwunden.
Er war ja nie dort gewesen, schalt sie sich.
Dann taumelte sie ins Bad und tastete im Dunkeln
nach einem Glas. Sie drehte den Wasserhahn auf und hielt ihre
Handgelenke längere Zeit unter den Strahl, um sich abzukühlen. Sie
sagte sich, dass das Waschbecken real war, der Marmor unter ihren
Füßen war real, der erste Lichtschimer vor den Fenstern war
real.
Aber nicht die Gestalt ihres Vaters.
Sie füllte das Glas, nahm ein paar tiefe Züge und
schmeckte den vertrauten metallischen Geschmack. Als sie das Glas
wieder unter den Strahl hielt, holte sie tief Luft und
erstarrte.
Ein leichter Tabakduft stieg ihr in die Nase, der
sie zum Niesen brachte. Wie immer, wenn ihr Vater sich eine Pfeife
angesteckt hatte.
Da entglitt ihr das Glas - ebenso ihre rationalen
Gedanken.
Smith hatte sich ein Zigarillo angezündet und
starrte in die Nacht hinaus. Da hörte er das Splittern. Er drückte
den Zigarillo aus, griff nach seiner Waffe und rannte auf den Gang
hinaus.
Als er in Grace’ Zimmer stürzte, hörte er ihre
Stimme aus dem Bad.
»Ich bin hier.«
Als er das Licht einschaltete, stand sie auf
Zehenspitzen da, umgeben von Glassplittern auf dem Boden.
»Alles okay, alles okay«, sagte sie und blinzelte
ins Licht. »Ich habe bloß ein Glas fallen lassen.«
Sie war nun wieder klarer und starrte auf seinen
nackten Oberkörper. Erst da fiel ihm ein, dass er ja nur
Boxershorts trug. Als sie die Augen aufriss, wusste er, dass sie
seine Narben entdeckt hatte.
»Haben Sie sich wirklich nicht verletzt?«, fragte
er heiser und ließ den Blick an ihr auf und ab gleiten, versuchte
aber, dabei professionell zu bleiben.
Doch das gelang ihm nicht.Wie um seine Fantasien
noch mehr anzuheizen, trug sie bloß ein hauchdünnes
spitzenbesetztes Seidenhemd. Sein Blick fiel auf ihre Brüste, die
sich unter dem dünnen Stoff abzeichneten, und er wäre am liebsten
auf die Knie gegangen. Die Scherben waren ihm nun völlig
egal.
»Alles in Ordnung. Tut mir leid, Sie geweckt zu
haben.« Grace blickte zu Boden, als suchte sie einen Ausweg.
»Bitte bewegen Sie sich nicht. Sie werden sich
verletzen.« Smith legte seine Waffe auf den Waschtisch.
Misstrauisch beäugte sie den Revolver. »Ich glaube,
es reicht, wenn ich nur …«
»Bleiben Sie still«, schnappte er. »Hier ist
überall Glas. Es dauert nur einen Moment.«
Damit ging er in sein Zimmer und zog ein Hemd und
Stiefel an. Dann betrat er das Bad, trat über die Scherben hinweg
auf sie zu und hob sie hoch.
»Was machen Sie denn?«, rief sie aufgeregt, doch da
lag sie bereits in seinen Armen. Er reagierte nicht. Das unter
seinen dicken Sohlen knirschende Glas reichte als Antwort.
Sobald er den Teppich erreichte, setzte er sie
augenblicklich ab, so dass sie ein wenig taumelte. Er wusste, dass
er sie rasch loslassen musste, sonst würde etwas passieren. Er
würde sie aufs Bett legen und sich auf sie werfen.
Smith war in übelster Stimmung. Daher ging er in
die Küche und holte Besen und Kehrblech. Ehe er den Raum wieder
verließ, sah er sie an.
Im schwachen Schein ihrer Nachttischlampe saß sie,
in einen dicken Bademantel gehüllt, auf der Bettkante. Sie hatte
ihm den Rücken zugewandt und schien hinaus in die Dunkelheit zu
starren.
Geh jetzt, ermahnte er sich. Das geht
dich nichts an, was ihr jetzt im Kopf herumschwirrt. Du bist ihr
Leibwächter und nicht ihr Psychoanalytiker.
»Alles in Ordnung?«, fragte er trotzdem.
»Ja«, sagte sie mit dünner Stimme. Als er sich
nicht bewegte, sah sie ihn über die Schulter hinweg an.
»Ehrlich.«
»Soll ich das Licht anlassen?«
Sie nickte.
»Gute Nacht«, sagte er, worauf sie eine Erwiderung
murmelte.
Smith ging in die Küche, stellte den Besen fort und
wollte schon wieder in sein Zimmer gehen, als er das leise Geräusch
hörte. Es war kam hörbar, und er verharrte, ob es sich wiederholen
würde. Bei zweiten Mal erkannte er es als einen Schluchzer.
Leise ging er den Korridor entlang bis zu ihrer
Tür. Sie hatte die Arme um den Oberkörper geschlungen und wiegte
sich auf der Bettkante vor und zurück.
»Grace?«, fragte er leise. Zum ersten Mal hatte er
sie beim Vornamen genannt.
Sie zuckte zusammen und wischte sich hastig über
die Augen. »Ja?«
»Warum weinen Sie?«
»Ich weine doch gar nicht.« Er sah, wie sie die
Schultern anspannte.
»Sagen Sie mir, warum Sie aufgewacht sind.«
Sie winkte ab. »Nicht der Rede wert.«
Smith holte tief Luft. Noch nie hatte er eine
schluchzende Frau anziehend gefunden. Sie hatten keinerlei Macht
über ihn. Ihn zog eher Stärke an, nicht Schwäche.
Aber er konnte sich nicht von diesem Anblick lösen,
wie sie verloren auf dem großen Bett dasaß und versuchte, gelassen
zu wirken.
»Irgendetwas stimmt aber nicht.«
Als sie sich zu ihm umdrehte, blitzten ihre grünen
Augen ihn wütend an.
Da musste er lächeln, denn er kannte diese Art
Reaktion. Sie versuchte, ihn wegzustoßen.
»Ich dachte, wir dürften einander nicht näher
kennen lernen?«, zischte sie wütend.
Er zuckte die Achseln. »Vielleicht hatte ich da
Unrecht.«
Nein, er hatte Recht gehabt. Aber obwohl sein
Instinkt ihm warnend riet, zurück in sein Zimmer zu gehen, würde er
bei ihr bleiben, bis sie sich wieder beruhigt hatte.
Sie sah ihn nun fest an. »Okay, dann sind Sie jetzt
an der Reihe.«
Mit einem entschiedenen Schniefen verschränkte sie
die Arme vor der Brust. Als er stumm blieb, sah sie ihn scharf
an.
»Wie? Nichts, was Sie mir erzählen möchten? Keine
dunklen Geheimnisse, die Sie mit mir teilen wollen?«
»Es geht hier nicht um mich«, entgegnete er
verschlossen.
»Geht es denn irgendwann auch einmal um Sie?«
Nicht in hundert Jahren, dachte er.
»Also«, begann er in sachlichem Ton, »Sie stehen
momentan unter starkem Druck. Und darüber reden hilft
vielleicht.«
»Scheißkerl.« Sie blitzte ihn an. »Wie wäre es
damit?«
Er lächelte, weil er sich über ihren Trotz freute.
»Ganz schön harte Worte für eine Gräfin.«
»Also, momentan fühle ich mich nicht besonders
aristokratisch. Ich bin es leid, ständig innerlich abzuschalten und
so zu tun, als wäre alles in Ordnung.« Sie holte tief Luft. »Diese
Art Haltung ist sehr anstrengend und auch sehr langweilig, wenn
alles andere im Leben schiefgeht.«
Jetzt legte sie sich wieder ins Bett und zog die
spitzenbesetzte Decke bis ans Kinn. »Bitte entschuldigen Sie mich.
Ich brauche meinen Schlaf.«
Smith trat zum Bett. Er sah, wie sie die Augen
aufriss, als er sich auf die Kante setzte.
»Wissen Sie was«, brummte er gedehnt. »Ich biete
Ihnen Auge um Auge.«
»Wie bitte?«
»Ich erzähle Ihnen etwas über mich, und dann
erzählen Sie mir etwas über sich. Soll ich mit der Ranger-Schule
anfangen? Oder mit der mörderischen Hitze im ersten Golfkrieg?
Möchten Sie wissen, was mir Magenbeschwerden verursacht? Bestimmt
nicht mexíkanisches Essen.«
Sie sah ihn nachdenklich an. »Meinen Sie das
ernst?«
Verdammt, es schien so.
»Ja.«
Grace stützte sich auf einen Ellbogen und lehnte
sich gegen das gepolsterte Kopfende. In seinen Augen war sie die
personifizierte Versuchung. Ihr Haar, das in weichen Wellen um die
Schultern fiel, glänzte im Lampenschein. Sie war eine klassische
Schönheit, aber mit den leicht geöffneten Lippen und der vom Weinen
leicht geröteten Nase wirkte sie zusätzlich sehr verletzlich.
Er zwang sich, nicht daran zu denken, was ihr
Seidenhemdchen verbarg und was es frei legte.
»Ich möchte die Geschichte von den Narben hören«,
sagte sie unvermittelt.
Smith musste sich körperlich zusammenreißen, um
nicht zusammenzuzucken.
Scheiße. An so was hatte er nicht
gedacht.
Er war bereit gewesen, ihr kurz zu schildern, wie
man einen hartgesottenen Kompanieführer behandelt.Vielleicht eine
kleine Kriegsgeschichte mit einem guten Ausgang, etwa als er den
alten Mann und seine Familie gerettet hatte. Und seine
Laktoseintoleranz war auch keine große Sache für ihn.
Aber die Narben? Er hatte bisher mit niemandem
darüber geredet, nicht einmal mit Eddie und Tiny.
Denn nicht alle Wunden hatte er als Erwachsener
erlitten.
»Sie haben gesagt, ich könnte es mir aussuchen«,
flüsterte Grace. »Und das ist meine Wahl.«
Smith räusperte sich und suchte nach Worten, fand
aber keine.
Da legte sie sanft eine Hand auf seine Schulter. Er
zuckte
zusammen. Dann spürte er, wie ihre Finger sich langsam seinen
Rücken entlangbewegten, als würden sie seine Haut abtasten. Hier
und dort verharrten sie.
Smith wäre am liebsten fortgerannt, doch er konnte
sich nicht rühren. Sein Körper war wie ein schweres Gewicht.
Als sie die Narbe an der Seite berührte, eine der
ältesten, ließ sie die Finger ruhen. »Woher stammt diese
hier?«
Blitzartig und mit grausamer Deutlichkeit tauchte
ein Bild vor seinem inneren Auge auf, und er sah die Ereignisse vor
sich, die sich vor Jahrzehnten ereignet hatten. Ihm wurde übel,
daher blieb er stumm.
»Bitte.«
Dieses leise ausgesprochene Wort enthielt das
Versprechen von Trost, den er nie bekommen hatte. Doch noch nie
zuvor hatte er sich Trost gewünscht.
Er reagierte, ehe er es sich anders überlegen
konnte.
»Brandwunde von einer Zigarette.« Smith erkannte
seine eigene Stimme nicht wieder. Sie klang steif und heiser und
wie aus weiter Ferne. »Mein Vater hat geraucht. Streichhölzer fand
er immer, aber mit Aschenbechern war es anders. Mit der Zeit
schaffte ich es, schneller wegzurennen, aber das hat lange
gedauert.«
Er hörte ein zischendes Geräusch und merkte, dass
sie scharf Luft geholt hatte.
Smith blieb stumm. Mehr Einzelheiten brauchte sie
nicht zu erfahren.
»Das tut mir so leid!«
Alles läuft verkehrt, schrie eine Stimme in
ihm.
Mit keiner einzigen Frau in seinem Leben, die ihn
berühren durfte, hatte er darüber gesprochen. Niemals hätte er das
erlaubt. Sogar die wenigen, die selbst ein paar Wunden
davongetragen hatten, wussten instinktiv, dass sie seine
Horrormale nicht erwähnen durften. Und jetzt wollte diese betörend
schöne Frau, diese Lady, die von nichts eine Ahnung haben konnte,
was ihm alles angetan worden war, wo er gelebt und mit welchen
Leuten er Umgang hatte, diese zarte Frau wollte seine Albträume
teilen.
»Sind sie alle von …« Sie beendete die Frage
nicht.
In seinem Kiefer zuckte ein Muskel.
Er zwang sich zu einem Achselzucken. »Sagen wir
einfach, ich habe einiges erlebt.«
»Ich möchte sie sehen, alle.«
Ruckartig entzog er sich ihr. »Das ist jetzt weit
genug gegangen.«
»Das glaube ich nicht«, sagte sie und rückte
näher.
Smith war nicht in der Lage, irgendetwas
Vernünftiges zu denken oder zu tun, weil ihre Finger nun zu seinem
Hemdsaum glitten. Brutal umklammerte er ihre Handgelenke.
»Besser nicht!«
»Doch. Ich habe keine Angst vor Ihrer
Vergangenheit.«
»Das sollten Sie aber.«
»Ich habe aber keine Angst. Und vor Ihnen auch
nicht.«
Sanft entzog sie ihm ihre Hände und strich langsam
über den Stoff. Smith atmete nun stoßweise, und sein Körper begann
unter dem Druck ihres Willens zu erbeben.
Als ein Luftzug seine Haut überstrich, konnte er es
nicht mehr aushalten. Er stieß sich ruckartig vom Bett hoch und
zerrte sich das Hemd über den Kopf. Dann streckte er die Arme weit
aus und spürte, wie seine Muskeln sich dehnten.
»Hier, da haben Sie alles auf einen Blick«, stieß
er zähneknirschend hervor. »Vorn und hinten.«
Sein Blick war auf ihr Gesicht geheftet.
»Kommen Sie, Gräfin. Wollen Sie nicht mehr sehen?
Wird es Ihnen zu viel?« Seine Stimme klang spöttisch und
schneidend. Angesichts ihres Mitgefühls fühlte er sich plötzlich
schwach und verletzlich. Er hasste es.
Grace schüttelte den Kopf. Ihr Blick war zornig,
als hätte sie seine Vergangenheit selbst erlebt und spürte den
Nachhall seines Schmerzes im eigenen Körper.
»Jetzt haben Sie es nicht mehr so eilig, mich
anzufassen, nicht wahr? Jetzt, wo Sie alles gesehen haben.«
Smith hoffte, wenn er sie nur heftig genug
wegstieß, würde sie ihn in Ruhe lassen. Andere Frauen, die versucht
hatten, ihm näherzukommen, waren vor seiner Wut geflohen.
Aber Grace blieb.
Langsam stand sie auf und streckte eine schlanke,
feingliedrige Hand aus. Als sie sanft seinen Bauch berührte, holte
er keuchend Luft.
Sein erster Impuls war, laut aufzuschreien. Er war
zornig, dass sie ihn herausgefordert und so bloßgestellt hatte,
dass sie so dicht vor ihm stand, dass er ihren Duft spüren konnte.
Dass sie ihm Mitleid und Verständnis und Wärme bot, ihm, der
vernarbt, hart und hässlich war.
»Sie sind so schön«, sagte sie leise und blickte zu
ihm hoch.
»Sie müssen blind sein.«
Langsam schüttelte sie den Kopf. »Ich sehe Sie ganz
deutlich.«
Grace malte eine Linie über seinen Bauch und hielt
am Bund der Boxershorts inne. Er spürte, wie er unter ihrer
Berührung härter wurde, merkte plötzlich, dass er ja halbnackt war
und sie fast nichts trug und dass sie beide allein in dem dämmrigen
Zimmer waren.
Er griff nach ihren Armen und riss sie heftig an
sich. Sie
reagierte, indem sie den Kopf in den Nacken warf, um ihm weiterhin
in die Augen zu sehen.
»Behalten Sie Ihre Hände besser bei sich.« Er
versuchte, seine Stimme so schroff wie möglich klingen zu lassen.
»Wenn Sie mich so berühren, vergesse ich, dass Sie doch nicht
Florence Nightingale sind.«
»Was denken Sie stattdessen?«
Er schüttelte sie leicht und beobachtete, wie ihr
Haar dabei um die Schultern flog und im Licht aufglänzte.
»Verdammt«, knurrte er. »Lassen Sie das.«
Ihre Augen leuchteten sanft. Erregt. Er wusste, was
sie dachte, und Worte waren eigentlich nicht mehr nötig. Mit diesem
verschleierten Blick drückte sie genau aus, was sie wollte. Sie
wollte ihn.
Trotz seiner Wut.Trotz seiner Narben.
Da regte sich die anständige Stimme in seinem
Kopf.
»Hören Sie, Gräfin, mein Körper ist zumVögeln
gemacht. Wissen Sie überhaupt, was das ist? Wir reden von
einmaligen Fucks, stehend an eine Mauer gelehnt - weiß nicht, wie
sie heißt und ist mir auch völlig egal. Das wollen Sie
nicht.«
Sie senkte den Blick, als hätte er ihr etwas
weggenommen.
»Teufel!« Vor Frustration atmete er scharf aus.
Alles, was er jemals geträumt hatte, lag in seinen Armen, aber er
musste sie gehen lassen. »Verstehen Sie? Sie verdienen etwas
Besseres, als ich Ihnen geben kann. Sie brauchen jemanden, der Sie
liebt. Der Sie nicht bloß fickt und Sie und Ihr Bett völlig
durcheinanderbringt.«
»Das würden Sie niemals tun.«
»O doch.« Smith konnte sich nicht von ihr abwenden,
aber er wollte sie nicht küssen, weil er dann völlig verloren
wäre.
Daher vergrub er die Hände in ihren Locken und zog
sanft daran. Die Strähnen fielen ihr über die Brust, die heftig auf
und ab wogte. Sie atmete mit halb geöffnetem Mund. Er hob eine
Strähne an und roch daran. Jasmin. Als er das Haar losließ, fiel
die Locke zwischen ihre Brüste und ringelte sich um eine
seidenbedeckte Brustwarze.
O Gott, wie sehr er sie begehrte.
Er blickte auf ihren Mund. Die Lippen waren zart
und voll.
»Ich will Ihnen nicht wehtun«, sagte er düster.
Dieser Satz war wahr und überraschte ihn.
»Ich weiß.« Sie berührte sein Gesicht und fuhr mit
der Handfläche über seine Bartstoppeln. »Aber ich will auch nicht
beschützt werden. Das nicht. Nicht heute Nacht …«
Er kämpfte hart gegen sich selbst an. Sich ihr zu
entziehen war … unmöglich.
Dann beugte Smith sich vor und strich sanft mit den
Lippen über ihren Mund. Als sie aufstöhnte, drückte er fester zu
und umschlang sie gleichzeitig. Er ließ seine Zunge herausgleiten,
um ihre Unterlippe zu berühren, und spürte, wie ihre Hände ihn
umklammerten. Er drängte sich dichter an sie, erkundete ihren Mund,
bohrte sich tiefer und tiefer …
Seine Hände glitten zu den Trägern des Nachthemds.
Langsam streifte er die Satinbänder von ihren Schultern, bis sie
nackt vor ihm stand, das Hemchen nur ein kleines Seidenbündel um
ihre Füße. Das Blut dröhnte ihm in den Schläfen. Er zog sie aufs
Bett und legte sie rücklings auf die spitzenbedeckte Seidendecke.
Dann küsste er ihr Schlüsselbein, glitt tiefer, liebkoste ihre
Brüste und ihren Bauch.
Immer drängender strichen seine Hände über die
Rundung ihrer Hüften und an den Schenkeln entlang. Er streichelte
ihre Beine und fegte dabei die dünne Seide beiseite.
Als Smiths Hand an der Innenseite ihres Schenkels
emporglitt, spürte er die Hitze, die ihre zarte Haut dort
ausstrahlte. Er wagte sich höher, genoss es, wie sie sich unter ihm
wand und aufbäumte, und blickte hoch. Der Anblick, wie sie mit
durchgebogenem Rücken dort lag, den Kopf schräg gelegt, damit sie
ihn beobachten konnte, war das Erotischste, was er je gesehen
hatte.
Er presste den Mund auf ihren Bauch unterhalb des
Nabels und rang um Selbstkontrolle. Seine Finger glitten immer
weiter auf ihre Mitte zu, und seine Lippen folgten und küssten ihre
Haut durch die Seide hindurch. Er wollte alles von ihr erkunden:
mit den Fingern, der Zunge, dem ganzen Körper.
Smith war nun so erregt, dass er es zunächst nicht
merkte, wie ihre Hände sich gegen seine Schultern pressten. Sie
begann um sich zu schlagen, aber er nahm an, es geschähe aus
Leidenschaft.
Doch er irrte sich.
»Nein! Halt!«, rief Grace beunruhigt und rollte
sich zusammen.
Dann zerrte sie an ihrem Nachthemd, gab aber bald
auf und bedeckt sich mit einem Kissen. Sie zitterte und war sehr
blass.
Smith rutschte an den Rand des Betts und vergrub
den Kopf in den Händen. Er bekämpfte seine tobende Begierde und
verfluchte sich mit jedem stoßweisen Atemzug.
»Es … tut mir leid«, hauchte sie leise. Dann
berührte sie seinen Arm.
Er zuckte zurück. Das war jetzt das Letzte, dass
sie ihn berührte. Nicht, während er immer noch versuchte, sein
inneres Tier zu zähmen.
»Es ist nicht, dass ich dich nicht will …«
»Aber es war wohl schwerer als gedacht, sich auf
der anderen Zaunseite umzutun«, höhnte er heiser.
»Gütiger Gott, nein, nur … es ist … mein Mann
…«
»Ich möchte eigentlich nichts über ihn wissen,
falls Sie nichts dagegen haben.« Smith erhob sich. Er musste jetzt
gehen. »Gute Nacht, Gräfin.«
Er eilte hinaus und schritt eilig zurück in sein
Zimmer. Am liebsten hätte er alle Türen zwischen ihnen geschlossen.
Für immer. Er wusste, dass sein Willen aus Stahl hätte sein müssen,
um sie beide voneinander zu trennen.