11 012
Am nächsten Morgen tastete Grace verschlafen nach dem Wecker. Ihre Hand suchte auf dem Nachttisch, fand aber nur ihren Terminkalender, die Lampe - aber keine Uhr. Erst als sie die Augen öffnete, sah sie ihn, stellte ihn mit einem Schlag ab und drehte sich wieder um.
Es war ein stürmischer Morgen. Regen peitschte gegen die Fenster.
Als sie die Augen wieder öffnete, sah sie auf dem Boden das Hemd liegen, das Smith sich vom Körper gerissen hatte. Bei der Erinnerung daran durchfuhr es sie heiß. Sie spürte wieder seinen Mund, der sie hungrig bedrängte, seine Hände, die über ihren Körper glitten. Sie wusste nur noch undeutlich, wie sich seine Wut in Zärtlichkeit verwandelt hatte, von kühler Rationalität zu totalem Kontrollverlust. Sie fühlte sich, als wäre sie von ihm besessen.
Aber ihn zurückzuweisen war in ihrem eigenen Interesse nötig gewesen.
Denn nachdem er sie aufs Bett gelegt und ihren Bauch geküsst, als er ihre Beine gestreichelt und sie immer weiter in Ekstase hineingetrieben hatte, wie sie es noch nie zuvor erlebt hatte, war sie pötzlich völlig überwältigt und ängstlich geworden. Er hatte nichts Unrechtes getan, aber alles war so schnell gegangen, dass die Empfindungen, die dabei in ihr aufstiegen, sie überrascht hatten. Zusammen mit der Leidenschaft waren ihre Unsicherheit und eine verstörende Schwäche wieder aufgebrochen und hatten Erinnerungen hochgespült, vor denen sie nicht fliehen konnte.
Gegen Ende ihrer Ehe mit Ranulf war ihr Liebesleben nur noch eine einzige schmerzhafte Demütigung für sie gewesen. Ranulf war von seiner Frau zunehmend enttäuscht und wurde als Liebhaber immer grober, bis sie schließlich den Zeitpunkt fürchtete, dass er sich abends neben sie auf die Matratze warf.Was zuvor für sie recht angenehm gewesen war, konnte sie nun kaum noch ertragen. Ihre abwehrende Haltung machte alles nur noch schlimmer. Ranulf war nun impotent und gab ihr die Schuld daran. Bei jedem vergeblichen Akt tobte und wütete er, beschimpfte sie als frigide und dass sie keine echte Frau sei. Sie hatte einmal gewagt, ihm zu widersprechen, und ihm erklärt, eine Frau brauche mehr als grobe Hände, die ihre Beine spreizten, um in sie einzudringen. Das war das einzige Mal in ihrem Leben gewesen, dass sie Angst hatte, von einem Mann geschlagen zu werden.
Ranulf verspottete sie als grausam, weil er sich ebenso von ihr gedemütigt und enttäuscht fühlte wie sie sich von ihm, doch eine leise Stimme im Hinterkopf fragte, ob er vielleicht irgendwie Recht hatte. Sie hatte vor ihrem Mann nur einen einzigen Liebhaber gehabt, und beide hatten sie nicht sonderlich erregt. Mit diesem ersten Erlebnis und Ranulfs erniedrigenden, spöttischen Bemerkungen waren die Zweifel aufgetaucht, ob sie jemals einen Mann befriedigen könnte - und ob sie selbst jemals Befriedigung finden würde.
Bis John Smith aufgetaucht war.
Ihre Reaktion auf ihn hatte sämtliche Gedanken an Frigidität beseitigt.Aber die übrigen Selbstzweifel nagten noch an ihr. Wenn es einen einzigen Mann auf dieser Erde gab, den sie befriedigen wollte, dann war es Smith, aber sie war nicht sicher, ob sie das vermochte.
Auch wenn man sich in Sachen Sex theoretisch auskannte, war das noch keine Garantie dafür, dass der Akt mehr war als bloß eine sportliche Übung. Das hatte sie zumindest bei Ranulf gelernt, ehe er brutal geworden war.
Als diese inneren Zweifel gestern Abend ihre Lust verdrängten, wollte sie lediglich alles etwas langsamer angehen lassen, was zwischen ihr und Smith geschah. Sie hatte einfach eine Pause gebraucht, um wieder zur Besinnung zu kommen, ehe sie bereit gewesen wäre, den Sprung ins Ungewisse zu wagen.
Aber als Smith nicht von ihr abließ, war sie in Panik geraten, denn er erinnerte sie plötzlich an Ranulf.
Sie warf ihm nicht vor, dass er wütend davongerannt war.
Grace schob die Decke beiseite, stand auf und hob sein Hemd auf. Sie wollte nicht, dass er dachte, sie hätte ihn abgewiesen, weil sie ihn nicht begehrte. Sie hatte zwar vorübergehend die Nerven verloren, aber bestimmt nicht die Lust auf ihn.
Sie streifte einen Morgenmantel über und ging hinaus auf den Gang. Smith saß in seinem Zimmer auf einem Sofa beim Fenster. Er blickte sofort von seinem Buch auf, als sie im Türrahmen erschien. Seine Miene wirkte verschlossen.
»Na, gehen wir heute Morgen nicht joggen?«, fragte er munter.
Sie schüttelte den Kopf, während im selben Moment eine Bö den Regen aufspritzend gegen die Scheiben peitschte.
»Ich … bringe dir das Hemd zurück.« Sie legte es auf das Bett und räusperte sich. Siezen konnte sie ihn nun nicht mehr. »Äh … gestern Abend …«
Er klappte das Buch zu und starrte hinaus in den grauen Morgen. »Ich schulde dir eine Erklärung.« Auch er duzte sie nun.
Grace runzelte die Stirn. »Wie meinst du das?«
Er sah sie kurz an. »Abgesehen davon, dass ich diese Situation nie hätte zulassen dürfen, habe ich dich nicht losgelassen, als du das wolltest. Ich habe nicht gemerkt, dass du aufhören wolltest. Die einzige Entschuldigung meinerseits ist, dass ich gewöhnlich nicht … so vertieft bin.«
Grace blieb vor Überraschung der Mund offen stehen. Sie hatte mit seiner Wut gerechnet, weil er nicht bekommen hatte, was er sich wünschte. So hatten jedenfalls ihr Vater und Ranulf immer reagiert.
Smith sah sie nicht direkt an und sprach weiter, ehe sie etwas sagen konnte.
»Ich wollte dich nicht erschrecken. Streite es nicht ab«, sagte er, als sie den Kopf schüttelte und den Mund zum Sprechen öffnete. »Ich weiß, was ich gestern Abend in deinem Blick gesehen habe. Es war Angst.«
»Aber ich möchte nur sagen, warum ich …«
»Das geht mich nichts an, und ehrlich gesagt will ich die Gründe gar nicht wissen. Das ist nicht wichtig. Das Letzte, was du jetzt brauchst, ist Angst in deinem eigenen Haus. Angst vor mir.«
»Ich fühle mich von dir nicht bedroht.« Grace klang sehr ernst.
Er sah sie nachdenklich an, aber dann schüttelte er den Kopf.
»Selbst wenn das stimmt, ist es jetzt egal.« Smith schlug das Buch wieder auf. »Sag mir Bescheid, wenn das Bad frei ist.«
»John …« Er blickte sie leicht unwillig an. »Ich bin dir nicht ausgewichen, weil ich dich nicht wollte.«
»Mir wäre es lieber, wenn das der Grund wäre.«
Sie runzelte die Stirn. »Warum?«
Er gab keine Antwort. Stattdessen kehrte sein Blick zum Buch zurück.
Grace blieb nichts anderes übrig, als zu gehen. Es gab sehr viel mehr zu sagen, aber sie wusste, diese Unterhaltung war beendet.
 
Sie legten die lange Fahrt zur Hall-Stiftung schweigend zurück. In der großen Eingangshalle unterhielt Grace sich mit verschiedenen Leuten, während Smith sich kurz mit dem Wachdienst beriet.
»Ist das der Berater?«, flüsterte eine Angestellte und nickte zu Smith herüber.
Es hatte sich wohl herumgesprochen, dachte Grace und nickte.
»Er sieht ein bisschen … hart aus für einen Organisationsexperten.«
»Er ist ein Spezialist«, erwiderte sie und hoffte, damit das Thema zu beenden.
»Das würde ich wetten«, flötete eine andere Frau und blickte an Smith auf und ab.
Grace war übelster Laune, als sie neben Smith den Fahrstuhl betrat.
Sobald sie mit ihm alleine war, fragte er: »Warum siehst du mich so böse an?«
»Wie?«
»Als würdest du mich am liebsten erwürgen.«
»Ich habe keine Ahnung, was du meinst.«
»Ich glaube doch.«
Die Fahrstuhltüren öffneten sich auf ihrer Etage. Sie warf ihm einen warnenden Blick zu. »Muss das wirklich sein? Ich erinnere mich nur zu gut, dass du heute Morgen auch keine Lust hattest zu reden.«
Smith lächelte sie verschwörerisch an. Sie gingen auf ihr Büro zu.
»Touché«, sagte er leise, als sie vor Kats Schreibtisch stehen blieben. Das Mädchen blickte auf.
»Frau Senator Bradford hat angerufen«, sagte sie zu Grace. Misstrauisch beäugte sie Smith, als rechnete sie damit, dass er wieder wortlos an ihr vorbeigehen würde. »Sie wollte Sie nur daran erinnern, Freitag ins Plaza zu kommen. Sieben Uhr. Abendkleidung.«
»Danke. Ich werde in voller Montur erscheinen.«
»Morgen, Kat«, sagte Smith lässig.
»Guten Morgen!« Das Mädchen klimperte mit den Wimpern.
»Wie war es mit dem IT-Typen?«
»Äh … eigentlich war er ganz in Ordnung.« Sie lächelte flüchtig. »Er mag ebenfalls Baseball, und äh … ich werde mich wieder mit ihm treffen.«
»Lassen Sie ihn diesmal fürs Essen zahlen.«
Kats Blick flatterte hin und her, als machte sie seine Aufmerksamkeit verlegen. »He … möchten Sie vielleicht eine Tasse Kaffee?
»Ja, das wäre wunderbar. Schwarz, bitte.«
Nachdem Smith und Grace in ihrem Büro verschwunden waren, ging Smith zum Konferenztisch und schlug die Akten auf, die er momentan durchging. Er machte sich ein paar Notizen und ignorierte bewusst, wie freundlich Grace ihn ansah.
Kat brachte den Kaffee und schloss die Tür hinter sich.
»Was ist?«, fragte Grace.
»Draußen ist ein Mann«, antwortete das Mädchen und setzte die dampfende Tasse vor Smith. »Er hat keinen Termin und verlangt, Sie zu sehen. Er heißt Frederique.«
Grace zuckte zusammen. »Es geht um den Stiftungsball. Er war letztes Jahr mit der Planung beauftragt, aber ich habe dieses Jahr auf ihn verzichtet, weil er ein Vermögen kostet. Vermutlich will er mich bloß überreden, ihn wieder zu engagieren. Aber ich habe mich bereits dagegen entschieden.«
»Scheint so, als hätte er sich auf eine lange Wartezeit eingerichtet.«
»Wirklich?«
»Er hat eine Zeitung und eine Kühltasche mitgebracht.«
»Dann schicken Sie ihn herein«, meinte Grace verärgert. »Es hat ja keinen Sinn, wenn unser Sekretariat aussieht wie eine Kantine.«
Strahlend lächelnd betrat Frederique das Büro. Er trug eine weiße Koch-Uniform und hielt eine kleine Picknick-Kühlbox in der Hand. Er schien ein paar Pfund zugenommen zu haben, so sehr spannte sich die gestärkte und gebügelte Uniform über seinem Bauch.
Er trat auf Grace zu, um sie flüchtg auf beide Wangen zu küssen, was sie unwillig akzeptierte.
»Bitte, setzen Sie sich«, sagte sie und deutete auf einen Stuhl auf der anderen Schreibtischseite.
Frederique setzte sich mit einem Blick über die Schulter zu Smith. »Wer ist der Herr?«
»Was kann ich für Sie tun?«, fragte Grace direkt.
Frederique blickte zögernd zu ihr zurück, als hätte er sich auf die Vorstellung gefreut.
»Ich bringe Ihnen ein paar Leckerbissen zum Probieren. Aus meinem neuen Vorspeisensortiment, das ich mit Lolly Rampart vom Night Worx entwickelt habe. Sie haben von Lolly gehört, nicht wahr? Wir beide kennen uns schon sehr lange.«
Grace kniff die Augen zusammen, weil sie bezweifelte, dass Frederique tatsächlich mit Lolly zusammenarbeitete. Grace hatte mehrere Partyservice-Firmen um Vorschläge gebeten und sich für Night Worx entschieden, die das Essen für den Jahresball zusammenstellen sollten. Der Laden hatte einen guten Ruf und trotz der Popularität vernünftige Preise. Lolly hatte ausdrücklich gefragt, ob Frederique ebenfalls beauftragt wäre, aber Grace hatte ihr die Gründe genannt, warum sie sich gegen ihn entschieden hatte. Lolly, eine sehr direkte, aber nicht unfreundliche Frau, hatte angedeutet, dass sie es aus bestimmten Gründen vorzog, nicht mit ihm zusammenzuarbeiten.
Frederique stellte die Kühlbox auf den Schreibtisch und nahm den Deckel ab. »Ich habe gehört, dass Lolly dieses Jahr für den Jahresball arbeitet«, sagte er wie beiläufig. »Sie hat großes Talent. Sie werden es feststellen, wenn Sie das hier probieren.«
Mit diesen Worten zog er einen weißen Teller hervor. Darauf sah man drei kleine Häufchen pfirsichfarbene Mousse auf einer Art Kräcker.
»Ich nenne sie meine Krabbentürmchen.« Er reichte Grace den Teller, als böte er ihr die Kronjuwelen an. »Sie werden sie lieben.«
»Tut mir leid, Frederique. Es sieht wunderbar aus, aber ich habe eine Allergie gegen Schalentiere.«
Stirnrunzelnd zog er den Teller zurück. Dann fragte er mit einem Seitenblick zu Smith: »Würden Sie mir vielleicht die Ehre erweisen?«
Smith, der sich zu Frederique herumgedreht und ihn angestarrt hatte, schüttelte stumm den Kopf.
Der Küchenchef brauchte einen Moment, um sich wieder zu fassen. »Egal. Ich bringe Ihnen etwas anderes. Vielleicht Schweinelendchen auf einem Sesamkräcker. Oh, und die wunderbaren Champignons mit Lammfüllung …«
»Ich schätze Ihre Mühe, aber darf ich Sie an etwas erinnern. Wir haben keinen Bedarf für Ihre Dienste.«
Frederique erstarrte und schob dann den Teller zurück in die Kühltasche. Mit kantigen Bewegungen ließ er den Deckel wieder zuschnappen und klappte die beiden Henkel darüber. »Es ist schade, dass der Jahresball dieses Jahr auf meine Dienste verzichten muss. Mimi Lauer ist überglücklich darüber, wie ich ihren Ballettabend organisiert habe.«
Grace war sich dessen nicht so sicher, weil Mimi sie vor Kurzem angerufen und sich über den Mann vor ihr beklagt hatte.
»Ich weiß nicht, was ich sagen soll, Frederique. Wir beauftragen dieses Jahr keinen Organisator für den Ball.«
Der Mann lächelte strahlend.
»Vielleicht nicht für die Stiftung, aber vielleicht privat?« Er kam wieder in Schwung. »Wie Sie wissen, veranstalte ich fabelhafte Privatpartys. Ich bin zwar fast ausgebucht, könnte aber eine Nische für Sie reservieren. Nächste Woche treffe ich mich mit Isadora Cunis, aber ich könnte Ihnen in der ersten Ferienwoche immer noch einen Termin geben, wenn Sie heute noch die Anzahlung dafür leisten.«
»Ich glaube nicht.« Grace wollte den Mann nicht täuschen, daher musste sie sich klar und deutlich ausdrücken. Er war sehr hartnäckig, und wenn sie nur ein wenig nachgäbe, würde er das als Zusage werten. »Ich schätze Ihr Angebot.«
Damit erhob sie sich, damit er sie richtig verstand.
Frederique starrte sie an und erhob sich dann langsam ebenfalls. Dabei strich er mit einer kräftigen Handbewegung seine Uniform glatt. Grace zwang sich zu einem Lächeln und geleitete ihn zur Tür, nachdem er seine Kühltasche wieder an sich genommen hatte.
»Danke für Ihren Besuch«, sagte sie, hätte ihn aber am liebsten aus der Tür geschoben. Ihr Terminkalender war heute sehr voll, und sie hatte wirklich keine Lust, jemanden zu hätscheln, dessen Speisen zweitrangig waren und der ihr Jahr für Jahr etwa zwanzigtausend Dollar zu viel abgeknöpft hatte.
Frederique hingegen ließ sich nicht gerne drängen. Er nahm sich Zeit, sich im Büro umzublicken, während sie an der offenen Tür wartete.
»So ein wunderbares Gemälde«, murmelte er mit Blick auf die Landschaft über dem Konferenztisch.
»Danke. Und wenn Sie nichts dagegen haben - ich habe einen weiteren Termin.«
Doch da trat der Mann dicht auf sie zu. Grace wich verdutzt zurück. »Sind Sie sicher, die richtige Entscheidung getroffen zu haben?«, fragte er.
Grace runzelte die Stirn, aber noch ehe sie etwas erwidern konnte, hatte Smith eine Hand auf die Schulter des Mannes gelegt.
»Sie sollten jetzt einen Schritt zurücktreten, Frederique.« Smiths Lächeln hätte sogar die Hölle gefrieren lassen.
Frederique blickte überrascht hoch und trat sofort einen Schritt zurück. Dann murmelte er mit einer kleinen Verbeugung: »Wir sehen uns sicher bald wieder, Gräfin.«
Als er endlich verschwunden war, seufzte Grace vor Erleichterung laut auf und schloss die Tür hinter ihm.
»Danke, dass du ihn mir vom Leib gehalten hast.«
»Man kann nicht vorsichtig genug sein.«
Sie schauderte. »Ich sollte Isadora warnen, dass er dringend Kunden sucht und sie als Nächste auf seiner Liste steht.«
Aber eigentlich hatten Isadora und sie andere Dinge zu bereden: ihre Freundinnen, die sie verloren hatten. Dieser schreckliche Artikel.
 
Den Rest der Woche verbrachte Grace wie in einem Nebel. Eine scheinbar endlose Reihe von Problemen wartete auf Lösung. Die Einladungen zum Jahresball, die dringend verschickt werden sollten, kamen mit einem Schreibfehler aus der Druckerei. Der Neudruck kostete ein Vermögen, und als Grace das Endprodukt genauer betrachtete, fiel sofort ins Auge, dass keine wichtige Antiquität versteigert werden würde. Sie hoffte nur, dass es sonst niemandem auffiel, aber dessen war sie sich nicht sicher.
Lamont hatte in einem Recht gehabt: Die Aufgaben ihres Vater zu übernehmen und gleichzeitig ein glanzvolles gesellschaftliches Ereignis zu organisieren, war eine schwere Bürde. Die Verhandlungen mit dem Partyservice, den Bestuhlungslieferanten, der Elektronikfirma, den Presseleuten und den Fotografen nahmen unendlich viel Zeit in Anspruch. Die Anforderungen wurden tagtäglich größer, je näher das Ereignis rückte, und sie musste immer mehr an Kat delegieren. Glücklicherweise nahm das Mädchen die zusätzliche Verantwortung gerne auf sich.
Grace war so mit ihrer Arbeit und der unterschwelligen Spannung zwischen sich und Smith beschäftigt, dass sie fast die Gefahr vergaß, in der sie schwebte.
Bis Detective Marks wieder anrief.
Sie kam gerade mit Smith von einer spätabendlichen Vernissage zurück in ihre Penthouse-Wohnung, als das Telefon klingelte. Sobald sie die Stimme des Detective hörte, kehrte mit einem Schlag die Angst zurück.
»Keine Sorge«, sagte er. »Ich möcht mich nur mal wieder melden. Ist Ihnen in letzter Zeit etwas Ungewöhnliches aufgefallen? Ist Smith noch bei Ihnen?«
Erleichtert ließ Grace sich auf ein Sofa fallen. »Ja, er ist hier. Und aufgefallen ist mir eigentlich nichts.«
»Kann ich ihn sprechen?«
Grace rief Smith herbei. »Marks möchte mit dir reden.«
Smith nahm den Hörer. Grace beobachtete ihn ängstlich. Sie hatte keine Ahnunng, worüber die beiden redeten, weil sie nur Smiths knappe Antworten hörte. Dann beendete er das Gespräch. Grace war enttäuscht, dass er nichts sagte.
»Stimmt irgendetwas nicht?«, fragte sie.
Er schüttelte den Kopf.
»Worüber habt ihr denn geredet?«
Smith zuckte die Achseln und ging auf den Gang hinaus. Sie eilte hinter ihm her.
»Sag es mir!«, bat sie und ergriff seinen Arm. Sein Handgelenk fühlte sich warm und kräftig an und erinnerte sie daran, wie sie sich in seinen Armen gefühlt hatte.
Als er auf ihre Hand herabblickte, zog sie die Finger zurück, trat aber vor ihn und versperrte ihm den Weg in sein Zimmer.
»Bitte verbirg nichts vor mir«, bat sie sehr direkt. »Ich will schlechte Nachrichten besser gleich hören, statt mir viel Schlimmeres auszumalen.«
Smith sah sie fest an, ehe er antwotete. »Das Einzige, was sie mit Sicherheit wissen, ist, dass beide Opfer vom selben Täter umgebracht worden sind. Man hat an Blutspuren, Haaren und Hautresten unter den Fingernägeln der Opfer dieselben DNS-Spuren gefunden. Ansonsten nichts Neues, keine Verdächtigen. Kein Tatmotiv.«
Grace lehnte sich mit Schulter und Hüfte an die Wand. Ihr wurde übel bei der Vorstellung, wie ihre Freundinnen sich gegen den Mörder gewehrt hatten. Dass die Polizei noch keinerlei Fortschritte zu melden hatte, war schrecklich. Sie redete sich ein, dass sie allmählich Beweise und Vermutungen zusammentrugen, die schließlich irgendwann ein volles Bild ergeben würden.
»Ich kann es kaum glauben, dass sie noch keine Anhaltspunkte haben«, sagte sie und blickte auf den kostbaren Teppich hinab. Dann malte sie mit ihrem Manolo-Blahnik-Absatz einen Kreis in den ansonsten makellosen beigen Flor. »Ob sie auch wirklich genug tun?«
»Marks hat einen guten Ruf. Ich weiß auch, wie anspruchsvoll er ist. Der Dreckskerl, der die beiden Frauen umgebracht hat, hat bisher einfach nur Glück gehabt.«
»Oder er weiß genau, was er tut.«
Smiths Stimme klang heiser. »Das war kein Profi.«
Grace zuckte zusammen, weil sie an die Fotos von Cuppies Leiche dachte. »Wie kommst du darauf?«
Als Smith keine Antwort gab, blickte sie hoch.
»Bist du sicher, dass du darüber reden willst?«, fragte er unwillig.
»Ich habe doch danach gefragt, oder?«, erwiderte sie knapp, weil sie sich trotz ihrer Angst in ihrem Stolz verletzt fühlte. Sie wollte nicht, dass er sie für unfähig hielt, etwas rational zu besprechen, was so offensichtlich ihr Leben bedrohte. Gleichzeitig stieg Übelkeit in ihr hoch.
»Rede mit mir, verdammt nochmal«, stieß sie hervor. »Dieses rätselhafte Getue geht mir auf die Nerven.«
Smith lächelte flüchtig. »Ich habe Marks nahegelegt, nach Verbindungen zwischen den Ehemännern der Opfer zu suchen. Er sagte, es gäbe keine Gemeinsamkeiten außer den gesellschaftlichen Beziehungen. Das hat mich nicht überrascht.«
»Was glaubst du denn? Warum ist es passiert?«
Unausgesprochen blieb die Frage: »Warum stehe ich auf der Liste?«
»Es ist eine persönliche Sache. Die Verbindung besteht zwischen den Frauen, nicht zwischen deren Ehemännern. Also, ich kann nur sagen, dass Marks alles tut, was in seiner Macht steht, und er ist ein verdammt guter Polizist. Irgendetwas wird sich ergeben …«
»Aber was passiert bis dahin? Wie viele werden …?«
Grace konnte das Wort nicht aussprechen, das ihr im Kopf herumging. Es war nie leicht, vom Sterben zu reden, aber es war verflucht unmöglich, das Wort auszusprechen, wenn es um den eigenen Tod ging.
Sie umschlang ihren Oberkörper. Der Schleier der Sicherheit, der sie in den letzten Tagen umgeben hatte, war zerrissen.
»Grace, sieh mich an.«
Sie hob den Kopf.
»Du hast mich beauftragt, dich zu beschützen.« Sie nickte, als er innehielt. »Und genau das werde ich tun.«
»Ich hoffe es. Gott, das hoffe ich wirklich.«
»Hoffe es nicht nur, vertrau mir.«
Grace starrte ihm in die Augen und sah seine Selbstsicherheit, seine Kraft, seine Selbstbeherrschung. Das alles schien zu versprechen, dass ihr Vertrauen in ihn nicht enttäuscht würde.
Als er eine Hand nach ihr ausstreckte, traf sie das unvorbereitet.
»Gehen wir ins Bett.«
Grace riss die Augen auf, aber dann merkte sie, dass er nicht von Sex redete. Er schlug bloß vor, dass sie sich endlich ausruhte.
Da nahm sie seine Hand und spürte, wie seine Finger sie warm und stark umschlangen. Gemeinsam gingen sie den Gang entlang zu seinem Zimmer, wo er sich stumm von ihr löste und sie stehen ließ.
Grace hatte ihr Negligee übergestreift und lag im Dunkeln in ihrem Bett. Sie hörte Smith im Bad verschwinden. Kurz und gedämpft vernahm sie das Wasserrauschen.Wenige Minuten später tauchte er wieder auf.
»John?«
»Ja?« Seine Stimme klang in der Dunkelheit sehr weich.
»Ich bin froh, dass du hier bist.«
Daraufhin folgte Schweigen, und sie nahm schon an, dass er wieder in sein Zimmer gegangen war.
»Ich auch«, sagte er dann sehr leise.
Überrascht von seiner Antwort, rollte Grace sich auf die Seite, doch sie war allein.
Stunden später war sie imer noch wach. Unter all den Decken und Kissen fühlte sie sich dem Ersticken nahe. Sie nahm ihr Tagebuch und einen Stift und ging ins Wohnzimmer. In Smiths Zimmer war es dunkel.
Sie setzte sich mit untergeschlagenen Beinen auf das Sofa, merkte aber, dass ihr eigentlich nicht nach Schreiben zumute war, sondern nach Nachdenken. Als Smith ihr die Hand gereicht hatte, war sie sehr überrascht gewesen. In der Erinnerung, wie seine Hand sich angefühlt hatte, merkte sie, dass er sie auch in anderer Hinsicht mehrfach überrascht hatte.
Neulich war sie morgens nach einem anstrengenden Lauf erst viel später aus dem Bad gekommen. Als sie in die Küche lief, um ihm Bescheid zu geben, dass das Bad nun frei sei, hatte er ihr einen dampfend heißen Becher mit Kaffee in die Hand gedrückt und auf einen Teller mit Toast gedeutet, den er für sie zubereitet hatte.
Sie hatte ihn völlig verwirrt angesehen.
»Das ist Frühstück«, hatte er geknurrt. »Sie erkennen das vielleicht nicht auf den ersten Blick, weil Sie in der letzten Woche nicht viel gegessen haben.«
»Natürlich habe ich …«
»Der Salat neulich statt eines Abendessens zählt nicht. Sie haben abgenommen, und das können Sie sich kaum erlauben.«
Sie hatte an sich herabgeblickt. Er hatte Recht. Ihre Röcke waren in der Taille alle etwas weiter geworden.
»Hier.« Er schob den Toast auf sie zu.
Sie hatte eine Scheibe genommen und gesehen, dass er Erdbeermarmelade darauf gestrichen hatte. »Das habe ich schon jahrelang nicht mehr gegessen.«
Schon nach einem Bissen war ihr Appetit zurückgekehrt. Nach vier Scheiben Toast mit Konfitüre und einem großen Becher Kaffee seufzte sie zufrieden. Sie hatte schon so lange von praktisch nichts gelebt, dass sie vergessen hatte, wie man sich satt fühlte.
Sie wusste noch, wie sie ihn danach angeblickt hatte. Er hatte die ganze Zeit über an die Anrichte gelehnt, dagestanden und ihr zugesehen.
»Ich möchte mich bedanken«, hatte sie trocken gemeint. »Wenn ich darf.«
Er hatte die Achseln gezuckt, und als er keine sarkastische Bemerkung von sich gab, hatte sie ihn angelächelt.
»Danke.«
Seine scharfen Augen hatten den leeren Teller überflogen. »Ich kümmere mich immer gut um meine Klienten.«
Grace lächelte in Gedanken daran, wie er da ausgesehen hatte. Die Vorstellung, er könnte auch einmal verlegen wirken, war eigentlich absurd, aber so hatte er ausgesehen. Ihre schlichte Dankbarkeit für seine Fürsorglichkeit war für ihn schwer zu akzeptieren, aber er hatte sich auch nicht gewehrt.
Das war ein Fortschritt, dachte sie. Genau wie gestern Abend, als er ihre Hand nahm.
Aber Fortschritt in welcher Richtung?
In ihrem Herzen wollte sie ihn. Mit jeder Faser.
Je besser sie ihn kennen lernte, desto stärker begehrte sie ihn.
Zuerst hatte sie sich gefragt, ob er eine andere Seite hatte, ein Gegengewicht zu seiner aggressiven Ausstrahlung. Sie wusste inzwischen, dass er auch anders sein konnte, weniger grob. Er verbarg das meistens hinter einer Maske der Selbstkontrolle, verriet sich aber in seinen Gesten, seiner schlichten Höflichkeit, die besagte, dass er an andere dachte. Dass er sie wahrnahm.
Das Frühstück war nur ein Beispiel, wie fürsorglich er sein konnte. Er gab sich auch Mühe, freundlicher zu Kat zu sein. Er kochte sich seine Mahlzeiten selbst, räumte in der Küche anschließend auf und schaffte es auch irgendwie, selbst an Regentagen den Teppich nicht mit seinen schmutzigen Schuhen zu verdrecken.
Das alles waren Kleinigkeiten, aber sie bedeuteten für Grace eine Menge. Einen Mann im Haus zu haben, der nicht ständig Aufmerksamkeit verlangte oder ihr eine lange Liste von Aufgaben zuteilte, war für sie neu. Ranulf hatte von ihr erwartet, ihren gesellschaftlichen Terminkalender zu führen, dafür zu sorgen, dass die Penthouse-Wohnung ausreichend Personal hatte, sich um all seine Bedürfnisse zu kümmern und fast jeden Abend Gäste zum Essen zu haben, selbst als sie ganztags arbeitete und er nicht. All das wurde ohne einen Dank seinerseis entgegengenommen, weil es in seinen Augen ihre Pflicht war.
In diese Falle würde sie nicht noch einmal geraten.
Grace sah auf ihr Tagebuch und das Datum oben auf der Seite. Morgen würde sie dreißig. Genauer gesagt, um fünf nach sieben.
Aus einer Laune heraus schrieb sie: »Zu meinem Geburtstag wünsche ich mir nichts anderes als John Smith. In meinem Bett mit einer Schleife um den Hals und sonst völlig nackt.«
Grace lachte leise und schob Buch und Stift beiseite. Das war natürlich lachhaft, aber eine lustige Vorstellung. Sicher besser als vieles andere, woran sie in letzter Zeit gedacht hatte. Sie starrte hinaus in die Nacht und malte sich Dinge aus, bei denen sie errötete. Schließlich schlenderte sie wieder in die Diele, blieb kurz vor Smiths offener Tür stehen, spielte einen Moment mit dem Gedanken, hineinzugehen und ihn im Dunkeln zu ertasten, zwang sich aber dann, weiterzugehen in ihr Schlafzimmer.
Nach dem Duschen am Morgen suchte sie Smith. Sie hatten ein kleines Ritual entwickelt. Sie benutzte das Bad zuerst und kleidete sich an, wenn er anschließend darin verschwand.
»John?« Sie spähte in sein Zimmer. Das Bett war gemacht, wie immer, und nichts lag herum. Die Gewohnheiten eines ehemaligen Soldaten. Als sie sich umdrehte, sah sie eine schwarze Stange im Türrahmen zu seinem Bad. Für Klimmzüge wie gemacht. So hielt er sich also in Form.
Als sie ins Wohnzimmer ging, stand er dort vor dem großen Fenster und blickte in den Morgenhimmel. Nach tagelangem Regen war er endlich wieder blau. Schon ging die Sonne über der Stadt auf.
»Das Bad ist frei.«
Er zeigte sich nicht von ihr überrascht, auch wenn sie bewusst leise gegangen war. Sie hatte sich an seine scharfe Wahrnehmung gewöhnt und an die Tatsache, dass er immer genau zu wissen schien, wo sie war. Jetzt betrachtete er ihr Spiegelbild in der Glasscheibe.
Als er stumm blieb, räusperte sie sich. »Äh … das Bad …?«
Sie deutete mit dem Daumen hinter sich.
Noch immer keine Antwort. Er starrte sie bloß weiter in der Scheibe an.
Grace spürte ein Prickeln auf der Haut. Er war so anders heute Morgen.
Als er sich endlich umdrehte, traf sie sein Anblick wie ein Schock. Es schien eine Begierde von ihm auszugehen, eine brennende Intensität, die sie seit dem Abend, als sie sich ihm entzog, nicht mehr gesehen hatte. Sie dachte wieder an seinen Körper ganz dicht an ihrem und an seine Berührungen. Er blickte auf ihren Mund, als dächte er genau das Gleiche.
Als er mit langen Schritten den Raum durchquerte, machte sie sich auf die Berührung gefasst und war bereit dazu.
»Ich beeile mich«, sagte er nur.
Grace war unendlich enttäuscht. Sie hatte fest damit gerechnet, dass er sie umarmen würde, aber sie versuchte, ihre Enttäuschung hinter einem Lächeln zu verbergen.
Doch dann blieb er neben ihr stehen und beugte sich zu ihrem Ohr. »Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Grace.«
Sein Atem glitt über ihre Wange. Dann strich er mit dem Zeigefinger über ihre Schläfe.
Ein Stromstoß durchfuhr sie. Laut keuchte sie auf.
Doch zu ihrer Enttäuschung ging er nur an ihr vorbei auf den Gang hinaus.
Grace fühlte sich wie nach einem Angriff und musste sich setzen.Was hatte das nur zu bedeuten? Warum hatte er nicht wahrgemacht, was sein Blick versprochen hatte?
Sie runzelte die Stirn. Woher wusste er, dass heute ihr Geburtstag war?
Unuhig und verwirrt fuhr ihr Blick durch den Raum. Dann sah sie das aufgeschlagen Tagebuch auf dem Sofa.
O Gott.
Sie sah auf die Sätze hinab, die er bestimmt gelesen hatte.
Genau. Ihr kleiner Geburtstagswunsch.
Grace schnitt ein Gesicht und fühlte sich unendlich verlegen.
Ein Zeitloch, dachte sie und schloss das Buch. Genau das brauche ich. Damit sie um drei Uhr in der Frühe zurück ins Wohnzimmer gehen konnte, um das Tagebuch zu holen.
Vielleicht brauchte sie auch nur ein bisschen gesunden Menschenverstand.