11 

Am nächsten Morgen tastete Grace
verschlafen nach dem Wecker. Ihre Hand suchte auf dem Nachttisch,
fand aber nur ihren Terminkalender, die Lampe - aber keine Uhr.
Erst als sie die Augen öffnete, sah sie ihn, stellte ihn mit einem
Schlag ab und drehte sich wieder um.
Es war ein stürmischer Morgen. Regen peitschte
gegen die Fenster.
Als sie die Augen wieder öffnete, sah sie auf dem
Boden das Hemd liegen, das Smith sich vom Körper gerissen hatte.
Bei der Erinnerung daran durchfuhr es sie heiß. Sie spürte wieder
seinen Mund, der sie hungrig bedrängte, seine Hände, die über ihren
Körper glitten. Sie wusste nur noch undeutlich, wie sich seine Wut
in Zärtlichkeit verwandelt hatte, von kühler Rationalität zu
totalem Kontrollverlust. Sie fühlte sich, als wäre sie von ihm
besessen.
Aber ihn zurückzuweisen war in ihrem eigenen
Interesse nötig gewesen.
Denn nachdem er sie aufs Bett gelegt und ihren
Bauch geküsst, als er ihre Beine gestreichelt und sie immer weiter
in Ekstase hineingetrieben hatte, wie sie es noch nie zuvor erlebt
hatte, war sie pötzlich völlig überwältigt und ängstlich geworden.
Er hatte nichts Unrechtes getan, aber alles war so schnell
gegangen, dass die Empfindungen, die dabei in ihr aufstiegen, sie
überrascht hatten. Zusammen mit der Leidenschaft waren ihre
Unsicherheit und eine verstörende
Schwäche wieder aufgebrochen und hatten Erinnerungen hochgespült,
vor denen sie nicht fliehen konnte.
Gegen Ende ihrer Ehe mit Ranulf war ihr Liebesleben
nur noch eine einzige schmerzhafte Demütigung für sie gewesen.
Ranulf war von seiner Frau zunehmend enttäuscht und wurde als
Liebhaber immer grober, bis sie schließlich den Zeitpunkt
fürchtete, dass er sich abends neben sie auf die Matratze warf.Was
zuvor für sie recht angenehm gewesen war, konnte sie nun kaum noch
ertragen. Ihre abwehrende Haltung machte alles nur noch schlimmer.
Ranulf war nun impotent und gab ihr die Schuld daran. Bei jedem
vergeblichen Akt tobte und wütete er, beschimpfte sie als frigide
und dass sie keine echte Frau sei. Sie hatte einmal gewagt, ihm zu
widersprechen, und ihm erklärt, eine Frau brauche mehr als grobe
Hände, die ihre Beine spreizten, um in sie einzudringen. Das war
das einzige Mal in ihrem Leben gewesen, dass sie Angst hatte, von
einem Mann geschlagen zu werden.
Ranulf verspottete sie als grausam, weil er sich
ebenso von ihr gedemütigt und enttäuscht fühlte wie sie sich von
ihm, doch eine leise Stimme im Hinterkopf fragte, ob er vielleicht
irgendwie Recht hatte. Sie hatte vor ihrem Mann nur einen einzigen
Liebhaber gehabt, und beide hatten sie nicht sonderlich erregt. Mit
diesem ersten Erlebnis und Ranulfs erniedrigenden, spöttischen
Bemerkungen waren die Zweifel aufgetaucht, ob sie jemals einen Mann
befriedigen könnte - und ob sie selbst jemals Befriedigung finden
würde.
Bis John Smith aufgetaucht war.
Ihre Reaktion auf ihn hatte sämtliche Gedanken an
Frigidität beseitigt.Aber die übrigen Selbstzweifel nagten noch an
ihr. Wenn es einen einzigen Mann auf dieser Erde gab,
den sie befriedigen wollte, dann war es Smith, aber sie war nicht
sicher, ob sie das vermochte.
Auch wenn man sich in Sachen Sex theoretisch
auskannte, war das noch keine Garantie dafür, dass der Akt mehr war
als bloß eine sportliche Übung. Das hatte sie zumindest bei Ranulf
gelernt, ehe er brutal geworden war.
Als diese inneren Zweifel gestern Abend ihre Lust
verdrängten, wollte sie lediglich alles etwas langsamer angehen
lassen, was zwischen ihr und Smith geschah. Sie hatte einfach eine
Pause gebraucht, um wieder zur Besinnung zu kommen, ehe sie bereit
gewesen wäre, den Sprung ins Ungewisse zu wagen.
Aber als Smith nicht von ihr abließ, war sie in
Panik geraten, denn er erinnerte sie plötzlich an Ranulf.
Sie warf ihm nicht vor, dass er wütend davongerannt
war.
Grace schob die Decke beiseite, stand auf und hob
sein Hemd auf. Sie wollte nicht, dass er dachte, sie hätte ihn
abgewiesen, weil sie ihn nicht begehrte. Sie hatte zwar
vorübergehend die Nerven verloren, aber bestimmt nicht die Lust auf
ihn.
Sie streifte einen Morgenmantel über und ging
hinaus auf den Gang. Smith saß in seinem Zimmer auf einem Sofa beim
Fenster. Er blickte sofort von seinem Buch auf, als sie im
Türrahmen erschien. Seine Miene wirkte verschlossen.
»Na, gehen wir heute Morgen nicht joggen?«, fragte
er munter.
Sie schüttelte den Kopf, während im selben Moment
eine Bö den Regen aufspritzend gegen die Scheiben peitschte.
»Ich … bringe dir das Hemd zurück.« Sie legte es
auf das Bett und räusperte sich. Siezen konnte sie ihn nun nicht
mehr. »Äh … gestern Abend …«
Er klappte das Buch zu und starrte hinaus in den
grauen
Morgen. »Ich schulde dir eine Erklärung.« Auch er duzte sie
nun.
Grace runzelte die Stirn. »Wie meinst du
das?«
Er sah sie kurz an. »Abgesehen davon, dass ich
diese Situation nie hätte zulassen dürfen, habe ich dich nicht
losgelassen, als du das wolltest. Ich habe nicht gemerkt, dass du
aufhören wolltest. Die einzige Entschuldigung meinerseits ist, dass
ich gewöhnlich nicht … so vertieft bin.«
Grace blieb vor Überraschung der Mund offen stehen.
Sie hatte mit seiner Wut gerechnet, weil er nicht bekommen hatte,
was er sich wünschte. So hatten jedenfalls ihr Vater und Ranulf
immer reagiert.
Smith sah sie nicht direkt an und sprach weiter,
ehe sie etwas sagen konnte.
»Ich wollte dich nicht erschrecken. Streite es
nicht ab«, sagte er, als sie den Kopf schüttelte und den Mund zum
Sprechen öffnete. »Ich weiß, was ich gestern Abend in deinem Blick
gesehen habe. Es war Angst.«
»Aber ich möchte nur sagen, warum ich …«
»Das geht mich nichts an, und ehrlich gesagt will
ich die Gründe gar nicht wissen. Das ist nicht wichtig. Das Letzte,
was du jetzt brauchst, ist Angst in deinem eigenen Haus. Angst vor
mir.«
»Ich fühle mich von dir nicht bedroht.« Grace klang
sehr ernst.
Er sah sie nachdenklich an, aber dann schüttelte er
den Kopf.
»Selbst wenn das stimmt, ist es jetzt egal.« Smith
schlug das Buch wieder auf. »Sag mir Bescheid, wenn das Bad frei
ist.«
»John …« Er blickte sie leicht unwillig an. »Ich
bin dir nicht ausgewichen, weil ich dich nicht wollte.«
»Mir wäre es lieber, wenn das der Grund
wäre.«
Sie runzelte die Stirn. »Warum?«
Er gab keine Antwort. Stattdessen kehrte sein Blick
zum Buch zurück.
Grace blieb nichts anderes übrig, als zu gehen. Es
gab sehr viel mehr zu sagen, aber sie wusste, diese Unterhaltung
war beendet.
Sie legten die lange Fahrt zur Hall-Stiftung
schweigend zurück. In der großen Eingangshalle unterhielt Grace
sich mit verschiedenen Leuten, während Smith sich kurz mit dem
Wachdienst beriet.
»Ist das der Berater?«, flüsterte eine Angestellte
und nickte zu Smith herüber.
Es hatte sich wohl herumgesprochen, dachte Grace
und nickte.
»Er sieht ein bisschen … hart aus für einen
Organisationsexperten.«
»Er ist ein Spezialist«, erwiderte sie und hoffte,
damit das Thema zu beenden.
»Das würde ich wetten«, flötete eine andere Frau
und blickte an Smith auf und ab.
Grace war übelster Laune, als sie neben Smith den
Fahrstuhl betrat.
Sobald sie mit ihm alleine war, fragte er: »Warum
siehst du mich so böse an?«
»Wie?«
»Als würdest du mich am liebsten erwürgen.«
»Ich habe keine Ahnung, was du meinst.«
»Ich glaube doch.«
Die Fahrstuhltüren öffneten sich auf ihrer Etage.
Sie warf ihm einen warnenden Blick zu. »Muss das wirklich sein?
Ich erinnere mich nur zu gut, dass du heute Morgen auch keine Lust
hattest zu reden.«
Smith lächelte sie verschwörerisch an. Sie gingen
auf ihr Büro zu.
»Touché«, sagte er leise, als sie vor Kats
Schreibtisch stehen blieben. Das Mädchen blickte auf.
»Frau Senator Bradford hat angerufen«, sagte sie zu
Grace. Misstrauisch beäugte sie Smith, als rechnete sie damit, dass
er wieder wortlos an ihr vorbeigehen würde. »Sie wollte Sie nur
daran erinnern, Freitag ins Plaza zu kommen. Sieben Uhr.
Abendkleidung.«
»Danke. Ich werde in voller Montur
erscheinen.«
»Morgen, Kat«, sagte Smith lässig.
»Guten Morgen!« Das Mädchen klimperte mit den
Wimpern.
»Wie war es mit dem IT-Typen?«
»Äh … eigentlich war er ganz in Ordnung.« Sie
lächelte flüchtig. »Er mag ebenfalls Baseball, und äh … ich werde
mich wieder mit ihm treffen.«
»Lassen Sie ihn diesmal fürs Essen zahlen.«
Kats Blick flatterte hin und her, als machte sie
seine Aufmerksamkeit verlegen. »He … möchten Sie vielleicht eine
Tasse Kaffee?
»Ja, das wäre wunderbar. Schwarz, bitte.«
Nachdem Smith und Grace in ihrem Büro verschwunden
waren, ging Smith zum Konferenztisch und schlug die Akten auf, die
er momentan durchging. Er machte sich ein paar Notizen und
ignorierte bewusst, wie freundlich Grace ihn ansah.
Kat brachte den Kaffee und schloss die Tür hinter
sich.
»Was ist?«, fragte Grace.
»Draußen ist ein Mann«, antwortete das Mädchen und
setzte die dampfende Tasse vor Smith. »Er hat keinen Termin und
verlangt, Sie zu sehen. Er heißt Frederique.«
Grace zuckte zusammen. »Es geht um den
Stiftungsball. Er war letztes Jahr mit der Planung beauftragt, aber
ich habe dieses Jahr auf ihn verzichtet, weil er ein Vermögen
kostet. Vermutlich will er mich bloß überreden, ihn wieder zu
engagieren. Aber ich habe mich bereits dagegen entschieden.«
»Scheint so, als hätte er sich auf eine lange
Wartezeit eingerichtet.«
»Wirklich?«
»Er hat eine Zeitung und eine Kühltasche
mitgebracht.«
»Dann schicken Sie ihn herein«, meinte Grace
verärgert. »Es hat ja keinen Sinn, wenn unser Sekretariat aussieht
wie eine Kantine.«
Strahlend lächelnd betrat Frederique das Büro. Er
trug eine weiße Koch-Uniform und hielt eine kleine Picknick-Kühlbox
in der Hand. Er schien ein paar Pfund zugenommen zu haben, so sehr
spannte sich die gestärkte und gebügelte Uniform über seinem
Bauch.
Er trat auf Grace zu, um sie flüchtg auf beide
Wangen zu küssen, was sie unwillig akzeptierte.
»Bitte, setzen Sie sich«, sagte sie und deutete auf
einen Stuhl auf der anderen Schreibtischseite.
Frederique setzte sich mit einem Blick über die
Schulter zu Smith. »Wer ist der Herr?«
»Was kann ich für Sie tun?«, fragte Grace
direkt.
Frederique blickte zögernd zu ihr zurück, als hätte
er sich auf die Vorstellung gefreut.
»Ich bringe Ihnen ein paar Leckerbissen zum
Probieren. Aus meinem neuen Vorspeisensortiment, das ich mit Lolly
Rampart vom Night Worx entwickelt habe. Sie haben von
Lolly gehört, nicht wahr? Wir beide kennen uns schon sehr
lange.«
Grace kniff die Augen zusammen, weil sie
bezweifelte, dass Frederique tatsächlich mit Lolly
zusammenarbeitete. Grace hatte mehrere Partyservice-Firmen um
Vorschläge gebeten und sich für Night Worx entschieden, die
das Essen für den Jahresball zusammenstellen sollten. Der Laden
hatte einen guten Ruf und trotz der Popularität vernünftige Preise.
Lolly hatte ausdrücklich gefragt, ob Frederique ebenfalls
beauftragt wäre, aber Grace hatte ihr die Gründe genannt, warum sie
sich gegen ihn entschieden hatte. Lolly, eine sehr direkte, aber
nicht unfreundliche Frau, hatte angedeutet, dass sie es aus
bestimmten Gründen vorzog, nicht mit ihm zusammenzuarbeiten.
Frederique stellte die Kühlbox auf den Schreibtisch
und nahm den Deckel ab. »Ich habe gehört, dass Lolly dieses Jahr
für den Jahresball arbeitet«, sagte er wie beiläufig. »Sie hat
großes Talent. Sie werden es feststellen, wenn Sie das hier
probieren.«
Mit diesen Worten zog er einen weißen Teller
hervor. Darauf sah man drei kleine Häufchen pfirsichfarbene Mousse
auf einer Art Kräcker.
»Ich nenne sie meine Krabbentürmchen.« Er reichte
Grace den Teller, als böte er ihr die Kronjuwelen an. »Sie werden
sie lieben.«
»Tut mir leid, Frederique. Es sieht wunderbar aus,
aber ich habe eine Allergie gegen Schalentiere.«
Stirnrunzelnd zog er den Teller zurück. Dann fragte
er mit einem Seitenblick zu Smith: »Würden Sie mir vielleicht die
Ehre erweisen?«
Smith, der sich zu Frederique herumgedreht und ihn
angestarrt hatte, schüttelte stumm den Kopf.
Der Küchenchef brauchte einen Moment, um sich
wieder zu fassen. »Egal. Ich bringe Ihnen etwas anderes. Vielleicht
Schweinelendchen auf einem Sesamkräcker. Oh, und die wunderbaren
Champignons mit Lammfüllung …«
»Ich schätze Ihre Mühe, aber darf ich Sie an etwas
erinnern. Wir haben keinen Bedarf für Ihre Dienste.«
Frederique erstarrte und schob dann den Teller
zurück in die Kühltasche. Mit kantigen Bewegungen ließ er den
Deckel wieder zuschnappen und klappte die beiden Henkel darüber.
»Es ist schade, dass der Jahresball dieses Jahr auf meine Dienste
verzichten muss. Mimi Lauer ist überglücklich darüber, wie ich
ihren Ballettabend organisiert habe.«
Grace war sich dessen nicht so sicher, weil Mimi
sie vor Kurzem angerufen und sich über den Mann vor ihr beklagt
hatte.
»Ich weiß nicht, was ich sagen soll, Frederique.
Wir beauftragen dieses Jahr keinen Organisator für den Ball.«
Der Mann lächelte strahlend.
»Vielleicht nicht für die Stiftung, aber vielleicht
privat?« Er kam wieder in Schwung. »Wie Sie wissen, veranstalte ich
fabelhafte Privatpartys. Ich bin zwar fast ausgebucht, könnte aber
eine Nische für Sie reservieren. Nächste Woche treffe ich mich mit
Isadora Cunis, aber ich könnte Ihnen in der ersten Ferienwoche
immer noch einen Termin geben, wenn Sie heute noch die Anzahlung
dafür leisten.«
»Ich glaube nicht.« Grace wollte den Mann nicht
täuschen, daher musste sie sich klar und deutlich ausdrücken. Er
war sehr hartnäckig, und wenn sie nur ein wenig nachgäbe, würde er
das als Zusage werten. »Ich schätze Ihr Angebot.«
Damit erhob sie sich, damit er sie richtig
verstand.
Frederique starrte sie an und erhob sich dann
langsam ebenfalls. Dabei strich er mit einer kräftigen Handbewegung
seine Uniform glatt. Grace zwang sich zu einem Lächeln und
geleitete ihn zur Tür, nachdem er seine Kühltasche wieder an sich
genommen hatte.
»Danke für Ihren Besuch«, sagte sie, hätte ihn aber
am liebsten aus der Tür geschoben. Ihr Terminkalender war heute
sehr voll, und sie hatte wirklich keine Lust, jemanden zu
hätscheln, dessen Speisen zweitrangig waren und der ihr Jahr für
Jahr etwa zwanzigtausend Dollar zu viel abgeknöpft hatte.
Frederique hingegen ließ sich nicht gerne drängen.
Er nahm sich Zeit, sich im Büro umzublicken, während sie an der
offenen Tür wartete.
»So ein wunderbares Gemälde«, murmelte er mit Blick
auf die Landschaft über dem Konferenztisch.
»Danke. Und wenn Sie nichts dagegen haben - ich
habe einen weiteren Termin.«
Doch da trat der Mann dicht auf sie zu. Grace wich
verdutzt zurück. »Sind Sie sicher, die richtige Entscheidung
getroffen zu haben?«, fragte er.
Grace runzelte die Stirn, aber noch ehe sie etwas
erwidern konnte, hatte Smith eine Hand auf die Schulter des Mannes
gelegt.
»Sie sollten jetzt einen Schritt zurücktreten,
Frederique.« Smiths Lächeln hätte sogar die Hölle gefrieren
lassen.
Frederique blickte überrascht hoch und trat sofort
einen Schritt zurück. Dann murmelte er mit einer kleinen
Verbeugung: »Wir sehen uns sicher bald wieder, Gräfin.«
Als er endlich verschwunden war, seufzte Grace vor
Erleichterung laut auf und schloss die Tür hinter ihm.
»Danke, dass du ihn mir vom Leib gehalten
hast.«
»Man kann nicht vorsichtig genug sein.«
Sie schauderte. »Ich sollte Isadora warnen, dass er
dringend Kunden sucht und sie als Nächste auf seiner Liste
steht.«
Aber eigentlich hatten Isadora und sie andere Dinge
zu bereden: ihre Freundinnen, die sie verloren hatten. Dieser
schreckliche Artikel.
Den Rest der Woche verbrachte Grace wie in einem
Nebel. Eine scheinbar endlose Reihe von Problemen wartete auf
Lösung. Die Einladungen zum Jahresball, die dringend verschickt
werden sollten, kamen mit einem Schreibfehler aus der Druckerei.
Der Neudruck kostete ein Vermögen, und als Grace das Endprodukt
genauer betrachtete, fiel sofort ins Auge, dass keine wichtige
Antiquität versteigert werden würde. Sie hoffte nur, dass es sonst
niemandem auffiel, aber dessen war sie sich nicht sicher.
Lamont hatte in einem Recht gehabt: Die Aufgaben
ihres Vater zu übernehmen und gleichzeitig ein glanzvolles
gesellschaftliches Ereignis zu organisieren, war eine schwere
Bürde. Die Verhandlungen mit dem Partyservice, den
Bestuhlungslieferanten, der Elektronikfirma, den Presseleuten und
den Fotografen nahmen unendlich viel Zeit in Anspruch. Die
Anforderungen wurden tagtäglich größer, je näher das Ereignis
rückte, und sie musste immer mehr an Kat delegieren.
Glücklicherweise nahm das Mädchen die zusätzliche Verantwortung
gerne auf sich.
Grace war so mit ihrer Arbeit und der
unterschwelligen Spannung zwischen sich und Smith beschäftigt, dass
sie fast die Gefahr vergaß, in der sie schwebte.
Bis Detective Marks wieder anrief.
Sie kam gerade mit Smith von einer spätabendlichen
Vernissage
zurück in ihre Penthouse-Wohnung, als das Telefon klingelte.
Sobald sie die Stimme des Detective hörte, kehrte mit einem Schlag
die Angst zurück.
»Keine Sorge«, sagte er. »Ich möcht mich nur mal
wieder melden. Ist Ihnen in letzter Zeit etwas Ungewöhnliches
aufgefallen? Ist Smith noch bei Ihnen?«
Erleichtert ließ Grace sich auf ein Sofa fallen.
»Ja, er ist hier. Und aufgefallen ist mir eigentlich nichts.«
»Kann ich ihn sprechen?«
Grace rief Smith herbei. »Marks möchte mit dir
reden.«
Smith nahm den Hörer. Grace beobachtete ihn
ängstlich. Sie hatte keine Ahnunng, worüber die beiden redeten,
weil sie nur Smiths knappe Antworten hörte. Dann beendete er das
Gespräch. Grace war enttäuscht, dass er nichts sagte.
»Stimmt irgendetwas nicht?«, fragte sie.
Er schüttelte den Kopf.
»Worüber habt ihr denn geredet?«
Smith zuckte die Achseln und ging auf den Gang
hinaus. Sie eilte hinter ihm her.
»Sag es mir!«, bat sie und ergriff seinen Arm. Sein
Handgelenk fühlte sich warm und kräftig an und erinnerte sie daran,
wie sie sich in seinen Armen gefühlt hatte.
Als er auf ihre Hand herabblickte, zog sie die
Finger zurück, trat aber vor ihn und versperrte ihm den Weg in sein
Zimmer.
»Bitte verbirg nichts vor mir«, bat sie sehr
direkt. »Ich will schlechte Nachrichten besser gleich hören, statt
mir viel Schlimmeres auszumalen.«
Smith sah sie fest an, ehe er antwotete. »Das
Einzige, was sie mit Sicherheit wissen, ist, dass beide Opfer vom
selben Täter umgebracht worden sind. Man hat an Blutspuren, Haaren
und Hautresten unter den Fingernägeln der Opfer
dieselben DNS-Spuren gefunden. Ansonsten nichts Neues, keine
Verdächtigen. Kein Tatmotiv.«
Grace lehnte sich mit Schulter und Hüfte an die
Wand. Ihr wurde übel bei der Vorstellung, wie ihre Freundinnen sich
gegen den Mörder gewehrt hatten. Dass die Polizei noch keinerlei
Fortschritte zu melden hatte, war schrecklich. Sie redete sich ein,
dass sie allmählich Beweise und Vermutungen zusammentrugen, die
schließlich irgendwann ein volles Bild ergeben würden.
»Ich kann es kaum glauben, dass sie noch keine
Anhaltspunkte haben«, sagte sie und blickte auf den kostbaren
Teppich hinab. Dann malte sie mit ihrem Manolo-Blahnik-Absatz einen
Kreis in den ansonsten makellosen beigen Flor. »Ob sie auch
wirklich genug tun?«
»Marks hat einen guten Ruf. Ich weiß auch, wie
anspruchsvoll er ist. Der Dreckskerl, der die beiden Frauen
umgebracht hat, hat bisher einfach nur Glück gehabt.«
»Oder er weiß genau, was er tut.«
Smiths Stimme klang heiser. »Das war kein
Profi.«
Grace zuckte zusammen, weil sie an die Fotos von
Cuppies Leiche dachte. »Wie kommst du darauf?«
Als Smith keine Antwort gab, blickte sie
hoch.
»Bist du sicher, dass du darüber reden willst?«,
fragte er unwillig.
»Ich habe doch danach gefragt, oder?«, erwiderte
sie knapp, weil sie sich trotz ihrer Angst in ihrem Stolz verletzt
fühlte. Sie wollte nicht, dass er sie für unfähig hielt, etwas
rational zu besprechen, was so offensichtlich ihr Leben bedrohte.
Gleichzeitig stieg Übelkeit in ihr hoch.
»Rede mit mir, verdammt nochmal«, stieß sie hervor.
»Dieses rätselhafte Getue geht mir auf die Nerven.«
Smith lächelte flüchtig. »Ich habe Marks
nahegelegt, nach
Verbindungen zwischen den Ehemännern der Opfer zu suchen. Er
sagte, es gäbe keine Gemeinsamkeiten außer den gesellschaftlichen
Beziehungen. Das hat mich nicht überrascht.«
»Was glaubst du denn? Warum ist es
passiert?«
Unausgesprochen blieb die Frage: »Warum stehe ich
auf der Liste?«
»Es ist eine persönliche Sache. Die Verbindung
besteht zwischen den Frauen, nicht zwischen deren Ehemännern. Also,
ich kann nur sagen, dass Marks alles tut, was in seiner Macht
steht, und er ist ein verdammt guter Polizist. Irgendetwas wird
sich ergeben …«
»Aber was passiert bis dahin? Wie viele werden
…?«
Grace konnte das Wort nicht aussprechen, das ihr im
Kopf herumging. Es war nie leicht, vom Sterben zu reden, aber es
war verflucht unmöglich, das Wort auszusprechen, wenn es um den
eigenen Tod ging.
Sie umschlang ihren Oberkörper. Der Schleier der
Sicherheit, der sie in den letzten Tagen umgeben hatte, war
zerrissen.
»Grace, sieh mich an.«
Sie hob den Kopf.
»Du hast mich beauftragt, dich zu beschützen.« Sie
nickte, als er innehielt. »Und genau das werde ich tun.«
»Ich hoffe es. Gott, das hoffe ich wirklich.«
»Hoffe es nicht nur, vertrau mir.«
Grace starrte ihm in die Augen und sah seine
Selbstsicherheit, seine Kraft, seine Selbstbeherrschung. Das alles
schien zu versprechen, dass ihr Vertrauen in ihn nicht enttäuscht
würde.
Als er eine Hand nach ihr ausstreckte, traf sie das
unvorbereitet.
»Gehen wir ins Bett.«
Grace riss die Augen auf, aber dann merkte sie,
dass er nicht von Sex redete. Er schlug bloß vor, dass sie sich
endlich ausruhte.
Da nahm sie seine Hand und spürte, wie seine Finger
sie warm und stark umschlangen. Gemeinsam gingen sie den Gang
entlang zu seinem Zimmer, wo er sich stumm von ihr löste und sie
stehen ließ.
Grace hatte ihr Negligee übergestreift und lag im
Dunkeln in ihrem Bett. Sie hörte Smith im Bad verschwinden. Kurz
und gedämpft vernahm sie das Wasserrauschen.Wenige Minuten später
tauchte er wieder auf.
»John?«
»Ja?« Seine Stimme klang in der Dunkelheit sehr
weich.
»Ich bin froh, dass du hier bist.«
Daraufhin folgte Schweigen, und sie nahm schon an,
dass er wieder in sein Zimmer gegangen war.
»Ich auch«, sagte er dann sehr leise.
Überrascht von seiner Antwort, rollte Grace sich
auf die Seite, doch sie war allein.
Stunden später war sie imer noch wach. Unter all
den Decken und Kissen fühlte sie sich dem Ersticken nahe. Sie nahm
ihr Tagebuch und einen Stift und ging ins Wohnzimmer. In Smiths
Zimmer war es dunkel.
Sie setzte sich mit untergeschlagenen Beinen auf
das Sofa, merkte aber, dass ihr eigentlich nicht nach Schreiben
zumute war, sondern nach Nachdenken. Als Smith ihr die Hand
gereicht hatte, war sie sehr überrascht gewesen. In der Erinnerung,
wie seine Hand sich angefühlt hatte, merkte sie, dass er sie auch
in anderer Hinsicht mehrfach überrascht hatte.
Neulich war sie morgens nach einem anstrengenden
Lauf
erst viel später aus dem Bad gekommen. Als sie in die Küche lief,
um ihm Bescheid zu geben, dass das Bad nun frei sei, hatte er ihr
einen dampfend heißen Becher mit Kaffee in die Hand gedrückt und
auf einen Teller mit Toast gedeutet, den er für sie zubereitet
hatte.
Sie hatte ihn völlig verwirrt angesehen.
»Das ist Frühstück«, hatte er geknurrt. »Sie
erkennen das vielleicht nicht auf den ersten Blick, weil Sie in der
letzten Woche nicht viel gegessen haben.«
»Natürlich habe ich …«
»Der Salat neulich statt eines Abendessens zählt
nicht. Sie haben abgenommen, und das können Sie sich kaum
erlauben.«
Sie hatte an sich herabgeblickt. Er hatte Recht.
Ihre Röcke waren in der Taille alle etwas weiter geworden.
»Hier.« Er schob den Toast auf sie zu.
Sie hatte eine Scheibe genommen und gesehen, dass
er Erdbeermarmelade darauf gestrichen hatte. »Das habe ich schon
jahrelang nicht mehr gegessen.«
Schon nach einem Bissen war ihr Appetit
zurückgekehrt. Nach vier Scheiben Toast mit Konfitüre und einem
großen Becher Kaffee seufzte sie zufrieden. Sie hatte schon so
lange von praktisch nichts gelebt, dass sie vergessen hatte, wie
man sich satt fühlte.
Sie wusste noch, wie sie ihn danach angeblickt
hatte. Er hatte die ganze Zeit über an die Anrichte gelehnt,
dagestanden und ihr zugesehen.
»Ich möchte mich bedanken«, hatte sie trocken
gemeint. »Wenn ich darf.«
Er hatte die Achseln gezuckt, und als er keine
sarkastische Bemerkung von sich gab, hatte sie ihn
angelächelt.
»Danke.«
Seine scharfen Augen hatten den leeren Teller
überflogen. »Ich kümmere mich immer gut um meine Klienten.«
Grace lächelte in Gedanken daran, wie er da
ausgesehen hatte. Die Vorstellung, er könnte auch einmal verlegen
wirken, war eigentlich absurd, aber so hatte er ausgesehen. Ihre
schlichte Dankbarkeit für seine Fürsorglichkeit war für ihn schwer
zu akzeptieren, aber er hatte sich auch nicht gewehrt.
Das war ein Fortschritt, dachte sie. Genau wie
gestern Abend, als er ihre Hand nahm.
Aber Fortschritt in welcher Richtung?
In ihrem Herzen wollte sie ihn. Mit jeder
Faser.
Je besser sie ihn kennen lernte, desto stärker
begehrte sie ihn.
Zuerst hatte sie sich gefragt, ob er eine andere
Seite hatte, ein Gegengewicht zu seiner aggressiven Ausstrahlung.
Sie wusste inzwischen, dass er auch anders sein konnte, weniger
grob. Er verbarg das meistens hinter einer Maske der
Selbstkontrolle, verriet sich aber in seinen Gesten, seiner
schlichten Höflichkeit, die besagte, dass er an andere dachte. Dass
er sie wahrnahm.
Das Frühstück war nur ein Beispiel, wie fürsorglich
er sein konnte. Er gab sich auch Mühe, freundlicher zu Kat zu sein.
Er kochte sich seine Mahlzeiten selbst, räumte in der Küche
anschließend auf und schaffte es auch irgendwie, selbst an
Regentagen den Teppich nicht mit seinen schmutzigen Schuhen zu
verdrecken.
Das alles waren Kleinigkeiten, aber sie bedeuteten
für Grace eine Menge. Einen Mann im Haus zu haben, der nicht
ständig Aufmerksamkeit verlangte oder ihr eine lange Liste von
Aufgaben zuteilte, war für sie neu. Ranulf hatte von ihr erwartet,
ihren gesellschaftlichen Terminkalender zu führen, dafür zu sorgen,
dass die Penthouse-Wohnung
ausreichend Personal hatte, sich um all seine Bedürfnisse zu
kümmern und fast jeden Abend Gäste zum Essen zu haben, selbst als
sie ganztags arbeitete und er nicht. All das wurde ohne einen Dank
seinerseis entgegengenommen, weil es in seinen Augen ihre Pflicht
war.
In diese Falle würde sie nicht noch einmal
geraten.
Grace sah auf ihr Tagebuch und das Datum oben auf
der Seite. Morgen würde sie dreißig. Genauer gesagt, um fünf nach
sieben.
Aus einer Laune heraus schrieb sie: »Zu meinem
Geburtstag wünsche ich mir nichts anderes als John Smith. In meinem
Bett mit einer Schleife um den Hals und sonst völlig nackt.«
Grace lachte leise und schob Buch und Stift
beiseite. Das war natürlich lachhaft, aber eine lustige
Vorstellung. Sicher besser als vieles andere, woran sie in letzter
Zeit gedacht hatte. Sie starrte hinaus in die Nacht und malte sich
Dinge aus, bei denen sie errötete. Schließlich schlenderte sie
wieder in die Diele, blieb kurz vor Smiths offener Tür stehen,
spielte einen Moment mit dem Gedanken, hineinzugehen und ihn im
Dunkeln zu ertasten, zwang sich aber dann, weiterzugehen in ihr
Schlafzimmer.
Nach dem Duschen am Morgen suchte sie Smith. Sie
hatten ein kleines Ritual entwickelt. Sie benutzte das Bad zuerst
und kleidete sich an, wenn er anschließend darin verschwand.
»John?« Sie spähte in sein Zimmer. Das Bett war
gemacht, wie immer, und nichts lag herum. Die Gewohnheiten eines
ehemaligen Soldaten. Als sie sich umdrehte, sah sie eine schwarze
Stange im Türrahmen zu seinem Bad. Für Klimmzüge wie gemacht. So
hielt er sich also in Form.
Als sie ins Wohnzimmer ging, stand er dort vor dem
großen Fenster und blickte in den Morgenhimmel. Nach tagelangem
Regen war er endlich wieder blau. Schon ging die Sonne über der
Stadt auf.
»Das Bad ist frei.«
Er zeigte sich nicht von ihr überrascht, auch wenn
sie bewusst leise gegangen war. Sie hatte sich an seine scharfe
Wahrnehmung gewöhnt und an die Tatsache, dass er immer genau zu
wissen schien, wo sie war. Jetzt betrachtete er ihr Spiegelbild in
der Glasscheibe.
Als er stumm blieb, räusperte sie sich. »Äh … das
Bad …?«
Sie deutete mit dem Daumen hinter sich.
Noch immer keine Antwort. Er starrte sie bloß
weiter in der Scheibe an.
Grace spürte ein Prickeln auf der Haut. Er war so
anders heute Morgen.
Als er sich endlich umdrehte, traf sie sein Anblick
wie ein Schock. Es schien eine Begierde von ihm auszugehen, eine
brennende Intensität, die sie seit dem Abend, als sie sich ihm
entzog, nicht mehr gesehen hatte. Sie dachte wieder an seinen
Körper ganz dicht an ihrem und an seine Berührungen. Er blickte auf
ihren Mund, als dächte er genau das Gleiche.
Als er mit langen Schritten den Raum durchquerte,
machte sie sich auf die Berührung gefasst und war bereit
dazu.
»Ich beeile mich«, sagte er nur.
Grace war unendlich enttäuscht. Sie hatte fest
damit gerechnet, dass er sie umarmen würde, aber sie versuchte,
ihre Enttäuschung hinter einem Lächeln zu verbergen.
Doch dann blieb er neben ihr stehen und beugte sich
zu ihrem Ohr. »Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Grace.«
Sein Atem glitt über ihre Wange. Dann strich er mit
dem Zeigefinger über ihre Schläfe.
Ein Stromstoß durchfuhr sie. Laut keuchte sie
auf.
Doch zu ihrer Enttäuschung ging er nur an ihr
vorbei auf den Gang hinaus.
Grace fühlte sich wie nach einem Angriff und musste
sich setzen.Was hatte das nur zu bedeuten? Warum hatte er nicht
wahrgemacht, was sein Blick versprochen hatte?
Sie runzelte die Stirn. Woher wusste er, dass heute
ihr Geburtstag war?
Unuhig und verwirrt fuhr ihr Blick durch den Raum.
Dann sah sie das aufgeschlagen Tagebuch auf dem Sofa.
O Gott.
Sie sah auf die Sätze hinab, die er bestimmt
gelesen hatte.
Genau. Ihr kleiner Geburtstagswunsch.
Grace schnitt ein Gesicht und fühlte sich unendlich
verlegen.
Ein Zeitloch, dachte sie und schloss das Buch.
Genau das brauche ich. Damit sie um drei Uhr in der Frühe zurück
ins Wohnzimmer gehen konnte, um das Tagebuch zu holen.
Vielleicht brauchte sie auch nur ein bisschen
gesunden Menschenverstand.