23 024
Als Grace am nächsten Morgen im Büro eintraf, hatte aller Mut sie verlassen. Der Jahresball würde in knapp vierundzwanzig Stunden stattfinden. Das große Ereignis ragte vor ihr auf wie eine riesige Steilwand.
Am meisten aber belastete sie, dass Smith sie in Kürze verlassen würde.
»Guten Morgen«, sagte Kat und reichte ihr ein paar Akten. »Miles Forsythe ist eben vorbeigekommen. Er kann dieser Frau heute Nachmittag einen Termin geben. Oh, und Jack Walker hat angerufen und gefragt, ob er den Copley heute Abend besichtigen kann. Ich habe zugesagt, weil ich dachte, Sie hätten nichts dagegen.«
»Gut.«
»Und Frederique war auch wieder da.«
Grace sah überrascht hoch. »Wirklich?«
»Er ist schon wieder bei dem Partyservice aufgetaucht. Sie haben angerufen und gesagt, wenn das noch einmal vorkommt, werden sie den Auftrag niederlegen.«
Grace ging sofort in ihr Büro und rief den Partyservice an. Frederiques Hartnäckigkeit war ein Problem, das sie wirklich nicht brauchte.
Smith, der auf der anderen Seite des Raums saß, blickte kurz hoch.
»Tut mir leid«, murmelte sie.
Achselzuckend stand er auf. Als er sich reckte, senkte sie den Blick. Rational hatte sie begonnen, seinen Verlust zu akzeptieren, aber ihr Körper war weniger pragmatisch. Sie begehrte ihn immer noch. Auch noch, nachdem er ihr das Herz gebrochen hatte. Auch, wenn er sie verlassen und sie ihn nie wieder sehen würde.
Sie glaubte, dass ein Teil in ihr ihn immer begehren würde. Sie würde ihn immer lieben.
»Ich habe etwas für dich«, sagte er knapp. Damit trat er zu ihr und reichte ihr einen Umschlag.
Stirnrunzelnd öffnete sie ihn und entnahm ihm ein dickes Bündel Papiere. Sie faltete die Dokumente auseinander und begann, sie zu überfliegen. Es waren Kopien von Rechnungen: von einem Kasino in Las Vegas, einem Hotel in Monte Carlo, einem anderen an der Riviera.
»Was ist das?«, fragte sie aufblickend.
»Ich habe mir erlaubt, deinem Ehemann ein wenig auf die Finger zu sehen. Das sind unbezahlte Hotelrechnungen und Spielschulden. Seitdem du ihn rausgeworfen hast, ist er auf die schiefe Bahn geraten und hat seinen und deinen Namen benutzt, um Kredite zu erschwindeln. Abgesehen davon, dass er jede Menge beim Spiel verliert, hat er wohl einen ausgezeichneten Appetit und eine Neigung, nur die besten Weine zu trinken. Scheint aber nicht gerne dafür zu bezahlen.«
Grace blickte auf die Endsumme. »Das ist eine Menge, aber nicht für einen Sharone.«
»Nun, das ist der springende Punkt. Offenbar ist die Familie nicht mehr so reich wie einst.Wusstest du, dass sie die Weinberge in Frankreich verkaufen?«
»Nein.« Sie sah ihn ernst an. »Aber warum? Die Weinberge sind seit Generationen in Familienbesitz.«
»Sie bieten noch mehrere andere Besitztümer zum Verkauf an, außerdem Gemälde und Skulpturen. Das alles geschieht natürlich nur sehr diskret, doch wenn man alles zusammenrechnet, dann verscheuern sie einen Großteil ihres Besitzes.«
»Gütiger Gott.Was ist bloß passiert?«
Smith zuckte die Achseln. »Zu viel Nachwuchs mit einem Hang zum süßen Leben. Kern der Sache ist, dass die Familie verarmt ist. Das Jetset-Leben deines Mannes wird vermutlich sehr schnell auf provinzielles Niveau schrumpfen.«
»Daher versucht er, bei der Scheidung eine Menge aus mir herauszupressen«, murmelte sie. Jetzt wurde ihr alles klar. Sie hatte angenommen, er verklagte sie, weil er Rache nehmen wollte. In Wirklichkeit ging es um sein Überleben. Gott wusste, wie unfähig er war, die Summen zu verdienen, die er ausgab.
John zeigte auf die Rechnungen. »Wenn du die an die richtigen Journalisten schickst, setzt das sofort eine Untersuchung der Sharone’schen Finanzen in Gang. Und sie würden alles tun, um das zu vermeiden.«
»Denn es gilt, stets den Schein zu wahren«, sagte sie leise. Grace sah Smith an. Sie wusste, dass er ihr gerade die Garantie für ihre Scheidung überreicht hatte. »Danke.«
»Als dieser Anwalt hier auftauchte, hatte ich das Gefühl, dass er nur darum so verdammt selbstgefällig aussah, weil sie glaubten, dich nun erpressen zu können. Mit dem Foto von uns beiden. Stimmt’s?«
Sie nickte.
»Ich kann nur sagen, dass es mir ein Vergnügen war, all das hier herauszufinden.«
Grace blickte wieder auf die Rechnungen. Ranulf genoss einen internationalen Ruf, schwerreich und hochgeboren zu sein, und diese Information konnte seinen Ruin bedeuten. Sie sah den Artikel in Vanity Fair schon vor sich.
Aber sie wollte ihm nicht wehtun. Sie wollte bloß ihre Freiheit, ohne allzu viel dafür bezahlen zu müssen.
»Kat, stell mich bitte zu meinem Anwalt durch«, sagte sie durch die Sprechanlage.
Gegen Ende des Tages gingen Smith und Grace hinab in die Halle, um Callie dort zu treffen. Sie mussten sich durch eine dichte Menschenmenge schieben, aber Grace sah ihre Schwester sofort, die vor dem Marmoreingang des Museums stand. Sie trug eine schwarze Hose und einen dicken schwarzen Pullover und wirkte sehr ruhig und gelassen.
Callie winkte verhalten, als sie die beiden erblickte.
»Herzlich willkommen«, sagte Grace. »Miles freut sich schon, dich kennen zu lernen.«
Sie ließen das überwältigende Mosaik aus Geräuschen und Bewegungen hinter sich und betraten das stille Museum. Grace winkte den Wächtern und anderen Angestellten zu und ging rasch weiter. Da merkte sie, wie Callie stehen geblieben war, um ein Ausstellungsstück zu betrachten.
Es war die Tafel, mit der die Beiträge der Woodward Halls zur Erforschung der amerikanischen Geschichte gewürdigt wurden. Darunter hingen Fotos und Gemälde der verschiedenen Generationen. Ein Foto von Willig war auch dabei. Grace’ Foto hing neben dem ihres Vaters.
Ihres gemeinsamen Vaters, korrigierte sie sich. Sie versuchte sich vorzustellen, wie es wohl war, eine Familiengeschichte zu betrachten, auf die man ein Anrecht hatte, aber an der man nicht beteiligt war.
»Entschuldige«, murmelte Callie.
»Möchtest du …?«
»Wir sollten weitergehen, nicht wahr?« Callies Stimme klang gepresst. Grace nickte.
Callie ging schweigend an weiteren Ausstellungsstücken vorbei, archäologischen Funden, deren Ausgrabung die Stiftung finanziert hatte. Dann folgte eine Galerie von frühen amerikanischen Porträts.
Als sie zu einem großen Lastenaufzug gelangten, steckte Grace ihre ID-Karte in den Schlitz. Die Türen öffneten sich, sie traten ein. Dabei murmelte Callie: »Danke für alles.«
»Gern geschehen«, erwiderte Grace.
Grace drückte auf den Knopf für das vierte Stockwerk, und der Lift schoss hoch.Wären sie allein gewesen, hätte sie Callie wohl gefragt, was ihr gerade durch den Kopf ging, weil sie ihr so gerne helfen wollte. Sie hatte das Gefühl, dass das, was Callie gerade beschäftigte, dem nicht unähnlich war, was sie selbst veranlasste, den Mund so fest zusammenzupressen und die Stirn zu runzeln. Grace war einfach nicht sicher, was sie tun konnte.
Vielleicht konnten sie einander helfen.
Als die Türen sich öffneten, betraten sie einen langen Gang. »Miles’ Büro ist da unten rechts.«
Grace führte Callie hinein und beschloss, sich eine Weile mit der Museumsverwaltung zu unterhalten, bis Jack eintraf. Zu ihrer Erleichterung waren alle sehr erfreut über den Copley.Trotz Lamonts düsterer Prognose rechneten sie mit einer sehr erfolgreichen Versteigerung.
Eine Weile später tauchte Jack aus dem Lift auf. Ein paar Angestellte, die einsteigen wollten, traten respektvoll beiseite. Jack in seinem schwarzen Anzug bewegte sich sehr selbstsicher und gelassen. Was für eine einflussreiche Figur, dachte Grace. Genau wie John, aber anders.
»Ich komme, um meinen Ahnherrn zu begrüßen«, nölte er und küsste sie auf beide Wangen. Er und Smith nickten einander kurz zu.
In dem Augenblick hörte man Callies Stimme aus dem Büro.
»Danke nochmal für die guten Ratschläge.« Sie drehte sich im Türrahmen um, winkte noch einmal und lächelte.
Jacks Kopf fuhr abrupt in ihre Richtung. Sie sah ihn an und riss die Augen auf.
Grace lächelte, denn sie glaubte, dass Jack diese Wirkung auf alle Frauen hatte. Aber dann zögerte sie, weil sie nicht wusste, wie sie Callie vorstellen sollte.
Doch ihr Freund ergriff die Initiative, streckte die Hand aus und sagte: »Mein Name ist Walker. Jack Walker.«
Callie zögerte eine Sekunde lang, ehe sie seine Hand ergriff. Nach einer leichten Berührung zog sie sie wieder zurück und sah Grace an. »Äh … danke, dass du das Gespräch mit Miles vermittelt hast. Es ist immer schön, sich mit anderen Restaurationsexperten zu unterhalten.«
»Wie war noch der Name?«, fragte Jack. Sein Blick überflog weiter ihre Züge.
Sie sah ihn direkt an. »Callie Burke.«
»Und Sie sind …?«
Grace errötete, weil sie wusste, wie unhöflich sie war. »Meine Freundin. Sie kam her, um Miles kennen zu lernen.«
»Sie haben mit Kunst zu tun?«
Callie nickte. Jacks eindringlicher Blick schien ihr unangenehm. Grace fragte sich, ob Jack sie irgendwie beleidigt hatte, erkannte aber dann, dass Callie ihn interessiert, aber auch sehr misstrauisch ansah.
»Wenn Sie sich in Kunstdingen auskennen, müssen Sie unbedingt Nathaniel kennen lernen«, sagte er lakonisch.
»Nathaniel?«
Grace erklärte: »Das ist John Singleton Copleys Porträt von Nathaniel Walker. Warum kommst du nicht mit, wenn wir es ansehen? Es dauert nicht lange, und ich bin an deiner Meinung sehr interessiert.«
Callies Blick zuckte zu Jack hoch. Dann nickte sie und folgte den beiden in die Restaurierungswerkstatt.
Grace besuchte die Werkstatt sehr gerne, um bei der Arbeit zuzusehen. Es roch nach Farbe und Lack. Im Hintergrund spielte stets klassische Musik. Überall in dem großen Raum standen Gemälde in den verschiedenen Stadien der Restaurierung, gestützt von großen Holzblöcken. Neben jedem stand ein Rollwagen mit den Materialien: Gläser mit dunklen chemischen Lösungen, Pinsel und Gazetupfer.
Die Angestellten waren schon gegangen, aber Grace wusste, wo sich der Copley befand.
»Da drüben im Schrank«, sagte sie und trat zu einer Kommode mit breiten, tiefen Schubladen. Mit dem mitgebrachten Schlüssel schloss sie eine Lade auf und rollte ein Tuch ab. Als Jack seinen Vorfahren sah, stieß er einen zufriedenen Seufzer aus.
»Holen wir ihn heraus«, meinte Grace. Sie versuchte, das Gemälde herauszuziehen, aber mit dem massiven vergoldeten Rahmen war es für sie zu schwer. Da hob Smith es vorsichtig heraus und legte es flach auf einen der Arbeitstische.
»Es ist sehr schön«, murmelte Callie.
»Aber eher von der schwermütigen Art«, meinte Jack, beugte sich vor und starrte das Gesicht auf der Leinwand an.
»Seine Augen sind sehr ungewöhnlich«, murmelte Callie. »Sehr expressiv. Schade nur, dass er ein so ernster Mann war.«
Jack sah sie über das Gemälde hinweg lange an. »Ja, das stimmt.«
Da trat Grace vor und deutete auf die linke untere Ecke. »Hier ist die Signatur und das Datum. Es war ungefähr um die Zeit, als Copley das Porträt von Paul Revere malte, das in Boston hängt.«
»Haben Sie etwas dagegen, wenn ich es mir genauer ansehe?«, fragte Callie.
»Nein, natürlich nicht.«
Callie schaltete eine verstellbare Lampe über dem Arbeitstisch an und richtete sie auf das Gemälde. Dann beugte sie sich im Abstand von etwa zehn Zentimetern darüber und betrachtete es langsam von der Mitte her zu den Rändern. Dabei näherte sie sich Jack, der aber nicht auswich.
Als sie sich wieder aufrichtete, umspielte ein leises Lächeln ihre Lippen.
»Was meinen Sie?«, fragte Jack.
»Er braucht ein bisschen Pflege. Auf dem Firnis sitzen vermutlich fünfundsiebzig Jahre Rauch und Schmutz, der mit den Jahren vergilbt ist. Man muss ihn sehr vorsichtig und mit viel Liebe behandeln, aber die Leinwand ist intakt.«
»Vielleicht wollen Sie diese Aufgabe übernehmen?«
Callie blickte überrascht hoch. »Wie bitte?«
Grace versuchte, die darauffolgende peinliche Pause zu überspielen, indem sie leise lachte. »Du wirst ihn erst kaufen müssen, Jack, ehe du jemanden beauftragst, ihn zu reinigen.«
»Egal, was er kostet, er wird in den Schoß der Familie zurückkehren.« Damit wandte er sich an Callie. »Sind Sie an dem Projekt interessiert?«
Sie zögerte lange, ehe sie antwortete. »Dieses Gemälde ist historisch gesehen sehr bedeutsam, sowohl aufgrund des Künstlers als auch des Motivs.«
Jack zuckte die Achseln. »Soll das heißen, dass Sie nicht daran interessiert sind?«
»Es ist eine größere Aufgabe, als ich bisher bewältigt habe.«
»Und wenn Sie das richtig hinbekommen, ist Ihre Karriere gesichert.«
»Und wenn ich es nicht richtig hinbekomme, sind sowohl das Gemälde als auch mein Ruf dahin.«
Grace blickte zwischen den beiden hin und her. Callie starrte auf den Nathaniel Walker. Jack starrte Callie an.
Sie fragte sich, was in ihm vorging, und kam zu dem Schluss, dass er bei Callie einfach eine Gelegenheit sah, ihr den Steigbügel für den Aufstieg ganz nach oben zu halten.
 
Smith hatte sich gerade einen Zigarillo angesteckt und sich in seinem Zimmer gegen das Kopfende des Bettes gelehnt, da klingelte sein Handy. »Yeah?«
»He«, rief Tiny. Die Verbindung war sehr schwach und knackte.
»Sag mir, dass du irgendwo über New Jersey schwebst.«
»Nein, nicht mal annähernd.Wir haben Verspätung wegen einer Bombendrohung. Dann wurden wir wegen schlechten Wetters umgeleitet. Ich werde erst morgen Vormittag wieder in New York sein.Wo soll ich dich treffen?«
Smith fluchte und gab ihm die Adresse der Hall-Stiftung. »Wir sind in ihrem Büro. Oberster Stock.«
»Okay. Und was ist mit diesem Fest?«
»Ganz normale Promi-Party. Ungefähr fünfhundert Leute. Ich habe mit Marks gesprochen.Wenn du es sicher genug findest, werden seine Jungs überall herumschwirren. Falls du Rückendeckung brauchst.«
»Gut.Was meinst du?«
Smith prustete frustriert. »Ich weiß nicht. Die Opfer sind alle zu Hause umgebracht worden, und ich bin ziemlich sicher, dass der Typ alleine arbeitet. Du musst dir die Räumlichkeiten ansehen und dann selbst entscheiden. Wenn du meinst, du kannst sie da ausreichend beschützen, würde das für sie viel bedeuten.«
»Kann ich dich erreichen?«
Smith hatte das hin und her überlegt.Wenn er nicht mehr damit beauftragt war, dann sollte er auch nicht im Hintergrund herumhängen. Nur ein einziger Mann konnte diese Verantwortung tragen. Außerdem konnte er nicht gut die zweite Geige spielen, nicht einmal bei Tiny. Nicht in einer Situation mit Grace. Das Beste für ihn war, sofort aus der Stadt zu verschwinden, aber er konnte sich noch nicht dazu durchringen. Erst wenn das Fest vorbei und sie am nächsten Morgen gesund und munter aufgewacht war.
»Ich habe ein Hotel in der Nähe gebucht. Du kannst mich jederzeit erreichen. Ich kann in zehn Sekunden da sein, falls etwas schiefgeht.«
»Klingt gut.«
»Vic …« Smith hielt inne. Eigentlich benutzte er Tinys richtigen Namen nie. »Pass gut auf sie auf.«
In der Leitung knackte und knisterte es. Dann sagte sein Freund: »Also, ich muss dich das vorher fragen. Was bedeutet dir diese Frau?«
Alles, dachte Smith.
»Sie ist bloß eine Klientin.« Er drückte den Zigarillo aus.
»Ach ja, Boss. In den fünf Jahren, seit ich mit dir zusammenarbeite, habe ich dich aber noch nie so erlebt.«
»Sorg einfach bloß dafür, dass ihr nichts passiert, ja? Dann kannst du sogar mit einer Beförderung rechnen.«
»Zu was denn?«
»Vielleicht fange ich an, dich Medium zu nennen und nicht mehr Tiny.«
Tiny lachte.
Nach diesem Anruf drückte Smith sofort eine weitere Nummer. Senator Prynes Privatanschluss wurde unmittelbar von seiner erfahrenen Assistentin beantwortet.
»Smith hier«, sagte er. »Wann will er abfahren?«
»Könnten Sie übermorgen in Washington sein?« Smith wurde fast übel bei dem geschäftlichen Tonfall der Frau, von ihrer Wortwahl und der Ausstrahlung von politischer Macht.
»Jawohl.«
»Gut. Der Senator wird sich freuen. Sie haben sehr gute Referenzen, Mr. Smith.«
Smith beendete das Gespräch. Er spürte ein Ziehen in der Brust, als hätte man auf ihn geschossen.
 
Am nächsten Morgen traf Grace eine Entscheidung. Sie würde Blair anrufen und sie bitten, sich das Büro ihres Vaters anzusehen.
Ihr Büro. Es war Zeit, den Raum für sich zu beanspruchen. Vielleicht ein paar Vorhänge anbringen …
Sie hatte bereits einen anderen Schreibtisch bestellt. Es würde zwei Monate dauern, ihn anzufertigen, aber er war genau so, wie Grace ihn wollte: aus hellem Eibenholz, mit klaren Linien und den Schubladenelementen auf Rollen, damit sie sich nicht jedes Mal die Schulter ausrenkte, wenn sie etwas suchte. Der Stuhl würde ebenfalls Rollen haben und mit hellem Leder bezogen sein.
Außerdem hatte sie noch ein paar andere Dinge geplant. Sie hatte sich immer einen Hund gewünscht.
Einen Golden Retriever, dachte sie. Ein großes, fröhliches Tier.
Ihr Vater hatte Hunde abgelehnt, außer für die Jagd. Ihre Mutter lehnte alles ab, das Lärm machte und Schmutz ins Haus brachte, und Ranulf hatte sich alles verbeten, was die Aufmerksamkeit von ihm ablenkte.
Genau das wollte sie. Einen Hund.
Sie malte sich schon die Schlappohren aus, die freundlichen braunen Augen und erkannte, dass sie endlich ihr Leben selbst in die Hand nahm. Nach den Veränderungen der letzten Zeit überprüfte sie nun alles, was sie einst einfach als gegeben hingenommen hatte, weil man das eben so machte. Mit demTod des Vaters war auch dessen dominierende Hand verschwunden, und inzwischen stellte Grace alles in Frage, was sie jemals geglaubt hatte. Langsam lernte sie auch, der Mutter die Stirn zu bieten. Und aufgrund der Dinge, die John über Ranulf und die Sharones herausgefunden hatte, konnte sie jetzt vernünftige Scheidungsbedingungen festlegen.
Die Verluste der letzten Zeit waren sehr schwer zu ertragen gewesen, aber sie wurden durch ein Gefühl ausgeglichen, dass alles unvermeidlich und lange überfällig gewesen war. Sie hatte sicherlich in jedem Fall die harte Wahrheit besser vertragen, als den Schein zu wahren. Wie die Jugend waren ihre Illusionen dahingewelkt und verschwunden, aber der Zugewinn an Weisheit, Unabhängigkeit und Freiheit war wirklich die Vergänglichkeit aller Äußerlichkeiten wert.
Reiß dich zusammmen, Seesternchen. Komm schon, lächle.
»Nein. Ich lächle nur noch, wenn mir danach zumute ist«, sagte sie laut.
Sie suchte das Kleid heraus, das sie auf dem Ball tragen würde, und ihre Schmuckkassette und verließ das Zimmer. Smith wartete in der Halle. Mit einem starren Kopfnicken ging sie an ihm vorbei. Sie erwartete jeden Moment, dass sein Partner auftauchte. Dieser Moment, dass er gehen würde, schien niemals zu enden.
Sie bestiegen den Explorer. Grace gab sich Mühe, mit Eddie über dessen Schriftstellerkurs zu plaudern. Er hatte als letzte Aufgabe ein Kinderbuch über Sicherheit begonnen, und sie sagte ihm, sie kenne einen Agenten, der es sicherlich gerne lesen würde.
Grace verbrachte den ganzen Morgen unten in der Halle und beaufsichtigte die Vorbereitungen für das Fest. Man hatte neben dem Museumseingang ein kleines Podium errichtet und einen großen Bildschirm angebracht, auf dem die Höhepunkte im Leben ihres Vaters gezeigt werden würden. Der Partyservice war eingetroffen und stellte Tische und Stühle auf. Die Floristen schmückten alles mit riesigen Blumenarrangements.
Am frühen Nachmittag war sie endlich zufrieden, wie sich alles entwickelte. Nach einem kurzen Lunch mit ein paar Presseleuten ging sie mit Smith wieder hinauf in ihr Büro.
Die Lifttür hatte sich gerade geöffnet, als sein Handy ertönte. Sie achtete nicht darauf, was er sagte, bis sie hörte: »Und er ist verhaftet?«
Sie blieb stehen. Smith sah sie scharf an.
»Wann habt ihr ihn geschnappt?« Darauf folgte Schweigen. »Kommt ihr damit durch?«
Sobald er das Gespräch beendet hatte, fragte sie: »Haben sie ihn …?«
Er nickte. Sie merkte überrascht, dass er nicht erleichtert aussah.
»Erzähl mir alles«, forderte sie ihn auf. Es war, als wäre ihr eine Riesenlast von den Schultern gefallen.
»Isadora ist heute Morgen zu sich gekommen. Sie hat den Mann identifiziert, der sie angegriffen hat. Es war ein Partner ihres Mannes. Marks und seine Jungs haben ihn verhaftet.«
»Wer ist es?«
»Jemand namens Margis. Hast du den Namen schon mal gehört?«
Grace nickte verblüfft. »Natürlich. Er ist Investmentbanker, ein richtiger Lebenskünstler. Immer hinter den Frauen her, besonders den reichen. Ich weiß, dass er mit Mimis Mann an einem Deal arbeitete, und er hat auch einen Teil von Cuppies Geld verwaltet. Ich weiß nicht, ob Suzanna ihn kannte, aber das würde mich nicht überraschen. Er hat eng mit Isadoras Mann Raphael Cunis zusammengearbeitet. Die beiden waren Partner.«
»Und du? Hattest du jemals mit ihm zu tun?«
Grace dachte einen Moment nach.
»Wo du es jetzt erwähnst, er hat mich kurz nach dem Tod meines Vaters angerufen. Er meinte, für den Zuwachs meines Vermögens bräuchte ich einen Berater. Er würde das gerne für mich übernehmen. Ich habe aber abgelehnt. Ich hörte, dass es seiner Firma wegen der Krise nicht gut ging, und habe ihm irgendwie nicht getraut.«
Smith schien nachzudenken.
»Was ist?«, fragte sie.
Er zuckte die Achseln. »Marks sagte, Isadora habe zugegeben, dass sie eine Affäre mit dem Typen hatte. Offensichtlich wollte sie sich von ihm trennen, daher war sie zurückgekommen. Das ist eine sehr persönliche Verbindung, anders als die Geschäftsbeziehungen, die Margis mit den anderen Frauen hatte. Aber vielleicht hatte er mit denen auch eine Affäre?«
»Sein Name stand auf allen Listen«, sagte Grace plötzlich. »Den Besucherlisten der Gebäude … ich sah seinen Namen, als du sie durchgegangen bist.«
»Yeah. Marks’ Jungs haben das überprüft. Er war am Tag der van-Lyden- und Lauer-Morde im Haus.«
»Na, immerhin bin ich erleichtert«, sagte Grace, doch als sie Smith genauer betrachtete, hielt sie ihren Optimismus nicht mehr für so gerechtfertigt. »Was meint Marks denn?«
Smith zuckte die Achseln. »Er ist überzeugt, er war es. Offensichtlich haben sie in seinem Haus eine ganze Waffensammlung gefunden. Er hatte eine Schwäche für Messer.«
»Dann ist es also vorbei«, murmelte Grace. »Und ich kann wieder normal leben.«
Sie blickte ihn an. Ihre Blicke blieben aneinander hängen. Einen Moment lang hielt Grace den Atem an, weil alle heimlichen Hoffnungen wieder auftauchten.
Sag mir, dass du deine Meinung geändert hast, dachte sie. Sag mir, dass du mich liebst und bei mir bleiben willst. Sag mir, dass ich Recht hatte und du nicht. Und dass du dir ein Leben ohne mich nicht vorstellen kannst. Sag mir, dass ich morgen früh neben dir aufwachen werde.
Ohne mich zu fragen, wo du wohl sein magst.
Doch er blieb stumm. Grace wandte sich ab und ging den Gang hinab. Keine Tränen zeigten sich. Die würde sie sicher erst später zulassen.
Kat blickte vom Schreibtisch auf. »Da wartet ein Mann auf Sie.«
Grace blickte über die Schulter und sah, wie der blonde Riese Tiny sich langsam erhob. Ihr sank das Herz, als er auf sie zutrat. Über einer Schulter hing sein Seesack. Sein strahlendes Lächeln war an Smith gerichtet. Doch als der Mann sie ansah, wirkte er ausgesprochen misstrauisch.
Smith schlug seinem Partner auf den Rücken. Grace verstand nicht, was die beiden sagten, denn in ihren Ohren rauschte es.
Sie ging in ihr Büro und setzte sich hinter den Schreibtisch. Einen Moment später kamen die beiden herein, Smith mit ernster Miene. Tiny sah aus, als hätte man ihm eine tickende Zeitbombe in die Hand gedrückt. Mit dumpfem Aufprall fiel sein Gepäck auf den Boden.
Als die Tür geschlossen war, sprach sie ihn mit dem autoritärsten Tonfall an, zu dem sie fähig war. »Ich schätze es zwar, dass Sie sich die Mühe gemacht haben, herzukommen, Mister…« Sie wartete darauf, dass Tiny ihr seinen Nachnamen nannte.
»Nennen Sie mich einfach Vic«, sagte er jedoch.
»Vic. Aber ich habe keinen Bedarf mehr für einen Leibwächter.« Damit begann sie,Akten auf dem Schreibtisch zu sortieren, und versuchte, sehr beschäftigt auszusehen.
»Doch, das brauchst du«, entgegnete Smith.
»Nein!« Sie blitzte ihn wütend an. »Ich brauche keinen Aufpasser mehr.«
»Grace …«
Sie ignorierte ihn. »Vic, Sie können Ihr Gepäck ruhig wieder mitnehmen und gehen. Ohne Zweifel sind Sie froh, gehen zu können. Sie sehen nicht besonders glücklich aus.«
Der Mann errötete.
Rasch schritt Smith durch den Raum. »Tiny bleibt, und damit basta!«
»Warum denn? Der Mann sitzt hinter Gittern, daher besteht keine Gefahr mehr. Ich bin kein Kind mehr und auch nicht geistig behindert, daher brauche ich keinen Aufpasser. Ich hatte dich übrigens nicht um deine Meinung gebeten.«
Ohne den Blick von ihr zu nehmen, sagte er: »Vic, lass uns einen Moment allein.«
Sein Partner verschwand wortlos.
Aber den verdammten Seesack ließ er liegen.
»Ich glaube, wir haben uns nichts mehr zu sagen.« Grace konnte ihm nicht in die Augen sehen, daher nahm sie ein Papier vom Tisch. Eine Aktennotiz über die neuen Spesenregeln.
»Sieh mich an!« Als sie sich weigerte, schlug Smith mit der Faust auf den Tisch. Grace zuckte zusammen und schnappte einen Stift, ehe er auf den Boden rollte. Zögernd wanderte ihr Blick zu ihm. »Verdammt, Marks hat noch kein Geständnis von dem Mann. Er ist es vielleicht nicht. Du musst weiterhin sehr vorsichtig sein.«
»Das bin ich doch. Ich löse meinen Vertrag mit Blackwatch. Die Zusammenarbeit mit euch hat sich für mich als traumatischer erwiesen als viele andere Dinge in meinem Leben.« Sie lachte gepresst auf. »Ich hatte mir immer ausgemalt, dass ein dramatischer Augenblick eintreten würde, in dem du auftauchst und mich rettest. Irgendwie zählt der Moment auf unserer Veranda nicht richtig. Aber das wirkliche Leben ist ganz anders, als man es im Kino sieht, nicht wahr?«
Weil es in einem Hollywood-Film ein Happy End gegeben hätte.
Sie griff nach ihrer Handtasche und zog den Scheck heraus, den sie zuvor ausgestellt und den er abgelehnt hatte. »Bist du bereit, das jetzt anzunehmen?«
»Ich will dein Geld nicht.«
»Aber du wirst es annehmen, oder? Damit keine Verbindung mehr zwischen uns besteht. Eine saubere Trennung.«
Smith nahm mit verbissener Miene den Scheck entgegen.
»Und jetzt verschwinde hier mit deinem Kollegen«, sagte sie.
»Tiny bleibt bei dir.« Smith sah entschlossen aus und ließ sich von ihrem eisernen Willen weder einschüchtern noch umstimmen.
»Tiny oder Vic oder wie immer er heißt kann zum Teufel gehen und du ebenfalls. Ich brauche keinen weiteren zähen Burschen in meinem Leben oder meinem Bett.Von jetzt an halte ich mich an meine Freunde.«
»Mir ist völlig egal, was du sagst. Tiny wird heute Abend hier sein.«
»O nein. Ich habe dich und dein gesamtes Team gefeuert!« Grace war jetzt völlig unvernünftig, konnte sich aber nicht mehr bremsen. Sie nahm nichts anderes mehr wahr als die leere Stelle, das schwarze Loch in ihrer Brust. »Blackwatch steht nicht mehr auf meiner Gehaltsliste.«
»Dann wird er eben umsonst arbeiten.«
»Dann lasse ich ihn als Eindringling verhaften.«
»Das möchte ich sehen«, erwiderte Smith kalt. »Kein Polizist in New York wird einen meiner Jungs auch nur anrühren, Gräfin.«
Grace sprang mit geballten Fäusten hoch. Sie zitterte am ganzen Körper. »Raus! Verschwinde endlich aus meinem Leben!«
Smith blieb lange stumm.
Und dann sah sie überrascht, wie er gehorchte, sich einfach umdrehte und aus dem Zimmer schritt.Vor der Doppeltür blieb er stehen. Er senkte den Kopf, als müsste er sich für etwas wappnen.
»Leb wohl, Grace.«
Nach diesen Worten ging er hinaus.
Grace schnappte bebend nach Luft.
Blindlings wühlte sie in den Papieren und Akten, zog Blätter heraus und wirbelte alles durcheinander. Immer schneller fuhren ihre Hände durch die Papierstapel, aber sie suchten nichts.
Tränen fielen auf den Schreibtisch ihres Vaters und hinterließen Flecken auf den Akten und Dokumenten, Policen und Berichten.
Sie weinte immer noch still vor sich hin, als Kat sie zwanzig Minuten später ansummte.
»Ja?« Grace räusperte sich. »Was ist?«
»Dieser Mann ist immer noch hier«, sagte Kat leise.
»Tiny.Vic. Johns Partner.
Noch so ein harter Bursche mit einer Waffe.«
»Na, dann lass ihn einfach da sitzen und verrotten.«