23 

Als Grace am nächsten Morgen im Büro
eintraf, hatte aller Mut sie verlassen. Der Jahresball würde in
knapp vierundzwanzig Stunden stattfinden. Das große Ereignis ragte
vor ihr auf wie eine riesige Steilwand.
Am meisten aber belastete sie, dass Smith sie in
Kürze verlassen würde.
»Guten Morgen«, sagte Kat und reichte ihr ein paar
Akten. »Miles Forsythe ist eben vorbeigekommen. Er kann dieser Frau
heute Nachmittag einen Termin geben. Oh, und Jack Walker hat
angerufen und gefragt, ob er den Copley heute Abend besichtigen
kann. Ich habe zugesagt, weil ich dachte, Sie hätten nichts
dagegen.«
»Gut.«
»Und Frederique war auch wieder da.«
Grace sah überrascht hoch. »Wirklich?«
»Er ist schon wieder bei dem Partyservice
aufgetaucht. Sie haben angerufen und gesagt, wenn das noch einmal
vorkommt, werden sie den Auftrag niederlegen.«
Grace ging sofort in ihr Büro und rief den
Partyservice an. Frederiques Hartnäckigkeit war ein Problem, das
sie wirklich nicht brauchte.
Smith, der auf der anderen Seite des Raums saß,
blickte kurz hoch.
»Tut mir leid«, murmelte sie.
Achselzuckend stand er auf. Als er sich reckte,
senkte sie
den Blick. Rational hatte sie begonnen, seinen Verlust zu
akzeptieren, aber ihr Körper war weniger pragmatisch. Sie begehrte
ihn immer noch. Auch noch, nachdem er ihr das Herz gebrochen hatte.
Auch, wenn er sie verlassen und sie ihn nie wieder sehen
würde.
Sie glaubte, dass ein Teil in ihr ihn immer
begehren würde. Sie würde ihn immer lieben.
»Ich habe etwas für dich«, sagte er knapp. Damit
trat er zu ihr und reichte ihr einen Umschlag.
Stirnrunzelnd öffnete sie ihn und entnahm ihm ein
dickes Bündel Papiere. Sie faltete die Dokumente auseinander und
begann, sie zu überfliegen. Es waren Kopien von Rechnungen: von
einem Kasino in Las Vegas, einem Hotel in Monte Carlo, einem
anderen an der Riviera.
»Was ist das?«, fragte sie aufblickend.
»Ich habe mir erlaubt, deinem Ehemann ein wenig auf
die Finger zu sehen. Das sind unbezahlte Hotelrechnungen und
Spielschulden. Seitdem du ihn rausgeworfen hast, ist er auf die
schiefe Bahn geraten und hat seinen und deinen Namen benutzt, um
Kredite zu erschwindeln. Abgesehen davon, dass er jede Menge beim
Spiel verliert, hat er wohl einen ausgezeichneten Appetit und eine
Neigung, nur die besten Weine zu trinken. Scheint aber nicht gerne
dafür zu bezahlen.«
Grace blickte auf die Endsumme. »Das ist eine
Menge, aber nicht für einen Sharone.«
»Nun, das ist der springende Punkt. Offenbar ist
die Familie nicht mehr so reich wie einst.Wusstest du, dass sie die
Weinberge in Frankreich verkaufen?«
»Nein.« Sie sah ihn ernst an. »Aber warum? Die
Weinberge sind seit Generationen in Familienbesitz.«
»Sie bieten noch mehrere andere Besitztümer zum
Verkauf
an, außerdem Gemälde und Skulpturen. Das alles geschieht natürlich
nur sehr diskret, doch wenn man alles zusammenrechnet, dann
verscheuern sie einen Großteil ihres Besitzes.«
»Gütiger Gott.Was ist bloß passiert?«
Smith zuckte die Achseln. »Zu viel Nachwuchs mit
einem Hang zum süßen Leben. Kern der Sache ist, dass die Familie
verarmt ist. Das Jetset-Leben deines Mannes wird vermutlich sehr
schnell auf provinzielles Niveau schrumpfen.«
»Daher versucht er, bei der Scheidung eine Menge
aus mir herauszupressen«, murmelte sie. Jetzt wurde ihr alles klar.
Sie hatte angenommen, er verklagte sie, weil er Rache nehmen
wollte. In Wirklichkeit ging es um sein Überleben. Gott wusste, wie
unfähig er war, die Summen zu verdienen, die er ausgab.
John zeigte auf die Rechnungen. »Wenn du die an die
richtigen Journalisten schickst, setzt das sofort eine Untersuchung
der Sharone’schen Finanzen in Gang. Und sie würden alles tun, um
das zu vermeiden.«
»Denn es gilt, stets den Schein zu wahren«, sagte
sie leise. Grace sah Smith an. Sie wusste, dass er ihr gerade die
Garantie für ihre Scheidung überreicht hatte. »Danke.«
»Als dieser Anwalt hier auftauchte, hatte ich das
Gefühl, dass er nur darum so verdammt selbstgefällig aussah, weil
sie glaubten, dich nun erpressen zu können. Mit dem Foto von uns
beiden. Stimmt’s?«
Sie nickte.
»Ich kann nur sagen, dass es mir ein Vergnügen war,
all das hier herauszufinden.«
Grace blickte wieder auf die Rechnungen. Ranulf
genoss einen internationalen Ruf, schwerreich und hochgeboren
zu sein, und diese Information konnte seinen Ruin bedeuten. Sie
sah den Artikel in Vanity Fair schon vor sich.
Aber sie wollte ihm nicht wehtun. Sie wollte bloß
ihre Freiheit, ohne allzu viel dafür bezahlen zu müssen.
»Kat, stell mich bitte zu meinem Anwalt durch«,
sagte sie durch die Sprechanlage.
Gegen Ende des Tages gingen Smith und Grace hinab
in die Halle, um Callie dort zu treffen. Sie mussten sich durch
eine dichte Menschenmenge schieben, aber Grace sah ihre Schwester
sofort, die vor dem Marmoreingang des Museums stand. Sie trug eine
schwarze Hose und einen dicken schwarzen Pullover und wirkte sehr
ruhig und gelassen.
Callie winkte verhalten, als sie die beiden
erblickte.
»Herzlich willkommen«, sagte Grace. »Miles freut
sich schon, dich kennen zu lernen.«
Sie ließen das überwältigende Mosaik aus Geräuschen
und Bewegungen hinter sich und betraten das stille Museum. Grace
winkte den Wächtern und anderen Angestellten zu und ging rasch
weiter. Da merkte sie, wie Callie stehen geblieben war, um ein
Ausstellungsstück zu betrachten.
Es war die Tafel, mit der die Beiträge der Woodward
Halls zur Erforschung der amerikanischen Geschichte gewürdigt
wurden. Darunter hingen Fotos und Gemälde der verschiedenen
Generationen. Ein Foto von Willig war auch dabei. Grace’ Foto hing
neben dem ihres Vaters.
Ihres gemeinsamen Vaters, korrigierte sie sich. Sie
versuchte sich vorzustellen, wie es wohl war, eine
Familiengeschichte zu betrachten, auf die man ein Anrecht hatte,
aber an der man nicht beteiligt war.
»Entschuldige«, murmelte Callie.
»Möchtest du …?«
»Wir sollten weitergehen, nicht wahr?« Callies
Stimme klang gepresst. Grace nickte.
Callie ging schweigend an weiteren
Ausstellungsstücken vorbei, archäologischen Funden, deren
Ausgrabung die Stiftung finanziert hatte. Dann folgte eine Galerie
von frühen amerikanischen Porträts.
Als sie zu einem großen Lastenaufzug gelangten,
steckte Grace ihre ID-Karte in den Schlitz. Die Türen öffneten
sich, sie traten ein. Dabei murmelte Callie: »Danke für
alles.«
»Gern geschehen«, erwiderte Grace.
Grace drückte auf den Knopf für das vierte
Stockwerk, und der Lift schoss hoch.Wären sie allein gewesen, hätte
sie Callie wohl gefragt, was ihr gerade durch den Kopf ging, weil
sie ihr so gerne helfen wollte. Sie hatte das Gefühl, dass das, was
Callie gerade beschäftigte, dem nicht unähnlich war, was sie selbst
veranlasste, den Mund so fest zusammenzupressen und die Stirn zu
runzeln. Grace war einfach nicht sicher, was sie tun konnte.
Vielleicht konnten sie einander helfen.
Als die Türen sich öffneten, betraten sie einen
langen Gang. »Miles’ Büro ist da unten rechts.«
Grace führte Callie hinein und beschloss, sich eine
Weile mit der Museumsverwaltung zu unterhalten, bis Jack eintraf.
Zu ihrer Erleichterung waren alle sehr erfreut über den
Copley.Trotz Lamonts düsterer Prognose rechneten sie mit einer sehr
erfolgreichen Versteigerung.
Eine Weile später tauchte Jack aus dem Lift auf.
Ein paar Angestellte, die einsteigen wollten, traten respektvoll
beiseite. Jack in seinem schwarzen Anzug bewegte sich sehr
selbstsicher und gelassen. Was für eine einflussreiche Figur,
dachte Grace. Genau wie John, aber anders.
»Ich komme, um meinen Ahnherrn zu begrüßen«, nölte
er und küsste sie auf beide Wangen. Er und Smith nickten einander
kurz zu.
In dem Augenblick hörte man Callies Stimme aus dem
Büro.
»Danke nochmal für die guten Ratschläge.« Sie
drehte sich im Türrahmen um, winkte noch einmal und lächelte.
Jacks Kopf fuhr abrupt in ihre Richtung. Sie sah
ihn an und riss die Augen auf.
Grace lächelte, denn sie glaubte, dass Jack diese
Wirkung auf alle Frauen hatte. Aber dann zögerte sie, weil sie
nicht wusste, wie sie Callie vorstellen sollte.
Doch ihr Freund ergriff die Initiative, streckte
die Hand aus und sagte: »Mein Name ist Walker. Jack Walker.«
Callie zögerte eine Sekunde lang, ehe sie seine
Hand ergriff. Nach einer leichten Berührung zog sie sie wieder
zurück und sah Grace an. »Äh … danke, dass du das Gespräch mit
Miles vermittelt hast. Es ist immer schön, sich mit anderen
Restaurationsexperten zu unterhalten.«
»Wie war noch der Name?«, fragte Jack. Sein Blick
überflog weiter ihre Züge.
Sie sah ihn direkt an. »Callie Burke.«
»Und Sie sind …?«
Grace errötete, weil sie wusste, wie unhöflich sie
war. »Meine Freundin. Sie kam her, um Miles kennen zu
lernen.«
»Sie haben mit Kunst zu tun?«
Callie nickte. Jacks eindringlicher Blick schien
ihr unangenehm. Grace fragte sich, ob Jack sie irgendwie beleidigt
hatte, erkannte aber dann, dass Callie ihn interessiert, aber auch
sehr misstrauisch ansah.
»Wenn Sie sich in Kunstdingen auskennen, müssen Sie
unbedingt Nathaniel kennen lernen«, sagte er lakonisch.
»Nathaniel?«
Grace erklärte: »Das ist John Singleton Copleys
Porträt von Nathaniel Walker. Warum kommst du nicht mit, wenn wir
es ansehen? Es dauert nicht lange, und ich bin an deiner Meinung
sehr interessiert.«
Callies Blick zuckte zu Jack hoch. Dann nickte sie
und folgte den beiden in die Restaurierungswerkstatt.
Grace besuchte die Werkstatt sehr gerne, um bei der
Arbeit zuzusehen. Es roch nach Farbe und Lack. Im Hintergrund
spielte stets klassische Musik. Überall in dem großen Raum standen
Gemälde in den verschiedenen Stadien der Restaurierung, gestützt
von großen Holzblöcken. Neben jedem stand ein Rollwagen mit den
Materialien: Gläser mit dunklen chemischen Lösungen, Pinsel und
Gazetupfer.
Die Angestellten waren schon gegangen, aber Grace
wusste, wo sich der Copley befand.
»Da drüben im Schrank«, sagte sie und trat zu einer
Kommode mit breiten, tiefen Schubladen. Mit dem mitgebrachten
Schlüssel schloss sie eine Lade auf und rollte ein Tuch ab. Als
Jack seinen Vorfahren sah, stieß er einen zufriedenen Seufzer
aus.
»Holen wir ihn heraus«, meinte Grace. Sie
versuchte, das Gemälde herauszuziehen, aber mit dem massiven
vergoldeten Rahmen war es für sie zu schwer. Da hob Smith es
vorsichtig heraus und legte es flach auf einen der
Arbeitstische.
»Es ist sehr schön«, murmelte Callie.
»Aber eher von der schwermütigen Art«, meinte Jack,
beugte sich vor und starrte das Gesicht auf der Leinwand an.
»Seine Augen sind sehr ungewöhnlich«, murmelte
Callie. »Sehr expressiv. Schade nur, dass er ein so ernster Mann
war.«
Jack sah sie über das Gemälde hinweg lange an. »Ja,
das stimmt.«
Da trat Grace vor und deutete auf die linke untere
Ecke. »Hier ist die Signatur und das Datum. Es war ungefähr um die
Zeit, als Copley das Porträt von Paul Revere malte, das in Boston
hängt.«
»Haben Sie etwas dagegen, wenn ich es mir genauer
ansehe?«, fragte Callie.
»Nein, natürlich nicht.«
Callie schaltete eine verstellbare Lampe über dem
Arbeitstisch an und richtete sie auf das Gemälde. Dann beugte sie
sich im Abstand von etwa zehn Zentimetern darüber und betrachtete
es langsam von der Mitte her zu den Rändern. Dabei näherte sie sich
Jack, der aber nicht auswich.
Als sie sich wieder aufrichtete, umspielte ein
leises Lächeln ihre Lippen.
»Was meinen Sie?«, fragte Jack.
»Er braucht ein bisschen Pflege. Auf dem Firnis
sitzen vermutlich fünfundsiebzig Jahre Rauch und Schmutz, der mit
den Jahren vergilbt ist. Man muss ihn sehr vorsichtig und mit viel
Liebe behandeln, aber die Leinwand ist intakt.«
»Vielleicht wollen Sie diese Aufgabe
übernehmen?«
Callie blickte überrascht hoch. »Wie bitte?«
Grace versuchte, die darauffolgende peinliche Pause
zu überspielen, indem sie leise lachte. »Du wirst ihn erst kaufen
müssen, Jack, ehe du jemanden beauftragst, ihn zu reinigen.«
»Egal, was er kostet, er wird in den Schoß der
Familie zurückkehren.« Damit wandte er sich an Callie. »Sind Sie an
dem Projekt interessiert?«
Sie zögerte lange, ehe sie antwortete. »Dieses
Gemälde
ist historisch gesehen sehr bedeutsam, sowohl aufgrund des
Künstlers als auch des Motivs.«
Jack zuckte die Achseln. »Soll das heißen, dass Sie
nicht daran interessiert sind?«
»Es ist eine größere Aufgabe, als ich bisher
bewältigt habe.«
»Und wenn Sie das richtig hinbekommen, ist Ihre
Karriere gesichert.«
»Und wenn ich es nicht richtig hinbekomme, sind
sowohl das Gemälde als auch mein Ruf dahin.«
Grace blickte zwischen den beiden hin und her.
Callie starrte auf den Nathaniel Walker. Jack starrte Callie
an.
Sie fragte sich, was in ihm vorging, und kam zu dem
Schluss, dass er bei Callie einfach eine Gelegenheit sah, ihr den
Steigbügel für den Aufstieg ganz nach oben zu halten.
Smith hatte sich gerade einen Zigarillo angesteckt
und sich in seinem Zimmer gegen das Kopfende des Bettes gelehnt, da
klingelte sein Handy. »Yeah?«
»He«, rief Tiny. Die Verbindung war sehr schwach
und knackte.
»Sag mir, dass du irgendwo über New Jersey
schwebst.«
»Nein, nicht mal annähernd.Wir haben Verspätung
wegen einer Bombendrohung. Dann wurden wir wegen schlechten Wetters
umgeleitet. Ich werde erst morgen Vormittag wieder in New York
sein.Wo soll ich dich treffen?«
Smith fluchte und gab ihm die Adresse der
Hall-Stiftung. »Wir sind in ihrem Büro. Oberster Stock.«
»Okay. Und was ist mit diesem Fest?«
»Ganz normale Promi-Party. Ungefähr fünfhundert
Leute. Ich habe mit Marks gesprochen.Wenn du es sicher genug
findest, werden seine Jungs überall herumschwirren. Falls du
Rückendeckung brauchst.«
»Gut.Was meinst du?«
Smith prustete frustriert. »Ich weiß nicht. Die
Opfer sind alle zu Hause umgebracht worden, und ich bin ziemlich
sicher, dass der Typ alleine arbeitet. Du musst dir die
Räumlichkeiten ansehen und dann selbst entscheiden. Wenn du meinst,
du kannst sie da ausreichend beschützen, würde das für sie viel
bedeuten.«
»Kann ich dich erreichen?«
Smith hatte das hin und her überlegt.Wenn er nicht
mehr damit beauftragt war, dann sollte er auch nicht im Hintergrund
herumhängen. Nur ein einziger Mann konnte diese Verantwortung
tragen. Außerdem konnte er nicht gut die zweite Geige spielen,
nicht einmal bei Tiny. Nicht in einer Situation mit Grace. Das
Beste für ihn war, sofort aus der Stadt zu verschwinden, aber er
konnte sich noch nicht dazu durchringen. Erst wenn das Fest vorbei
und sie am nächsten Morgen gesund und munter aufgewacht war.
»Ich habe ein Hotel in der Nähe gebucht. Du kannst
mich jederzeit erreichen. Ich kann in zehn Sekunden da sein, falls
etwas schiefgeht.«
»Klingt gut.«
»Vic …« Smith hielt inne. Eigentlich benutzte er
Tinys richtigen Namen nie. »Pass gut auf sie auf.«
In der Leitung knackte und knisterte es. Dann sagte
sein Freund: »Also, ich muss dich das vorher fragen. Was bedeutet
dir diese Frau?«
Alles, dachte Smith.
»Sie ist bloß eine Klientin.« Er drückte den
Zigarillo aus.
»Ach ja, Boss. In den fünf Jahren, seit ich mit dir
zusammenarbeite, habe ich dich aber noch nie so erlebt.«
»Sorg einfach bloß dafür, dass ihr nichts passiert,
ja? Dann kannst du sogar mit einer Beförderung rechnen.«
»Zu was denn?«
»Vielleicht fange ich an, dich Medium zu nennen und
nicht mehr Tiny.«
Tiny lachte.
Nach diesem Anruf drückte Smith sofort eine weitere
Nummer. Senator Prynes Privatanschluss wurde unmittelbar von seiner
erfahrenen Assistentin beantwortet.
»Smith hier«, sagte er. »Wann will er
abfahren?«
»Könnten Sie übermorgen in Washington sein?« Smith
wurde fast übel bei dem geschäftlichen Tonfall der Frau, von ihrer
Wortwahl und der Ausstrahlung von politischer Macht.
»Jawohl.«
»Gut. Der Senator wird sich freuen. Sie haben sehr
gute Referenzen, Mr. Smith.«
Smith beendete das Gespräch. Er spürte ein Ziehen
in der Brust, als hätte man auf ihn geschossen.
Am nächsten Morgen traf Grace eine Entscheidung.
Sie würde Blair anrufen und sie bitten, sich das Büro ihres Vaters
anzusehen.
Ihr Büro. Es war Zeit, den Raum für sich zu
beanspruchen. Vielleicht ein paar Vorhänge anbringen …
Sie hatte bereits einen anderen Schreibtisch
bestellt. Es würde zwei Monate dauern, ihn anzufertigen, aber er
war genau so, wie Grace ihn wollte: aus hellem Eibenholz, mit
klaren Linien und den Schubladenelementen auf Rollen, damit sie
sich nicht jedes Mal die Schulter ausrenkte, wenn sie etwas suchte.
Der Stuhl würde ebenfalls Rollen haben und mit hellem Leder bezogen
sein.
Außerdem hatte sie noch ein paar andere Dinge
geplant. Sie hatte sich immer einen Hund gewünscht.
Einen Golden Retriever, dachte sie. Ein großes,
fröhliches Tier.
Ihr Vater hatte Hunde abgelehnt, außer für die
Jagd. Ihre Mutter lehnte alles ab, das Lärm machte und Schmutz ins
Haus brachte, und Ranulf hatte sich alles verbeten, was die
Aufmerksamkeit von ihm ablenkte.
Genau das wollte sie. Einen Hund.
Sie malte sich schon die Schlappohren aus, die
freundlichen braunen Augen und erkannte, dass sie endlich ihr Leben
selbst in die Hand nahm. Nach den Veränderungen der letzten Zeit
überprüfte sie nun alles, was sie einst einfach als gegeben
hingenommen hatte, weil man das eben so machte. Mit demTod
des Vaters war auch dessen dominierende Hand verschwunden, und
inzwischen stellte Grace alles in Frage, was sie jemals geglaubt
hatte. Langsam lernte sie auch, der Mutter die Stirn zu bieten. Und
aufgrund der Dinge, die John über Ranulf und die Sharones
herausgefunden hatte, konnte sie jetzt vernünftige
Scheidungsbedingungen festlegen.
Die Verluste der letzten Zeit waren sehr schwer zu
ertragen gewesen, aber sie wurden durch ein Gefühl ausgeglichen,
dass alles unvermeidlich und lange überfällig gewesen war. Sie
hatte sicherlich in jedem Fall die harte Wahrheit besser vertragen,
als den Schein zu wahren. Wie die Jugend waren ihre Illusionen
dahingewelkt und verschwunden, aber der Zugewinn an Weisheit,
Unabhängigkeit und Freiheit war wirklich die Vergänglichkeit aller
Äußerlichkeiten wert.
Reiß dich zusammmen, Seesternchen. Komm schon,
lächle.
»Nein. Ich lächle nur noch, wenn mir danach
zumute ist«, sagte sie laut.
Sie suchte das Kleid heraus, das sie auf dem Ball
tragen würde, und ihre Schmuckkassette und verließ das Zimmer.
Smith wartete in der Halle. Mit einem starren Kopfnicken ging sie
an ihm vorbei. Sie erwartete jeden Moment, dass sein Partner
auftauchte. Dieser Moment, dass er gehen würde, schien niemals zu
enden.
Sie bestiegen den Explorer. Grace gab sich Mühe,
mit Eddie über dessen Schriftstellerkurs zu plaudern. Er hatte als
letzte Aufgabe ein Kinderbuch über Sicherheit begonnen, und sie
sagte ihm, sie kenne einen Agenten, der es sicherlich gerne lesen
würde.
Grace verbrachte den ganzen Morgen unten in der
Halle und beaufsichtigte die Vorbereitungen für das Fest. Man hatte
neben dem Museumseingang ein kleines Podium errichtet und einen
großen Bildschirm angebracht, auf dem die Höhepunkte im Leben ihres
Vaters gezeigt werden würden. Der Partyservice war eingetroffen und
stellte Tische und Stühle auf. Die Floristen schmückten alles mit
riesigen Blumenarrangements.
Am frühen Nachmittag war sie endlich zufrieden, wie
sich alles entwickelte. Nach einem kurzen Lunch mit ein paar
Presseleuten ging sie mit Smith wieder hinauf in ihr Büro.
Die Lifttür hatte sich gerade geöffnet, als sein
Handy ertönte. Sie achtete nicht darauf, was er sagte, bis sie
hörte: »Und er ist verhaftet?«
Sie blieb stehen. Smith sah sie scharf an.
»Wann habt ihr ihn geschnappt?« Darauf folgte
Schweigen. »Kommt ihr damit durch?«
Sobald er das Gespräch beendet hatte, fragte sie:
»Haben sie ihn …?«
Er nickte. Sie merkte überrascht, dass er nicht
erleichtert aussah.
»Erzähl mir alles«, forderte sie ihn auf. Es war,
als wäre ihr eine Riesenlast von den Schultern gefallen.
»Isadora ist heute Morgen zu sich gekommen. Sie hat
den Mann identifiziert, der sie angegriffen hat. Es war ein Partner
ihres Mannes. Marks und seine Jungs haben ihn verhaftet.«
»Wer ist es?«
»Jemand namens Margis. Hast du den Namen schon mal
gehört?«
Grace nickte verblüfft. »Natürlich. Er ist
Investmentbanker, ein richtiger Lebenskünstler. Immer hinter den
Frauen her, besonders den reichen. Ich weiß, dass er mit Mimis Mann
an einem Deal arbeitete, und er hat auch einen Teil von Cuppies
Geld verwaltet. Ich weiß nicht, ob Suzanna ihn kannte, aber das
würde mich nicht überraschen. Er hat eng mit Isadoras Mann Raphael
Cunis zusammengearbeitet. Die beiden waren Partner.«
»Und du? Hattest du jemals mit ihm zu tun?«
Grace dachte einen Moment nach.
»Wo du es jetzt erwähnst, er hat mich kurz nach dem
Tod meines Vaters angerufen. Er meinte, für den Zuwachs meines
Vermögens bräuchte ich einen Berater. Er würde das gerne für mich
übernehmen. Ich habe aber abgelehnt. Ich hörte, dass es seiner
Firma wegen der Krise nicht gut ging, und habe ihm irgendwie nicht
getraut.«
Smith schien nachzudenken.
»Was ist?«, fragte sie.
Er zuckte die Achseln. »Marks sagte, Isadora habe
zugegeben, dass sie eine Affäre mit dem Typen hatte. Offensichtlich
wollte sie sich von ihm trennen, daher war sie zurückgekommen. Das
ist eine sehr persönliche Verbindung, anders als die
Geschäftsbeziehungen, die Margis mit den anderen
Frauen hatte. Aber vielleicht hatte er mit denen auch eine
Affäre?«
»Sein Name stand auf allen Listen«, sagte Grace
plötzlich. »Den Besucherlisten der Gebäude … ich sah seinen Namen,
als du sie durchgegangen bist.«
»Yeah. Marks’ Jungs haben das überprüft. Er war am
Tag der van-Lyden- und Lauer-Morde im Haus.«
»Na, immerhin bin ich erleichtert«, sagte Grace,
doch als sie Smith genauer betrachtete, hielt sie ihren Optimismus
nicht mehr für so gerechtfertigt. »Was meint Marks denn?«
Smith zuckte die Achseln. »Er ist überzeugt, er war
es. Offensichtlich haben sie in seinem Haus eine ganze
Waffensammlung gefunden. Er hatte eine Schwäche für Messer.«
»Dann ist es also vorbei«, murmelte Grace. »Und ich
kann wieder normal leben.«
Sie blickte ihn an. Ihre Blicke blieben aneinander
hängen. Einen Moment lang hielt Grace den Atem an, weil alle
heimlichen Hoffnungen wieder auftauchten.
Sag mir, dass du deine Meinung geändert
hast, dachte sie. Sag mir, dass du mich liebst und bei mir
bleiben willst. Sag mir, dass ich Recht hatte und du nicht.
Und dass du dir ein Leben ohne mich nicht vorstellen kannst. Sag
mir, dass ich morgen früh neben dir aufwachen werde.
Ohne mich zu fragen, wo du wohl sein
magst.
Doch er blieb stumm. Grace wandte sich ab und ging
den Gang hinab. Keine Tränen zeigten sich. Die würde sie sicher
erst später zulassen.
Kat blickte vom Schreibtisch auf. »Da wartet ein
Mann auf Sie.«
Grace blickte über die Schulter und sah, wie der
blonde Riese Tiny sich langsam erhob. Ihr sank das Herz, als er auf
sie zutrat. Über einer Schulter hing sein Seesack. Sein strahlendes
Lächeln war an Smith gerichtet. Doch als der Mann sie ansah,
wirkte er ausgesprochen misstrauisch.
Smith schlug seinem Partner auf den Rücken. Grace
verstand nicht, was die beiden sagten, denn in ihren Ohren rauschte
es.
Sie ging in ihr Büro und setzte sich hinter den
Schreibtisch. Einen Moment später kamen die beiden herein, Smith
mit ernster Miene. Tiny sah aus, als hätte man ihm eine tickende
Zeitbombe in die Hand gedrückt. Mit dumpfem Aufprall fiel sein
Gepäck auf den Boden.
Als die Tür geschlossen war, sprach sie ihn mit dem
autoritärsten Tonfall an, zu dem sie fähig war. »Ich schätze es
zwar, dass Sie sich die Mühe gemacht haben, herzukommen, Mister…«
Sie wartete darauf, dass Tiny ihr seinen Nachnamen nannte.
»Nennen Sie mich einfach Vic«, sagte er
jedoch.
»Vic. Aber ich habe keinen Bedarf mehr für einen
Leibwächter.« Damit begann sie,Akten auf dem Schreibtisch zu
sortieren, und versuchte, sehr beschäftigt auszusehen.
»Doch, das brauchst du«, entgegnete Smith.
»Nein!« Sie blitzte ihn wütend an. »Ich brauche
keinen Aufpasser mehr.«
»Grace …«
Sie ignorierte ihn. »Vic, Sie können Ihr Gepäck
ruhig wieder mitnehmen und gehen. Ohne Zweifel sind Sie froh, gehen
zu können. Sie sehen nicht besonders glücklich aus.«
Der Mann errötete.
Rasch schritt Smith durch den Raum. »Tiny bleibt,
und damit basta!«
»Warum denn? Der Mann sitzt hinter Gittern, daher
besteht keine Gefahr mehr. Ich bin kein Kind mehr und auch
nicht geistig behindert, daher brauche ich keinen Aufpasser. Ich
hatte dich übrigens nicht um deine Meinung gebeten.«
Ohne den Blick von ihr zu nehmen, sagte er: »Vic,
lass uns einen Moment allein.«
Sein Partner verschwand wortlos.
Aber den verdammten Seesack ließ er liegen.
»Ich glaube, wir haben uns nichts mehr zu sagen.«
Grace konnte ihm nicht in die Augen sehen, daher nahm sie ein
Papier vom Tisch. Eine Aktennotiz über die neuen
Spesenregeln.
»Sieh mich an!« Als sie sich weigerte, schlug Smith
mit der Faust auf den Tisch. Grace zuckte zusammen und schnappte
einen Stift, ehe er auf den Boden rollte. Zögernd wanderte ihr
Blick zu ihm. »Verdammt, Marks hat noch kein Geständnis von dem
Mann. Er ist es vielleicht nicht. Du musst weiterhin sehr
vorsichtig sein.«
»Das bin ich doch. Ich löse meinen Vertrag mit
Blackwatch. Die Zusammenarbeit mit euch hat sich für mich
als traumatischer erwiesen als viele andere Dinge in meinem Leben.«
Sie lachte gepresst auf. »Ich hatte mir immer ausgemalt, dass ein
dramatischer Augenblick eintreten würde, in dem du auftauchst und
mich rettest. Irgendwie zählt der Moment auf unserer Veranda nicht
richtig. Aber das wirkliche Leben ist ganz anders, als man es im
Kino sieht, nicht wahr?«
Weil es in einem Hollywood-Film ein Happy End
gegeben hätte.
Sie griff nach ihrer Handtasche und zog den Scheck
heraus, den sie zuvor ausgestellt und den er abgelehnt hatte. »Bist
du bereit, das jetzt anzunehmen?«
»Ich will dein Geld nicht.«
»Aber du wirst es annehmen, oder? Damit keine
Verbindung mehr zwischen uns besteht. Eine saubere Trennung.«
Smith nahm mit verbissener Miene den Scheck
entgegen.
»Und jetzt verschwinde hier mit deinem Kollegen«,
sagte sie.
»Tiny bleibt bei dir.« Smith sah entschlossen aus
und ließ sich von ihrem eisernen Willen weder einschüchtern noch
umstimmen.
»Tiny oder Vic oder wie immer er heißt kann zum
Teufel gehen und du ebenfalls. Ich brauche keinen weiteren zähen
Burschen in meinem Leben oder meinem Bett.Von jetzt an halte ich
mich an meine Freunde.«
»Mir ist völlig egal, was du sagst. Tiny wird heute
Abend hier sein.«
»O nein. Ich habe dich und dein gesamtes Team
gefeuert!« Grace war jetzt völlig unvernünftig, konnte sich aber
nicht mehr bremsen. Sie nahm nichts anderes mehr wahr als die leere
Stelle, das schwarze Loch in ihrer Brust. »Blackwatch steht
nicht mehr auf meiner Gehaltsliste.«
»Dann wird er eben umsonst arbeiten.«
»Dann lasse ich ihn als Eindringling
verhaften.«
»Das möchte ich sehen«, erwiderte Smith kalt. »Kein
Polizist in New York wird einen meiner Jungs auch nur anrühren,
Gräfin.«
Grace sprang mit geballten Fäusten hoch. Sie
zitterte am ganzen Körper. »Raus! Verschwinde endlich aus meinem
Leben!«
Smith blieb lange stumm.
Und dann sah sie überrascht, wie er gehorchte, sich
einfach umdrehte und aus dem Zimmer schritt.Vor der Doppeltür
blieb er stehen. Er senkte den Kopf, als müsste er sich für etwas
wappnen.
»Leb wohl, Grace.«
Nach diesen Worten ging er hinaus.
Grace schnappte bebend nach Luft.
Blindlings wühlte sie in den Papieren und Akten,
zog Blätter heraus und wirbelte alles durcheinander. Immer
schneller fuhren ihre Hände durch die Papierstapel, aber sie
suchten nichts.
Tränen fielen auf den Schreibtisch ihres Vaters und
hinterließen Flecken auf den Akten und Dokumenten, Policen und
Berichten.
Sie weinte immer noch still vor sich hin, als Kat
sie zwanzig Minuten später ansummte.
»Ja?« Grace räusperte sich. »Was ist?«
»Dieser Mann ist immer noch hier«, sagte Kat
leise.
»Tiny.Vic. Johns Partner.
Noch so ein harter Bursche mit einer Waffe.«
»Na, dann lass ihn einfach da sitzen und
verrotten.«