20 021
Smith verließ die Dusche. Schade, dass Grace und ich keine Zeit mehr hatten, dachte er, denn obwohl sie sich in der vergangenen Nacht dreimal geliebt hatten, wollte er mehr. Er konnte nun nicht nachvollziehen, dass er es einmal für möglich gehalten hatte, eine einzige Nacht mit ihr würde ausreichen. Er wollte jetzt Monate mit ihr, vielleicht sogar Jahre.
Es war tragisch, dass sie einfach nicht genug Zeit hatten.
Neben ihr aufzuwachen war eine weitere Offenbarung gewesen. Jahrelang hatte er die Frauen verlassen, sobald er nur konnte. Doch heute Morgen hatte er sich zu Grace umgedreht und keinerlei Drang verspürt, irgendwo sonst auf der Welt zu sein. Er hatte sie im Schlaf beobachtet, vertieft in den Anblick ihrer dichten Wimpern auf ihren Wangen, den leicht geöffneten Mund, die Art, wie sich ihr Haar auf dem Kissen ausgebreitet hatte.
Smith trocknete sich ab, zog sich an und ging zu ihrem Ankleideraum, wo er sie immer noch vermutete. Als er sie nicht fand, betrachtete er ihr Bett und dachte daran, was sie in der vergangenen Nacht alles miteinander getrieben hatten. Sie war immer selbstbewusster und zutraulicher geworden und bald kühn, anspruchsvoll-ja erfinderisch gewesen. Sein Körper reagierte schon wieder.
Morgen früh würden sie zusammen unter die Dusche gehen.
Smith ging in Richtung Küche, um sie dort zu suchen. Da fiel sein Blick auf ihre Ringe auf dem Schreibsekretär. Er hob den Verlobungsring auf. Es war ein schweres Stück, mit einem fabelhaften blauen Edelstein. Die Brillanten, die ihn umgaben, funkelten wie weißes Feuer.
Was für einen Ring würde er ihr geben? Neben der Qualität und Schwere dieses Stücks würde er farblos wirken. Es sei denn, er wäre ganz schlicht, ein einfacher Reifen …
Smith schüttelte den Kopf. Er würde für niemanden Ringe kaufen.
Und sicherlich niemals für sie.
Er war ein jugendlicher Straftäter gewesen, der im Gefängnis gesessen hatte, ein Ex-Militär, ein ehemaliger Agent. Sicherlich nicht der Typ, der als zweiter Ehemann von Grace Woodward Hall, der vormaligen Gräfin von Sharone, in Frage kam.
Punkt. Ende.
Er ließ den Saphir aus den Fingern gleiten und sah zu, wie er aufschlug, sich mehrfach drehte und dann liegen blieb.
Überrascht merkte er, dass er ans Heiraten gedacht hatte, auch wenn das bloß rein hypothetisch war. Ehefrauen wurden in seiner Branche noch stärker abgelehnt als Freundinnen, denn eine Familie stellte die äußerste Bedrohung für eiskalte Gedanken dar. Je mehr man an andere gebunden war, je mehr Stabilität man brauchte, desto größer die Chance, Schwächen zu zeigen.
Er hatte es immer für einen Fehler gehalten, wenn Leute annahmen, sobald sie ein Zuhause, eine Frau und Kinder hatten, würde die Welt irgendwie sicherer sein.Viele Männer glaubten fest, solange sie jeden Morgen ihre Tasse Kaffee in der Gegenwart desselben Menschen tranken, wären sie irgendwie in Sicherheit. Smith wusste, dass dies nicht zutraf. Wie alle anderen Menschen wurde jeder Ehemann vom Schicksal herausgefordert. Sie wussten nur einfach nicht, dass sie schon am Verhandlungstisch saßen.
Er wusste, dass er im Alleingang sicherer war, denn solange er solo operierte, brauchte er nur für sein eigenes Leben Sorgen zu tragen. Und der Tod war die einzige Naturkraft, vor der er keine Angst hatte.Wenn man tot war, spielte nichts mehr eine Rolle.
Er war immer auf seine klare Einstellung zu den Fallstricken des Familienlebens stolz gewesen, aber jetzt war er nicht mehr so sicher. Seitdem er Grace kannte, hatten sich seine Gedanken darüber verändert. Zum ersten Mal konnte er begreifen, dass Angehörige zu haben reizvoll sein konnte. Um ganz ehrlich zu sein, hörte er es sehr gerne, wenn sie nachts durch die Wohnung ging. Er sah sie gerne morgens im Bademantel mit völlig zerzausten Haaren. Er liebte es, wenn sie auf dem Rücken schlief und dabei leise schnarchte. Er mochte ihre Wärme neben sich im Bett.
Smiths Instinkt regte sich.
Er lauschte. Die Wohnung war völlig still. Eine Sekunde später rannte er über den Gang, sah ins Wohnzimmer, ins Esszimmer, stürzte dann in die Küche. Als er wieder in der Diele stand, begann etwas in seinem Kopf zu schreien.
 
Grace starrte die Frau an und zwinkerte die Regentropfen fort, die ihr in die Augen fielen. Sie fühlte die harten Pflastersteine unter ihrem Gesäß, die Kälte, das feuchte Sweatshirt, einen stechenden Schmerz im Bein.
Das ist also alles echt, dachte sie.
»Ich habe keine Schwester«, flüsterte sie, obwohl ihr der Anblick das Gegenteil bestätigte. Die Ähnlichkeit mit ihrem Vater war subtil, aber unverkennbar. Grace fühlte sich verraten.
»Woher weißt du das mit dem Seestern?«, fragte sie scharf.
Die Antwort erfolgte zögernd und leise, als wüsste die Frau nicht genau, wie Grace darauf reagierte.
»Als ich noch klein war, habe ich einmal ein Foto von dir und ihm in der Zeitung gesehen und gefragt, wer du bist. Er sagte, du wärest seine andere Tochter, und ich wollte deinen Namen wissen. Er sagte, dein Name sei Seesternchen. Ich habe dich immer so gekannt, auch als ich deinen richtigen Namen erfuhr.«
Grace spürte Eifersucht wie einen Stich, weil diese andere Person, diese Fremde, den Kosenamen kannte, den nur ihr Vater benutzte.
Wie kann er es wagen, nicht hier zu sein, wo alles herauskommt?, dachte sie unvernünftigerweise.
Grace mühte sich auf die Beine. Die andere Frau bot ihr hilfreich eine Hand an, doch Grace schlug sie aus.
Die Frau wich zurück. »Ich hätte dir zuerst schreiben sollen, aber ich dachte, du würdest mich für eine Irre halten. Vermutlich tust du das ohnehin. Ich musste dich aber einfach kennen lernen. Fotos von dir habe ich schon seit Jahren gesehen, aber das war irgendwie nicht echt. Du bist so schön und strahlend, und ich habe oft gedacht …« Sie lächelte traurig. »Ich wollte das andere Leben von ihm kennen lernen. Das bedeutendere Leben… von meinem Vater.«
Grace starrte die Frau an. Der Regen hatte ihr rotes Haar dunkler gestreift. Nass und glatt lag es an ihrem Kopf. Hinter ihren blauen Augen schienen alte Schatten zu lauern.
»Wie heißt du noch?«, fragte Grace.
»Callie. Eigentlich Calla Lily.«
Grace durchfuhr ein Schauder. Der Name. Der Name, den sie einmal von ihrem Vater gehört hatte, als er schlief und träumte.
Sie schüttelte den Kopf, weil die Realität immer wieder kippte, während sie die Fakten zu verdauen suchte.
Grace sah die Frau wieder an. »Du siehst ihm ähnlich.«
»Ich weiß. Es ist die Haarfarbe, glaube ich.«
»Deine Augen auch.« Grace merkte, dass ihre Stimme wütend klang.
Sie wollte die Frau zum Teufel jagen, sie der Lüge bezichtigen. Zumindest wünschte sie sich, nie joggen gegangen zu sein, dann hätte sie die Frau niemals getroffen.
»Ich weiß, dass es ein Schock sein muss.«
Na, das war eine Untertreibung.
Grace durchsuchte im Geiste alle Erinnerungen an ihre Kindheit nach Anzeichen für das Doppelleben ihres Vaters. Er war häufig fort gewesen. Er war ein sehr erfolgreicher Mann, daher schien er ständig unterwegs zu einer Konferenz oder anderem. Waren diese Reisen der Vorwand gewesen, um ein anderes Leben führen zu können? Sie überlegte, wie viel sie bei der Stiftung zu tun hatte.Vor seinem Tod hatte er alles erledigt, was sie nun tat, und dazu noch die Investititonen der Familie verwaltet.Wo hatte er nur die Energie dazu gefunden?
Nun, offensichtlich irgendwo anders. Irgendwie hatte er die Zeit gefunden, ein zweites Leben zu führen. Und ein weiteres Leben zu zeugen.
Callie strich sich eine nasse Haarsträhne aus dem Gesicht. »Wo ich jetzt hier neben dir stehe, weiß ich nicht, was ich eigentlich damit bezwecken wollte.«
Grace sah die Frau eindringlich an.
Die Tochter ihres Vaters.
»Du warst es«, sagte sie unvermittelt und starrte auf die Regenjacke. »Du hast mich beobachtet, wenn ich zur Arbeit ging. Hast vor den Restaurants auf mich gewartet. Du bist mir auch zur Beerdigung gefolgt, nicht wahr?«
»Ja.« Callie wandte den Blick ab. »Es war für mich sehr schwer, dich anzusprechen. Ich dachte, irgendwann gehe ich einfach auf dich zu, aber du warst nie allein. Und ich … ich wollte einfach sehen, wie er begraben wurde, denn ein Teil in mir wollte nicht glauben, dass er gestorben war. In den Zeitungen stand nicht, um welche Uhrzeit die Bestattung stattfinden würde, nur das Datum. Ich bin dir gefolgt, weil ich nicht wusste, wie ich mich sonst von ihm verabschieden konnte.«
Grace drehte sich bei diesen Worten der Magen um. Sie schüttelte wieder den Kopf.
»Ich muss gehen«, murmelte sie.
Ohne Ziel ging sie los. Der Regen rann ihr über die Wangen.Vielleicht waren es auch Tränen.
Calla Lily.
Sie hörte die Stimme ihres Vaters.
Sie war bloß wenige Meter gegangen, als sie stehen blieb und sich umsah.
Die Frau starrte ihr nach. Sie wirkte in der Regenjacke sehr schmal.
Es war kein teurer Mantel, dachte Grace, bloß eine billige Plastikjacke. Ihre Schuhe waren alt. Sie sah nicht wie jemand aus, der viel Geld hatte.
Hatte sie sie aufgespürt, um das Testament anzufechten? Wollte sie einfach nur Geld von ihr?
Grace dachte an Smith. Er konnte leicht herausfinden, wer diese Frau war, und Erkundigungen einholen, ob ihr Motiv vielleicht Geldgier war.
»Es ist kühl«, sagte Grace.»Wohnst du in der Nähe?«
»Nein. Ich lebe in Chelsea.«
Freunde in der Nähe, Feinde noch näher, dachte Grace. Was für eine Redensart.
»Komm mit mir in meine Wohnung, damit du wieder trocken wirst.«
Die blauen Augen betrachteten sie misstrauisch. »Bist du sicher?«
Nein, Grace war nicht sicher.
Doch sie nickte, und Callie näherte sich vorsichtig.
»Du blutest ja!«, sagte sie erschrocken.
Grace senkte den Blick. Sie sah den Kratzer am Bein durch den Riss in der Jogginghose hindurch. Das Blut war schon auf die Trainers getropft.
Eigentlich müsste es wehtun, dachte sie. Komisch, denn sie spürte nichts.
»Bist du sicher, dass du gehen kannst?«, fragte Callie. »Ich kann ein Taxi rufen.«
»Ist schon gut.«
Ja, wenn dieser Horrorfilm meines Lebens aufhört und nicht ständig neue Typen dazukommen, dann ist alles gut.
Zusammen gingen sie zur Straße. Da Grace humpelte, kamen sie trotz des Regens nur sehr langsam voran.
»Du hast das wirklich nicht gewusst?«, fragte Callie leise. »Ich habe mich immer gefragt, ob du vielleicht eine Ahnung hattest. Es ist sicher schwierig für dich … es ist inzwischen siebenundzwanzig Jahre her, und ich finde das Ganze immer noch schwierig.«
Als Grace hörte, wie alt Callie war, löste es eine neue Welle der Wut in ihr aus. Siebenundwanzig Jahre. Über ein Vierteljahrhundert lang hatte ihr Vater ein Doppelleben geführt. Er hatte alle gezwungen, seine Lüge zu leben.
Grace erinnerte sich mit Bitterkeit an seine Predigt, wie wichtig es sei, bei Ranulf zu bleiben. Er hatte sogar die Bedeutung des Ehegelöbnisses herausgestellt. Diese Bemerkung fand sie rückblickend betrachtet schwerer zu ertragen als seine Vorhaltungen hinsichtlich der Familie Sharone und wie wichtig sie sei. Jetzt, wo Callie sie aufgespürt hatte, klangen seine Worte nur noch heuchlerisch. Grace wollte am liebsten die letzten drei Monate, die sie daraufhin mit Ranulf verbracht hatte, wieder zurückfordern.
Und dazu all die Jahre, in denen sie geglaubt hatte, ihr Vater wäre ein ehrenwerter Mann.
Als sie vor Grace’ Wohnhaus unter die Markise traten, blieb Callie stehen und schüttelte den Regen von der Jacke und aus den Haaren. Sie folgte Grace, wirkte dabei aber sehr verlegen. Sie warf einen Blick auf den Portier, der ihnen die Tür öffnete, die luxuriöse Eingangshalle, den Lift aus Glas und Messing.
»Was für ein schönes Gebäude«, murmelte sie unterwegs zum obersten Stockwerk.
Als sie den Lift verließen, blieb Grace stirnrunzelnd stehen. Ihre Wohnungstür stand sperrangelweit offen. Davor stand ein unbekannter, ganz in Schwarz gekleideter blonder Mann mit den Ausmaßen eines Busses. Bei ihrem Anblick lächelte er sie freudlos an.
»Die Gräfin scheint zurückgekehrt zu sein«, sagte er nur trocken.
Smith stürzte in den Türrahmen. Grace trat unfreiwillig einen Schritt zurück. Er wirkte rasend vor Wut.
»Wo zum Teufel bist du gewesen?«, brüllte er. Grace wäre am liebsten wieder im Aufzug verschwunden.
Doch sie räusperte sich und sagte sehr leise. »Ich war joggen. Tut mir leid, dass ich dir nicht Bescheid gesagt habe …«
»Was hast du dir dabei bloß gedacht?« Er deutete anklagend mit dem Zeigefinger auf sie. »Du gehst nirgendwohin ohne mich. Das war unsere Abmachung. Kannst du mir vielleicht verraten, was du dir dabei gedacht hast?«
Grace warf einen Blick zu Callie, die aussah, als würde sie am liebsten im Erdboden versinken. Grace konnte das verstehen.
»Du solltest dich beruhigen«, flüsterte sie Smith zu. »Alles in Ordnung.«
»Jaja, alles in Ordnung. Dann werde ich der Polizei Bescheid geben und meinen Männern sagen, sie können alle nach Hause gehen, denn die Gräfin meinte, alles sei in Ordnung. Kein Problem, Gräfin.« Damit stampfte er zurück in die Wohnung, zog sein Handy heraus und begann mit kurzen, wütenden Worten alles zu erklären.
»Vielleicht ist es heute nicht so gut«, meinte Callie leise.
»Nein, nein, der beruhigt sich schon wieder.«
Hoffentlich, fügte sie stumm hinzu.
Grace betrat die Wohnung und sah drei weitere Männer in ihrem Wohnzimmer- alle groß und breitschultrig und ganz in Schwarz gekleidet. Sie wirkten wie ein Militärtrupp, obwohl sie keine Uniform trugen. Als sich sämtliche Blicke auf sie richteten, fühlte sie sich wie ein Teenager, der zu spät nach Hause kam.
Oder wie eine Aufständische, die vernichtet werden muss.
»Hallo«, sagte sie an alle gleichzeitig gewandt.
Der Mann, der vor der Tür gestanden hatte, der gutaussehende Blonde, neigte knapp den Kopf. Die anderen zeigten keinerlei Reaktion.
Smith klappte sein Handy zu und sagte zu ihnen: »Marks und seine Jungs gehen zurück zur Wache. Danke, dass ihr gekommen seid.«
»Bin froh, dass sie wieder aufgetaucht ist«, meinte der Blonde. Er grinste Smith ironisch an. »Sonst hätten wir dich an einen Stuhl fesseln müssen, damit du dir nichts antust.«
»Pass auf,Tiny!«
Tiny legte brüderlich einen muskulösen Arm um Smiths Schultern, kniff ihn dann in den Nacken und schüttelte ihn freundschaftlich. Dann fragte er sehr leise: »Alles okay?«
Smith antwortete noch leiser. Dann sahen die beiden Männer einander einen Moment lang an.
»Okay, wir gehen jetzt, meine Damen«, sagte Tiny zu den Männern. Als sie an ihr vorbeigingen, blieb er kurz vor Grace stehen und sagte: »Tun Sie uns den Gefallen und bleiben zu Hause, ja?«
»Wiedersehen,Tiny«, meinte Smith drohend.
Der Mann verdrehte die Augen und lächelte ihn über die Schulter hinweg an.
»Wirst du mich anspringen, wenn ich noch ein Wort mit ihr wechsle?«
Grace sah Smith an. Er hatte die Hände in die Hüften gestemmt und starrte zu Boden. Sein Kinn war verspannt.
Callie flüsterte: »Ich glaube, ich gehe jetzt besser.«
Smiths Kopf fuhr ruckartig hoch. »Wer sind Sie denn?«
»Das ist Callie«, sprang Grace ein. »Meine …äh … meine Halbschwester.«
Smith sah die Frau aus schmalen Augen an. »Ich wusste nicht, dass du eine hast.«
»Sie auch nicht«, antwortete Callie.
»Na, herzlich willkommen in dieser feinen Familie. Mit dir rede ich später«, sagte Smith zu Grace, ehe er im Korridor verschwand.
»Würdest du mich bitte entschuldigen?«, sagte Grace und ging ihm rasch nach.
Sie war ihm dicht auf den Fersen. Er blieb vor ihrem Zimmer stehen. »Bleib mir besser von der Pelle, bis ich mich wieder beruhigt habe.«
Und knallte ihr die Tür vor der Nase zu.
Grace atmete tief aus.
Als sie ins Wohnzimmer zurückkehrte, bereute sie, Callie mitgebracht zu haben, denn sie hätte wissen müssen, wie wütend Smith auf sie sein würde.
Heute beging sie einen Patzer nach dem anderen.
»Möchtest du nicht die Jacke ausziehen?«, fragte sie Callie.
Callie sah sie ernst an und zog den Regenmantel aus. Sie legte ihn über den Arm und presste ihn trotz der Nässe fest an sich.
»Gib mir die Jacke«, sagte Grace und bemerkte, dass Callies feuchte Kleider sauber waren, aber altmodisch, und dass sie keinerlei Schmuck trug.
Als sie sich wieder umdrehte, stand Callie gebeugt vor dem Foto von Grace mit ihrem Vater. Sie nahm den Rahmen in die Hand. Grace schnürte es fast die Kehle zu.
Verdammter Kerl, dachte sie.
»Äh … ich gehe jetzt unter die Dusche«, sagte sie mit gepresster Stimme. »Soll ich dir ein paar trockene Kleider heraussuchen?«
Callie setzte den Bilderrahmen wieder ab und blickte an sich herab. »Das wäre nett.«
Eine Weile später saß Grace im Bademantel auf der Bettkante und wartete darauf, dass Callie aus dem Ankleideraum kam. Staunend sah sie die Verwandlung, als Callie wieder erschien. Ihre langen roten Haare lagen in weichen Locken um die Schultern. Sie trug einen Hosenanzug mit einer taillierten Jacke von Grace und sah darin ausgesprochen elegant aus und nicht mehr wie ein nasses Kätzchen.
Wir haben die gleiche Kleidergröße, dachte Grace.
»Was für eine wunderbare Qualität!« Callie strich über den Stoff.
»Das Rot steht dir fantastisch.« Grace legte den Kopf schräg. »Was machst du?«
»Ich bin Kunsthistorikerin, aber momentan arbeite ich beim Empfang einer Galerie. Ich bin auf der Suche nach einem neuen Job, aber in den letzten Jahren war… alles ein bisschen schwierig.«
Daraufhin folgte ein verlegenes Schweigen.
»Wie kann ich dich erreichen?«, fragte Grace, ging zu dem Nachttisch und suchte nach dem kleinen Notizblock. Als Callies Augen daraufhin regelrecht glücklich aufleuchteten, spürte Grace Schuldgefühle. Die Frau schien eine Freundin zu suchen, aber Grace glaubte nicht, dass sie jemals eine freundschaftliche Beziehung zueinander haben würden.
Callie schrieb ihr eine Nummer auf. Grace fiel auf, dass sie dazu die linke Hand benutzte. Genau wie Grace. Genau wie ihr Vater.
»Du brauchst eigentlich nicht anzurufen«, sagte Callie, als sie ihr den Zettel zurückreichte. »Ich wollte dich bloß kennen lernen. Dich einmal aus der Nähe sehen. Sicher sein, dass es dich gibt.«
Grace blickte auf die Nummer.
»Kann ich dich nach Hause bringen lassen?«, fragte sie. Sie war neugierig, wo in Chelsea Callie wohnte. »Wir fahren gleich in die Stadt.«
Callie blickte in den Regen vor dem Fenster. »Das wäre großartig.Vielen Dank.«
Callie ging ins Wohnzimmer, um dort zu warten, während Grace vorsichtig vor Smiths Tür trat und leise klopfte. Sie öffnete sie, als sie seine knappe Antwort hörte.
Smith machte seine Klimmzüge an der Stange im Türrahmen zu seinem Bad. Er zog sich rasch hintereinander mehrfach daran hoch, so dass die Armmuskeln hart und dick geädert hervortraten. Grace fragte sich, wie lange er dort schon trainierte.
»Es tut mir wirklich leid, einfach weggelaufen zu sein«, sagte sie vorsichtig und schloss die Tür hinter sich. »Ich brauchte nur einfach frische Luft. Das war gedankenlos von mir.«
Smith ließ sich von der Stange fallen. »Das war ausgesprochen idiotisch.«
»Ich weiß. Ich werde es auch nicht wieder tun.«
»Davon gehe ich aus. Ich werde dir gar nicht erst ausmalen, was alles hätte passieren können.« Er griff nach einem Handtuch und trocknete sich den Schweiß vom Gesicht. »Gehen wir heute ins Büro?«
Er vermied es, sie anzusehen, und Grace wünschte sich, sie könnte alles ungeschehen machen und zu dem Augenblick zurückkehren, in dem sie die Trainers angezogen hatte.
»Tut mir leid, dich verärgert zu haben.«
»Ich bin nicht verärgert.« John trat zu seinem Schreibtisch und überprüfte seine Waffe. Grace hörte ein Klicken, als die Metallteile ineinanderglitten.
»Doch, das bist du.«
Er blickte sie mit vor Wut zusammengekniffenen Augen an. »Zieh dich endlich an, Grace.«
Doch statt sich vor ihm zu ducken, sah sie hinter den groben Worten die Angst um sie.
»Ich bin wieder da. Ich bin in Ordnung.« Als er keine Antwort gab, sagte sie: »John, alles ist wieder gut.«
Da legte er die Waffe zurück auf den Schreibtisch und schnallte sich die schwarze Armbanduhr um. »Hast du vielleicht geglaubt, die Polizei hätte den Irren geschnappt, der deine Freundinnen abgeschlachtet hat? Denn das ist nicht der Fall. Nach dieser Eskapade wärst du vielleicht nie wieder nach Hause gekommen.«
»Bin ich aber.«
Smith fluchte. »Du solltest clever genug sein, dich nicht nur auf dein Glück zu verlassen.«
Grace versuchte, sich ihm zu nähern, doch er wich zurück. »Du hast mich engagiert, damit du lebend aus dieser Sache herauskommst. Bring mich nie wieder in die Lage, dass ich das nicht schaffen kann.«
Damit ging er zur Tür und riss sie auf.
»Gräfin…?«,murmelte er und bedeutete ihr, zu gehen.
Sie wartete, bis er sie anblickte. Das geschah nicht.
Da ging sie dicht an ihm vorbei hinaus und sagte leise: »Bitte nimm das nicht als Vorwand, mich wieder zurückzuweisen.«
Auf seine Antwort wartete sie nicht.
 
Sobald Eddie hinter dem Haus vorgefahren war, bestiegen die drei den Explorer. Callie nannte ihnen ihre Adresse in Chelsea. Grace bemerkte, dass die luxuriöse Wolkenkratzergegend in Einzelgebäude überging, dann in gewöhnliche Häuserblocks. Sie hielten vor einem Haus, das nicht ganz so vernachlässigt aussah wie die anderen. Callie öffnete die Wagentür.
»Danke«, sagte sie. »Ich schicke die Kleider wieder zurück.«
»Keine Sorge«, erwiderte Grace.
Doch die Frau schüttelte den Kopf. »Danke, aber das kann ich nicht annehmen.«
Dann winkte sie noch einmal zum Abschied und verschwand in dem heruntergekommenen Haus.
Grace wandte sich Smith zu. Der starrte missmutig aus dem Fenster.
»John?« Er zog die Brauen hoch, sah sie aber nicht an. »Könntest du mir einen Gefallen tun und sie überprüfen?«
»Das habe ich schon in die Wege geleitet.«
Sie starrte sein Profil an und erkannte erschrocken, dass sich zwischen ihnen etwas verändert hatte.Vielleicht unwiderruflich.
 
Zehn Minuten später betraten sie die Eingangshalle der Hall- Stiftung. Wegen des Feiertags waren nur wenige Angestellte anwesend, aber dafür besuchten zahlreiche Touristen das Museum. Sie meldeten sich kurz beim Wachdienst am Empfang und gingen zum Lift.
Überrascht entdeckte Grace, dass Kat an ihrem Schreibtisch saß.Vor ihr stand ein Mann. Er hatte die Hände in die Hüften gestemmt und wirkte herausfordernd und frech.
»Ich wusste nicht, dass Sie heute kommen«, sagte Grace mit neutraler Stimme zu Kat. Sie überflog den Mann kurz mit einem Blick. Er trug einen geschniegelten Anzug, hatte gepflegte Haare und eine fürchterliche Krawatte.
Sicher ein Anwalt, dachte sie und fragte sich, wie er durch die Sicherheitssperre gekommen war.
Kat sah sie mit einem verkniffenen Lächeln an. »Mr. Lamont rief an und meinte, ich müsse heute kommen. Vermutlich hat seine Assistentin wieder mal gekündigt. Dieser Herr … äh … will einfach nicht gehen.«
Der Mann strahlte Grace mit einem künstlichen Lächeln an und streckte ihr die Hand entgegen. »Fritz Canton. Sie wissen vermutlich, wer ich bin.«
»O ja, natürlich, Ranulfs Anwalt. Haben Sie denn einen Termin?«, fragte Grace, wohl wissend, dass dies nicht der Fall war.
»Nein, aber ich muss Sie kurz sprechen.« Der Mann warf Smith einen Blick zu. »Alleine bitte. Es wird nicht lange dauern.«
Als John zustimmte, solange die Tür einen Spalt offen blieb, sagte Grace: »Ja, gut.«
Grace ging ihm voran in ihr Büro und setzte sich an den Schreibtisch ihres Vaters.
Canton blickte sich lächelnd um. »Sehr schöne Kunstwerke.«
»Danke.« Grace beugte sich vor. »Ich will Sie nicht drängen, aber könnten Sie mir bitte den Grund Ihres Hierseins verraten?«
Canton nahm ihr gegenüber Platz, legte die Fingerspitzen gegeneinander und stützte das Kinn darauf. »Mein Klient ist nicht einverstanden mit der Abfindung, die Sie ihm vorschlagen.«
Grace runzelte die Stirn. »Wenn man bedenkt, wie viel von meinem Geld er bereits durchgebracht hat, halte ich jeden weiteren Cent für unangemessen. Außerdem sehe ich nicht ein, warum ich ihm die für ihn vorteilhafte Scheidung auch noch honorieren soll.«
»Er möchte nur seinen gerechten Anteil.«
»Dann soll er genau das haben, was er zu Beginn unserer Ehe besaß. Ich gebe ihm sogar den Ring zurück.«
Cantons Augen blitzten auf. Grace erkannte, dass er den Saphir und den Brillanten abschätzte. »Sie und ich wissen beide, dass es so einfach nicht ist.«
»Mr. Canton, wenn Sie hergekommen sind, um mit mir zu verhandeln, sollten Sie besser meinen Anwalt anrufen.« Sie erhob sich. »Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen …«
Der Anwalt lächelte. »Ich denke, Sie wollen mich zu Ende anhören.«
»Warum?«
»Ich hörte, dass Sie gestern mit einem Mann fotografiert wurden.Vor Ihrem Wohngebäude. Mein Klient hat einen Abzug dieses Fotos erhalten.« Canton stand ebenfalls auf. »Es wäre ziemlich schädlich für Sie, wenn es an die Presse gelangte, ohne dass Ihre Mutter eine Chance hätte, es zu unterbinden. Ehebruch wirkt niemals gut, besonders nicht bei einer Frau. Ich kann mir gut denken, wie sehr Ihnen daran liegt, gerade jetzt als anständige Frau betrachtet zu werden. Sie haben nach dem Tod Ihres Vaters die Leitung dieses ehrwürdigen Unternehmens übernommen. Ein Skandal würde Ihrem Ruf schaden. Sehr sogar.«
Damit schlenderte er zum Fenster. »Wollen Sie mich erpressen?«,fragte sie.
»Nein, ganz und gar nicht.« Er wandte sich um. »Und mein Klient natürlich auch nicht.«
Als Grace stumm blieb, zog er die Brauen hoch.
»Na, was sagen Sie, Gräfin? Wenn wir uns jetzt auf eine Summe einigen, haben wir diese schmutzige Sache aus der Welt geschafft. Sie können beide eine Presseerklärung abgeben, dass die Scheidung einvernehmlich und in aller Freundschaft vollzogen wird. Niemand wird dieses Foto zu sehen bekommen, das beweist, dass Sie Ihren Mann betrogen haben. Ranulf und ich finden, dass eine achtstellige Summe ausreichen wird.«
Grace’ erster Gedanke war, dass Canton und sein Klient sie mal kräftig …
Stattdessen lächelte sie gelassen. »Danke, dass Sie vorbeigeschaut haben.«
»Sie haben nichts weiter zu sagen?«
»Sie haben Ihre Position deutlich gemacht, und ich verhandle nicht, ohne mich mit meinem Anwalt beraten zu haben.«
Damit ging Grace zur Tür und wartete darauf, dass der Mann verschwand.
Beim Hinausgehen meinte er: »Nehmen Sie das bitte ernst.«
»Danke für den Ratschlag«, erwiderte sie.