20 

Smith verließ die Dusche. Schade, dass
Grace und ich keine Zeit mehr hatten, dachte er, denn obwohl
sie sich in der vergangenen Nacht dreimal geliebt hatten, wollte er
mehr. Er konnte nun nicht nachvollziehen, dass er es einmal für
möglich gehalten hatte, eine einzige Nacht mit ihr würde
ausreichen. Er wollte jetzt Monate mit ihr, vielleicht sogar
Jahre.
Es war tragisch, dass sie einfach nicht genug Zeit
hatten.
Neben ihr aufzuwachen war eine weitere Offenbarung
gewesen. Jahrelang hatte er die Frauen verlassen, sobald er nur
konnte. Doch heute Morgen hatte er sich zu Grace umgedreht und
keinerlei Drang verspürt, irgendwo sonst auf der Welt zu sein. Er
hatte sie im Schlaf beobachtet, vertieft in den Anblick ihrer
dichten Wimpern auf ihren Wangen, den leicht geöffneten Mund, die
Art, wie sich ihr Haar auf dem Kissen ausgebreitet hatte.
Smith trocknete sich ab, zog sich an und ging zu
ihrem Ankleideraum, wo er sie immer noch vermutete. Als er sie
nicht fand, betrachtete er ihr Bett und dachte daran, was sie in
der vergangenen Nacht alles miteinander getrieben hatten. Sie war
immer selbstbewusster und zutraulicher geworden und bald kühn,
anspruchsvoll-ja erfinderisch gewesen. Sein Körper reagierte schon
wieder.
Morgen früh würden sie zusammen unter die Dusche
gehen.
Smith ging in Richtung Küche, um sie dort zu
suchen. Da fiel sein Blick auf ihre Ringe auf dem Schreibsekretär.
Er hob den Verlobungsring auf. Es war ein schweres Stück, mit einem
fabelhaften blauen Edelstein. Die Brillanten, die ihn umgaben,
funkelten wie weißes Feuer.
Was für einen Ring würde er ihr geben? Neben der
Qualität und Schwere dieses Stücks würde er farblos wirken. Es sei
denn, er wäre ganz schlicht, ein einfacher Reifen …
Smith schüttelte den Kopf. Er würde für niemanden
Ringe kaufen.
Und sicherlich niemals für sie.
Er war ein jugendlicher Straftäter gewesen, der im
Gefängnis gesessen hatte, ein Ex-Militär, ein ehemaliger Agent.
Sicherlich nicht der Typ, der als zweiter Ehemann von Grace
Woodward Hall, der vormaligen Gräfin von Sharone, in Frage
kam.
Punkt. Ende.
Er ließ den Saphir aus den Fingern gleiten und sah
zu, wie er aufschlug, sich mehrfach drehte und dann liegen
blieb.
Überrascht merkte er, dass er ans Heiraten gedacht
hatte, auch wenn das bloß rein hypothetisch war. Ehefrauen wurden
in seiner Branche noch stärker abgelehnt als Freundinnen, denn eine
Familie stellte die äußerste Bedrohung für eiskalte Gedanken dar.
Je mehr man an andere gebunden war, je mehr Stabilität man
brauchte, desto größer die Chance, Schwächen zu zeigen.
Er hatte es immer für einen Fehler gehalten, wenn
Leute annahmen, sobald sie ein Zuhause, eine Frau und Kinder
hatten, würde die Welt irgendwie sicherer sein.Viele Männer
glaubten fest, solange sie jeden Morgen ihre Tasse Kaffee
in der Gegenwart desselben Menschen tranken, wären sie irgendwie
in Sicherheit. Smith wusste, dass dies nicht zutraf. Wie alle
anderen Menschen wurde jeder Ehemann vom Schicksal herausgefordert.
Sie wussten nur einfach nicht, dass sie schon am Verhandlungstisch
saßen.
Er wusste, dass er im Alleingang sicherer war, denn
solange er solo operierte, brauchte er nur für sein eigenes Leben
Sorgen zu tragen. Und der Tod war die einzige Naturkraft, vor der
er keine Angst hatte.Wenn man tot war, spielte nichts mehr eine
Rolle.
Er war immer auf seine klare Einstellung zu den
Fallstricken des Familienlebens stolz gewesen, aber jetzt war er
nicht mehr so sicher. Seitdem er Grace kannte, hatten sich seine
Gedanken darüber verändert. Zum ersten Mal konnte er begreifen,
dass Angehörige zu haben reizvoll sein konnte. Um ganz ehrlich zu
sein, hörte er es sehr gerne, wenn sie nachts durch die Wohnung
ging. Er sah sie gerne morgens im Bademantel mit völlig zerzausten
Haaren. Er liebte es, wenn sie auf dem Rücken schlief und dabei
leise schnarchte. Er mochte ihre Wärme neben sich im Bett.
Smiths Instinkt regte sich.
Er lauschte. Die Wohnung war völlig still. Eine
Sekunde später rannte er über den Gang, sah ins Wohnzimmer, ins
Esszimmer, stürzte dann in die Küche. Als er wieder in der Diele
stand, begann etwas in seinem Kopf zu schreien.
Grace starrte die Frau an und zwinkerte die
Regentropfen fort, die ihr in die Augen fielen. Sie fühlte die
harten Pflastersteine unter ihrem Gesäß, die Kälte, das feuchte
Sweatshirt, einen stechenden Schmerz im Bein.
Das ist also alles echt, dachte sie.
»Ich habe keine Schwester«, flüsterte sie, obwohl
ihr der
Anblick das Gegenteil bestätigte. Die Ähnlichkeit mit ihrem Vater
war subtil, aber unverkennbar. Grace fühlte sich verraten.
»Woher weißt du das mit dem Seestern?«, fragte sie
scharf.
Die Antwort erfolgte zögernd und leise, als wüsste
die Frau nicht genau, wie Grace darauf reagierte.
»Als ich noch klein war, habe ich einmal ein Foto
von dir und ihm in der Zeitung gesehen und gefragt, wer du bist. Er
sagte, du wärest seine andere Tochter, und ich wollte deinen Namen
wissen. Er sagte, dein Name sei Seesternchen. Ich habe dich immer
so gekannt, auch als ich deinen richtigen Namen erfuhr.«
Grace spürte Eifersucht wie einen Stich, weil diese
andere Person, diese Fremde, den Kosenamen kannte, den nur ihr
Vater benutzte.
Wie kann er es wagen, nicht hier zu sein, wo alles
herauskommt?, dachte sie unvernünftigerweise.
Grace mühte sich auf die Beine. Die andere Frau bot
ihr hilfreich eine Hand an, doch Grace schlug sie aus.
Die Frau wich zurück. »Ich hätte dir zuerst
schreiben sollen, aber ich dachte, du würdest mich für eine Irre
halten. Vermutlich tust du das ohnehin. Ich musste dich aber
einfach kennen lernen. Fotos von dir habe ich schon seit Jahren
gesehen, aber das war irgendwie nicht echt. Du bist so schön und
strahlend, und ich habe oft gedacht …« Sie lächelte traurig. »Ich
wollte das andere Leben von ihm kennen lernen. Das bedeutendere
Leben… von meinem Vater.«
Grace starrte die Frau an. Der Regen hatte ihr
rotes Haar dunkler gestreift. Nass und glatt lag es an ihrem Kopf.
Hinter ihren blauen Augen schienen alte Schatten zu lauern.
»Wie heißt du noch?«, fragte Grace.
»Callie. Eigentlich Calla Lily.«
Grace durchfuhr ein Schauder. Der Name. Der Name,
den sie einmal von ihrem Vater gehört hatte, als er schlief und
träumte.
Sie schüttelte den Kopf, weil die Realität immer
wieder kippte, während sie die Fakten zu verdauen suchte.
Grace sah die Frau wieder an. »Du siehst ihm
ähnlich.«
»Ich weiß. Es ist die Haarfarbe, glaube ich.«
»Deine Augen auch.« Grace merkte, dass ihre Stimme
wütend klang.
Sie wollte die Frau zum Teufel jagen, sie der Lüge
bezichtigen. Zumindest wünschte sie sich, nie joggen gegangen zu
sein, dann hätte sie die Frau niemals getroffen.
»Ich weiß, dass es ein Schock sein muss.«
Na, das war eine Untertreibung.
Grace durchsuchte im Geiste alle Erinnerungen an
ihre Kindheit nach Anzeichen für das Doppelleben ihres Vaters. Er
war häufig fort gewesen. Er war ein sehr erfolgreicher Mann, daher
schien er ständig unterwegs zu einer Konferenz oder anderem. Waren
diese Reisen der Vorwand gewesen, um ein anderes Leben führen zu
können? Sie überlegte, wie viel sie bei der Stiftung zu tun
hatte.Vor seinem Tod hatte er alles erledigt, was sie nun tat, und
dazu noch die Investititonen der Familie verwaltet.Wo hatte er nur
die Energie dazu gefunden?
Nun, offensichtlich irgendwo anders. Irgendwie
hatte er die Zeit gefunden, ein zweites Leben zu führen. Und ein
weiteres Leben zu zeugen.
Callie strich sich eine nasse Haarsträhne aus dem
Gesicht. »Wo ich jetzt hier neben dir stehe, weiß ich nicht, was
ich eigentlich damit bezwecken wollte.«
Grace sah die Frau eindringlich an.
Die Tochter ihres Vaters.
»Du warst es«, sagte sie unvermittelt und starrte
auf die Regenjacke. »Du hast mich beobachtet, wenn ich zur Arbeit
ging. Hast vor den Restaurants auf mich gewartet. Du bist mir auch
zur Beerdigung gefolgt, nicht wahr?«
»Ja.« Callie wandte den Blick ab. »Es war für mich
sehr schwer, dich anzusprechen. Ich dachte, irgendwann gehe ich
einfach auf dich zu, aber du warst nie allein. Und ich … ich wollte
einfach sehen, wie er begraben wurde, denn ein Teil in mir wollte
nicht glauben, dass er gestorben war. In den Zeitungen stand nicht,
um welche Uhrzeit die Bestattung stattfinden würde, nur das Datum.
Ich bin dir gefolgt, weil ich nicht wusste, wie ich mich sonst von
ihm verabschieden konnte.«
Grace drehte sich bei diesen Worten der Magen um.
Sie schüttelte wieder den Kopf.
»Ich muss gehen«, murmelte sie.
Ohne Ziel ging sie los. Der Regen rann ihr über die
Wangen.Vielleicht waren es auch Tränen.
Calla Lily.
Sie hörte die Stimme ihres Vaters.
Sie war bloß wenige Meter gegangen, als sie stehen
blieb und sich umsah.
Die Frau starrte ihr nach. Sie wirkte in der
Regenjacke sehr schmal.
Es war kein teurer Mantel, dachte Grace, bloß eine
billige Plastikjacke. Ihre Schuhe waren alt. Sie sah nicht wie
jemand aus, der viel Geld hatte.
Hatte sie sie aufgespürt, um das Testament
anzufechten? Wollte sie einfach nur Geld von ihr?
Grace dachte an Smith. Er konnte leicht
herausfinden,
wer diese Frau war, und Erkundigungen einholen, ob ihr Motiv
vielleicht Geldgier war.
»Es ist kühl«, sagte Grace.»Wohnst du in der
Nähe?«
»Nein. Ich lebe in Chelsea.«
Freunde in der Nähe, Feinde noch näher, dachte
Grace. Was für eine Redensart.
»Komm mit mir in meine Wohnung, damit du wieder
trocken wirst.«
Die blauen Augen betrachteten sie misstrauisch.
»Bist du sicher?«
Nein, Grace war nicht sicher.
Doch sie nickte, und Callie näherte sich
vorsichtig.
»Du blutest ja!«, sagte sie erschrocken.
Grace senkte den Blick. Sie sah den Kratzer am Bein
durch den Riss in der Jogginghose hindurch. Das Blut war schon auf
die Trainers getropft.
Eigentlich müsste es wehtun, dachte sie. Komisch,
denn sie spürte nichts.
»Bist du sicher, dass du gehen kannst?«, fragte
Callie. »Ich kann ein Taxi rufen.«
»Ist schon gut.«
Ja, wenn dieser Horrorfilm meines Lebens aufhört
und nicht ständig neue Typen dazukommen, dann ist alles
gut.
Zusammen gingen sie zur Straße. Da Grace humpelte,
kamen sie trotz des Regens nur sehr langsam voran.
»Du hast das wirklich nicht gewusst?«, fragte
Callie leise. »Ich habe mich immer gefragt, ob du vielleicht eine
Ahnung hattest. Es ist sicher schwierig für dich … es ist
inzwischen siebenundzwanzig Jahre her, und ich finde das Ganze
immer noch schwierig.«
Als Grace hörte, wie alt Callie war, löste es eine
neue Welle der Wut in ihr aus. Siebenundwanzig Jahre. Über ein
Vierteljahrhundert lang hatte ihr Vater ein Doppelleben geführt.
Er hatte alle gezwungen, seine Lüge zu leben.
Grace erinnerte sich mit Bitterkeit an seine
Predigt, wie wichtig es sei, bei Ranulf zu bleiben. Er hatte sogar
die Bedeutung des Ehegelöbnisses herausgestellt. Diese Bemerkung
fand sie rückblickend betrachtet schwerer zu ertragen als seine
Vorhaltungen hinsichtlich der Familie Sharone und wie wichtig sie
sei. Jetzt, wo Callie sie aufgespürt hatte, klangen seine Worte nur
noch heuchlerisch. Grace wollte am liebsten die letzten drei
Monate, die sie daraufhin mit Ranulf verbracht hatte, wieder
zurückfordern.
Und dazu all die Jahre, in denen sie geglaubt
hatte, ihr Vater wäre ein ehrenwerter Mann.
Als sie vor Grace’ Wohnhaus unter die Markise
traten, blieb Callie stehen und schüttelte den Regen von der Jacke
und aus den Haaren. Sie folgte Grace, wirkte dabei aber sehr
verlegen. Sie warf einen Blick auf den Portier, der ihnen die Tür
öffnete, die luxuriöse Eingangshalle, den Lift aus Glas und
Messing.
»Was für ein schönes Gebäude«, murmelte sie
unterwegs zum obersten Stockwerk.
Als sie den Lift verließen, blieb Grace
stirnrunzelnd stehen. Ihre Wohnungstür stand sperrangelweit offen.
Davor stand ein unbekannter, ganz in Schwarz gekleideter blonder
Mann mit den Ausmaßen eines Busses. Bei ihrem Anblick lächelte er
sie freudlos an.
»Die Gräfin scheint zurückgekehrt zu sein«, sagte
er nur trocken.
Smith stürzte in den Türrahmen. Grace trat
unfreiwillig einen Schritt zurück. Er wirkte rasend vor Wut.
»Wo zum Teufel bist du gewesen?«, brüllte er. Grace
wäre am liebsten wieder im Aufzug verschwunden.
Doch sie räusperte sich und sagte sehr leise. »Ich
war joggen. Tut mir leid, dass ich dir nicht Bescheid gesagt habe
…«
»Was hast du dir dabei bloß gedacht?« Er deutete
anklagend mit dem Zeigefinger auf sie. »Du gehst nirgendwohin ohne
mich. Das war unsere Abmachung. Kannst du mir vielleicht verraten,
was du dir dabei gedacht hast?«
Grace warf einen Blick zu Callie, die aussah, als
würde sie am liebsten im Erdboden versinken. Grace konnte das
verstehen.
»Du solltest dich beruhigen«, flüsterte sie Smith
zu. »Alles in Ordnung.«
»Jaja, alles in Ordnung. Dann werde ich der Polizei
Bescheid geben und meinen Männern sagen, sie können alle nach Hause
gehen, denn die Gräfin meinte, alles sei in Ordnung. Kein Problem,
Gräfin.« Damit stampfte er zurück in die Wohnung, zog sein Handy
heraus und begann mit kurzen, wütenden Worten alles zu
erklären.
»Vielleicht ist es heute nicht so gut«, meinte
Callie leise.
»Nein, nein, der beruhigt sich schon wieder.«
Hoffentlich, fügte sie stumm hinzu.
Grace betrat die Wohnung und sah drei weitere
Männer in ihrem Wohnzimmer- alle groß und breitschultrig und ganz
in Schwarz gekleidet. Sie wirkten wie ein Militärtrupp, obwohl sie
keine Uniform trugen. Als sich sämtliche Blicke auf sie richteten,
fühlte sie sich wie ein Teenager, der zu spät nach Hause kam.
Oder wie eine Aufständische, die vernichtet werden
muss.
»Hallo«, sagte sie an alle gleichzeitig
gewandt.
Der Mann, der vor der Tür gestanden hatte, der
gutaussehende
Blonde, neigte knapp den Kopf. Die anderen zeigten keinerlei
Reaktion.
Smith klappte sein Handy zu und sagte zu ihnen:
»Marks und seine Jungs gehen zurück zur Wache. Danke, dass ihr
gekommen seid.«
»Bin froh, dass sie wieder aufgetaucht ist«, meinte
der Blonde. Er grinste Smith ironisch an. »Sonst hätten wir dich an
einen Stuhl fesseln müssen, damit du dir nichts antust.«
»Pass auf,Tiny!«
Tiny legte brüderlich einen muskulösen Arm um
Smiths Schultern, kniff ihn dann in den Nacken und schüttelte ihn
freundschaftlich. Dann fragte er sehr leise: »Alles okay?«
Smith antwortete noch leiser. Dann sahen die beiden
Männer einander einen Moment lang an.
»Okay, wir gehen jetzt, meine Damen«, sagte Tiny zu
den Männern. Als sie an ihr vorbeigingen, blieb er kurz vor Grace
stehen und sagte: »Tun Sie uns den Gefallen und bleiben zu Hause,
ja?«
»Wiedersehen,Tiny«, meinte Smith drohend.
Der Mann verdrehte die Augen und lächelte ihn über
die Schulter hinweg an.
»Wirst du mich anspringen, wenn ich noch ein Wort
mit ihr wechsle?«
Grace sah Smith an. Er hatte die Hände in die
Hüften gestemmt und starrte zu Boden. Sein Kinn war
verspannt.
Callie flüsterte: »Ich glaube, ich gehe jetzt
besser.«
Smiths Kopf fuhr ruckartig hoch. »Wer sind Sie
denn?«
»Das ist Callie«, sprang Grace ein. »Meine …äh …
meine Halbschwester.«
Smith sah die Frau aus schmalen Augen an. »Ich
wusste nicht, dass du eine hast.«
»Sie auch nicht«, antwortete Callie.
»Na, herzlich willkommen in dieser feinen Familie.
Mit dir rede ich später«, sagte Smith zu Grace, ehe er im Korridor
verschwand.
»Würdest du mich bitte entschuldigen?«, sagte Grace
und ging ihm rasch nach.
Sie war ihm dicht auf den Fersen. Er blieb vor
ihrem Zimmer stehen. »Bleib mir besser von der Pelle, bis ich mich
wieder beruhigt habe.«
Und knallte ihr die Tür vor der Nase zu.
Grace atmete tief aus.
Als sie ins Wohnzimmer zurückkehrte, bereute sie,
Callie mitgebracht zu haben, denn sie hätte wissen müssen, wie
wütend Smith auf sie sein würde.
Heute beging sie einen Patzer nach dem
anderen.
»Möchtest du nicht die Jacke ausziehen?«, fragte
sie Callie.
Callie sah sie ernst an und zog den Regenmantel
aus. Sie legte ihn über den Arm und presste ihn trotz der Nässe
fest an sich.
»Gib mir die Jacke«, sagte Grace und bemerkte, dass
Callies feuchte Kleider sauber waren, aber altmodisch, und dass sie
keinerlei Schmuck trug.
Als sie sich wieder umdrehte, stand Callie gebeugt
vor dem Foto von Grace mit ihrem Vater. Sie nahm den Rahmen in die
Hand. Grace schnürte es fast die Kehle zu.
Verdammter Kerl, dachte sie.
»Äh … ich gehe jetzt unter die Dusche«, sagte sie
mit gepresster Stimme. »Soll ich dir ein paar trockene Kleider
heraussuchen?«
Callie setzte den Bilderrahmen wieder ab und
blickte an sich herab. »Das wäre nett.«
Eine Weile später saß Grace im Bademantel auf der
Bettkante
und wartete darauf, dass Callie aus dem Ankleideraum kam. Staunend
sah sie die Verwandlung, als Callie wieder erschien. Ihre langen
roten Haare lagen in weichen Locken um die Schultern. Sie trug
einen Hosenanzug mit einer taillierten Jacke von Grace und sah
darin ausgesprochen elegant aus und nicht mehr wie ein nasses
Kätzchen.
Wir haben die gleiche Kleidergröße, dachte
Grace.
»Was für eine wunderbare Qualität!« Callie strich
über den Stoff.
»Das Rot steht dir fantastisch.« Grace legte den
Kopf schräg. »Was machst du?«
»Ich bin Kunsthistorikerin, aber momentan arbeite
ich beim Empfang einer Galerie. Ich bin auf der Suche nach einem
neuen Job, aber in den letzten Jahren war… alles ein bisschen
schwierig.«
Daraufhin folgte ein verlegenes Schweigen.
»Wie kann ich dich erreichen?«, fragte Grace, ging
zu dem Nachttisch und suchte nach dem kleinen Notizblock. Als
Callies Augen daraufhin regelrecht glücklich aufleuchteten, spürte
Grace Schuldgefühle. Die Frau schien eine Freundin zu suchen, aber
Grace glaubte nicht, dass sie jemals eine freundschaftliche
Beziehung zueinander haben würden.
Callie schrieb ihr eine Nummer auf. Grace fiel auf,
dass sie dazu die linke Hand benutzte. Genau wie Grace. Genau wie
ihr Vater.
»Du brauchst eigentlich nicht anzurufen«, sagte
Callie, als sie ihr den Zettel zurückreichte. »Ich wollte dich bloß
kennen lernen. Dich einmal aus der Nähe sehen. Sicher sein, dass es
dich gibt.«
Grace blickte auf die Nummer.
»Kann ich dich nach Hause bringen lassen?«, fragte
sie.
Sie war neugierig, wo in Chelsea Callie wohnte. »Wir fahren gleich
in die Stadt.«
Callie blickte in den Regen vor dem Fenster. »Das
wäre großartig.Vielen Dank.«
Callie ging ins Wohnzimmer, um dort zu warten,
während Grace vorsichtig vor Smiths Tür trat und leise klopfte. Sie
öffnete sie, als sie seine knappe Antwort hörte.
Smith machte seine Klimmzüge an der Stange im
Türrahmen zu seinem Bad. Er zog sich rasch hintereinander mehrfach
daran hoch, so dass die Armmuskeln hart und dick geädert
hervortraten. Grace fragte sich, wie lange er dort schon
trainierte.
»Es tut mir wirklich leid, einfach weggelaufen zu
sein«, sagte sie vorsichtig und schloss die Tür hinter sich. »Ich
brauchte nur einfach frische Luft. Das war gedankenlos von
mir.«
Smith ließ sich von der Stange fallen. »Das war
ausgesprochen idiotisch.«
»Ich weiß. Ich werde es auch nicht wieder
tun.«
»Davon gehe ich aus. Ich werde dir gar nicht erst
ausmalen, was alles hätte passieren können.« Er griff nach einem
Handtuch und trocknete sich den Schweiß vom Gesicht. »Gehen wir
heute ins Büro?«
Er vermied es, sie anzusehen, und Grace wünschte
sich, sie könnte alles ungeschehen machen und zu dem Augenblick
zurückkehren, in dem sie die Trainers angezogen hatte.
»Tut mir leid, dich verärgert zu haben.«
»Ich bin nicht verärgert.« John trat zu seinem
Schreibtisch und überprüfte seine Waffe. Grace hörte ein Klicken,
als die Metallteile ineinanderglitten.
»Doch, das bist du.«
Er blickte sie mit vor Wut zusammengekniffenen
Augen an. »Zieh dich endlich an, Grace.«
Doch statt sich vor ihm zu ducken, sah sie hinter
den groben Worten die Angst um sie.
»Ich bin wieder da. Ich bin in Ordnung.« Als er
keine Antwort gab, sagte sie: »John, alles ist wieder gut.«
Da legte er die Waffe zurück auf den Schreibtisch
und schnallte sich die schwarze Armbanduhr um. »Hast du vielleicht
geglaubt, die Polizei hätte den Irren geschnappt, der deine
Freundinnen abgeschlachtet hat? Denn das ist nicht der Fall. Nach
dieser Eskapade wärst du vielleicht nie wieder nach Hause
gekommen.«
»Bin ich aber.«
Smith fluchte. »Du solltest clever genug sein, dich
nicht nur auf dein Glück zu verlassen.«
Grace versuchte, sich ihm zu nähern, doch er wich
zurück. »Du hast mich engagiert, damit du lebend aus dieser Sache
herauskommst. Bring mich nie wieder in die Lage, dass ich das nicht
schaffen kann.«
Damit ging er zur Tür und riss sie auf.
»Gräfin…?«,murmelte er und bedeutete ihr, zu
gehen.
Sie wartete, bis er sie anblickte. Das geschah
nicht.
Da ging sie dicht an ihm vorbei hinaus und sagte
leise: »Bitte nimm das nicht als Vorwand, mich wieder
zurückzuweisen.«
Auf seine Antwort wartete sie nicht.
Sobald Eddie hinter dem Haus vorgefahren war,
bestiegen die drei den Explorer. Callie nannte ihnen ihre Adresse
in Chelsea. Grace bemerkte, dass die luxuriöse Wolkenkratzergegend
in Einzelgebäude überging, dann in gewöhnliche Häuserblocks. Sie
hielten vor einem Haus, das nicht
ganz so vernachlässigt aussah wie die anderen. Callie öffnete die
Wagentür.
»Danke«, sagte sie. »Ich schicke die Kleider wieder
zurück.«
»Keine Sorge«, erwiderte Grace.
Doch die Frau schüttelte den Kopf. »Danke, aber das
kann ich nicht annehmen.«
Dann winkte sie noch einmal zum Abschied und
verschwand in dem heruntergekommenen Haus.
Grace wandte sich Smith zu. Der starrte missmutig
aus dem Fenster.
»John?« Er zog die Brauen hoch, sah sie aber nicht
an. »Könntest du mir einen Gefallen tun und sie überprüfen?«
»Das habe ich schon in die Wege geleitet.«
Sie starrte sein Profil an und erkannte
erschrocken, dass sich zwischen ihnen etwas verändert
hatte.Vielleicht unwiderruflich.
Zehn Minuten später betraten sie die Eingangshalle
der Hall- Stiftung. Wegen des Feiertags waren nur wenige
Angestellte anwesend, aber dafür besuchten zahlreiche Touristen das
Museum. Sie meldeten sich kurz beim Wachdienst am Empfang und
gingen zum Lift.
Überrascht entdeckte Grace, dass Kat an ihrem
Schreibtisch saß.Vor ihr stand ein Mann. Er hatte die Hände in die
Hüften gestemmt und wirkte herausfordernd und frech.
»Ich wusste nicht, dass Sie heute kommen«, sagte
Grace mit neutraler Stimme zu Kat. Sie überflog den Mann kurz mit
einem Blick. Er trug einen geschniegelten Anzug, hatte gepflegte
Haare und eine fürchterliche Krawatte.
Sicher ein Anwalt, dachte sie und fragte sich, wie
er durch die Sicherheitssperre gekommen war.
Kat sah sie mit einem verkniffenen Lächeln an. »Mr.
Lamont rief an und meinte, ich müsse heute kommen. Vermutlich hat
seine Assistentin wieder mal gekündigt. Dieser Herr … äh … will
einfach nicht gehen.«
Der Mann strahlte Grace mit einem künstlichen
Lächeln an und streckte ihr die Hand entgegen. »Fritz Canton. Sie
wissen vermutlich, wer ich bin.«
»O ja, natürlich, Ranulfs Anwalt. Haben Sie denn
einen Termin?«, fragte Grace, wohl wissend, dass dies nicht der
Fall war.
»Nein, aber ich muss Sie kurz sprechen.« Der Mann
warf Smith einen Blick zu. »Alleine bitte. Es wird nicht lange
dauern.«
Als John zustimmte, solange die Tür einen Spalt
offen blieb, sagte Grace: »Ja, gut.«
Grace ging ihm voran in ihr Büro und setzte sich an
den Schreibtisch ihres Vaters.
Canton blickte sich lächelnd um. »Sehr schöne
Kunstwerke.«
»Danke.« Grace beugte sich vor. »Ich will Sie nicht
drängen, aber könnten Sie mir bitte den Grund Ihres Hierseins
verraten?«
Canton nahm ihr gegenüber Platz, legte die
Fingerspitzen gegeneinander und stützte das Kinn darauf. »Mein
Klient ist nicht einverstanden mit der Abfindung, die Sie ihm
vorschlagen.«
Grace runzelte die Stirn. »Wenn man bedenkt, wie
viel von meinem Geld er bereits durchgebracht hat, halte ich jeden
weiteren Cent für unangemessen. Außerdem sehe ich nicht ein, warum
ich ihm die für ihn vorteilhafte Scheidung auch noch honorieren
soll.«
»Er möchte nur seinen gerechten Anteil.«
»Dann soll er genau das haben, was er zu Beginn
unserer Ehe besaß. Ich gebe ihm sogar den Ring zurück.«
Cantons Augen blitzten auf. Grace erkannte, dass er
den Saphir und den Brillanten abschätzte. »Sie und ich wissen
beide, dass es so einfach nicht ist.«
»Mr. Canton, wenn Sie hergekommen sind, um mit mir
zu verhandeln, sollten Sie besser meinen Anwalt anrufen.« Sie erhob
sich. »Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen …«
Der Anwalt lächelte. »Ich denke, Sie wollen mich zu
Ende anhören.«
»Warum?«
»Ich hörte, dass Sie gestern mit einem Mann
fotografiert wurden.Vor Ihrem Wohngebäude. Mein Klient hat einen
Abzug dieses Fotos erhalten.« Canton stand ebenfalls auf. »Es wäre
ziemlich schädlich für Sie, wenn es an die Presse gelangte, ohne
dass Ihre Mutter eine Chance hätte, es zu unterbinden. Ehebruch
wirkt niemals gut, besonders nicht bei einer Frau. Ich kann mir gut
denken, wie sehr Ihnen daran liegt, gerade jetzt als anständige
Frau betrachtet zu werden. Sie haben nach dem Tod Ihres Vaters die
Leitung dieses ehrwürdigen Unternehmens übernommen. Ein Skandal
würde Ihrem Ruf schaden. Sehr sogar.«
Damit schlenderte er zum Fenster. »Wollen Sie mich
erpressen?«,fragte sie.
»Nein, ganz und gar nicht.« Er wandte sich um. »Und
mein Klient natürlich auch nicht.«
Als Grace stumm blieb, zog er die Brauen
hoch.
»Na, was sagen Sie, Gräfin? Wenn wir uns jetzt auf
eine Summe einigen, haben wir diese schmutzige Sache aus der Welt
geschafft. Sie können beide eine Presseerklärung abgeben, dass die
Scheidung einvernehmlich und in aller
Freundschaft vollzogen wird. Niemand wird dieses Foto zu sehen
bekommen, das beweist, dass Sie Ihren Mann betrogen haben. Ranulf
und ich finden, dass eine achtstellige Summe ausreichen
wird.«
Grace’ erster Gedanke war, dass Canton und sein
Klient sie mal kräftig …
Stattdessen lächelte sie gelassen. »Danke, dass Sie
vorbeigeschaut haben.«
»Sie haben nichts weiter zu sagen?«
»Sie haben Ihre Position deutlich gemacht, und ich
verhandle nicht, ohne mich mit meinem Anwalt beraten zu
haben.«
Damit ging Grace zur Tür und wartete darauf, dass
der Mann verschwand.
Beim Hinausgehen meinte er: »Nehmen Sie das bitte
ernst.«
»Danke für den Ratschlag«, erwiderte sie.