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Cuppie Alston war tot:
Den ganzen Tag lang, von dem Augenblick an, als
Alfred sie angerufen und ihr die schreckliche Nachricht mitgeteilt
hatte, waren diese Worte in Grace’ Kopf herumgeschwirrt. Sie konnte
immer noch nicht glauben, was geschehen war, begriff nicht, dass
ihre Freundin am vergangenen Abend ermordet worden war, als sie
selbst auf dem Ball des Botschafters getanzt hatte.
Auf der gesamten langen Fahrt von New York in die
Adirondacks war dieses unwirkliche Geschehen ihr grausamer
Begleiter gewesen. Meile um Meile auf der Autobahn, den Landstraßen
und der gewundenen Passstraße hatte ihr Verstand sich bemüht, die
Tragödie zu verarbeiten. Unaufhörlich ging sie die glücklichen
Erinnerungen durch, die nun von Schmerz gezeichnet waren.
Wie konnte das nur wahr sein, dachte sie wieder,
als sie vor dem weitläufigen Herrenhaus am Ufer des Sagamore-Sees
stehen blieb. Dann schaltete sie den Motor des Mercedes ab und
starrte in die Dunkelheit.
Die Stille und die Ruhe waren ihr unangenehm. Ihre
Gedanken, nun nicht mehr abgelenkt, wirbelten so wild in ihrem Kopf
herum, dass sie sich einer Hysterie nahe fühlte. Nicht nur, weil
Cuppie tot war, sondern weil sie selbst nun in großer Gefahr
schwebte.
Grace umklammerte das Lenkrad. Rational war sie
überzeugt,
dass niemand ihr gefolgt war. Ein winziger Funken Angst behauptete
aber das Gegenteil. Sie blickte suchend in die Nacht hinaus. Die
Schatten der vom Wind geschüttelten Äste und Zweige wippten und
schwankten im Mondschein.
Bis gestern hätte sie niemals in die dunkleren
Ecken gespäht und sich gefragt, wer sich wohl dort verbergen
könnte.
Aber vor vierundzwanzig Stunden war ja auch noch
niemand, den sie gut kannte, brutal ermordet worden.
Sie presste die Stirn aufs Lenkrad.
Das Ganze war unvorstellbar, wie aus einem
schlechten Film. Man hatte Cuppie im Eingang des großzügigen
Penthouse an der Central Park West Avenue tot aufgefunden. Neben
der Leiche hatte ein Artikel über die sechs prominentesten Frauen
der Stadt gelegen. Cuppie war darin als Erste beschrieben und
interviewt worden, aber ihr Foto war herausgerissen.
Grace war in dem Artikel als Letzte vorgestellt
worden.
Aus dem Grund hatte sie den ganzen Nachmittag auf
der Polizeiwache verbracht. Niemand außer dem Mörder wusste, ob die
anderen fünf Frauen als Nächste an der Reihe waren, aber Grace
wusste, was die Polizei vermutete. Der Detective hatte sie bei der
Aussage mit Samthandschuhen angefasst, obwohl er mit seiner rauen
Raucherstimme und den müden Augen wie jemand wirkte, der sich nicht
leicht beeindrucken ließ. Sie merkte bald, dass er sie wie ein
Opfer behandelte.
Als sie sein kleines Büro betrat, hatte er sich
rasch bemüht, die Fotos von dem Verbrechen zu verdecken, aber nicht
schnell genug. Sie hatte einen kurzen Blick darauf werfen können,
woraufhin sie sich fast übergeben musste. Cuppies Hals war
aufgerissen, und da, wo ihr Kehlkopf gewesen war, klaffte eine
riesige Wunde.
Grace brauchte keine medizinischen Kenntnisse, um
die extreme Brutalität dieser Tat beurteilen zu können.
Irgendjemand hatte immer wieder mit einem Messer auf Cuppie
eingestochen. Nicht nur, um sie zu töten, sondern um sie zu
schänden.
Übelkeit kam in Grace hoch, daher riss sie die Tür
auf und lehnte sich mit dem angelegten Sicherheitsgurt hinaus. Da
der Schlüssel noch im Anlasser steckte, mahnte das Auto sie mit
einem fröhlichen Piepton. Grace zählte die elektronischen Töne mit,
um die Zeit zu messen. Ihr Blick fiel auf den Kies in der Einfahrt,
und sie überlegte, wie sie ihn säubern könnte, falls ihr Magen ihr
nicht mehr gehorchte.
Es wäre schön, etwas Netteres sagen zu können, wenn
ihre älteste Freundin die Tür öffnete, als: Ich habe gerade in
deine Einfahrt gekotzt. Das war nicht gerade die Art von
Begrüßung, die Grace vorschwebte, sondern eher: Herzlichen
Glücklichwunsch zu eurer Hochzeit, Carter. Oder: Wie fühlst
du dich als Mrs. Farrell?
Grace blickte zu dem Haus. Drinnen ging jemand an
einem Fenster vorbei, und sie dachte, wie leid es ihr tat, dass sie
Carters und Nicks Hochzeit verpasst hatte. Am Tag der Trauung war
ihr Vater beerdigt worden, und die Gleichzeitigkeit dieser beiden
Ereignisse, ein Anfang und ein Ende, hatte verhindert, dass sie
einander an diesem Tag Unterstützung hätten geben können. Grace
hatte allerdings jede Menge Anrufe erhalten.
Und jetzt gab es wieder einen Grund, sich an die
Freundin zu wenden. Gerade als Grace gedacht hatte, keine weitere
schreckliche Überraschung mehr ertragen zu können, denn der Verlust
des Vaters bedrückte sie noch unbeschreiblich, und das Scheitern
ihrer Ehe war ein peinlicher Klotz,
den sie hinter sich herschleppte. Da musste ihr das Leben einen
weiteren Stoß versetzen.
Es war ein furchtbares Jahr gewesen.
Der Warnton ging ihr nun auf die Nerven, daher zog
sie endlich den Schlüssel heraus. Sie brachte nur schwer die
Energie auf, zum Haus zu gehen, obwohl die Nachtkälte ihr langsam
in die Kleider drang. Sie wollte für die Freundin einfach nur
fröhlich sein, aber das zu spielen schien ihr nun unendlich
schwer.
Da durchfuhr sie wie ein Blitz die Erinnerung an
die Stimme ihres Vaters, streng und befehlend: Reiß dich
zusammen, Seesternchen. Komm, lächle!
Bei diesem Satz aus ihrer Kindheit sah sie ihn vor
ihrem inneren Auge, wie sie ihn damals gesehen hatte - liebevoll
und bestimmt. Wie auf seinen Befehl hin richtete sie sich nun auf
und löste den Sicherheitsgurt.
Auf dem Heimweg würde sie genügend Zeit haben, über
die Dinge nachzudenken, die sie nicht ändern konnte. Selbst das
größte Selbstmitleid würde ihren Vater nicht zurückbringen, und es
würde auch nicht ändern, was in dem Artikel gestanden hatte und
dass Cuppie am Montag beerdigt würde.
Grace klappte den Innenspiegel herab, um ihr
Make-up zu überprüfen. Die dunklen Ringe unter den Augen waren gut
abgedeckt, doch der Lippenstift wirkte blass. Sie wühlte in ihrer
Handtasche, fand ihn und legte frisch auf.
Danach hielt sie inne und strich sich mit den
Fingerspitzen über den Mund.
Sie spürte immer noch seinen Kuss. Die Begegnung
ihrer Lippen und Zungen hatte ihren gesamten Körper innerlich
aufgewühlt und war ihr noch genauso gegenwärtig wie in dem Moment,
als sie sich voneinander gelöst
hatten. Sie konnte einfach nicht vergessen, wie es war, so heftig
an den harten Körper eines Fremden gerissen zu werden, wie er sie
berührt und wie ihr Blut getost hatte. In dem dunklen Gang hatte
sie zum ersten Mal Leidenschaft gespürt.
Verstört klappte Grace den Spiegel wieder
hoch.
Es war schlimm, dass sie ihn nie wiedersehen würde.
Sie hatte nicht die geringste Ahnung, wer er war oder woher er
stammte, und sie wusste, wenn sie Fragen nach einem Mann wie ihm
stellte, würde sofort das Gerede anfangen. Sie war immer noch
verheiratet und gefährlich schön. Wilde Gerüchte waren das
Allerletzte, was sie brauchte.
Die entstanden ohnehin ständig von selbst.
Jetzt war es nötig, sich zusammenzureißen, sich in
das schöne Haus vor ihr zu schleppen und sich mit der Freundin zu
freuen.
Als Grace aus dem Wagen stieg, warf sie einen
raschen Blick über die Schulter. Dann schnappte sie rasch die
Vuitton-Taschen und eilte auf das Haus zu. Als sie die Veranda
betrat, kam Carter Wessex schon mit ausgebreiteten Armen auf sie
zu, um sie zu begrüßen.
»Woody! Du hast es geschafft!«
Grace ließ ihre Taschen fallen und umarmte die
Freundin.
»Hey! Wie geht es dir?«
»Gut, sehr gut. Ich freue mich so, dich zu sehen.«
Grace löste sich und lächelte die andere an.
»Ach, wie toll du aussiehst! Aber das tust du ja
immer.«
Grace blickte an ihrem Chanel-Kostüm hinab. Sie
konnte kaum abwarten, es sich vom Körper zu reißen, denn es
erinnerte sie an die Polizeiwache.
»Warum lassen wir nicht alles hier stehen und gehen
erstmal
in die Küche.« Carter schob sich das dicke, dunkle Haar über die
Schulter. »Hast du schon gegessen?«
Grace’ Magen wand sich protestierend. »Ich habe
keinen Hunger, aber ein Glas Wein wäre schön.«
Oder zwei.
»Na, davon haben wir reichlich«, erwiderte Carter
und ging voran durch das Haus. »Ich bin so froh, dass du für das
ganze Wochenende da sein wirst. Nick kommt heute Abend aus London
nach Albany zurück und müsste in einer Stunde hier sein. Er freut
sich darauf, dich ein bisschen besser kennen zu lernen.«
»Ich mich auch. Auf diesen Riesenpartys, wo man
sich begegnet, kommt man sich ja kaum näher.«
Carter lachte. »Und genau aus dem Grund habe ich
sie aufgegeben.«
Sie ließen sich an einem rustikalen Eichentisch in
der Küche nieder, einen Teller mit Obst und Käse zwischen sich.
Grace hob ihr Glas Chardonnay hoch. »Auf meine beste Freundin und
Gefährtin. Möge deine Ehe lange währen und dir nur Freude
bringen.«
Carter lächelte. Ihre strahlend blauen Augen
blitzten gerührt. »Ich bin so froh, dich zu sehen.«
»Ich auch.« Dann wandte Grace den Blick ab. »Erzähl
mir von deiner Hochzeit. Hast du toll ausgesehen?«
»Wie geht es dir?« Die Stimme der Freundin klang
belegt.
»Ich sagte doch, gut. Mrs. Farrell, ich will jetzt
alle Einzelheiten hören, allerdings reicht auch die Version von
Cliff Notes über die Hochzeitsnacht.«
»Du wirkst so erschöpft.«
»Du hast doch gerade gesagt, ich sähe fantastisch
aus.«
»Fantastisch und müde.« Carter sah sie zärtlich an.
»Ich
habe mir Sorgen um dich gemacht. Ich weiß, wie nahe du deinem
Vater gestanden hast.«
Grace blickte in ihr Glas. »Reden wir über schöne
Dinge. Möchtest du mir nicht lieber die Einzelheiten von deinen
Flitterwochen verraten?«
Das darauffolgende Schweigen sagte ihr, dass Carter
sich wie immer nicht beirren ließ.
Grace setzte das Glas an und leerte es in zwei
Zügen. Muttropfen, dachte sie und hielt es dann der Feundin
entgegen.
Carter füllte es gehorsam erneut.
»Hast du heute in der Zeitung von Cuppie Alstons
Tod gelesen?«
Carter runzelte die Stirn. »Schrecklich. Du hast
sie gut gekannt, nicht wahr?«
Grace nickte. »Ich war gestern Abend bei dem
Empfang. Und habe auf sie gewartet wie alle anderen.«
»Das war sicher schlimm.«
»Ja. Sie haben immer weiter Cocktails serviert, bis
man schließlich ohne sie anfangen musste. Der leere Stuhl auf dem
Podium …« Grace erschauderte. »Man hat neben der Leiche einen
Artikel über prominente Frauen gefunden. Von Cuppie war darin auch
die Rede.«
»Sag mir ja nicht, dass es sich um eine Art
Serientäter handelt!«
Grace holte tief Luft. »Von mir war in dem Artikel
auch die Rede. Die Polizei hat mich heute verhört.«
Schockiert und zischend holte ihre Freundin
Luft.
»Meine Güte, Grace …« Carter griff über den Tisch
hinweg nach Grace’ Hand und warf dabei den Salzstreuer um.
Grace drückte die Finger der Freundin beruhigend
und richtete mit der anderen den Salzstreuer wieder auf.
In dem Augenblick flog die Hintertür auf, und Nick
Farrell betrat die Küche. Beide Frauen blickten auf.
Farrell war ein großer Mann, ein mächtiger Mann. Er
trug einen eleganten Nadelstreifenanzug mit einem hellblauen Hemd
und einer dunklen Krawatte. Grace wandte diskret den Blick ab, als
er seine Frau zärtlich auf den Mund küsste.
»Das hier ist nicht bloß Grace Woodward Hall«,
sagte Carter dann mit einem Kopfnicken über den Tisch hinweg,
»sondern meine alte Freundin Woody.«
Hellgraue Augen wurden zu Schlitzen
zusammengekniffen. »Ich weiß eine ganze Menge darüber, was du und
Carter zusammen getrieben habt.«
Grace zwang sich zu einem Lächeln, als sie einander
die Hände schüttelten. »Das stimmt. Man hat uns fast aus Groton
geworfen, weil wir einen Weinkühler hineingeschmuggelt hatten, aber
die Sache mit dem Lacrosse-Team von St. Marks ist reine
Erfindung.«
Lachend sah er Carter wieder an. Sofort änderte
sich sein Gesichtsausdruck. Die dunklen Brauen trafen sich in der
Mitte. »Was stimmt hier nicht«
Carters Blick ging rasch auf die andere Seite des
Tisches. Als Grace mit den Achseln zuckte, erzählte ihre Freundin
alles. Farrell sah nun sehr grimmig aus.
»Wir machen jetzt Folgendes …«, begann er.
»Bitte«, unterbrach ihn Grace, »das ist alles nicht
euer Problem. Ich möchte nicht, dass …«
»Wir werden John Smith anrufen.«
»Großartige Idee«, stimmte Carter zu.
»Wer ist John Smith?«, fragte Grace. »Ein Mann mit
einem lächerlich gewöhnlichen Namen?«
»Er hat mir schon einmal ausgeholfen«, erklärte
Farrell.
»Ein privater Sicherheitsberater. Erstklassig. Und sehr
diskret.«
»Ich halte das nicht für nötig.«
Nick sah sie ausdruckslos an. »Wer auch immer den
Artikel dort hinterlassen hat, steht vermutlich erst am Anfang.
Willst du ihm eines Abends begegnen, wenn du ganz alleine
bist?«
Vor Grace’ innerem Auge tauchte blitzartig das Bild
von Cuppies Leiche auf. Sie spürte, wie Angst ihr die Kehle
zuschnürte.
Carter sah sie stirnrunzelnd an und streichelte ihr
beruhigend den Arm. »So drastisch brauchst du es nicht
auszudrücken, Nick.«
»Tut mir leid, aber ihr wisst beide, dass ich Recht
habe. Sie braucht einen Leibwächter.«
Grace wandte den Blick von Nicks intensiven
diamantgrauen Augen ab. Sie wollte sich nicht mit einem Mann wie
Farrell über ihre Sicherheit streiten. Dazu hatte sie nicht die
Kraft, und selbst wenn, würde er kaum jemals nachgeben, wenn er
sich einmal zu etwas entschlossen hatte.
»Ich rufe Smith sofort an«, verkündete er und
verließ den Raum.
Grace holte tief Luft und schloss die Augen. Sie
wäre besser nicht gekommen.
Carter beeilte sich mit einer Entschuldigung. »Tut
mir leid. Er kann ein bisschen … bestimmend sein, wenn er sich um
etwas Sorgen macht. Daran arbeite ich schon. Es ist wirklich nur,
wenn er sich sorgt.«
Grace zuckte die Achseln und spürte dabei, wie
verspannt ihre Schultern waren. »Ich will niemanden beunruhigen.
Ich bin kein Filmstar, der einen ständigen Tross um sich braucht,
und ich will auch nicht von einem permanent
vor sich hin mümmelnden Leibwächter verfolgt werden.«
»Nach allem, was ich über den Mann gehört habe, ist
Smith eher ein professioneller Killer.«
Grace schürzte die Lippen. »So was will ich auch
nicht.«
Als Farrell zehn Minuten später zurückkam, sagte
er: »Smith kommt morgen früh her.«
Grace wollte schon protestieren, doch die beiden
starrten sie mit derselben Entschiedenheit an.
Kein Wunder, dass sie sich so großartig verstanden,
dachte sie. Ihre gemeinsamen Argumente würden eine ganze Stadt
überzeugen.
»Vermutlich kann es nicht schaden, wenn ich mich
mit ihm unterhalte«, sagte sie nachgebend.
Die beiden lächelten sie an. Grace trank einen
weiteren Schluck Wein. Innerlich fühlte sie sich benommen. Wie so
oft in den letzten Wochen fragte sie sich, wessen Leben sie
eigentlich führte.
Am nächsten Morgen schritt Grace in dem
großzügigen Wohnzimmer so lange auf und ab, bis sie fast eine Spur
in den Aubusson-Teppich getreten hatte. Sie blieb vor einem frühen
amerikanischen Spiegel stehen und starrte ihr Spiegelbild an. Ihr
Gesicht wirkte in dem Bleiglas leicht verzerrt, aber das erschien
ihr sehr passend.
Sie fühlte sich auch innerlich wie eine
Fremde.
Dann strich sie mit einer Hand den Rock glatt und
zupfte an ihrer Seidenbluse, aber beides war in perfektem Zustand.
Sie trug wieder das Kostüm, in dem sie angekommen war. Das Ganze
war immerhin eine geschäftliche Angelegenheit, und mit Chanel
fühlte man sich immer in Kontrolle.
Grace trug sehr oft Chanel.
Unruhig überprüfte sie die Stecker der schweren
Brillantohrringe. Beide saßen sicher an ihrem Platz. Dann blickte
sie auf ihre Schuhe. Kein Staubkörnchen zu entdecken. Sie hätte
nichts dagegen gehabt, wenn ein Tropfen oder ein Fleck ein wenig
Aufmerksamkeit erfordert hätte. Ohne irgendeine Aufgabe fühlte sie
sich in dem sonnigen, luftigen Raum dem Ersticken nahe.
Dann trat sie zu einem Fenster und stieß es auf.
Die herbstliche Brise strich ihr angenehm über die Wangen. Draußen
lag der See still im Sonnenschein. Der Tag schien angenehm und
verheißungsvoll. Doch sie wünschte sich, es würde regnen.
»Er ist gerade angekommen«, rief Carter von der Tür
her.
Grace drehte sich um. In dem Moment trat Nick
hinter seine Frau und legte ihr beide Hände auf die
Schultern.
»Bist du bereit?«, fragte er.
»Bring ihn herein, diesen Mister Smith«, erwiderte
Grace. Von draußen hörte man das Dröhnen des schweren
Messingklopfers.
Das war alles nicht nötig, dachte sie, während Nick
zur Tür ging. Sie wollte keinen Sicherheitsberater. Sie wollte,
dass Cuppie noch lebte, sie wollte Donnerstagabend wieder ins Plaza
gehen und Cuppie zwischen ihrem Mann und dem Botschafter sehen, vom
ersten Cocktail bis zum Dessert.
Grace spielte mit ihrer Armbanduhr und studierte
das Platinziffernblatt. Sie würde niemanden engagieren, wer immer
auch jetzt den Raum betreten würde, und sie bereute, dass sie sich
zu diesem Treffen hatte überreden lassen. Nick dachte vielleicht an
ihr Wohlergehen, aber sie fühlte sich doch überrumpelt.
Was war es nur - dass sie so leicht von Männern
kontrolliert wurde? Ihr Vater war ihr liebevoll ergeben gewesen,
aber auch dominierend und streng. Sie hatte gelernt, beide Seiten
an ihm zu akzeptieren, und immer, wenn er ihr etwas Unangemessenes
abgefordert oder versucht hatte, sich in ihr Leben einzumischen,
hatte sie daran gedacht, wie sehr er sie liebte. Aber ihn zu
akzeptieren war nicht dasselbe, wie für sich selbst einzutreten,
und genau dieser Mangel hatte dazu geführt, dass sie den falschen
Mann geheiratet hatte.
Ihr Mann Ranulf war genauso schwierig gewesen. Mit
seinen europäischen Ansichten darüber, was Frauen zu tun und zu
lassen hatten, war er wie ein zweiter Vater gewesen, der genauso
gut Befehle erteilen konnte.
Ihre Mutter war auch nicht einfach gewesen.
Grace schnappte kurz nach Luft, als sie das tiefe
Brummen von Männerstimmen und anschließend schwere Schritte
hörte.
Es war höchste Zeit, dass sie nicht mehr bloß
höflich war, sondern begann, ihr Leben selbst in die Hand zu
nehmen. Nur weil sie gestern Abend nachgegeben hatte, war dieser
arme Mann jetzt von Gott weiß woher gekommen, um seine Zeit zu
verschwenden. Diese Art Hilfe brauchte sie nicht. Und sie würde es
weder Nick Farrells einnehmender Sorge noch der gedämpfteren
Version ihrer alten Freundin überlassen, ob sie einen Leibwächter
einstellte oder nicht.
Sie schnitt ein Gesicht. Was den Mann betraf, der
in der Hoffnung auf einen Job hier erschienen war, würde sie sich
sofort entschuldigen und ihm sagen, es sei ein Versehen gewesen.
Sie würde ihm natürlich seine Kosten ersetzen. - Ja, genau, das war
der richtige Weg.
Grace hob den Kopf und hielt den Atem an. Sie
musste zweimal zwinkern, um sicher zu sein, dass sie nicht
träumte.
»Du bist das«, flüsterte sie dann, als sie in die
markanten Züge des Mannes starrte, der sie geküsst hatte.
Ihr Herz schlug wie rasend.
Was machte er hier? War er ein …
Aber natürlich, er hatte den Botschafter beschützt.
Daher war er auf dem Ball erschienen. Daher hatte er sich von allen
anwesenden Männern so abgehoben, hatte einfach härter, zäher,
anders gewirkt.
Schade nur, dass er nicht für Cuppie abgestellt
worden war.
Sie schluckte trotz ihrer zugeschnürten Kehle. Er
war genau so, wie sie ihn in Erinnerung hatte: beeindruckend und
kälter als Eis. Sein Gesicht durchzogen tiefe Furchen, die in der
kräftigen Kinnpartie endeten und bei der Nase, die aussah, als wäre
sie mindestens einmal gebrochen worden. Seine Haare waren so kurz
gehalten wie beim Militär, die Augen durchdringend und blau. Heute
trug er eine schwarze Lederjacke und abgetragene Jeans, aber er sah
ebenso überlegen aus wie in dem Smoking.
Sie erinnerte sich bei seinem Anblick genau daran,
wie sie sich bei seinem Kuss gefühlt hatte, hatte aber keine
Ahnung, was er in diesem Moment dachte. Er verriet nicht die
geringste Emotion. Seine Miene zeigte weder Schock noch
Überraschung, nicht einmal Neugier. Sein verhüllter Blick verriet
nichts anderes als seine Intelligenz und eine stumme,
unterschwellige Drohung.
»Ihr kennt euch?«, fragte Nick.
Als der Mann keine Erklärung von sich gab, murmelte
Grace: »Wir sind uns … auf einer Party begegnet. Vor Kurzem.«
Nick zog eine Braue hoch, als Grace vortrat und
eine Hand ausstreckte. Sie hatte Angst, John Smith zu nahe zu
kommen, Angst, dass sich zwischen ihnen etwas ereignen würde, was
sich in ihrem Gesicht widerspiegelte.
»Nett, Sie wiederzusehen.«
Sobald er ihre Hand ergriffen hatte, spürte sie es
wieder wie einen elektrischen Schlag. Das Gefühl lief an ihrem Arm
hoch bis in den Brustkorb. Sie trat abrupt zurück.
Genau wie beim ersten Mal, als sie seine Hand
berührt hatte.
»Möchtest du, dass wir bleiben?«, fragte Carter,
»während ihr euch unterhaltet?«
Grace schüttelte den Kopf, und die beiden verließen
den Raum. Sie war mit ihm allein.
»Möchten Sie sich nicht setzen?«, forderte Grace
ihn auf.
Leiser Spott zuckte in seinen Augen auf. Dann
wählte er einen Sessel gegenüber dem Sofa und ließ sich darin
nieder, Selbst im Sitzen wirkte er groß.
»Sie scheinen nicht überrascht, mich zu sehen.«
Grace setzte sich aufs Sofa und schlug die Beine übereinander.
Seine Augen folgten der Bewegung und blieben auf den Waden ruhen,
ehe der Blick wieder zu ihrem Gesicht zurückkehrte.
»Ich lasse mich selten auf Situationen ein, in
denen ich überrascht werden könnte.« Seine Stimme klang tief und
rau und sehr selbstsicher.
Er war ganz Mann, dachte sie, mit dem
entsprechenden Stolz, der Arroganz und einem Ego, das sich aus
einem Testosteron-Überschuss ergibt. Natürlich sah er so hart aus
wie Stahl, daher war das Selbstvertrauen auch gerechtfertigt. Sie
würde ihn nicht gerne wütend erleben. Das war bereits einmal
geschehen, und sie hatte davon nur Fantasien zurückbehalten, die
sie lieber vergessen hätte.
»Reden wir darüber, warum ich heute hier bin.« Er
verschränkte die Arme vor der Brust. Dabei ging eine Ungeduld von
ihm aus, die auch seine tiefe Stimme zeigte.
Grace’ Finger spielten mit dem schweren
Verlobungsring, den sie nun wieder und wieder herumdrehte. Als
seine scharfen Augen einen Moment lang dorthin zuckten, zwang sie
sich, ganz still zu sitzen.
Sie müsste ihn jetzt eigentlich entlassen, wie sie
sich vorgenommen hatte und was sie auch getan hätte, wenn ein
völlig Fremder vor ihr gesessen hätte.
Aber er war ja ein Fremder, rief sie sich in
Erinnerung.
»Ich fürchte, Sie verschwenden Ihre Zeit.« Sie
verstummte, als er die Brauen hochzog. »Ich meine, ich glaube
nicht, dass Sie mir helfen können. Äh … dass ich überhaupt Hilfe
brauche.«
Sie verhaspelte sich fast und fragte sich, was in
ihrem Kopf vor sich ging.Vermutlich war ihr Verstand ebenso zu
einem schwarzen Loch geworden wie ihr gesamtes Leben.
»Ich werde Sie natürlich für heute entschädigen«,
fuhr sie rasch fort.
»Sicher«, brummte er und blickte wieder auf ihre
Ringe. In seinen Augen spiegelte sich leise Verachtung, die Lippen
hatte er fest zusammengepresst, was andeutete, dass auch er lieber
woanders wäre.
Grace wehrte sich gegen seinen Tonfall und seinen
Gesichtsausdruck. Sie erkannte, dass er nicht viel von ihr hielt.
Warum war er dann hergekommen? Wollte er Nick einen Gefallen
tun?
»Bitte verzeihen Sie, wenn ich Ihnen
Ungelegenheiten bereitet habe.«
»Wie höflich Sie sind.«
Schweigen breitete sich aus.
»Ich glaube einfach nicht, dass ich in einer
solchen Gefahr schwebe, dass ich einen Leibwächter brauche.«
»Ach ja.«
»Ja. Nick hat darauf bestanden, Sie anzurufen. Es
war nicht meine Idee.«
»Wirklich?«
Grace starrte ihn wütend an. Seine Miene wirkte
eher gelangweilt.
Er könnte zumindest so tun, als würde er sich für
den Job interessieren, dachte Grace.
Nun verschränkte sie die Arme vor der Brust, merkte
aber, dass sie seine Haltung imitierte, und legte die Hände wieder
auf den Schoß. Sie verspürte den absurden Drang, ihn anzuschreien,
weil er sie mit seinem angespannten Schweigen sehr verunsicherte.
Sie fühlte sich albern und frivol.
Grace kniff die Augen zusammen und gab dem
kindlichen Drang nach, weiterzureden, nur um zu beweisen, dass sie
dazu imstande war.
»Ich wohne in New York, wo ich auch arbeite. Kennen
Sie die Hall-Stiftung?« Ehe er antworten konnte, redete sie schon
weiter, weil sie fühlte, dass Sprechen ihre Unsicherheit vertrieb.
Und die Frustration, die vielleicht sexuell bedingt war. Grace wand
sich innerlich. »Meine Familie hat sie vor über zweihundert Jahren
gegründet. Wir verleihen Stipendien an Studenten, Kunsthistoriker,
Archäologen und eigentlich jeden, der frühe amerikanische
Geschichte studiert …«
»Der Werbespot ist mir egal. Erzählen Sie mir
etwas, was ich noch nicht weiß. Alles öffentlich Bekannte können
Sie weglassen.«
Grace runzelte nach den knappen Worten die Stirn.
»Ich wohne in der Park Avenue …«
»Das weiß ich.«
»Mein Büro ist …«
Eine dunkle Braue wurde hochgezogen.
Grace erwiderte seinen Blick. »Ich hasse Musicals,
und nach mexikanischem Essen bekomme ich immer Blähungen. Aber ich
esse es trotzdem.«
Zu ihrer Überraschung zuckten seine
Mundwinkel.
Ha, dieser zähe Bursche konnte also doch heiter
sein, dachte sie mit leichtem Triumphgefühl.
»Wussten Sie das vielleicht nicht?«, fragte sie
herausfordernd.
Smiths Blick ließ sie keine Sekunde los.
»Nein.«
»Gut. Versuchen wir es weiter. Ich lese gerne
Liebesromane. Gaelen Foley schreibt diese wunderbaren historischen
…«
»Ich will nicht wissen, was Sie lesen«, unterbrach
er sie sarkastisch. »Und ihre Verdauung interessiert mich überhaupt
nicht.Warum kommen wir nicht zur Sache?«
Grace presste die Lippen zusammen. Jede Chance, ihn
auf höfliche, respektvolle Weise zu entlassen, schwand rasch dahin.
Erneut brach ihre Wut durch, aber er schien recht zufrieden, ihr
dabei zuzusehen, während er selbst ein Vorbild an Gelassenheit
abgab.
Na, Kühle und Arroganz konnte sie auch gut spielen.
Dank ihrer Mutter, die geradezu arktisch war, konnte Grace sich wie
eine Tiefkühltruhe benehmen.
Sie räusperte sich. »Wissen Sie was? Erzählen Sie
mir doch einfach, was Sie über mich herausgefunden haben, damit ich
Sie nicht weiter langweile.«
Ihre Blicke blieben ineinander hängen. Sie wartete
auf seine Erwiderung.