2 003
Cuppie Alston war tot:
Den ganzen Tag lang, von dem Augenblick an, als Alfred sie angerufen und ihr die schreckliche Nachricht mitgeteilt hatte, waren diese Worte in Grace’ Kopf herumgeschwirrt. Sie konnte immer noch nicht glauben, was geschehen war, begriff nicht, dass ihre Freundin am vergangenen Abend ermordet worden war, als sie selbst auf dem Ball des Botschafters getanzt hatte.
Auf der gesamten langen Fahrt von New York in die Adirondacks war dieses unwirkliche Geschehen ihr grausamer Begleiter gewesen. Meile um Meile auf der Autobahn, den Landstraßen und der gewundenen Passstraße hatte ihr Verstand sich bemüht, die Tragödie zu verarbeiten. Unaufhörlich ging sie die glücklichen Erinnerungen durch, die nun von Schmerz gezeichnet waren.
Wie konnte das nur wahr sein, dachte sie wieder, als sie vor dem weitläufigen Herrenhaus am Ufer des Sagamore-Sees stehen blieb. Dann schaltete sie den Motor des Mercedes ab und starrte in die Dunkelheit.
Die Stille und die Ruhe waren ihr unangenehm. Ihre Gedanken, nun nicht mehr abgelenkt, wirbelten so wild in ihrem Kopf herum, dass sie sich einer Hysterie nahe fühlte. Nicht nur, weil Cuppie tot war, sondern weil sie selbst nun in großer Gefahr schwebte.
Grace umklammerte das Lenkrad. Rational war sie überzeugt, dass niemand ihr gefolgt war. Ein winziger Funken Angst behauptete aber das Gegenteil. Sie blickte suchend in die Nacht hinaus. Die Schatten der vom Wind geschüttelten Äste und Zweige wippten und schwankten im Mondschein.
Bis gestern hätte sie niemals in die dunkleren Ecken gespäht und sich gefragt, wer sich wohl dort verbergen könnte.
Aber vor vierundzwanzig Stunden war ja auch noch niemand, den sie gut kannte, brutal ermordet worden.
Sie presste die Stirn aufs Lenkrad.
Das Ganze war unvorstellbar, wie aus einem schlechten Film. Man hatte Cuppie im Eingang des großzügigen Penthouse an der Central Park West Avenue tot aufgefunden. Neben der Leiche hatte ein Artikel über die sechs prominentesten Frauen der Stadt gelegen. Cuppie war darin als Erste beschrieben und interviewt worden, aber ihr Foto war herausgerissen.
Grace war in dem Artikel als Letzte vorgestellt worden.
Aus dem Grund hatte sie den ganzen Nachmittag auf der Polizeiwache verbracht. Niemand außer dem Mörder wusste, ob die anderen fünf Frauen als Nächste an der Reihe waren, aber Grace wusste, was die Polizei vermutete. Der Detective hatte sie bei der Aussage mit Samthandschuhen angefasst, obwohl er mit seiner rauen Raucherstimme und den müden Augen wie jemand wirkte, der sich nicht leicht beeindrucken ließ. Sie merkte bald, dass er sie wie ein Opfer behandelte.
Als sie sein kleines Büro betrat, hatte er sich rasch bemüht, die Fotos von dem Verbrechen zu verdecken, aber nicht schnell genug. Sie hatte einen kurzen Blick darauf werfen können, woraufhin sie sich fast übergeben musste. Cuppies Hals war aufgerissen, und da, wo ihr Kehlkopf gewesen war, klaffte eine riesige Wunde.
Grace brauchte keine medizinischen Kenntnisse, um die extreme Brutalität dieser Tat beurteilen zu können. Irgendjemand hatte immer wieder mit einem Messer auf Cuppie eingestochen. Nicht nur, um sie zu töten, sondern um sie zu schänden.
Übelkeit kam in Grace hoch, daher riss sie die Tür auf und lehnte sich mit dem angelegten Sicherheitsgurt hinaus. Da der Schlüssel noch im Anlasser steckte, mahnte das Auto sie mit einem fröhlichen Piepton. Grace zählte die elektronischen Töne mit, um die Zeit zu messen. Ihr Blick fiel auf den Kies in der Einfahrt, und sie überlegte, wie sie ihn säubern könnte, falls ihr Magen ihr nicht mehr gehorchte.
Es wäre schön, etwas Netteres sagen zu können, wenn ihre älteste Freundin die Tür öffnete, als: Ich habe gerade in deine Einfahrt gekotzt. Das war nicht gerade die Art von Begrüßung, die Grace vorschwebte, sondern eher: Herzlichen Glücklichwunsch zu eurer Hochzeit, Carter. Oder: Wie fühlst du dich als Mrs. Farrell?
Grace blickte zu dem Haus. Drinnen ging jemand an einem Fenster vorbei, und sie dachte, wie leid es ihr tat, dass sie Carters und Nicks Hochzeit verpasst hatte. Am Tag der Trauung war ihr Vater beerdigt worden, und die Gleichzeitigkeit dieser beiden Ereignisse, ein Anfang und ein Ende, hatte verhindert, dass sie einander an diesem Tag Unterstützung hätten geben können. Grace hatte allerdings jede Menge Anrufe erhalten.
Und jetzt gab es wieder einen Grund, sich an die Freundin zu wenden. Gerade als Grace gedacht hatte, keine weitere schreckliche Überraschung mehr ertragen zu können, denn der Verlust des Vaters bedrückte sie noch unbeschreiblich, und das Scheitern ihrer Ehe war ein peinlicher Klotz, den sie hinter sich herschleppte. Da musste ihr das Leben einen weiteren Stoß versetzen.
Es war ein furchtbares Jahr gewesen.
Der Warnton ging ihr nun auf die Nerven, daher zog sie endlich den Schlüssel heraus. Sie brachte nur schwer die Energie auf, zum Haus zu gehen, obwohl die Nachtkälte ihr langsam in die Kleider drang. Sie wollte für die Freundin einfach nur fröhlich sein, aber das zu spielen schien ihr nun unendlich schwer.
Da durchfuhr sie wie ein Blitz die Erinnerung an die Stimme ihres Vaters, streng und befehlend: Reiß dich zusammen, Seesternchen. Komm, lächle!
Bei diesem Satz aus ihrer Kindheit sah sie ihn vor ihrem inneren Auge, wie sie ihn damals gesehen hatte - liebevoll und bestimmt. Wie auf seinen Befehl hin richtete sie sich nun auf und löste den Sicherheitsgurt.
Auf dem Heimweg würde sie genügend Zeit haben, über die Dinge nachzudenken, die sie nicht ändern konnte. Selbst das größte Selbstmitleid würde ihren Vater nicht zurückbringen, und es würde auch nicht ändern, was in dem Artikel gestanden hatte und dass Cuppie am Montag beerdigt würde.
Grace klappte den Innenspiegel herab, um ihr Make-up zu überprüfen. Die dunklen Ringe unter den Augen waren gut abgedeckt, doch der Lippenstift wirkte blass. Sie wühlte in ihrer Handtasche, fand ihn und legte frisch auf.
Danach hielt sie inne und strich sich mit den Fingerspitzen über den Mund.
Sie spürte immer noch seinen Kuss. Die Begegnung ihrer Lippen und Zungen hatte ihren gesamten Körper innerlich aufgewühlt und war ihr noch genauso gegenwärtig wie in dem Moment, als sie sich voneinander gelöst hatten. Sie konnte einfach nicht vergessen, wie es war, so heftig an den harten Körper eines Fremden gerissen zu werden, wie er sie berührt und wie ihr Blut getost hatte. In dem dunklen Gang hatte sie zum ersten Mal Leidenschaft gespürt.
Verstört klappte Grace den Spiegel wieder hoch.
Es war schlimm, dass sie ihn nie wiedersehen würde. Sie hatte nicht die geringste Ahnung, wer er war oder woher er stammte, und sie wusste, wenn sie Fragen nach einem Mann wie ihm stellte, würde sofort das Gerede anfangen. Sie war immer noch verheiratet und gefährlich schön. Wilde Gerüchte waren das Allerletzte, was sie brauchte.
Die entstanden ohnehin ständig von selbst.
Jetzt war es nötig, sich zusammenzureißen, sich in das schöne Haus vor ihr zu schleppen und sich mit der Freundin zu freuen.
Als Grace aus dem Wagen stieg, warf sie einen raschen Blick über die Schulter. Dann schnappte sie rasch die Vuitton-Taschen und eilte auf das Haus zu. Als sie die Veranda betrat, kam Carter Wessex schon mit ausgebreiteten Armen auf sie zu, um sie zu begrüßen.
»Woody! Du hast es geschafft!«
Grace ließ ihre Taschen fallen und umarmte die Freundin.
»Hey! Wie geht es dir?«
»Gut, sehr gut. Ich freue mich so, dich zu sehen.« Grace löste sich und lächelte die andere an.
»Ach, wie toll du aussiehst! Aber das tust du ja immer.«
Grace blickte an ihrem Chanel-Kostüm hinab. Sie konnte kaum abwarten, es sich vom Körper zu reißen, denn es erinnerte sie an die Polizeiwache.
»Warum lassen wir nicht alles hier stehen und gehen erstmal in die Küche.« Carter schob sich das dicke, dunkle Haar über die Schulter. »Hast du schon gegessen?«
Grace’ Magen wand sich protestierend. »Ich habe keinen Hunger, aber ein Glas Wein wäre schön.«
Oder zwei.
»Na, davon haben wir reichlich«, erwiderte Carter und ging voran durch das Haus. »Ich bin so froh, dass du für das ganze Wochenende da sein wirst. Nick kommt heute Abend aus London nach Albany zurück und müsste in einer Stunde hier sein. Er freut sich darauf, dich ein bisschen besser kennen zu lernen.«
»Ich mich auch. Auf diesen Riesenpartys, wo man sich begegnet, kommt man sich ja kaum näher.«
Carter lachte. »Und genau aus dem Grund habe ich sie aufgegeben.«
Sie ließen sich an einem rustikalen Eichentisch in der Küche nieder, einen Teller mit Obst und Käse zwischen sich. Grace hob ihr Glas Chardonnay hoch. »Auf meine beste Freundin und Gefährtin. Möge deine Ehe lange währen und dir nur Freude bringen.«
Carter lächelte. Ihre strahlend blauen Augen blitzten gerührt. »Ich bin so froh, dich zu sehen.«
»Ich auch.« Dann wandte Grace den Blick ab. »Erzähl mir von deiner Hochzeit. Hast du toll ausgesehen?«
»Wie geht es dir?« Die Stimme der Freundin klang belegt.
»Ich sagte doch, gut. Mrs. Farrell, ich will jetzt alle Einzelheiten hören, allerdings reicht auch die Version von Cliff Notes über die Hochzeitsnacht.«
»Du wirkst so erschöpft.«
»Du hast doch gerade gesagt, ich sähe fantastisch aus.«
»Fantastisch und müde.« Carter sah sie zärtlich an. »Ich habe mir Sorgen um dich gemacht. Ich weiß, wie nahe du deinem Vater gestanden hast.«
Grace blickte in ihr Glas. »Reden wir über schöne Dinge. Möchtest du mir nicht lieber die Einzelheiten von deinen Flitterwochen verraten?«
Das darauffolgende Schweigen sagte ihr, dass Carter sich wie immer nicht beirren ließ.
Grace setzte das Glas an und leerte es in zwei Zügen. Muttropfen, dachte sie und hielt es dann der Feundin entgegen.
Carter füllte es gehorsam erneut.
»Hast du heute in der Zeitung von Cuppie Alstons Tod gelesen?«
Carter runzelte die Stirn. »Schrecklich. Du hast sie gut gekannt, nicht wahr?«
Grace nickte. »Ich war gestern Abend bei dem Empfang. Und habe auf sie gewartet wie alle anderen.«
»Das war sicher schlimm.«
»Ja. Sie haben immer weiter Cocktails serviert, bis man schließlich ohne sie anfangen musste. Der leere Stuhl auf dem Podium …« Grace erschauderte. »Man hat neben der Leiche einen Artikel über prominente Frauen gefunden. Von Cuppie war darin auch die Rede.«
»Sag mir ja nicht, dass es sich um eine Art Serientäter handelt!«
Grace holte tief Luft. »Von mir war in dem Artikel auch die Rede. Die Polizei hat mich heute verhört.«
Schockiert und zischend holte ihre Freundin Luft.
»Meine Güte, Grace …« Carter griff über den Tisch hinweg nach Grace’ Hand und warf dabei den Salzstreuer um.
Grace drückte die Finger der Freundin beruhigend und richtete mit der anderen den Salzstreuer wieder auf.
In dem Augenblick flog die Hintertür auf, und Nick Farrell betrat die Küche. Beide Frauen blickten auf.
Farrell war ein großer Mann, ein mächtiger Mann. Er trug einen eleganten Nadelstreifenanzug mit einem hellblauen Hemd und einer dunklen Krawatte. Grace wandte diskret den Blick ab, als er seine Frau zärtlich auf den Mund küsste.
»Das hier ist nicht bloß Grace Woodward Hall«, sagte Carter dann mit einem Kopfnicken über den Tisch hinweg, »sondern meine alte Freundin Woody.«
Hellgraue Augen wurden zu Schlitzen zusammengekniffen. »Ich weiß eine ganze Menge darüber, was du und Carter zusammen getrieben habt.«
Grace zwang sich zu einem Lächeln, als sie einander die Hände schüttelten. »Das stimmt. Man hat uns fast aus Groton geworfen, weil wir einen Weinkühler hineingeschmuggelt hatten, aber die Sache mit dem Lacrosse-Team von St. Marks ist reine Erfindung.«
Lachend sah er Carter wieder an. Sofort änderte sich sein Gesichtsausdruck. Die dunklen Brauen trafen sich in der Mitte. »Was stimmt hier nicht«
Carters Blick ging rasch auf die andere Seite des Tisches. Als Grace mit den Achseln zuckte, erzählte ihre Freundin alles. Farrell sah nun sehr grimmig aus.
»Wir machen jetzt Folgendes …«, begann er.
»Bitte«, unterbrach ihn Grace, »das ist alles nicht euer Problem. Ich möchte nicht, dass …«
»Wir werden John Smith anrufen.«
»Großartige Idee«, stimmte Carter zu.
»Wer ist John Smith?«, fragte Grace. »Ein Mann mit einem lächerlich gewöhnlichen Namen?«
»Er hat mir schon einmal ausgeholfen«, erklärte Farrell. »Ein privater Sicherheitsberater. Erstklassig. Und sehr diskret.«
»Ich halte das nicht für nötig.«
Nick sah sie ausdruckslos an. »Wer auch immer den Artikel dort hinterlassen hat, steht vermutlich erst am Anfang. Willst du ihm eines Abends begegnen, wenn du ganz alleine bist?«
Vor Grace’ innerem Auge tauchte blitzartig das Bild von Cuppies Leiche auf. Sie spürte, wie Angst ihr die Kehle zuschnürte.
Carter sah sie stirnrunzelnd an und streichelte ihr beruhigend den Arm. »So drastisch brauchst du es nicht auszudrücken, Nick.«
»Tut mir leid, aber ihr wisst beide, dass ich Recht habe. Sie braucht einen Leibwächter.«
Grace wandte den Blick von Nicks intensiven diamantgrauen Augen ab. Sie wollte sich nicht mit einem Mann wie Farrell über ihre Sicherheit streiten. Dazu hatte sie nicht die Kraft, und selbst wenn, würde er kaum jemals nachgeben, wenn er sich einmal zu etwas entschlossen hatte.
»Ich rufe Smith sofort an«, verkündete er und verließ den Raum.
Grace holte tief Luft und schloss die Augen. Sie wäre besser nicht gekommen.
Carter beeilte sich mit einer Entschuldigung. »Tut mir leid. Er kann ein bisschen … bestimmend sein, wenn er sich um etwas Sorgen macht. Daran arbeite ich schon. Es ist wirklich nur, wenn er sich sorgt.«
Grace zuckte die Achseln und spürte dabei, wie verspannt ihre Schultern waren. »Ich will niemanden beunruhigen. Ich bin kein Filmstar, der einen ständigen Tross um sich braucht, und ich will auch nicht von einem permanent vor sich hin mümmelnden Leibwächter verfolgt werden.«
»Nach allem, was ich über den Mann gehört habe, ist Smith eher ein professioneller Killer.«
Grace schürzte die Lippen. »So was will ich auch nicht.«
Als Farrell zehn Minuten später zurückkam, sagte er: »Smith kommt morgen früh her.«
Grace wollte schon protestieren, doch die beiden starrten sie mit derselben Entschiedenheit an.
Kein Wunder, dass sie sich so großartig verstanden, dachte sie. Ihre gemeinsamen Argumente würden eine ganze Stadt überzeugen.
»Vermutlich kann es nicht schaden, wenn ich mich mit ihm unterhalte«, sagte sie nachgebend.
Die beiden lächelten sie an. Grace trank einen weiteren Schluck Wein. Innerlich fühlte sie sich benommen. Wie so oft in den letzten Wochen fragte sie sich, wessen Leben sie eigentlich führte.
 
Am nächsten Morgen schritt Grace in dem großzügigen Wohnzimmer so lange auf und ab, bis sie fast eine Spur in den Aubusson-Teppich getreten hatte. Sie blieb vor einem frühen amerikanischen Spiegel stehen und starrte ihr Spiegelbild an. Ihr Gesicht wirkte in dem Bleiglas leicht verzerrt, aber das erschien ihr sehr passend.
Sie fühlte sich auch innerlich wie eine Fremde.
Dann strich sie mit einer Hand den Rock glatt und zupfte an ihrer Seidenbluse, aber beides war in perfektem Zustand. Sie trug wieder das Kostüm, in dem sie angekommen war. Das Ganze war immerhin eine geschäftliche Angelegenheit, und mit Chanel fühlte man sich immer in Kontrolle.
Grace trug sehr oft Chanel.
Unruhig überprüfte sie die Stecker der schweren Brillantohrringe. Beide saßen sicher an ihrem Platz. Dann blickte sie auf ihre Schuhe. Kein Staubkörnchen zu entdecken. Sie hätte nichts dagegen gehabt, wenn ein Tropfen oder ein Fleck ein wenig Aufmerksamkeit erfordert hätte. Ohne irgendeine Aufgabe fühlte sie sich in dem sonnigen, luftigen Raum dem Ersticken nahe.
Dann trat sie zu einem Fenster und stieß es auf. Die herbstliche Brise strich ihr angenehm über die Wangen. Draußen lag der See still im Sonnenschein. Der Tag schien angenehm und verheißungsvoll. Doch sie wünschte sich, es würde regnen.
»Er ist gerade angekommen«, rief Carter von der Tür her.
Grace drehte sich um. In dem Moment trat Nick hinter seine Frau und legte ihr beide Hände auf die Schultern.
»Bist du bereit?«, fragte er.
»Bring ihn herein, diesen Mister Smith«, erwiderte Grace. Von draußen hörte man das Dröhnen des schweren Messingklopfers.
Das war alles nicht nötig, dachte sie, während Nick zur Tür ging. Sie wollte keinen Sicherheitsberater. Sie wollte, dass Cuppie noch lebte, sie wollte Donnerstagabend wieder ins Plaza gehen und Cuppie zwischen ihrem Mann und dem Botschafter sehen, vom ersten Cocktail bis zum Dessert.
Grace spielte mit ihrer Armbanduhr und studierte das Platinziffernblatt. Sie würde niemanden engagieren, wer immer auch jetzt den Raum betreten würde, und sie bereute, dass sie sich zu diesem Treffen hatte überreden lassen. Nick dachte vielleicht an ihr Wohlergehen, aber sie fühlte sich doch überrumpelt.
Was war es nur - dass sie so leicht von Männern kontrolliert wurde? Ihr Vater war ihr liebevoll ergeben gewesen, aber auch dominierend und streng. Sie hatte gelernt, beide Seiten an ihm zu akzeptieren, und immer, wenn er ihr etwas Unangemessenes abgefordert oder versucht hatte, sich in ihr Leben einzumischen, hatte sie daran gedacht, wie sehr er sie liebte. Aber ihn zu akzeptieren war nicht dasselbe, wie für sich selbst einzutreten, und genau dieser Mangel hatte dazu geführt, dass sie den falschen Mann geheiratet hatte.
Ihr Mann Ranulf war genauso schwierig gewesen. Mit seinen europäischen Ansichten darüber, was Frauen zu tun und zu lassen hatten, war er wie ein zweiter Vater gewesen, der genauso gut Befehle erteilen konnte.
Ihre Mutter war auch nicht einfach gewesen.
Grace schnappte kurz nach Luft, als sie das tiefe Brummen von Männerstimmen und anschließend schwere Schritte hörte.
Es war höchste Zeit, dass sie nicht mehr bloß höflich war, sondern begann, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen. Nur weil sie gestern Abend nachgegeben hatte, war dieser arme Mann jetzt von Gott weiß woher gekommen, um seine Zeit zu verschwenden. Diese Art Hilfe brauchte sie nicht. Und sie würde es weder Nick Farrells einnehmender Sorge noch der gedämpfteren Version ihrer alten Freundin überlassen, ob sie einen Leibwächter einstellte oder nicht.
Sie schnitt ein Gesicht. Was den Mann betraf, der in der Hoffnung auf einen Job hier erschienen war, würde sie sich sofort entschuldigen und ihm sagen, es sei ein Versehen gewesen. Sie würde ihm natürlich seine Kosten ersetzen. - Ja, genau, das war der richtige Weg.
Grace hob den Kopf und hielt den Atem an. Sie musste zweimal zwinkern, um sicher zu sein, dass sie nicht träumte.
»Du bist das«, flüsterte sie dann, als sie in die markanten Züge des Mannes starrte, der sie geküsst hatte.
Ihr Herz schlug wie rasend.
Was machte er hier? War er ein …
Aber natürlich, er hatte den Botschafter beschützt. Daher war er auf dem Ball erschienen. Daher hatte er sich von allen anwesenden Männern so abgehoben, hatte einfach härter, zäher, anders gewirkt.
Schade nur, dass er nicht für Cuppie abgestellt worden war.
Sie schluckte trotz ihrer zugeschnürten Kehle. Er war genau so, wie sie ihn in Erinnerung hatte: beeindruckend und kälter als Eis. Sein Gesicht durchzogen tiefe Furchen, die in der kräftigen Kinnpartie endeten und bei der Nase, die aussah, als wäre sie mindestens einmal gebrochen worden. Seine Haare waren so kurz gehalten wie beim Militär, die Augen durchdringend und blau. Heute trug er eine schwarze Lederjacke und abgetragene Jeans, aber er sah ebenso überlegen aus wie in dem Smoking.
Sie erinnerte sich bei seinem Anblick genau daran, wie sie sich bei seinem Kuss gefühlt hatte, hatte aber keine Ahnung, was er in diesem Moment dachte. Er verriet nicht die geringste Emotion. Seine Miene zeigte weder Schock noch Überraschung, nicht einmal Neugier. Sein verhüllter Blick verriet nichts anderes als seine Intelligenz und eine stumme, unterschwellige Drohung.
»Ihr kennt euch?«, fragte Nick.
Als der Mann keine Erklärung von sich gab, murmelte Grace: »Wir sind uns … auf einer Party begegnet. Vor Kurzem.«
Nick zog eine Braue hoch, als Grace vortrat und eine Hand ausstreckte. Sie hatte Angst, John Smith zu nahe zu kommen, Angst, dass sich zwischen ihnen etwas ereignen würde, was sich in ihrem Gesicht widerspiegelte.
»Nett, Sie wiederzusehen.«
Sobald er ihre Hand ergriffen hatte, spürte sie es wieder wie einen elektrischen Schlag. Das Gefühl lief an ihrem Arm hoch bis in den Brustkorb. Sie trat abrupt zurück.
Genau wie beim ersten Mal, als sie seine Hand berührt hatte.
»Möchtest du, dass wir bleiben?«, fragte Carter, »während ihr euch unterhaltet?«
Grace schüttelte den Kopf, und die beiden verließen den Raum. Sie war mit ihm allein.
»Möchten Sie sich nicht setzen?«, forderte Grace ihn auf.
Leiser Spott zuckte in seinen Augen auf. Dann wählte er einen Sessel gegenüber dem Sofa und ließ sich darin nieder, Selbst im Sitzen wirkte er groß.
»Sie scheinen nicht überrascht, mich zu sehen.« Grace setzte sich aufs Sofa und schlug die Beine übereinander. Seine Augen folgten der Bewegung und blieben auf den Waden ruhen, ehe der Blick wieder zu ihrem Gesicht zurückkehrte.
»Ich lasse mich selten auf Situationen ein, in denen ich überrascht werden könnte.« Seine Stimme klang tief und rau und sehr selbstsicher.
Er war ganz Mann, dachte sie, mit dem entsprechenden Stolz, der Arroganz und einem Ego, das sich aus einem Testosteron-Überschuss ergibt. Natürlich sah er so hart aus wie Stahl, daher war das Selbstvertrauen auch gerechtfertigt. Sie würde ihn nicht gerne wütend erleben. Das war bereits einmal geschehen, und sie hatte davon nur Fantasien zurückbehalten, die sie lieber vergessen hätte.
»Reden wir darüber, warum ich heute hier bin.« Er verschränkte die Arme vor der Brust. Dabei ging eine Ungeduld von ihm aus, die auch seine tiefe Stimme zeigte.
Grace’ Finger spielten mit dem schweren Verlobungsring, den sie nun wieder und wieder herumdrehte. Als seine scharfen Augen einen Moment lang dorthin zuckten, zwang sie sich, ganz still zu sitzen.
Sie müsste ihn jetzt eigentlich entlassen, wie sie sich vorgenommen hatte und was sie auch getan hätte, wenn ein völlig Fremder vor ihr gesessen hätte.
Aber er war ja ein Fremder, rief sie sich in Erinnerung.
»Ich fürchte, Sie verschwenden Ihre Zeit.« Sie verstummte, als er die Brauen hochzog. »Ich meine, ich glaube nicht, dass Sie mir helfen können. Äh … dass ich überhaupt Hilfe brauche.«
Sie verhaspelte sich fast und fragte sich, was in ihrem Kopf vor sich ging.Vermutlich war ihr Verstand ebenso zu einem schwarzen Loch geworden wie ihr gesamtes Leben.
»Ich werde Sie natürlich für heute entschädigen«, fuhr sie rasch fort.
»Sicher«, brummte er und blickte wieder auf ihre Ringe. In seinen Augen spiegelte sich leise Verachtung, die Lippen hatte er fest zusammengepresst, was andeutete, dass auch er lieber woanders wäre.
Grace wehrte sich gegen seinen Tonfall und seinen Gesichtsausdruck. Sie erkannte, dass er nicht viel von ihr hielt. Warum war er dann hergekommen? Wollte er Nick einen Gefallen tun?
»Bitte verzeihen Sie, wenn ich Ihnen Ungelegenheiten bereitet habe.«
»Wie höflich Sie sind.«
Schweigen breitete sich aus.
»Ich glaube einfach nicht, dass ich in einer solchen Gefahr schwebe, dass ich einen Leibwächter brauche.«
»Ach ja.«
»Ja. Nick hat darauf bestanden, Sie anzurufen. Es war nicht meine Idee.«
»Wirklich?«
Grace starrte ihn wütend an. Seine Miene wirkte eher gelangweilt.
Er könnte zumindest so tun, als würde er sich für den Job interessieren, dachte Grace.
Nun verschränkte sie die Arme vor der Brust, merkte aber, dass sie seine Haltung imitierte, und legte die Hände wieder auf den Schoß. Sie verspürte den absurden Drang, ihn anzuschreien, weil er sie mit seinem angespannten Schweigen sehr verunsicherte. Sie fühlte sich albern und frivol.
Grace kniff die Augen zusammen und gab dem kindlichen Drang nach, weiterzureden, nur um zu beweisen, dass sie dazu imstande war.
»Ich wohne in New York, wo ich auch arbeite. Kennen Sie die Hall-Stiftung?« Ehe er antworten konnte, redete sie schon weiter, weil sie fühlte, dass Sprechen ihre Unsicherheit vertrieb. Und die Frustration, die vielleicht sexuell bedingt war. Grace wand sich innerlich. »Meine Familie hat sie vor über zweihundert Jahren gegründet. Wir verleihen Stipendien an Studenten, Kunsthistoriker, Archäologen und eigentlich jeden, der frühe amerikanische Geschichte studiert …«
»Der Werbespot ist mir egal. Erzählen Sie mir etwas, was ich noch nicht weiß. Alles öffentlich Bekannte können Sie weglassen.«
Grace runzelte nach den knappen Worten die Stirn. »Ich wohne in der Park Avenue …«
»Das weiß ich.«
»Mein Büro ist …«
Eine dunkle Braue wurde hochgezogen.
Grace erwiderte seinen Blick. »Ich hasse Musicals, und nach mexikanischem Essen bekomme ich immer Blähungen. Aber ich esse es trotzdem.«
Zu ihrer Überraschung zuckten seine Mundwinkel.
Ha, dieser zähe Bursche konnte also doch heiter sein, dachte sie mit leichtem Triumphgefühl.
»Wussten Sie das vielleicht nicht?«, fragte sie herausfordernd.
Smiths Blick ließ sie keine Sekunde los. »Nein.«
»Gut. Versuchen wir es weiter. Ich lese gerne Liebesromane. Gaelen Foley schreibt diese wunderbaren historischen …«
»Ich will nicht wissen, was Sie lesen«, unterbrach er sie sarkastisch. »Und ihre Verdauung interessiert mich überhaupt nicht.Warum kommen wir nicht zur Sache?«
Grace presste die Lippen zusammen. Jede Chance, ihn auf höfliche, respektvolle Weise zu entlassen, schwand rasch dahin. Erneut brach ihre Wut durch, aber er schien recht zufrieden, ihr dabei zuzusehen, während er selbst ein Vorbild an Gelassenheit abgab.
Na, Kühle und Arroganz konnte sie auch gut spielen. Dank ihrer Mutter, die geradezu arktisch war, konnte Grace sich wie eine Tiefkühltruhe benehmen.
Sie räusperte sich. »Wissen Sie was? Erzählen Sie mir doch einfach, was Sie über mich herausgefunden haben, damit ich Sie nicht weiter langweile.«
Ihre Blicke blieben ineinander hängen. Sie wartete auf seine Erwiderung.