13 014
Smith runzelte die Stirn, als er sah, wie der Kellner Grace nachschenkte. Er hatte sie bisher nie viel trinken sehen, aber heute Abend war es schon das dritte Glas. Sie drehte sich nun zu Nick Farrell herum und lächelte ihn an. Smith erkannte, dass ihr der Stress inzwischen zu schaffen machte. Sie hatte das Essen auf ihrem Teller kaum angerührt, und ihr Lachen, das zu ihm herübertönte, klang gezwungen.
Sein Vorschlag, miteinander zu schlafen, hatte ihr momentanes Leben mit Sicherheit noch verwirrender gemacht. Was war nur aus seiner Professionalität geworden?
Er hatte sich auf bemerkenswerte Weise selbst getäuscht, hatte es geschafft, alle Regeln und Erfahrungen und seinen gesunden Menschenverstand zu missachten, um zu dem Schluss zu gelangen, dass Sex mit Grace akzeptabel wäre. Er fragte sich nun, warum er vor nur zwölf Stunden so fest davon überzeugt gewesen war. Als er jetzt erkannte, welche Erschöpfung sich in Grace’ Zügen spiegelte, als er sah, dass sie zu viel trank, fühlte er …
Reue.
Und Reue war für einen hartgesottenen Abenteurer wie ihn ungefähr so selten wie ein Wegweiser in der Wüste.
»Grace hat mir noch gar nicht erzählt, woher Sie beide sich kennen«, sagte Senatorin Bradford gerade. Dabei hob sie mit eleganter Geste ihre Serviette an und tupfte sich die Lippen ab. Ihr Blick war sehr direkt.
Smith zuckte die Achseln. »Von einer Party.«
Ihrem skeptischen Blick nach zu urteilen stellte diese Antwort die Senatorin nicht zufrieden. Sie würde weitere Fragen stellen. Smith hatte den Eindruck, dass die guten Manieren der Frau einen eisernen Willen verbargen. Das erinnerte ihn an Grace.
»Kennen Sie ihren Mann?«
Die Erwähnung des Mannes, den Smith ständig innerlich verfluchte, erinnerte ihn außerdem daran, dass sie nur eine Klientin war. Und verheiratet war. Ansonsten hatte er nichts gegen Ehebruch, weil er dachte, wenn eine Frau ihren Mann betrügen wollte, wäre das allein ihre Sache. Aber dass Grace mit einem anderen Mann verheiratet war, ärgerte ihn. Nicht, weil er sich Sorgen machte, die Gefühle des Grafen zu verletzen.
Er wollte sie für sich allein.
Er war überrascht über seine Reaktion und sagte sich, er hätte es besser wissen sollen. Grace war eine außergewöhnliche Frau, und so waren seine Reaktionen auf sie ebenfalls außergewöhnlich.
»Ich habe gerade gefragt, ob Sie Ranulf kennen?«, drängte die Senatorin sanft.
»Nein«, erwiderte Smith, legte Messer und Gabel ab und lehnte sich zurück. »Ich bin auch in keiner Weise daran interessiert, ihn kennen zu lernen.«
Bo zog ihre perfekt gestylten Brauen hoch. »Die meisten Leute würden ihn gerne kennen lernen. Er gilt international als Persönlichkeit.«
»Aufgrund wovon? Weil er die Erbschaftslotterie gewonnen hat? Das ist doch bloß Glück und keine Leistung.«
Bo betrachtete ihn einen Moment lang und sagte dann leise: »Manche Leute fragen sich, warum er so anziehend wirkt. Er sieht ziemlich gut aus und hat Stil, und ein Titel wie seiner zieht eine Menge Bewunderung an. Ehrlich gesagt war ich überrascht, als Grace ihn heiratete, doch ich weiß auch, dass ihre Eltern darüber entzückt waren.«
»Nehmen Sie es mir nicht übel, Frau Senatorin, aber Grace’ Ehe geht mich nichts an. Wir kennen uns bloß beruflich.«
»Wirklich? Aber sie kann kaum den Blick von Ihnen wenden, und Sie haben während des gesamten Essens über den Tisch gespäht, um ihre Blicke aufzufangen. Ich möchte annehmen, dass sich mehr zwischen Ihnen abspielt.«
Smith sah Bo an, die ihn freundlich anlächelte. Widerwillig musste er sich eingestehen, dass er sie mochte, auch wenn sie ihn gerade fürchterlich mit ihrem Gerede über Grace geärgert hatte. »Ich glaube, Sie ziehen da voreilige Schlüsse, Frau Senatorin.«
»Ich komme aus einer Familie von Whiskeybrennern, Mr. Smith. Glauben Sie mir, ich kenne mich in Liebesdingen aus.« Damit sah sie bewusst zu Grace hinüber, die gerade einen weiteren tiefen Schluck Wein trank. »Liebesaffären haben meiner Familie schon seit Generationen Umsätze verschafft. In Liebesdingen brauchen die meisten Menschen Trost, und flüssiger Trost scheint immer besonders gut zu wirken. Ich glaube, unsere Grace trinkt aus diesem Grund heute Abend ein bisschen mehr als sonst.«
»Unsere Grace?«
»Okay. Ihre Grace«, erwiderte sie mit einem Zwinkern.
Dann läutete sie mit der kleinen Silberglocke, die neben ihrem Teller stand. Sofort betraten mehrere uniformierte Kellner den Speisesaal, um die Teller abzuräumen. Die Senatorin beugte sich zu Smith und flüsterte: »Ich sage es Ihnen ganz ehrlich, was ich denke. Sie sind ihr Liebhaber.«
Smith zog eine Braue hoch. »Nein, das bin ich nicht.«
Aber genau das wollte er sein. Und zwar dringend. Ganz offensichtlich ging das aber zu Lasten seines Jobs.
Bo sah ihn wissend an, faltete die Serviette zusammen und legte sie ordentlich auf ihren Schoß. »Nun, ich lasse Ihnen Ihre Geheimnisse, aber nur, weil meine Mama mir Manieren beigebracht hat.«
Smith schüttelte lächelnd den Kopf. »Gehörte zu den Manieren auch das Training, wie man Leute ordentlich aushorcht?«
»O nein, das hat mir Daddy beigebracht.« Sie lächelte entzückt.
Dann nickte Bo über die Schulter einem Kellner zu, der hohe, schmale Schnapsgläser vor jeden Gast stellte. Sie waren etwa zehn Zentimeter hoch, hatten einen Durchmesser von drei Zentimetern und enthielten eine bernsteinfarbene Flüssigkeit.
Dann streckte sie die elegante Hand aus und legte sie Smith auf den Arm.
»Bitte, behandeln Sie sie gut, ja? Sie hat in letzter Zeit viel durchgemacht. Sie versucht natürlich ständig, zu allem eine gute Miene zu machen. Aber ich weiß, dass der Graf sich nicht als allzu nett herausgestellt hat. Er hat am Abend unserer Generalprobe versucht, mich zu verführen. Ich habe ihm die Idee, er wäre unwiderstehlich, mit einem Kniestoß in die Lendengegend ausgeredet. Er ist ein Scheißkerl und wird das immer bleiben.«
»Warum erzählen Sie mir das?«
»Weil mir gefällt, wie Grace Sie ansieht.«
Smith lächelte verhalten. »Sie sind eine gute Freundin, nicht wahr?«
»Darauf können Sie verdammt nochmal Gift nehmen.«
»Ich wusste nicht, dass Senatorinnen auch fluchen dürfen.«
»Nur unten im Süden nicht. Ich muss, wenn ich hier im Norden bin, immer alles auf einmal loswerden.« Damit stand Bo auf. Die Gespräche am Tisch verstummten.
Bei den Worten der Freundin sah Smith zu Grace hinüber.
»Ich möchte eine kleine Rede halten. Würdet ihr bitte alle das Glas heben mit Bradfords feinstem Whiskey und einem Schluck Bourbon auf unsere Freundin Grace trinken. Die allerbesten Glückwünsche zu deinem dreißigsten Geburtstag, meine Liebe.«
Im selben Moment wurde eine Geburtstagstorte mit brennenden Kerzen hereingetragen. Smith setzte sein Glas ab, ohne probiert zu haben. Er dachte, dass Bo irgendwie Recht hatte mit der Verbindung zwischen Alkohol und Liebe und dass man in der Flasche immer Erleichterung fand, wenn auch nur vorübergehend. Er war so angespannt, dass ein paar Gläser genau richtig gewesen wären. Aber er trank nie während der Arbeit.
Wenigstens an diese Regel wollte er sich weiterhin halten.
Eine Stunde später begannen die ersten Gäste zu gehen. Nach einer Weile standen nur noch Bo, Grace und Smith im Vorraum.
»Danke«, sagte Grace. Sie hatte eine Hand an die Schläfe gelegt. Mit zusammengekniffenen Augen blickte sie zu dem Kronleuchter hoch, als störte sie das grelle Licht. »Es war sehr schön.«
»Ich finde, du gehst jetzt besser nach Hause.« Die Senatorin lächelte. »Du hast Alkohol noch nie gut vertragen.«
»So viel war es doch gar nicht.«
»Das ist relativ, Schatz.«
Die Frauen umarmten einander zum Abschied. Smith bot der Senatorin die Hand. »Nett, Sie kennen gelernt zu haben.«
»Meinerseits«, erwiderte sie. »Bringen Sie sie sicher nach Hause, ja?«
Smith nickte und dachte, dass er nicht der einzige Mensch war, der auf Grace aufpasste.
Als sie aus dem Hotel traten, blieb Grace stehen und blickte zum Himmel. Sie kuschelte sich in die Stola. Hoch über den Häusern war ein verschwommener Mond zu sehen, dessen Licht über den Strahlen der Straßenlaternen und den hell erleuchteten Wolkenkratzern sehr fahl wirkte.
Sie gingen langsam zu Fuß und im rhythmischen Gleichschritt zur Fifth Avenue. Die roten Hecklichter der vorbeifahrenden Taxis leuchteten kurz auf, ehe sie verschwanden. Nur wenige Fußgänger waren unterwegs. Eine leichte Brise wehte gelegentlich einen Hauch ihres Parfüms zu ihm herüber.
»Ich bin immer schon gerne nachts in der Stadt unterwegs gewesen«, murmelte Grace und blickte an den Gebäuden hoch.
Doch da blieb ihr Absatz in einem Spalt zwischen den Pflastersteinen stecken. Sie taumelte nach vorn.
Smith konnte sie gerade noch um die Taille fassen und spürte, wie sie sich anschließend warm und weich an ihn lehnte. Seine Finger umklammerten ihr schmales Handgelenk. Er wollte sie nicht gleich wieder loslassen, aber sie konnten kaum Arm in Arm weitergehen. Ein einziges Foto von ihnen beiden, und ihr Leben würde noch viel komplizierter.
»Wir sollten nicht so eng nebeneinander gehen«, murmelte sie einen Atemzug später.
Als sie sich aus seinem Arm löste, gab er sie frei.
»Denn schließlich«, fuhr sie mit lauterer Stimme fort, »bin ich verheiratet. Eine verdammt verheiratete Frau.«
Smith sah sie an. Sie runzelte die Stirn.
»Bo ist das nicht.Verheiratet.«
Smith ließ den Blick zur anderen Straßenseite schweifen. »Sie hat mir erzählt, dass ihr Mann gestorben ist.«
»Ja, vor drei Jahren.« Grace verstummte. »Ihr beide habt euch gut unterhalten, nicht wahr. Sie ist auch sehr schön.«
Smith zog eine Braue hoch und fragte sich, was sie ihm wohl damit sagen wollte. »Ja, das ist sie.«
»Sag mal, Smith …« Sie zog ihre Stola mit einer heftigen Geste fester um sich. »Was macht eine Frau in deinen Augen schön? Was ist an Bo schön?«
Sie schlenderten gerade unter einer Straßenlaterne her, deren Schein auf Grace’ Gesicht fiel. Smith wusste genau, wie er Schönheit definieren würde. Doch ehe er es in Worte fassen konnte, sprach sie weiter.
»Oh, antworte lieber nicht.« Grace machte eine Handbewegung, als wollte sie die Frage auswischen. »Ich weiß gar nicht, warum ich das gefragt habe.Vermutlich nur, um mich selbst zu quälen.«
Dieses Geständnis schien sie selbst zu überraschen. Daher fügte sie rasch hinzu: »Bos Mann war wunderbar, und sie hat ihn sehr geliebt. Das war eine Ehe, die echt funktionierte. Es war sehr grausam, dass er so früh starb.«
Smiths Instinkt regte sich.
Er warf einen Blick nach hinten und sah eine Gestalt in der Dunkelheit verschwinden. Lässig knöpfte er seinen Smoking auf, um leichter an seine Waffe zu gelangen.
»Ich glaube, es ist Zeit, nach Hause zu gehen«, bemerkte er und ergriff mit fester Hand Grace’ Arm. Sie sah zu ihm hoch. Da er sie nicht beunruhigen wollte, fügte er hinzu: »Es ist schon spät.«
»Uns folgt jemand, nicht wahr?«, flüsterte sie.
»Vielleicht.«
Er spürte ihre Angst, weil die Spannung sich in ihrem gesamten Körper ausbreitete. Rein äußerlich war ihr nichts anzumerken. Sie ging einfach mit erhobenem Kopf weiter.
Klassefrau, dachte Smith.
Er drehte sich wie zufällig um, suchte aber nach einer Gelegenheit, sie in Sicherheit zu bringen. Da kamen sie an einem gut besuchten Restaurant vorbei.
»Gehen wir hinein«, sagte er und zog sie mit sich in das volle Restaurant. Sobald sie drinnen waren, schnappte er sein Handy auf und rief Eddie an.
Sie standen in einer größeren Gruppe, die alle darauf warteten, einen Tisch angewiesen zu bekommen. Doch der Kellner trat sofort und mit strahlendem Lächeln auf Grace zu. »Herzlich willkommen, Gräfin. Möchten Sie heute Abend bei uns speisen?«
Grace begann eine Unterhaltung mit ihm. Smith blieb dicht in ihrer Nähe und hielt durch die großen Fenster Ausschau nach Eddie. Als der schwarze Explorer anhielt, nahm er Grace beim Arm und zog sie nach draußen. Sie waren kaum aus der Tür, als ein Mann auf sie zusprang. Blitzschnell gab Smith Grace Deckung. Kameras blitzten auf.
Smith schob Grace, noch ehe das blendend weiße Licht verlöscht war, in den Explorer, schlug die Tür hinter ihr zu und stürzte sich dann auf den Paparazzo. Mit drei Schritten war er bei dem Mann und zerrte ihn in die kleine Seitengasse neben dem Restaurant. Der Mann begann zu schreien. Smith schnappte seine Kamera, riss den Film heraus und presste den Mann dann gegen die Mauer.
»Entschuldigen Sie, was sagten Sie gerade?« Smith hielt den Unterarm vor den Hals des Mannes, lächelte ihn aber dabei freundlich an.
»Ich verklage Sie! Das ist mein Film …«
»Hier, da haben Sie ihn.« Er schob dem Mann die ruinierten Negative in die Tasche.
»Lassen Sie mich los!«
»Erst wenn Sie versprechen, sie von nun an in Ruhe zu lassen.«
»Wir leben in einem freien Land! Sie können mich nicht einfach so angreifen. Wenn Sie mich nicht sofort loslassen, verklage ich Sie.«
Der Mann wehrte sich heftig. Sein Gesicht war rot angelaufen. Smith hatte aber keine Mühe, ihn festzuhalten. Wie lange der Bursche es wohl aushalten konnte?
»Sie ist öffentliches Eigentum!«, spottete der Fotograf. »Aber wer interessiert sich schon wirklich für eine solche Eisprinzessin …«
Smiths Lächeln gefror. »Was haben Sie da gesagt?«
»Ich sagte …«
Smith verlagerte sein Gewicht und drückte den Arm fester gegen die Kehle des Mannes, um ihm die Worte abzuschneiden. »Doch wenn ich es mir überlege, möchte ich lieber nicht, dass Sie das wiederholen. Könnte sein, dass ich dann wütend werde, und das wäre echt unangenehm.«
»Ach ja?«, brachte der Mann mit gepresster Stimme heraus. »Was haben Sie denn vor?«
Smith hielt sein Gesicht dicht vor die Nase des Fotografen. Der Mann verstummte. »Sie wollen nicht wirklich wissen, wozu ich fähig bin.«
Der Mann sah nun ängstlich aus. Sein Blick wanderte nach rechts und links, als suchte er Beistand. Doch niemand war in der Nähe.
Smith hielt den Mann an die Ziegelmauer gepresst und malte sich alle möglichen Verletzungen aus. Er hoffte, der Paparazzo würde noch etwas Beleidigendes sagen, damit Smith einen Vorwand hatte, kräftig zuzuschlagen. Dass diese Ratte es gewagt hatte, abfällig über Grace zu reden, hatte ihn mächtig gereizt.
»Haben Sie genug?«, fragte er den Mann.
Der nickte heftig.
»Ich denke, wir sind einer Meinung, was die Gräfin betrifft. Falls ich Ihnen wieder begegne, werde ich nicht nur den Film aus der Kamera reißen.Verstanden?«
Als Smith ihn losließ, sackte der Mann an der Mauer zusammen und hielt sich den Hals. Smith wandte sich zum Gehen.
»Ich habe keine Angst vor Ihnen«, rief der Mann ihm nach ein paar Schritten hinterher.
Doch ein einziger Blick über die Schulter ließ ihn verstummen.
Als Smith in den Wagen stieg, starrte Grace ihn wortlos an. Sie wirkte schockiert. Das war kaum überraschend.
»Es ging alles so schnell«, murmelte sie, als sie losfuhren.
»Ja, wenn es sein muss«, erwiderte er. »Eddie, fahr zum Hintereingang und setz uns dort ab. Falls unser Blitzlichtfreund seine Kumpane zu Hilfe ruft.«
Am Vortag hatte Eddie auf Smiths Bitte hin die Rückseite von Grace’ Wohngebäude untersucht. Um das gesamte Untergeschoss zog sich ein Gehsteig, von dem aus man Zugang zur Eingangshalle hatte. Offenbar müssten sie von nun an diesen Eingang benutzen.
Er spürte, wie Grace ihn ansah.
»Der Fotograf …«, begann sie. »Hast du ihn verletzt?«, fragte sie leise.
»Nein.«
Sie schwieg eine Weile. »Bist du sicher?«
Das war also der Grund, warum sie ihn anstarrte wie einen Fremdling. Sie hatte noch nie gesehen, wie jemand einen anderen Menschen in eine Gasse schleppte und dann allein wieder herauskam.
»Jaja, alles in Ordnung.«
Sie schlang die Arme um den Oberkörper. Smith war nur froh, dass sie nicht wusste, was er dem Mann gerne alles angetan hätte.
Zehn Minuten später hielt Eddie am Hintereingang. Smith schob Grace durch die kleine Tür in einen muffig riechenden Gang, der in die Eingangshalle führte. Der Portier hinter dem Empfang war eingeschlafen. Smith gab ihm einen kräftigen Klaps auf die Schulter.
»Aufstehen. Dafür werden Sie nicht bezahlt«, sagte er grob.
Der Mann schüttelte den Kopf, ob aus Beschämung oder einfach nur, um wach zu werden, war nicht klar.
Dann holte er den Lift und unterbrach die Entschuldigungen des Portiers mit den Worten: »Wenn Sie nicht wachbleiben können, machen Sie eine andere Schicht oder suchen Sie sich einen anderen Job.«
Grace’ Stimme klang wesentlich sanfter. Sie lächelte den Mann beruhigend an. »Ist schon gut. Ich denke, Ihr neues Baby macht Ihnen ganz schön zu schaffen.«
Dann unterhielten die beiden sich über die Familie des Mannes, bis der Lift kam.
Als sie nebeneinander im Aufzug hochfuhren, merkte Smith, dass Grace’ Augen wieder lichtlos blickten. Sie stand wohl immer noch unter Schock. Es war kein Spaß, von einem Fotografen überfallen zu werden und dann zuzusehen, wie der eigene Leibwächter mit dem Mann umsprang.
Smith ging noch einmal innerlich durch, was sich in der Gasse abgespielt hatte. Er war nahe daran gewesen, alle Hemmungen zu verlieren, um den Mann tatsächlich zu attackieren. Er hatte dafür gesorgt, dass das Foto zerstört war, aber das schien nicht genug, denn der Mann hatte Grace in Angst versetzt und sie anschließend beleidigt.
Rückblickend war seine Reaktion sehr beunruhigend. Einen Klienten zu schützen war das eine, aber Grace’ Ehre zu verteidigen etwas ganz anderes. Er rief sich in Erinnerung, dass sie ihn dafür bezahlte, sie zu beschützen, nicht, um sich wie ein bezahlter Randalierer zu benehmen.
Als sie die Wohnung betraten und die Alarmanlage deaktiviert hatten, wusste Smith, es würde problematisch. Mit Grace überschritt er alle möglichen Grenzen. Sein klarer Verstand stand auf dem Spiel, und das konnte er sich am allerwenigsten leisten.
Sie verdiente es, dass er sein Bestes gab. Das schuldete er ihr.
Er selbst wäre kaum mit weniger zufrieden.
 
Grace trat ins Wohnzimmer. Hinter ihr schlug die Tür zu.
»Brauchst du noch irgendetwas?«, fragte Smith.
Sie drehte sich um. Er wartete auf ihre Antwort: eine schlanke, hochgewachsene Gestalt, die von der Flurlampe von hinten beschienen wurde.
Ihr ging die Szene mit dem Fotografen nicht aus dem Kopf, und sie stellte sich den Ausgang anders vor, gewaltsamer. Als Smith vorgesprungen war, um sie zu schützen, konnte kein Mensch wissen, ob eine Linse auf sie gerichtet war oder eine Gewehrmündung. Aber er war bereit gewesen, es mit allem aufzunehmen: einer Kugel, einem Messer, einer Faust oder einem Blitzlicht.
Wie leicht hätte alles schlimm ausgehen können, weil er in genau dem Moment vor sie gesprungen war. John war bereit gewesen, sein Leben für sie einzusetzen. Jetzt war sie dankbar und wütend zugleich, denn wenn er das für sie zu tun bereit war, galt das sicher auch für andere Klienten. Machte es ihm denn gar nichts aus, in welche Gefahr er sich brachte?
Plötzlich schien jeder Blick in die Zukunft wie nutzloser Optimismus. Jetzt, heute Abend war er bei ihr. Heute Nacht würden sie zusammen verbringen.
Wie sehr sie ihn begehrte!
Zum Teufel mit Happy Ends, dachte sie.
Grace war durch den Wein immer noch angeregt und mutiger als sonst. Nun trat sie langsam auf ihn zu und ließ dabei die Stola von den Schultern gleiten. Sie sah im Dämmerlicht, wie er der Seide, die an ihren Armen entlang und über die Hüften auf den Boden glitt, mit Blicken folgte. Als sie sich wieder ansahen, glänzten seine Augen hell.
Sie berührte die seidigen Revers seines Smokings und ließ die Finger darüber gleiten. Dann lehnte sie sich leicht an ihn, damit ihre Brüste ihn berührten. Sie reckte sich zu seinem Ohr hoch.
»Lieben wir uns«, hauchte sie.
Sie spürte, wie ein Schauder ihn durchfuhr.
Doch das darauffolgende Zögern entmutigte sie.
»Was ist?«, fragte sie.
»Es ist nicht recht, Grace«, sagte er und nahm ihre Hände. »Es tut mir leid.«
Grace runzelte verwirrt die Stirn und wollte ihn wieder berühren. »Du hast doch gesagt, es sei meine Entscheidung. Und ich habe mich entschieden.«
»Ich hätte dich niemals in diese Lage bringen dürfen.« Er trat einen Schritt zurück.
Grace starrte ihn an, weil sie nicht begriff, was er meinte.
Sie wurde wütend, als er sie weiterhin fest ansah.
»Verdammt nochmal!« Als er weiterhin schwieg, verlangte sie: »Warum tust du mir das an? Wolltest du mich nur betteln sehen?«
»Natürlich nicht.«
»Warum dann? Wenn ich gewusst hätte, dass dies bloß ein Spielchen ist …«
»Es war nie nur ein Spielchen«, erwiderte er heftig.
Sie tobte vor Frustration. »Na, ich habe dich auch nie für einen Feigling gehalten. Wenn du wirklich der Weltmeister in One-Night-Stands bist, was stört dich an einer kleinen Nummer? Das hast du doch schon öfter gemacht und es überlebt. Dein knochenhartes Image ist sogar dabei intakt geblieben.«
Da umklammerte er blitzschnell ihre Arme so fest, dass es wehtat.
»Dräng mich nicht, Grace. Ich bin nicht in Stimmung.«
»Dann müssen wir das ändern. Küss mich«, murmelte sie und sah ihm in die Augen.
»Hör auf damit.«
»Nein.«
Da presste er ihr die Arme auf den Rücken und schob sie gegen die Wand.
»Jesus, ist das alles, was du von mir willst?« Er drückte seinen erregten Penis fest gegen sie.
Sie erwiderte kühn seinen Blick. »Heute Nacht. Jetzt!«
Er schloss die Augen. Dann riss er sie wieder auf und senkte die Lippen auf ihren Mund.
Sein Kuss war fest, aber genau, wie sie es sich gewünscht hatte. Sie befreite sich aus seinem Griff, klammerte sich an sein Jackett und streifte es ihm von den Schultern. Gleichzeitig zerrten seine Hände an ihrem Kleid. Man hörte den Stoff reißen, denn er zog so fest an dem feinen Chiffon, bis er sie entblößte. Dann legte er beide Hände auf ihre Brüste.
Seine Lippen bedrängten sie heiß und hungrig. Seine Zunge bohrte sich in ihren Mund. Sein Körper presste sich hart an sie. Grace grub die Fingernägel in seinen Rücken und stöhnte auf.
Smith erstarrte, als er den heiseren Laut vernahm. Dann sah er ihr in die Augen und schob sie sanft von sich.
Er fuhr sich mit einer Hand durch das kurze Haar, bückte sich und hob ihre Stola hoch.
»Geh ins Bett«, befahl er ihr und warf sie ihr um die Schultern.
Grace fing den Seidenschal auf, weigerte sich aber, sich damit zu bedecken. Sie wusste, dass es ihm schwerfiel, nicht auf ihre nackten Brüste zu starren. »Du willst mich doch.«
Smith stürzte wieder auf sie zu und klatschte beide Hände neben ihrem Kopf an die Wand dahinter. Als er sich vorbeugte, verspürte sie keine Angst. Sein Blick glitt über ihren Körper.
»Yeah, ich will dich. So sehr, dass es verdammt nochmal wehtut. Zufrieden?«
»Nein«, sagte sie leise und nachdrücklich. Dann strich sie ihm über die Wange.
Er kniff die Augen zusammen, starrte auf ihren Mund und schloss die Augen. So verharrte er einen langen Augenblick.
Als er sie wieder ansah, wirkte sein Blick kalt wie Eis. Gelassen trat er zurück.
»Was ist los?«, flüsterte sie.
»Du bist heute Abend nicht bei klarem Verstand. Und heute Morgen war ich derjenige.«
Damit drehte er sich um und ging in sein Zimmer. Sie hörte, wie er leise die Tür schloss, und erkannte, dass er sie zum ersten Mal deutlich abgewiesen hatte.
Im darauffolgenden Schweigen erkannte Grace die Situation deutlich, so deutlich, dass sie am liebsten geweint hätte. Stumm vor Schreck starrte sie auf ihr zerrissenes Kleid. Umständlich zog sie das Oberteil wieder hoch, um ihren Busen zu bedecken, und ging in ihr Zimmer.
Als sie an seiner Tür vorbeiging, konnte sie sich nicht dazu durchringen, sie anzusehen.
 
Als Grace am nächsten Morgen aufwachte, war ihr erster Gedanke, vielleicht alles nur geträumt zu haben. Dann drehte sie sich um und sah das zerrissene Kleid auf einem Stuhl.
O Gott! Sie hatte versucht, ihn zu verführen, und er hatte sie abgewiesen.
Stöhnend verschwand sie im Bad und nahm zwei Aspirin. Nach dem Duschen hüllte sie sich in den flauschigen Bademantel und ging auf den Gang hinaus.
Seine Tür stand einen Spalt weit offen.
Ein Bett sah benutzt aus. Die beiden Kissen waren gegen die Wand gestellt, daneben lag ein aufgeschlagenes Buch. Das andere Bett war ordentlich gemacht. Am Fußende lagen sein Smoking und seine Lederjacke.
Sie wollte sich gerade zum Gehen wenden, als sie auf dem antiken Schreibtisch seine Brieftasche sah. Daneben lagen seine Waffe, das Schulterhalfter und ein Schlüsselbund.
»Suchst du etwas?«
Ihr Blick zuckte hoch zu dem Spiegel über dem Schreibtisch. Smith stand mit einer Kaffeetasse in der Hand im Türrahmen. Er sah umwerfend gut aus in seinem weißen T-Shirt und den tief sitzenden schwarzen Jeans. Ihr Mund war wie ausgetrocknet, als sie sich vorstellte, ihn zu küssen, und sie hätte am liebsten geflucht. Ihrer Fantasie schienen keine Grenzen gesetzt zu sein, ihrer Bereitschaft, sich ihm an den Hals zu werfen, auch nicht. Nach dem gestrigen Abend hätte sie es eigentlich besser wissen sollen.
»Das Bad ist frei«, sagte sie nur.
Dann wandte sie sich rasch zum Gehen und versuchte zu ignorieren, wie weit er zurückwich, als sie um ihn herumtrat. Sie ging in ihr Zimmer, um sich anzuziehen. Ihr war klar, dass sie von einem Extrem ins andere gefallen war.Von der Eisprinzessin zur Hure.
Wohl kaum eine Verbesserung, dachte sie reumütig.
 
Als Grace und John am Montagmorgen ins Büro kamen, sah Kat sie grinsend an. »Hier spielt heute alles verrückt. Mr. Lamont ist bereits zweimal hier gewesen. Sie haben zehn Telefonnachrichten. Der Partyservice hat angerufen. Sie behaupten, Frederique sei vorbeigekommen, um das Menü zu diskutieren. Sie wirkten ein bisschen verunsichert, schicken aber in jedem Fall einen neuen Vorschlag vorbei. Ich glaube, sie hatten gedacht, er wirke dieses Jahr gar nicht mit.«
»Tut er auch nicht.« Grace verbarg ihren Ärger.
»Oh, ja, noch etwas. Detective Marks hat gerade angerufen. Sagte, Sie wüssten, worum es geht.«
Da ertönte Smiths Handy. Er hatte es schon am Ohr.
Grace spürte, wie ihr Magen einen Salto schlug.
Sie gingen in ihr Büro und schlossen die Tür hinter sich. Smith sagte: »Ja, ich bin bei ihr.«
Grace beobachtete Smith ängstlich und setzte sich. Er telefonierte noch ein paar Minuten, aber aus seinen einsilbigen Antworten konnte sie sich keinen Reim machen.
Sobald er aufgelegt hatte, fragte sie tonlos: »Wer ist es?«
Er kam um den Schreibtisch herum dichter auf sie zu, als er es seit Tagen gewagt hatte. Sein Blick war sehr sanft. Grace hatte Angst.
»Wer ist es«, wiederholte sie.
»Sie haben den Namen noch nicht veröffentlicht, weil sie die Familie noch nicht benachrichtigen konnten. Es ist gestern Abend passiert. Eine Angestellte hat die Leiche gefunden.«
Grace schloss die Augen.
Sie spürte seine Hand auf ihrer. Das war die erste Berührung seit dem schrecklichen Abend ihres Geburtstags.
»Gut, dass wir am Wochenende nach Newport fahren, nicht wahr?«, sagte sie mit aufgesetzter Fröhlichkeit. »Alles scheint immer in New York zu passieren.«
Sie versuchte, tapfer zu lächeln, doch es gelang ihr nicht. Mit grimmiger Miene sah sie aus dem Fenster, damit Smith sie nicht beobachten konnte.
»Sieh mich an, Grace.« Zögernd wandte sie den Blick. »Ich sorge dafür, dass dir nichts geschieht.«
»Das möchte ich gerne glauben.«
Als Kat durchgab, dass ihr erster Termin wartete, trat John zum Konferenztisch.
Grace drückte auf die Sprechanlage und sagte, sie brauche noch einen Moment.
Sie dachte an Mimi Lauer und ging zum Telefon. Der Gedanke, Isadora könnte tot sein, war so entsetzlich, dass sie mit jemandem reden musste, der genau wusste, wie hilflos und traurig sie sich fühlte.
Als sich der Anrufbeantworter meldete, hinterließ sie eine Nachricht.
Grace spürte, wie sich winzige Schweißperlen auf ihrer Stirn sammelten. Dann überkam sie eine Welle der Übelkeit, eine Hitzewallung im gesamten Körper, verbunden mit Sehstörungen. Sie versuchte, tief Luft zu holen, aber ihre Lungen wirkten wie aus Stein. Sie ermahnte sich, sie würde nicht sterben. Niemand starb aus Angst.Aber man wünschte sich, tot zu sein.
Grace zuckte zusammen, weil sie an den Mörder dachte und an sein letztes Opfer.
Das war eine Redewendung, die sie nie wieder benutzen würde.