13 

Smith runzelte die Stirn, als er sah, wie
der Kellner Grace nachschenkte. Er hatte sie bisher nie viel
trinken sehen, aber heute Abend war es schon das dritte Glas. Sie
drehte sich nun zu Nick Farrell herum und lächelte ihn an. Smith
erkannte, dass ihr der Stress inzwischen zu schaffen machte. Sie
hatte das Essen auf ihrem Teller kaum angerührt, und ihr Lachen,
das zu ihm herübertönte, klang gezwungen.
Sein Vorschlag, miteinander zu schlafen, hatte ihr
momentanes Leben mit Sicherheit noch verwirrender gemacht. Was war
nur aus seiner Professionalität geworden?
Er hatte sich auf bemerkenswerte Weise selbst
getäuscht, hatte es geschafft, alle Regeln und Erfahrungen und
seinen gesunden Menschenverstand zu missachten, um zu dem Schluss
zu gelangen, dass Sex mit Grace akzeptabel wäre. Er fragte sich
nun, warum er vor nur zwölf Stunden so fest davon überzeugt gewesen
war. Als er jetzt erkannte, welche Erschöpfung sich in Grace’ Zügen
spiegelte, als er sah, dass sie zu viel trank, fühlte er …
Reue.
Und Reue war für einen hartgesottenen Abenteurer
wie ihn ungefähr so selten wie ein Wegweiser in der Wüste.
»Grace hat mir noch gar nicht erzählt, woher Sie
beide sich kennen«, sagte Senatorin Bradford gerade. Dabei hob sie
mit eleganter Geste ihre Serviette an und tupfte sich die Lippen
ab. Ihr Blick war sehr direkt.
Smith zuckte die Achseln. »Von einer Party.«
Ihrem skeptischen Blick nach zu urteilen stellte
diese Antwort die Senatorin nicht zufrieden. Sie würde weitere
Fragen stellen. Smith hatte den Eindruck, dass die guten Manieren
der Frau einen eisernen Willen verbargen. Das erinnerte ihn an
Grace.
»Kennen Sie ihren Mann?«
Die Erwähnung des Mannes, den Smith ständig
innerlich verfluchte, erinnerte ihn außerdem daran, dass sie nur
eine Klientin war. Und verheiratet war. Ansonsten hatte er nichts
gegen Ehebruch, weil er dachte, wenn eine Frau ihren Mann betrügen
wollte, wäre das allein ihre Sache. Aber dass Grace mit einem
anderen Mann verheiratet war, ärgerte ihn. Nicht, weil er sich
Sorgen machte, die Gefühle des Grafen zu verletzen.
Er wollte sie für sich allein.
Er war überrascht über seine Reaktion und sagte
sich, er hätte es besser wissen sollen. Grace war eine
außergewöhnliche Frau, und so waren seine Reaktionen auf sie
ebenfalls außergewöhnlich.
»Ich habe gerade gefragt, ob Sie Ranulf kennen?«,
drängte die Senatorin sanft.
»Nein«, erwiderte Smith, legte Messer und Gabel ab
und lehnte sich zurück. »Ich bin auch in keiner Weise daran
interessiert, ihn kennen zu lernen.«
Bo zog ihre perfekt gestylten Brauen hoch. »Die
meisten Leute würden ihn gerne kennen lernen. Er gilt international
als Persönlichkeit.«
»Aufgrund wovon? Weil er die Erbschaftslotterie
gewonnen hat? Das ist doch bloß Glück und keine Leistung.«
Bo betrachtete ihn einen Moment lang und sagte dann
leise: »Manche Leute fragen sich, warum er so anziehend
wirkt. Er sieht ziemlich gut aus und hat Stil, und ein Titel wie
seiner zieht eine Menge Bewunderung an. Ehrlich gesagt war ich
überrascht, als Grace ihn heiratete, doch ich weiß auch, dass ihre
Eltern darüber entzückt waren.«
»Nehmen Sie es mir nicht übel, Frau Senatorin, aber
Grace’ Ehe geht mich nichts an. Wir kennen uns bloß
beruflich.«
»Wirklich? Aber sie kann kaum den Blick von Ihnen
wenden, und Sie haben während des gesamten Essens über den Tisch
gespäht, um ihre Blicke aufzufangen. Ich möchte annehmen, dass sich
mehr zwischen Ihnen abspielt.«
Smith sah Bo an, die ihn freundlich anlächelte.
Widerwillig musste er sich eingestehen, dass er sie mochte, auch
wenn sie ihn gerade fürchterlich mit ihrem Gerede über Grace
geärgert hatte. »Ich glaube, Sie ziehen da voreilige Schlüsse, Frau
Senatorin.«
»Ich komme aus einer Familie von Whiskeybrennern,
Mr. Smith. Glauben Sie mir, ich kenne mich in Liebesdingen aus.«
Damit sah sie bewusst zu Grace hinüber, die gerade einen weiteren
tiefen Schluck Wein trank. »Liebesaffären haben meiner Familie
schon seit Generationen Umsätze verschafft. In Liebesdingen
brauchen die meisten Menschen Trost, und flüssiger Trost scheint
immer besonders gut zu wirken. Ich glaube, unsere Grace trinkt aus
diesem Grund heute Abend ein bisschen mehr als sonst.«
»Unsere Grace?«
»Okay. Ihre Grace«, erwiderte sie mit einem
Zwinkern.
Dann läutete sie mit der kleinen Silberglocke, die
neben ihrem Teller stand. Sofort betraten mehrere uniformierte
Kellner den Speisesaal, um die Teller abzuräumen. Die Senatorin
beugte sich zu Smith und flüsterte: »Ich sage es Ihnen ganz
ehrlich, was ich denke. Sie sind ihr Liebhaber.«
Smith zog eine Braue hoch. »Nein, das bin ich
nicht.«
Aber genau das wollte er sein. Und zwar dringend.
Ganz offensichtlich ging das aber zu Lasten seines Jobs.
Bo sah ihn wissend an, faltete die Serviette
zusammen und legte sie ordentlich auf ihren Schoß. »Nun, ich lasse
Ihnen Ihre Geheimnisse, aber nur, weil meine Mama mir Manieren
beigebracht hat.«
Smith schüttelte lächelnd den Kopf. »Gehörte zu den
Manieren auch das Training, wie man Leute ordentlich
aushorcht?«
»O nein, das hat mir Daddy beigebracht.« Sie
lächelte entzückt.
Dann nickte Bo über die Schulter einem Kellner zu,
der hohe, schmale Schnapsgläser vor jeden Gast stellte. Sie waren
etwa zehn Zentimeter hoch, hatten einen Durchmesser von drei
Zentimetern und enthielten eine bernsteinfarbene Flüssigkeit.
Dann streckte sie die elegante Hand aus und legte
sie Smith auf den Arm.
»Bitte, behandeln Sie sie gut, ja? Sie hat in
letzter Zeit viel durchgemacht. Sie versucht natürlich ständig, zu
allem eine gute Miene zu machen. Aber ich weiß, dass der Graf sich
nicht als allzu nett herausgestellt hat. Er hat am Abend unserer
Generalprobe versucht, mich zu verführen. Ich habe ihm die Idee, er
wäre unwiderstehlich, mit einem Kniestoß in die Lendengegend
ausgeredet. Er ist ein Scheißkerl und wird das immer
bleiben.«
»Warum erzählen Sie mir das?«
»Weil mir gefällt, wie Grace Sie ansieht.«
Smith lächelte verhalten. »Sie sind eine gute
Freundin, nicht wahr?«
»Darauf können Sie verdammt nochmal Gift
nehmen.«
»Ich wusste nicht, dass Senatorinnen auch fluchen
dürfen.«
»Nur unten im Süden nicht. Ich muss, wenn ich hier
im Norden bin, immer alles auf einmal loswerden.« Damit stand Bo
auf. Die Gespräche am Tisch verstummten.
Bei den Worten der Freundin sah Smith zu Grace
hinüber.
»Ich möchte eine kleine Rede halten. Würdet ihr
bitte alle das Glas heben mit Bradfords feinstem Whiskey und einem
Schluck Bourbon auf unsere Freundin Grace trinken. Die allerbesten
Glückwünsche zu deinem dreißigsten Geburtstag, meine Liebe.«
Im selben Moment wurde eine Geburtstagstorte mit
brennenden Kerzen hereingetragen. Smith setzte sein Glas ab, ohne
probiert zu haben. Er dachte, dass Bo irgendwie Recht hatte mit der
Verbindung zwischen Alkohol und Liebe und dass man in der Flasche
immer Erleichterung fand, wenn auch nur vorübergehend. Er war so
angespannt, dass ein paar Gläser genau richtig gewesen wären. Aber
er trank nie während der Arbeit.
Wenigstens an diese Regel wollte er sich weiterhin
halten.
Eine Stunde später begannen die ersten Gäste zu
gehen. Nach einer Weile standen nur noch Bo, Grace und Smith im
Vorraum.
»Danke«, sagte Grace. Sie hatte eine Hand an die
Schläfe gelegt. Mit zusammengekniffenen Augen blickte sie zu dem
Kronleuchter hoch, als störte sie das grelle Licht. »Es war sehr
schön.«
»Ich finde, du gehst jetzt besser nach Hause.« Die
Senatorin lächelte. »Du hast Alkohol noch nie gut vertragen.«
»So viel war es doch gar nicht.«
»Das ist relativ, Schatz.«
Die Frauen umarmten einander zum Abschied. Smith
bot der Senatorin die Hand. »Nett, Sie kennen gelernt zu
haben.«
»Meinerseits«, erwiderte sie. »Bringen Sie sie
sicher nach Hause, ja?«
Smith nickte und dachte, dass er nicht der einzige
Mensch war, der auf Grace aufpasste.
Als sie aus dem Hotel traten, blieb Grace stehen
und blickte zum Himmel. Sie kuschelte sich in die Stola. Hoch über
den Häusern war ein verschwommener Mond zu sehen, dessen Licht über
den Strahlen der Straßenlaternen und den hell erleuchteten
Wolkenkratzern sehr fahl wirkte.
Sie gingen langsam zu Fuß und im rhythmischen
Gleichschritt zur Fifth Avenue. Die roten Hecklichter der
vorbeifahrenden Taxis leuchteten kurz auf, ehe sie verschwanden.
Nur wenige Fußgänger waren unterwegs. Eine leichte Brise wehte
gelegentlich einen Hauch ihres Parfüms zu ihm herüber.
»Ich bin immer schon gerne nachts in der Stadt
unterwegs gewesen«, murmelte Grace und blickte an den Gebäuden
hoch.
Doch da blieb ihr Absatz in einem Spalt zwischen
den Pflastersteinen stecken. Sie taumelte nach vorn.
Smith konnte sie gerade noch um die Taille fassen
und spürte, wie sie sich anschließend warm und weich an ihn lehnte.
Seine Finger umklammerten ihr schmales Handgelenk. Er wollte sie
nicht gleich wieder loslassen, aber sie konnten kaum Arm in Arm
weitergehen. Ein einziges Foto von ihnen beiden, und ihr Leben
würde noch viel komplizierter.
»Wir sollten nicht so eng nebeneinander gehen«,
murmelte sie einen Atemzug später.
Als sie sich aus seinem Arm löste, gab er sie
frei.
»Denn schließlich«, fuhr sie mit lauterer Stimme
fort, »bin ich verheiratet. Eine verdammt verheiratete Frau.«
Smith sah sie an. Sie runzelte die Stirn.
»Bo ist das nicht.Verheiratet.«
Smith ließ den Blick zur anderen Straßenseite
schweifen. »Sie hat mir erzählt, dass ihr Mann gestorben
ist.«
»Ja, vor drei Jahren.« Grace verstummte. »Ihr beide
habt euch gut unterhalten, nicht wahr. Sie ist auch sehr
schön.«
Smith zog eine Braue hoch und fragte sich, was sie
ihm wohl damit sagen wollte. »Ja, das ist sie.«
»Sag mal, Smith …« Sie zog ihre Stola mit einer
heftigen Geste fester um sich. »Was macht eine Frau in deinen Augen
schön? Was ist an Bo schön?«
Sie schlenderten gerade unter einer Straßenlaterne
her, deren Schein auf Grace’ Gesicht fiel. Smith wusste genau, wie
er Schönheit definieren würde. Doch ehe er es in Worte fassen
konnte, sprach sie weiter.
»Oh, antworte lieber nicht.« Grace machte eine
Handbewegung, als wollte sie die Frage auswischen. »Ich weiß gar
nicht, warum ich das gefragt habe.Vermutlich nur, um mich selbst zu
quälen.«
Dieses Geständnis schien sie selbst zu überraschen.
Daher fügte sie rasch hinzu: »Bos Mann war wunderbar, und sie hat
ihn sehr geliebt. Das war eine Ehe, die echt funktionierte. Es war
sehr grausam, dass er so früh starb.«
Smiths Instinkt regte sich.
Er warf einen Blick nach hinten und sah eine
Gestalt in der Dunkelheit verschwinden. Lässig knöpfte er seinen
Smoking auf, um leichter an seine Waffe zu gelangen.
»Ich glaube, es ist Zeit, nach Hause zu gehen«,
bemerkte er und ergriff mit fester Hand Grace’ Arm. Sie sah zu ihm
hoch. Da er sie nicht beunruhigen wollte, fügte er hinzu: »Es ist
schon spät.«
»Uns folgt jemand, nicht wahr?«, flüsterte
sie.
»Vielleicht.«
Er spürte ihre Angst, weil die Spannung sich in
ihrem gesamten Körper ausbreitete. Rein äußerlich war ihr nichts
anzumerken. Sie ging einfach mit erhobenem Kopf weiter.
Klassefrau, dachte Smith.
Er drehte sich wie zufällig um, suchte aber nach
einer Gelegenheit, sie in Sicherheit zu bringen. Da kamen sie an
einem gut besuchten Restaurant vorbei.
»Gehen wir hinein«, sagte er und zog sie mit sich
in das volle Restaurant. Sobald sie drinnen waren, schnappte er
sein Handy auf und rief Eddie an.
Sie standen in einer größeren Gruppe, die alle
darauf warteten, einen Tisch angewiesen zu bekommen. Doch der
Kellner trat sofort und mit strahlendem Lächeln auf Grace zu.
»Herzlich willkommen, Gräfin. Möchten Sie heute Abend bei uns
speisen?«
Grace begann eine Unterhaltung mit ihm. Smith blieb
dicht in ihrer Nähe und hielt durch die großen Fenster Ausschau
nach Eddie. Als der schwarze Explorer anhielt, nahm er Grace beim
Arm und zog sie nach draußen. Sie waren kaum aus der Tür, als ein
Mann auf sie zusprang. Blitzschnell gab Smith Grace Deckung.
Kameras blitzten auf.
Smith schob Grace, noch ehe das blendend weiße
Licht verlöscht war, in den Explorer, schlug die Tür hinter ihr zu
und stürzte sich dann auf den Paparazzo. Mit drei Schritten war er
bei dem Mann und zerrte ihn in die kleine Seitengasse neben dem
Restaurant. Der Mann begann zu schreien.
Smith schnappte seine Kamera, riss den Film heraus und presste den
Mann dann gegen die Mauer.
»Entschuldigen Sie, was sagten Sie gerade?« Smith
hielt den Unterarm vor den Hals des Mannes, lächelte ihn aber dabei
freundlich an.
»Ich verklage Sie! Das ist mein Film …«
»Hier, da haben Sie ihn.« Er schob dem Mann die
ruinierten Negative in die Tasche.
»Lassen Sie mich los!«
»Erst wenn Sie versprechen, sie von nun an in Ruhe
zu lassen.«
»Wir leben in einem freien Land! Sie können mich
nicht einfach so angreifen. Wenn Sie mich nicht sofort loslassen,
verklage ich Sie.«
Der Mann wehrte sich heftig. Sein Gesicht war rot
angelaufen. Smith hatte aber keine Mühe, ihn festzuhalten. Wie
lange der Bursche es wohl aushalten konnte?
»Sie ist öffentliches Eigentum!«, spottete der
Fotograf. »Aber wer interessiert sich schon wirklich für eine
solche Eisprinzessin …«
Smiths Lächeln gefror. »Was haben Sie da
gesagt?«
»Ich sagte …«
Smith verlagerte sein Gewicht und drückte den Arm
fester gegen die Kehle des Mannes, um ihm die Worte abzuschneiden.
»Doch wenn ich es mir überlege, möchte ich lieber nicht, dass Sie
das wiederholen. Könnte sein, dass ich dann wütend werde, und das
wäre echt unangenehm.«
»Ach ja?«, brachte der Mann mit gepresster Stimme
heraus. »Was haben Sie denn vor?«
Smith hielt sein Gesicht dicht vor die Nase des
Fotografen. Der Mann verstummte. »Sie wollen nicht wirklich wissen,
wozu ich fähig bin.«
Der Mann sah nun ängstlich aus. Sein Blick wanderte
nach rechts und links, als suchte er Beistand. Doch niemand war in
der Nähe.
Smith hielt den Mann an die Ziegelmauer gepresst
und malte sich alle möglichen Verletzungen aus. Er hoffte, der
Paparazzo würde noch etwas Beleidigendes sagen, damit Smith einen
Vorwand hatte, kräftig zuzuschlagen. Dass diese Ratte es gewagt
hatte, abfällig über Grace zu reden, hatte ihn mächtig
gereizt.
»Haben Sie genug?«, fragte er den Mann.
Der nickte heftig.
»Ich denke, wir sind einer Meinung, was die Gräfin
betrifft. Falls ich Ihnen wieder begegne, werde ich nicht nur den
Film aus der Kamera reißen.Verstanden?«
Als Smith ihn losließ, sackte der Mann an der Mauer
zusammen und hielt sich den Hals. Smith wandte sich zum
Gehen.
»Ich habe keine Angst vor Ihnen«, rief der Mann ihm
nach ein paar Schritten hinterher.
Doch ein einziger Blick über die Schulter ließ ihn
verstummen.
Als Smith in den Wagen stieg, starrte Grace ihn
wortlos an. Sie wirkte schockiert. Das war kaum überraschend.
»Es ging alles so schnell«, murmelte sie, als sie
losfuhren.
»Ja, wenn es sein muss«, erwiderte er. »Eddie, fahr
zum Hintereingang und setz uns dort ab. Falls unser
Blitzlichtfreund seine Kumpane zu Hilfe ruft.«
Am Vortag hatte Eddie auf Smiths Bitte hin die
Rückseite von Grace’ Wohngebäude untersucht. Um das gesamte
Untergeschoss zog sich ein Gehsteig, von dem aus man Zugang zur
Eingangshalle hatte. Offenbar müssten sie von nun an diesen Eingang
benutzen.
Er spürte, wie Grace ihn ansah.
»Der Fotograf …«, begann sie. »Hast du ihn
verletzt?«, fragte sie leise.
»Nein.«
Sie schwieg eine Weile. »Bist du sicher?«
Das war also der Grund, warum sie ihn anstarrte wie
einen Fremdling. Sie hatte noch nie gesehen, wie jemand einen
anderen Menschen in eine Gasse schleppte und dann allein wieder
herauskam.
»Jaja, alles in Ordnung.«
Sie schlang die Arme um den Oberkörper. Smith war
nur froh, dass sie nicht wusste, was er dem Mann gerne alles
angetan hätte.
Zehn Minuten später hielt Eddie am Hintereingang.
Smith schob Grace durch die kleine Tür in einen muffig riechenden
Gang, der in die Eingangshalle führte. Der Portier hinter dem
Empfang war eingeschlafen. Smith gab ihm einen kräftigen Klaps auf
die Schulter.
»Aufstehen. Dafür werden Sie nicht bezahlt«, sagte
er grob.
Der Mann schüttelte den Kopf, ob aus Beschämung
oder einfach nur, um wach zu werden, war nicht klar.
Dann holte er den Lift und unterbrach die
Entschuldigungen des Portiers mit den Worten: »Wenn Sie nicht
wachbleiben können, machen Sie eine andere Schicht oder suchen Sie
sich einen anderen Job.«
Grace’ Stimme klang wesentlich sanfter. Sie
lächelte den Mann beruhigend an. »Ist schon gut. Ich denke, Ihr
neues Baby macht Ihnen ganz schön zu schaffen.«
Dann unterhielten die beiden sich über die Familie
des Mannes, bis der Lift kam.
Als sie nebeneinander im Aufzug hochfuhren, merkte
Smith, dass Grace’ Augen wieder lichtlos blickten. Sie
stand wohl immer noch unter Schock. Es war kein Spaß, von einem
Fotografen überfallen zu werden und dann zuzusehen, wie der eigene
Leibwächter mit dem Mann umsprang.
Smith ging noch einmal innerlich durch, was sich in
der Gasse abgespielt hatte. Er war nahe daran gewesen, alle
Hemmungen zu verlieren, um den Mann tatsächlich zu attackieren. Er
hatte dafür gesorgt, dass das Foto zerstört war, aber das schien
nicht genug, denn der Mann hatte Grace in Angst versetzt und sie
anschließend beleidigt.
Rückblickend war seine Reaktion sehr beunruhigend.
Einen Klienten zu schützen war das eine, aber Grace’ Ehre zu
verteidigen etwas ganz anderes. Er rief sich in Erinnerung, dass
sie ihn dafür bezahlte, sie zu beschützen, nicht, um sich wie ein
bezahlter Randalierer zu benehmen.
Als sie die Wohnung betraten und die Alarmanlage
deaktiviert hatten, wusste Smith, es würde problematisch. Mit Grace
überschritt er alle möglichen Grenzen. Sein klarer Verstand stand
auf dem Spiel, und das konnte er sich am allerwenigsten
leisten.
Sie verdiente es, dass er sein Bestes gab. Das
schuldete er ihr.
Er selbst wäre kaum mit weniger zufrieden.
Grace trat ins Wohnzimmer. Hinter ihr schlug die
Tür zu.
»Brauchst du noch irgendetwas?«, fragte
Smith.
Sie drehte sich um. Er wartete auf ihre Antwort:
eine schlanke, hochgewachsene Gestalt, die von der Flurlampe von
hinten beschienen wurde.
Ihr ging die Szene mit dem Fotografen nicht aus dem
Kopf, und sie stellte sich den Ausgang anders vor, gewaltsamer. Als
Smith vorgesprungen war, um sie zu schützen,
konnte kein Mensch wissen, ob eine Linse auf sie gerichtet war
oder eine Gewehrmündung. Aber er war bereit gewesen, es mit allem
aufzunehmen: einer Kugel, einem Messer, einer Faust oder einem
Blitzlicht.
Wie leicht hätte alles schlimm ausgehen können,
weil er in genau dem Moment vor sie gesprungen war. John war bereit
gewesen, sein Leben für sie einzusetzen. Jetzt war sie dankbar und
wütend zugleich, denn wenn er das für sie zu tun bereit war, galt
das sicher auch für andere Klienten. Machte es ihm denn gar nichts
aus, in welche Gefahr er sich brachte?
Plötzlich schien jeder Blick in die Zukunft wie
nutzloser Optimismus. Jetzt, heute Abend war er bei ihr. Heute
Nacht würden sie zusammen verbringen.
Wie sehr sie ihn begehrte!
Zum Teufel mit Happy Ends, dachte sie.
Grace war durch den Wein immer noch angeregt und
mutiger als sonst. Nun trat sie langsam auf ihn zu und ließ dabei
die Stola von den Schultern gleiten. Sie sah im Dämmerlicht, wie er
der Seide, die an ihren Armen entlang und über die Hüften auf den
Boden glitt, mit Blicken folgte. Als sie sich wieder ansahen,
glänzten seine Augen hell.
Sie berührte die seidigen Revers seines Smokings
und ließ die Finger darüber gleiten. Dann lehnte sie sich leicht an
ihn, damit ihre Brüste ihn berührten. Sie reckte sich zu seinem Ohr
hoch.
»Lieben wir uns«, hauchte sie.
Sie spürte, wie ein Schauder ihn durchfuhr.
Doch das darauffolgende Zögern entmutigte
sie.
»Was ist?«, fragte sie.
»Es ist nicht recht, Grace«, sagte er und nahm ihre
Hände. »Es tut mir leid.«
Grace runzelte verwirrt die Stirn und wollte ihn
wieder berühren. »Du hast doch gesagt, es sei meine Entscheidung.
Und ich habe mich entschieden.«
»Ich hätte dich niemals in diese Lage bringen
dürfen.« Er trat einen Schritt zurück.
Grace starrte ihn an, weil sie nicht begriff, was
er meinte.
Sie wurde wütend, als er sie weiterhin fest
ansah.
»Verdammt nochmal!« Als er weiterhin schwieg,
verlangte sie: »Warum tust du mir das an? Wolltest du mich nur
betteln sehen?«
»Natürlich nicht.«
»Warum dann? Wenn ich gewusst hätte, dass dies bloß
ein Spielchen ist …«
»Es war nie nur ein Spielchen«, erwiderte er
heftig.
Sie tobte vor Frustration. »Na, ich habe dich auch
nie für einen Feigling gehalten. Wenn du wirklich der Weltmeister
in One-Night-Stands bist, was stört dich an einer kleinen Nummer?
Das hast du doch schon öfter gemacht und es überlebt. Dein
knochenhartes Image ist sogar dabei intakt geblieben.«
Da umklammerte er blitzschnell ihre Arme so fest,
dass es wehtat.
»Dräng mich nicht, Grace. Ich bin nicht in
Stimmung.«
»Dann müssen wir das ändern. Küss mich«, murmelte
sie und sah ihm in die Augen.
»Hör auf damit.«
»Nein.«
Da presste er ihr die Arme auf den Rücken und schob
sie gegen die Wand.
»Jesus, ist das alles, was du von mir willst?« Er
drückte seinen erregten Penis fest gegen sie.
Sie erwiderte kühn seinen Blick. »Heute Nacht.
Jetzt!«
Er schloss die Augen. Dann riss er sie wieder auf
und senkte die Lippen auf ihren Mund.
Sein Kuss war fest, aber genau, wie sie es sich
gewünscht hatte. Sie befreite sich aus seinem Griff, klammerte sich
an sein Jackett und streifte es ihm von den Schultern. Gleichzeitig
zerrten seine Hände an ihrem Kleid. Man hörte den Stoff reißen,
denn er zog so fest an dem feinen Chiffon, bis er sie entblößte.
Dann legte er beide Hände auf ihre Brüste.
Seine Lippen bedrängten sie heiß und hungrig. Seine
Zunge bohrte sich in ihren Mund. Sein Körper presste sich hart an
sie. Grace grub die Fingernägel in seinen Rücken und stöhnte
auf.
Smith erstarrte, als er den heiseren Laut vernahm.
Dann sah er ihr in die Augen und schob sie sanft von sich.
Er fuhr sich mit einer Hand durch das kurze Haar,
bückte sich und hob ihre Stola hoch.
»Geh ins Bett«, befahl er ihr und warf sie ihr um
die Schultern.
Grace fing den Seidenschal auf, weigerte sich aber,
sich damit zu bedecken. Sie wusste, dass es ihm schwerfiel, nicht
auf ihre nackten Brüste zu starren. »Du willst mich doch.«
Smith stürzte wieder auf sie zu und klatschte beide
Hände neben ihrem Kopf an die Wand dahinter. Als er sich vorbeugte,
verspürte sie keine Angst. Sein Blick glitt über ihren
Körper.
»Yeah, ich will dich. So sehr, dass es verdammt
nochmal wehtut. Zufrieden?«
»Nein«, sagte sie leise und nachdrücklich. Dann
strich sie ihm über die Wange.
Er kniff die Augen zusammen, starrte auf ihren Mund
und schloss die Augen. So verharrte er einen langen
Augenblick.
Als er sie wieder ansah, wirkte sein Blick kalt wie
Eis. Gelassen trat er zurück.
»Was ist los?«, flüsterte sie.
»Du bist heute Abend nicht bei klarem Verstand. Und
heute Morgen war ich derjenige.«
Damit drehte er sich um und ging in sein Zimmer.
Sie hörte, wie er leise die Tür schloss, und erkannte, dass er sie
zum ersten Mal deutlich abgewiesen hatte.
Im darauffolgenden Schweigen erkannte Grace die
Situation deutlich, so deutlich, dass sie am liebsten geweint
hätte. Stumm vor Schreck starrte sie auf ihr zerrissenes Kleid.
Umständlich zog sie das Oberteil wieder hoch, um ihren Busen zu
bedecken, und ging in ihr Zimmer.
Als sie an seiner Tür vorbeiging, konnte sie sich
nicht dazu durchringen, sie anzusehen.
Als Grace am nächsten Morgen aufwachte, war ihr
erster Gedanke, vielleicht alles nur geträumt zu haben. Dann drehte
sie sich um und sah das zerrissene Kleid auf einem Stuhl.
O Gott! Sie hatte versucht, ihn zu verführen, und
er hatte sie abgewiesen.
Stöhnend verschwand sie im Bad und nahm zwei
Aspirin. Nach dem Duschen hüllte sie sich in den flauschigen
Bademantel und ging auf den Gang hinaus.
Seine Tür stand einen Spalt weit offen.
Ein Bett sah benutzt aus. Die beiden Kissen waren
gegen die Wand gestellt, daneben lag ein aufgeschlagenes Buch. Das
andere Bett war ordentlich gemacht. Am Fußende lagen sein Smoking
und seine Lederjacke.
Sie wollte sich gerade zum Gehen wenden, als sie
auf dem antiken Schreibtisch seine Brieftasche sah. Daneben lagen
seine Waffe, das Schulterhalfter und ein Schlüsselbund.
»Suchst du etwas?«
Ihr Blick zuckte hoch zu dem Spiegel über dem
Schreibtisch. Smith stand mit einer Kaffeetasse in der Hand im
Türrahmen. Er sah umwerfend gut aus in seinem weißen T-Shirt und
den tief sitzenden schwarzen Jeans. Ihr Mund war wie ausgetrocknet,
als sie sich vorstellte, ihn zu küssen, und sie hätte am liebsten
geflucht. Ihrer Fantasie schienen keine Grenzen gesetzt zu sein,
ihrer Bereitschaft, sich ihm an den Hals zu werfen, auch nicht.
Nach dem gestrigen Abend hätte sie es eigentlich besser wissen
sollen.
»Das Bad ist frei«, sagte sie nur.
Dann wandte sie sich rasch zum Gehen und versuchte
zu ignorieren, wie weit er zurückwich, als sie um ihn herumtrat.
Sie ging in ihr Zimmer, um sich anzuziehen. Ihr war klar, dass sie
von einem Extrem ins andere gefallen war.Von der Eisprinzessin zur
Hure.
Wohl kaum eine Verbesserung, dachte sie
reumütig.
Als Grace und John am Montagmorgen ins Büro kamen,
sah Kat sie grinsend an. »Hier spielt heute alles verrückt. Mr.
Lamont ist bereits zweimal hier gewesen. Sie haben zehn
Telefonnachrichten. Der Partyservice hat angerufen. Sie behaupten,
Frederique sei vorbeigekommen, um das Menü zu diskutieren. Sie
wirkten ein bisschen verunsichert, schicken aber in jedem Fall
einen neuen Vorschlag vorbei. Ich glaube, sie hatten gedacht, er
wirke dieses Jahr gar nicht mit.«
»Tut er auch nicht.« Grace verbarg ihren
Ärger.
»Oh, ja, noch etwas. Detective Marks hat gerade
angerufen. Sagte, Sie wüssten, worum es geht.«
Da ertönte Smiths Handy. Er hatte es schon am
Ohr.
Grace spürte, wie ihr Magen einen Salto
schlug.
Sie gingen in ihr Büro und schlossen die Tür hinter
sich. Smith sagte: »Ja, ich bin bei ihr.«
Grace beobachtete Smith ängstlich und setzte sich.
Er telefonierte noch ein paar Minuten, aber aus seinen einsilbigen
Antworten konnte sie sich keinen Reim machen.
Sobald er aufgelegt hatte, fragte sie tonlos: »Wer
ist es?«
Er kam um den Schreibtisch herum dichter auf sie
zu, als er es seit Tagen gewagt hatte. Sein Blick war sehr sanft.
Grace hatte Angst.
»Wer ist es«, wiederholte sie.
»Sie haben den Namen noch nicht veröffentlicht,
weil sie die Familie noch nicht benachrichtigen konnten. Es ist
gestern Abend passiert. Eine Angestellte hat die Leiche
gefunden.«
Grace schloss die Augen.
Sie spürte seine Hand auf ihrer. Das war die erste
Berührung seit dem schrecklichen Abend ihres Geburtstags.
»Gut, dass wir am Wochenende nach Newport fahren,
nicht wahr?«, sagte sie mit aufgesetzter Fröhlichkeit. »Alles
scheint immer in New York zu passieren.«
Sie versuchte, tapfer zu lächeln, doch es gelang
ihr nicht. Mit grimmiger Miene sah sie aus dem Fenster, damit Smith
sie nicht beobachten konnte.
»Sieh mich an, Grace.« Zögernd wandte sie den
Blick. »Ich sorge dafür, dass dir nichts geschieht.«
»Das möchte ich gerne glauben.«
Als Kat durchgab, dass ihr erster Termin wartete,
trat John zum Konferenztisch.
Grace drückte auf die Sprechanlage und sagte, sie
brauche noch einen Moment.
Sie dachte an Mimi Lauer und ging zum Telefon. Der
Gedanke, Isadora könnte tot sein, war so entsetzlich, dass sie mit
jemandem reden musste, der genau wusste, wie hilflos und traurig
sie sich fühlte.
Als sich der Anrufbeantworter meldete, hinterließ
sie eine Nachricht.
Grace spürte, wie sich winzige Schweißperlen auf
ihrer Stirn sammelten. Dann überkam sie eine Welle der Übelkeit,
eine Hitzewallung im gesamten Körper, verbunden mit Sehstörungen.
Sie versuchte, tief Luft zu holen, aber ihre Lungen wirkten wie aus
Stein. Sie ermahnte sich, sie würde nicht sterben. Niemand starb
aus Angst.Aber man wünschte sich, tot zu sein.
Grace zuckte zusammen, weil sie an den Mörder
dachte und an sein letztes Opfer.
Das war eine Redewendung, die sie nie wieder
benutzen würde.