14 015
Grace konnte nicht einschlafen. Nachdem sie eine Stunde lang wachgelegen hatte, stand sie auf und ging in die Küche.
Sie war heute Abend mit ein paar potenziellen Spendern zum Essen ausgegangen in der Hoffnung, ein schönes Stück für die Auktion zu ergattern. Aber sie hatte sich nur sehr schlecht aufs Geschäftliche konzentrieren können. Vielleicht hatten die Staffords daher abgelehnt, als sie sie um ihre Sammlung früher amerikanischer Näharbeiten gebeten hatte. Die Stickereien wären ein schönes Stück für die Versteigerung gewesen. Sie waren zwar nicht so sensationell wie die Franklin-Jefferson-Briefe, aber aufgrund ihres ausgezeichneten Zustands und ihrer Seltenheit immer noch sehr begehrenswert.
Jetzt öffnete sie den Kühlschrank und dachte an Smith, denn sie fand frisches Gemüse, Fleisch, Obstsäfte und Sojamilch. Der Kühlschrank war vermutlich dankbar, so genutzt zu werden, anstatt bloß als Friedhof für angebrochene Senfgläser.
Sie aß ein Brot und war schon auf dem Rückweg ins Schlafzimmer, als das Telefon klingelte. Smith erschien in der Tür, als sie zögernd den Hörer abnahm.
»Grace?« Es war eine Männerstimme. Eine zittrige, sehr traurige Männerstimme.
»Ja?«
»Ted Lauer hier.«
Grace spürte, wie ihr das Blut aus dem Hirn wich.
»Mimi ist … tot.« Ted schluchzte auf und räusperte sich anschließend.
Grace stieß einen leisen Laut unendlicher Trauer aus und brach auf dem Sofa zusammen. Sie sah Mimi wieder vor sich, als sie sich von Bos Party verabschiedet hatte. Die Vorstellung, dass sie schon tot gewesen war, als Grace am Morgen versucht hatte, sie zu erreichen, war entsetzlich.
Sie versuchte, sich auszumalen, wie Ted ihrem Sohn mitteilen würde, dass seine Mutter nie wieder heimkommen würde.
»Kann ich irgendetwas für dich tun?«, fragte sie.
»Niemand kann irgendetwas für mich tun.«
Sie sprach ihm ihr Beileid und Mitgefühl aus, was bei seinem großen Verlust jämmerlich unzureichend klang, legte den Hörer schließlich auf und sah zu Smith hoch.
»Die Familie ist am Ende. Ihr Sohn …« Grace stand auf und schüttelte verloren den Kopf »Wir können nicht nach Newport fahren. Die Beisetzung ist am Wochenende.«
»Ich möchte nicht, dass du da hingehst.«
»Zu der Beerdigung?« Grace runzelte die Stirn. »Ich muss aber.«
Smith schüttelte den Kopf. »Das Risiko können wir nicht eingehen.«
»Aber ich bin da in Sicherheit. Du bist bei mir …«
»Es werden sehr viele Menschen dort sein. Ich sagte doch, wenn wir größere Versammlungen meiden können, dann sollten wir das tun.«
»Sie war aber meine Freundin.« Grace verschränkte die Arme vor der Brust und kämpfte gegen Tränen der Wut, der Frustration und der Angst an.
»Grace, wir müssen vernünftig sein.«
»Es wird jede Menge Polizei da sein. Du hast doch auch Politiker als Klienten, oder? Botschafter und so. Warum ist es für mich anders?«
»An dem Abend im Plaza waren viele von meinen Männern vor Ort.«
»Dann bring sie mit.Von mir aus können sie einen Kreis um mich bilden.«
Sein Blick verdüsterte sich. »Wir haben eine Abmachung. Du tust, was ich für richtig halte.«
Grace schüttelte langsam den Kopf. »Das ist nicht fair. Ich muss dort hin.«
»Mit Fairness hat das nichts zu tun. Es geht hier um ein Risiko, und die Beerdigung ist ein vermeidbares Risiko. Serientäter genießen es, die Folgen ihrer Taten zu beobachten. Es besteht eine gute Chance, dass er sich irgendwo in der Menge aufhält, und ich will dich auf keinen Fall in seiner Nähe wissen.«
»Und was sonst noch? Wirst du mir vielleicht auch raten, unseren Jahresball nicht zu besuchen?« Als Smith keine Antwort gab, schob Grace das Kinn vor. »Ich werde den Ball besuchen, John. Egal, was du dazu zu sagen hast.«
»Dann haben wir vermutlich ein Problem.«
»Was willst du damit sagen? Drohst du etwa, den Job hinzuwerfen?«
»Ich habe dir von Anfang an gesagt, dass ich nur zu meinen eigenen Bedingungen arbeite.«
Grace wollte sich mit ihm anlegen, aber da regte sich Hoffnung unter ihrer Wut. »Vielleicht hat man ihn bis dahin erwischt.Vielleicht ist alles in ein, zwei Wochen vorbei?«
»Vielleicht.«
Seine Stimme klang eher nach: »Vielleicht auch nicht.«
»Bis zu dem Ball sind es noch drei Wochen«, fuhr Grace fort. »Können wir nicht später darüber reden?«
»Ich lasse nicht mit mir handeln.«
Grace fluchte. »Gut! Kann ich dich wenigstens anbrüllen? Denn ich habe die Nase restlos und gestrichen voll davon, über mein eigenes Leben nicht bestimmen zu können.«
Da spürte sie etwas Nasses auf der Wange und merkte, dass sie zu weinen begonnen hatte. Ungeduldig wischte sie sich über die Augen.
»Jesus«, murmelte er und streckte die Arme nach ihr aus. »Komm her.«
Grace zögerte zuerst, doch dann ließ sie sich in seine Arme fallen und lehnte sich an seine starke, breite Brust. Er hielt sie lange Zeit umfangen und streichelte ihr mit seinen großen Pranken über den Rücken.
»Ich hasse dich«, sagte sie gegen sein Hemd gepresst.
»Ich weiß«, erwiderte er.
 
Smith hielt sie noch längere Zeit in den Armen und versuchte, ihre Angst und Frustration zu beruhigen. Er hatte schon vor Mimi Lauers Tod entschieden, Grace nicht zu dem Jahresball gehen zu lassen, und auch gewusst, dass diese Diskussion sehr schwierig sein würde.
Sie hatte Recht. Er hatte Politiker beschützt, Leute, denen Auftragskiller auf der Spur waren, die gerne ihr Ziel in aller Öffentlichkeit erwischten. Der Killer, der hinter Grace her war, zog es vor, allein und ungestört vorzugehen.Vermutlich lag ihm an der häuslichen Intimität, daher hatte er sie alle drei in deren eigenem Haus umgebracht. Smith vertraute seinen Männern und auch sich selbst, aber wenn es um Grace ging, war auch das kleinste überflüssige Risiko zu hoch.
Er hielt sie fest umfangen und merkte, dass er allein schon den Gedanken nicht ertragen konnte, dass ihr etwas passieren könnte. Dabei spürte er eine seltene Welle von Mitleid für Mimi Lauers Mann. Die eigene Frau mit aufgeschlitzter Kehle zu finden, wie sie im eigenen Wohnzimmer verblutete? Wie war das bloß für eine normale Person? Es war schon schwer genug, mit dem Tod umzugehen, wenn man darauf vorbereitet war und es entweder um den Feind oder den Freund ging. Aber bei der eigenen Frau?
Jesus!
Er dachte daran, was Marks ihm am Telefon mitgeteilt hatte. Der Mord war ähnlich geschehen wie die vorigen beiden. Keine Einbruchspuren. Hässliche Messerstiche. Keine Fingerabdrücke. Und nach dem Kampf waren die Kleider der Frau sorgfältig wieder hergerichtet worden. Der Mord passte genau in dieses Muster, aber die Reihenfolge war anders. Isadora Cunis wäre als Nächste an der Reihe gewesen, wenn der Killer der Abfolge in dem Artikel gefolgt wäre, aber Smith wusste, dass dies nicht bedeutete, Isadora wäre nun außer Gefahr. Marks hatte gesagt, Cunis und ihr Mann hätten die Stadt verlassen und würden erst für das große Ereignis Ende des Monats zurückkehren.
Mangelnde Gelegenheit hatte offensichtlich die Reihenfolge durcheinandergebracht. Mimi Lauer hatte das mit ihrem Leben bezahlt.
Smith fragte sich, wie der Killer an die Frau herangekommen war. Sie hatte Polizeischutz gehabt. Marks hatte gute Männer. Sie waren im Gebäude selbst gewesen und vor dem Eingang.
Aber verdammt nochmal nicht in ihrer Wohnung.
Er spürte, wie Grace sich von ihm löste. Ihre Augen glänzten von ungeweinten Tränen. Ihre Stimme war ein bloßes Flüstern:
»Ich will heute Nacht nicht alleine sein. Bitte bleib bei mir.«
Smith unterdrückte ein Stöhnen und richtete sich auf. Neben ihr einzuschlafen war genau das, was er ihr nicht geben konnte. Egal, wie elend sie sich fühlte oder wie sehr sie sein Mitleid verdiente, nichts würde etwas daran ändern, wie er sich in ihrer Nähe fühlte. Er wollte ihr helfen, aber die ganze Nacht neben ihr zu verbringen, würde sein Mitleid überfordern.
»Bist du sicher?«, knurrte er.
Als sie nickte und sie zusammen auf den Korridor gingen, redete er sich ein, es gäbe härtere Prüfungen als diese hier.
Tests mit schweren Maschinen oder größeren Geräten. Mit einem Arm auf den Rücken gebunden und beiden Beinen in Ketten.
Aber er konnte ihr den Wunsch einfach nicht abschlagen.
Sie ging ins Bett, und er legte sich neben sie auf die Decke. Er dachte, das wäre nicht so schlimm, solange sie auf ihrer Seite blieb, aber dann glitt sie in seine Arme und rollte sich zusammen wie ein Kätzchen. Allmählich wurde ihr Atem ruhiger, und die Spannung in ihrem Körper löste sich, bis sie genau so wurde, wie er befürchtet hatte: warm, weich und anschmiegsam.
Er spürte ihren Atem auf seinem Arm, ihre Lenden an seinen Hüften. Ihr Kopf ruhte auf seiner Schulter.
O Gott!
Er war ein zäher Bursche. Die Spezialausbildung hatte er ohne Probleme absolviert - es war für ihn kaum mehr als ein bisschen Schlamm, Schweiß und Schlafmangel gewesen. Man hatte auf ihn geschossen - war schnell wieder verheilt. Ebenso die Stichwunde oder als ihm mit einer Eisenstange auf den Kopf geschlagen oder er von einem Chevy angefahren worden war.
Okay, nach der Sache mit dem Auto musste er eine Weile im Streckverband liegen, und bis heute schmerzte sein linkes Knie manchmal, wenn es regnete. Aber das alles war nichts im Vergleich zu einer Nacht, in der er einfach neben Grace liegen musste.
Er überlegte, wann er zum letzten Mal so die Nacht mit einer Frau verbracht hatte. Ohne Sex. Er konnte sich nicht erinnern.Vielleicht hatte er es noch nie erlebt.
Grace regte sich im Schlaf. Sie kuschelte sich an seine Hüfte.
Smith knischte mit den Zähnen. An Schlaf war nicht zu denken. Wenn es schon so schwierig war, bloß neben ihr zu liegen, getrennt von einer Decke und der Kleidung, wie schlimm würde es ihm erst gehen, wenn er tatsächlich mit ihr schlief? Vermutlich wie nach dem Autounfall: benommen und bewegungsunfähig.
Er schloss die Augen und dachte nur, wie schade es war, dass sie sich nicht unter anderen Umständen kennen gelernt hatten.
Aber eine andere mögliche Situation dafür wollte ihm einfach nicht einfallen.
 
Es war der Freitag vor dem Columbus-Wochenende. Grace rieb sich die müden Augen und reckte sich im Sessel ihres Vaters. Smith saß wie immer am Konferenztisch und telefonierte. Das passierte nun oft, wenn sie zusammen im Büro waren, und sie hatte sich an seine tiefe, rollende Stimme gewöhnt.
Grace betrachtete ihn unauffällig. Sie dachte an die Nacht, die sie zusammen verbracht hatten. Kurz vor der Morgendämmerung war sie von dem Gewicht seines Arms wachgeworden, mit dem er sie hielt. Sein mächtiger Körper lag dicht an sie gepresst. Sie hatte sich vorsichtig umgedreht, um ihn nicht zu stören, denn sie wollte sehen, wie er im Schlaf aussah.
Aber als sie ihn anblickte, war er wach und sah sie an. Seine Miene hatte im ersten Morgenlicht sehr eindringlich gewirkt. Er hatte sie offenbar lange angestarrt. Sie hatte sich gefragt, ob er sie küssen würde, aber dann war er geschmeidig vom Bett aufgesprungen und ohne auch nur einen Morgengruß aus dem Zimmer gegangen.
Das leise Summen des Faxgeräts hinter ihr lenkte sie von ihren Gedanken ab. Automatisch hob sie die Seiten hoch, die durch die Maschine glitten.
Seit jener Nacht hatte er sie gemieden, und sie fühlte sich fast wie eine Aussätzige, wenn er etwa auf dem Gang um sie herumtrat oder auswich, wenn sie einander auf dem Weg ins Bad begegneten. Sie riet sich, das nicht persönlich zu nehmen, aber das half auch nichts.
Die Faxmaschine spuckte weiter Blatt für Blatt aus, bis Grace endlich darauf blickte und die Stirn runzelte.
»Das ist für mich.«
Grace zuckte zusammen. Smith war lautlos durch den Raum auf sie zugekommen. Ob sie sich wohl jemals daran gewöhnen würde, wie leise er sich bewegte?
»Was ist das?« Sie reichte ihm die Papiere.
»Das sind die Eintragungen für Lieferanten und Besucher.« Er ging zurück an den Konferenztisch.
»Von wo?«
Als Smith keine Antwort gab, wusste sie, dass es mit dem Fall zu tun hatte.
»Erzähl mir mehr davon«, sagte sie leise.
Er blickte hoch. »Ich will dich damit nicht belasten.«
»Ich habe dir doch schon mal gesagt, mir geht es besser, wenn ich Bescheid weiß.«
»Ich bin nicht so sicher«, murmelte er. Als sie ihn eindringlich ansah, zuckte er die Achseln. »Ich gehe sämtliche Eintragungen für die Gebäude noch einmal aus einer anderen Perspektive durch. Ich suche nach Mustern, die Marks und seinen Männern vielleicht entgangen sind.«
Grace trat zu ihm, lehnte sich über seine Schulter und blickte auf die Kolonnen von Daten und Namen. Sie erkannte eine Menge der Namen.
»Ist es nicht Zeit, zum Flughafen zu fahren?«, fragte er unvermittelt.
»Ja.«
Sie hätte nichts dagegen gehabt, die Reise abzusagen, weil sie immer noch meinte, sie müsse zu Mimis Beerdigung. Außerdem freute sie sich ohnehin nicht auf ihre Mutter. Die Unterhaltung mit Carolina am Vortag, als sie erklären musste, warum Ranulf nicht mitkommen würde, war nicht gut verlaufen. Die Missbilligung der Mutter war deutlich spürbar gewesen, als sie außerdem erwähnte, sie würde in Begleitung eines Freundes erscheinen.
Als sie das Büro verließen, hoffte Grace, dass die Zeit rasch vergehen würde. Sie liebte ihre Mutter so, wie die andere Frau dies zuließ, aber Carolina Hall konnte man nur in kleinen Portionen vertragen.
Eddie fuhr sie zum Teterboro-Flughafen, wo das glänzende Flugzeug der Hall-Familie schon aufgetankt auf sie wartete. Ihr Vater hatte den Gulfstream-Jet häufig benutzt, aber Grace plante, ihn zu verkaufen, weil für sie die Kosten die Annehmlichkeiten bei Weitem überwogen. Es war kein langer Flug, kaum mehr als eine Stunde bis zum Flughafen T. F. Greene außerhalb von Providence, Rhode Island. Als sie ausstiegen, sahen sie schon die vertraute Mercedes-Limousine bei der Sondereinfahrt neben dem Rollfeld warten.
»Hallo,Wilhelm«, begrüßte Grace den Fahrer. Ein uniformierter Gepäckträger bugsierte schon ihre Koffer auf einem Karren herbei.
»Miss Grace«, erwiderte der Mann und tippte sich an die Chauffeursmütze. Sein deutscher Akzent war unverkennbar.
»Wie geht es Marta?«
Der Mann öffnete ihr die Tür und antwortete: »Gut. So gut wie immer. Sie freut sich darauf, Sie zu sehen, auch wenn es nur auf ein Wochenende ist.«
»Wilhelm, das hier ist John Smith. Ein Freund.«
Der ältere Mann verbeugte sich leicht. »Angenehm.« Smith nickte und glitt neben Grace auf den Rücksitz.
Es dauerte eine ganze Stunde bis nach Newport, und als sie über die prächtige Brücke zur Insel fuhren, spürte Grace die Vorfreude in der Magengegend. Das Haus in Newport war ihr wahres Zuhause, ein Ort, den sie liebte wie einen alten Verwandten. Die fröhlichen Sommertage und warmen Sommernächte ihrer Kindheit und Jugend am Meeresufer standen ihr deutlicher vor Augen als noch der gestrige Tag im Büro.
Was die Planung für den Jahresball betraf, so war diese chronologische Amnäsie gut für sie. Sie hatte immer noch kein geeignetes Stück für die Versteigerung, und mit dem Menü für das Festessen gab es ernste Probleme.
Aufgrund von Frederiques Einmischung hatte der Partyservice ihr ein obskures Menü aus asiatischer Fusion-Küche unterbreitet, das völlig extravagant und übertrieben wirkte. Grace hatte sie gebeten, noch einmal von vorn anzufangen. Kugelfisch bei einem Jahresball entsprach einfach nicht ihren Vorstellungen - das war teuer und gefährlich, wenn es nicht korrekt zubereitet wurde. Sie wollte den Gästen ein gutes Essen bieten, keinen Trip im Krankenwagen.
Die Veranwortung für das Menü lag nun eindeutig bei ihr. Sie hatte angenommen, dass ihr Anruf bei Frederique, als sie von seiner Einmischung hörte, ausgereicht hätte und er sich nun fernhalten würde, aber sie hatte sich geirrt. Lolly Ramparr und den Leuten bei Night Worx zufolge war er bei ihnen aufgetaucht und hatte sich geweigert, zu gehen, als man ihm mitteilte, er habe dieses Jahr nichts mit dem Jahresball zu tun. Als er weiterhin Anordnungen gab, hatte Lolly versucht, Grace anzurufen, die aber in einer Besprechung und nicht zu erreichen war. Frederique hatte verlangt, dass man Lamont anrief, und Lou hatt sich sofort für den Koch eingesetzt. Lolly war dann seinen Anweisungen gefolgt.
Offensichtlich musste Grace es dem Mann noch einmal klarmachen. Am besten schriftlich.
Es war verdammt unangenehm, jemanden mehrfach zu feuern, den man nie beauftragt hatte.
Grace öffnete das Wagenfenster und lehnte den Kopf in die leichte Brise vom Meer. Sie holte tief Luft. Die Probleme der letzten Tage schienen hinter ihr zu verschwinden. Sie war dankbar für diese Pause.
»Sieht aus, als würde es dir hier gut gefallen«, murmelte Smith.
»Ich liebe es hier«, sagte sie leise. Draußen segelte ein Boot über die Wellen.
»Euer Haus liegt direkt am Meer, nicht wahr?«
Sie nickte. »Willig gehört nicht zu den großen Häusern, hat aber einen wunderbaren Blick und einen sehr schönen Garten.«
»Interessanter Name.«
Grace lächelte.
»Meine Ururgroßmutter, die aus Grosse Point in Michigan stammte, hasste es, nach ihrer Hochzeit immer Urlaub in Newport machen zu müssen. Ihre Familie hatte den Juli und den August immer in den Adirondacks verbracht, und sie betrachtete den Mangel an frischer Bergluft hier am Meer immer als eine Beleidigung ihrer Lungen.«
»Ich kann mir Schlimmeres vorstellen«, meinte Smith trocken.
»Sie war eine sehr anspruchsvolle Frau.« Grace sah ihn an. Sie war froh, endlich einmal über etwas anderes zu reden als die Erfordernisse seines Auftrags. Seit der gemeinsam verbrachten Nacht in ihrem Bett hatte sie den Eindruck gehabt, dass er jede Unterhaltung auf das Nötigste beschränkte. »Nach vielem Hin und Her und längeren architektonischen Beratungen präsentierte ihr mein Ururgroßvater einen genauen Bauplan. Sie ließ durchblicken, sie könnte auch einmal am Meer verweilen, sofern das Haus ihren Ansprüchen entsprach. Zwei Jahre später waren die Bauarbeiten beendet. Sie war in der Tat willig, und das Haus hatte seinen Namen.«
Jetzt bogen sie in die Bellevue Avenue ein und fuhren an Marble House vorbei, dem ehemaligen Sommerhaus der Vanderbilts. Heute gehörte das Anwesen der Stadt und war offiziell zu besichtigen. Kurz darauf bog Wilhelm in ihre Einfahrt und hielt vor einem dreistöckigen Herrenhaus an.
Grace zögerte, ehe sie zu dem imposanten weißen Gebäude mit seinen Terrassen, Säulen und Veranden hochblickte. Sie war zum ersten Mal seit der Beerdigung wieder hier. Damals war sie von den Gästen abgelenkt und auch überfordert gewesen, die ihr alle ihr Beileid hatten aussprechen wollen. Jetzt, in aller Ruhe, empfand sie den Verlust des Vaters viel stärker.
»Ihre Mutter freut sich schon auf Sie«, sagte Wilhelm, als er ihr die Tür aufhielt.
Grace trat langsam auf den repräsentativen Eingang von Willig zu. Fünf weiße Marmorstufen führten zu einer großen Doppeltür aus Glas und Schmiedeeisen unter einem säulengetragenen Vordach. Über der Tür hing an einer dicken schwarzen Eisenkette eine altmodische Laterne, in der man immer noch jeden Abend eine Wachskerze anzündete. Buchsbaumstämmchen in Steinkübeln flankierten die Tür. Grace erinnerte sich, dass sie sie als Kind am Nationalfeiertag, dem 4. Juli, immer in Rot, Weiß und Blau dekoriert hatte.
Wilhelm kam mit einem Teil ihres Gepäcks an ihr vorbei und warf dabei einen Blick zurück über die Schulter. Smith folgte ihm dicht auf den Fersen mit dem Rest der Taschen und brach damit eine der eisernen Regeln des Butlers. Der alte Mann hatte es nie gemocht, wenn die Gäste sich um sich selbst kümmerten, und missbilligte auch Grace’ Unabhängigkeit. Er betrachtete es als den Zusammenbruch einer natürlichen Ordnung, wenn Gäste ihre Sachen selbst auspackten oder Grace in die Stadt fuhr, um Lebensmittel einzukaufen. Seine altmodischen Vorstellungen waren aber auch der Grund, warum Grace ihn sehr gern mochte.
Grace folgte den beiden Männern. Als ihre Schritte durch die große Eingangshalle hallten, versuchte sie, ihr Zuhause mit Smiths Augen zu sehen. Wenn jemand zum ersten Mal hierher zu Besuch kam, war die typische Reaktion reine Ehrfurcht und Staunen. Genau das hatten die Architekten beabsichtigt. Auf beiden Seiten der Halle befand sich je ein Marmorkamin, über denen riesige Spiegel in Goldrahmen hingen. Eine massive Messingtür führte in den offiziellen Speisesaal und einen Salon, aber weder diese noch die glitzernden Kronleuchter an der Decke waren die Hauptattraktion. Vor ihnen führte eine breite, sich teilende Treppe in die oberen Stockwerke. Diese wie die gespreizten Flügel eines Riesenvogels sich teilende Treppe vereinte sich oben zu einem Rundgang um das erste Stockwerk und wurde am häufigsten fotografiert.
Grace sah zu Smith hinüber. Er beachtete weder die Kunstgegenstände noch die architektonischen Besonderheiten. Er begutachtete die Türen und Fenster. Sie musste lächeln. Sie hätten genauso gut eine finstere Höhle betreten können, so wenig Interesse zeigte er an den Einzelheiten. Ihr gefiel, dass er überhaupt nicht beeindruckt war.
Grace legte den Mantel ab. Dabei fiel ihr Blick auf den Stand mit den Spazierstöcken ihres Vaters in der Ecke. Sie hatten alle möglichen Formen und Farben - manche waren schmal und hatten eine Elfenbeinkrücke, andere dick und knorrig wie Wurzeln. Ihr Vater war oft mit ihr im Park spazieren gegangen und hatte mit diesen Stöcken, die mehr ein Zierrat für ihn waren, auf Blumen gedeutet, eine interessante Aussicht oder ein Schiff am Horizont.
Wilhelm nahm ihren Mantel entgegen. Da trat ihre Mutter aus dem Salon. Carolina trug ein hellbeiges Kostüm und wirkte so elegant wie eine Teerose.
»Darling, wie war die Reise?« Bei der Umarmung fuhr der Blick der Mutter zu Smith. »Grace, würdest du mich bitte vorstellen?«
»Das ist John Smith. Äh … John, das ist meine Mutter, Carolina Woodward Hall.«
Ihre Mutter reichte ihm ihre schmale Hand und lächelte mit noch schmaleren Lippen. »Wir kennen nicht viele Smiths. Buchstabiert sich das S-m-i-t-h?«
Er nickte.
»Ja, ich hatte das Gefühl, es war nicht mit einem y und einem e am Ende«, murmelte sie. »Habe ich Sie nicht neulich im Congress Club gesehen?«
»Möglich.«
»Wessen Gast waren Sie da?«
Grace unterbrach sie. »Wann kommen Jackson und Blair?«
Carolina wandte sich zu ihrer Tochter. »Sie müssten jede Minute hier sein. Heute Abend sind wir zehn zum Essen, denn Mr. Cobith kommt, die Raleighs und die Blankenbakers. Marta bereitet ein fabelhaftes Roastbeef vor.«
Daraufhin folgte eine Pause. Carolina sah wieder zu Smith und heftete den Blick auf dessen Lederjacke. »Wir tragen formelle Kleidung zum Dinner.«
Als Smith weder den Blick abwandte noch sonst irgendeine Reaktion zeigte, zog Carolina die Brauen hoch.
Wieder kam Grace zu Hilfe. »Ich denke, wir packen besser aus. Ich werde John sein Zimmer zeigen.«
»Er ist in der grünen Suite.«
Wilhelm und Smith folgten Grace die Treppe hinauf. Oben bat sie Wilhelm, ihr Gepäck in ihr Zimmer zu bringen, und ging mit Smith über den Gang in die entgegengesetzte Richtung.
Als sie die Tür zu einem sehr männlich wirkenden Zimmer in Grün mit dunklem Holz öffnete, sah er gar nicht erst hinein.
»Wo schläfst du?«, fragte er.
»Auf der anderen Seite. Das hier ist der Gästeflügel.«
»Wie weit ist das entfernt?«
»Den Gang entlang, dann nach links, an der Treppe vorbei. Ich bin in dem Eckzimmer auf der Meerseite.«
»Zeig es mir.«
Grace bemerkte, dass er seine Taschen nicht absetzte, als sie zu ihrem Zimmer gingen.
»Wer schläft gegenüber?«, fragte er, als sie die Tür öffnete.
»Keine Ahnung.Vermutlich niemand.«
»Dann nehme ich das Zimmer.«
»Aber du kannst nicht …«
Seine hochgezogene Braue schnitt ihr das Wort ab. »Es sei denn, du willst, dass ich bei dir auf dem Fußboden schlafe.«
Als sie heftig den Kopf schüttelte, betrat er das Zimmer gegenüber.
Seine Taschen landeten polternd auf dem Boden. Grace versuchte, ihre Angst im Zaum zu halten, aber sie wimmelte in ihr wie ein Bündel Schlangen. Es war höchst unwahrscheinlich, dass ihre Mutter ihre neue Suite im ersten Stock verlassen würde, um zu überprüfen, wer wo schlief.
Aber völlig unmöglich war es auch nicht.
Grace ging in ihr Zimmer. Sie fühlte sich vollkommen beherrscht von ihrer Mutter.Von Smith ebenfalls.Am meisten aber war sie über sich selbst verärgert. Warum in aller Welt hatte sie solche Angst davor, einem Gast ein anderes Zimmer anzuweisen? Sie war immerhin jetzt dreißig.Wann würde sie endlich so erwachsen sein, dass sie ihrer Mutter einmal widersprechen könnte?
Wenn sie so weitermachte, würde sie weiterhin herumkommandiert und an der Hand gehalten werden, es sei denn, sie würde der Frau endlich die Stirn bieten.
Als Grace sich umsah, verschob sich die Zeit für sie. Sie hatte fast alle Sommer in Newport verbracht, und ihr Zimmer hatte sich in den dreißig Jahren überhaupt nicht verändert. Die Vorhänge und die Tapete waren genauso hellgelb wie immer, die Möbel waren niemals verrückt worden, seitdem sie mit drei Jahren vom Kinderzimmer in dieses »Mädchenzimmer« gezogen war. Die Fenster mit Blick aufs Meer und den Garten ließen das Licht in den vertrauten Mustern auf dem Boden spielen. Und die Glastüren, die auf eine Terrasse führten, klapperten vertraut und tröstend im Seewind, der aufs Haus zuwehte.
Grace öffnete die Tür und trat hinaus auf die Veranda, die den gesamten zweiten Stock umgab. Dort unten, gleich hinter dem Garten, rauschte das Meer. Dieses Geräusch verband sie auf immer mit diesem Haus, ihrem Zimmer. Und mit glücklicheren Zeiten.
Als sie Schritte hinter sich hörte, versteifte sie sich.
»Wenn du doch nur weniger auffällig wärest …« Sie drehte sich um. »Jack!«
Grace lachte laut auf und umarmte den Freund. Dann löste sie sich strahlend lächelnd. Ihr Blick fiel auf Smith, der sie mit zusammengekniffenen Augen vom Gang her beobachtete.
»Äh … John«, sagte sie und trat wieder ins Zimmer. »Ich möchte dir einen meiner alten Freunde vorstellen, Jack Walker.«
Jack lächelte in Richtung der Tür, zog aber dann eine Braue hoch. »Na, es ist mir ein Vergnügen. Wie geht’s, Fremder?«
Es knisterte vor Spannung, als Smith vom Gang ins Zimmer trat, die beiden Männer einander die Hände schüttelten und einander dabei abschätzten. Grace fiel der Abend im Congress Club wieder ein. Sie fragte sich, was die Abneigung zwischen ihnen ausgelöst haben mochte.
»Wo ist Blair?«, fragte sie in der Hoffnung, das Testosteron aus der Atmosphäre zu vertreiben.
Aber wenn das ihr Ziel war, dann hätte sie vermutlich mehr Erfolg gehabt, wenn sie den beiden eine Maniküre und ein Make-over angeboten hätte.
Jack sah sie an. »Blair hat sich einen Backenzahn abgebrochen und brauchte Wurzelbehandlung. Sie ist nicht mitgekommen und weicht ihrem Zahnarzt, der sie mit Schmerzmitteln versorgt, nicht von der Seite. Sie kommt irgendwann morgen.
Grace zog eine Grimasse. »Das tut mir leid.«
»Und Ranulf?«
»Auch nicht hier. Zu viel zu tun.« Die Worte stürzten ihr nur so von den Lippen. »Er ist sehr viel in Europa beschäftigt. Zu viel. Pflichten. Europa.«
Ach, wie unglaubwürdig sie klang. Es hatte mal eine Zeit gegeben, in der sie sich sehr gut ausdrücken konnte.
Jack zwinkerte ihr zu und legte ihr nonchalant einen Arm um die Schultern. »Na, egal. Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß.«
Grace sah Smith nach, der aus dem Raum schlenderte.
Es würde ein verdammt langes Wochenende werden, dachte sie.