7 

Mit einem heftigen Ruck und wild um sich
schlagend wachte Grace auf. Angstvoll versuchte sie, im ersten
Morgengrauen auszumachen, was sie aus ihrem erschöpften Tiefschlaf
herausgerissen hatte.
Alles war still.
Sie blickte sich im Zimmer um. Soweit sie es
beurteilen konnte, war sie allein.
Sofort dachte sie an Smith. War er durch die
Wohnung gegangen? Oder jemand anderes? Grace glitt aus dem Bett und
überlegte, ob sie zu ihm gehen sollte. Als alles weiterhin still
blieb, kam sie zu dem Schluss, dass kein Grund bestand, ihn zu
wecken. Er war ihr Beschützer, keine Sicherheitsanlage rund um die
Uhr.
Doch sie fühlte sich unsicher. Als sie vor die
Terrassentür trat, sah sie, dass die Sonne gerade erst aufging.
Zarte Wolken hingen am Horizont. Die Straßenlaternen weit unter ihr
brannten noch. Der Central Park war nur eine große, dunkle
Fläche.
Sie hatten also die erste Nacht unter einem Dach
geschafft. So schlecht war es nicht gewesen. Nur ein einziger
Streit, ausgelöst durch eine Kombination seiner scharfen Zunge und
ihrer nervösen Erschöpfung. Alles in allem konnte man das als
Erfolg bezeichnen.
Jetzt mussten sie nur noch überlegen, wie sie sich
das Bad teilten, und alles war geregelt.
Grace wollte sich gerade vom Fenster abwenden, als
sie sah, wie Smith aus dem Wohnzimmer auf die Terrasse trat.
Sie hielt den Atem an und beugte sich so weit vor,
dass ihre Stirn gegen das Glas prallte. Fluchend wich sie zurück
und rieb sich die schmerzende Stelle.
Sein Oberkörper war nackt. Er trug nur die schwarze
Hose von gestern Abend. Sein Körper war genauso, wie sie es
vermutet hatte: stahlharte kräftige Muskeln ohne ein Gramm Fett.
Sie betrachtete das Spiel seiner Rückenmuskeln, als er draußen auf
und ab ging.Vom Rückgrat ausgehend füllten sie seine Schultern und
verliehen seinem Torso die Gestalt eines Athleten.
Erst dann fielen ihr die Narben auf: mehrere auf
dem Rücken, eine an der Seite, eine gezackte Linie von der rechten
Schulter aus abwärts.
Grace hob unwillkürlich eine Hand, als könnte sie
sie aus der Ferne streicheln. Was für ein Leben er wohl bisher
geführt hatte? Was war ihm zugestoßen?
Sie spürte ein starkes Bedürfnis, alles über seine
Vergangenheit zu erfahren.
Kein Wunder, dass er so eisern war. Immerhin wusste
er genau, was körperliche Schmerzen bedeuteten.
Grace sah wie hypnotisiert zu, wie er langsam auf
der Terrasse auf und ab ging, um die Pflanzenkübel und
Terrassenmöbel herumschritt und erst einen Schritt vor dem eisernen
Geländer stehen blieb. Dann wandte er sich der Sonne zu, presste
die Hände gegeneinander und verbeugte sich.
Grace fragte sich, ob er wohl alle Sanftheit und
Zärtlichkeit verloren hatte. Sie dachte an sein kantiges Gesicht,
seine gleichgültigen Augen, den gleichmütigen Tonfall, den er wohl
bewusst entwickelt hatte, um seine wahren Gedanken
zu verbergen. Sie wollte wissen, was sich hinter seiner Fassade
verbarg.
Als er wieder hochblickte, begann er eine Abfolge
uralter Tai-Chi-Gesten und -Positionen. Grace war verblüfft. Er
vermochte seine Muskelkraft und Stärke, die zu brutalen Handlungen
fähig waren, zu Bewegungen zu zähmen und disziplinieren, die
flüssig und elegant wirkten.Vor der aufgehenden Sonne wirkte seine
Silhouette, als würde er in einem anmutigen Tanz die Luft selbst
bewegen.
Grace blieb am Fenster, bis er wieder die
Ausgangsposition eingenommen hatte. Als er den Kopf senkte und sich
umzuwenden begann, huschte sie rasch ins Bett und hoffte, dass er
sie nicht gesehen hatte.
Sie schloss die Augen, sah dennoch nur sein Bild.
Die sinnlichen Eindrücke waren so stark, dass sie nach ihrem
Tagebuch griff.Wenn sie ihre Gedanken auf ein paar Seiten
ausbreitete, beruhigte sie sich meistens. In der letzten Zeit hatte
sie viel in ihr kleines Notizbuch mit dem schwarzen Ledereinband
geschrieben. Ihr Stift flog nur so über die Seiten, bis sie alles,
was sie an ihm so faszinierte, notiert hatte.
Als sie das Tagebuch schloss und sich in die Kissen
zurücklehnte, wollte sie eigentlich nur einen Moment lang ausruhen,
aber ihr Körper hatte andere Dinge mit ihr vor. Verwirrt und
schläfrig, wachte sie erst viel später wieder auf. Verlockende
Träume verharrten noch vor ihrem inneren Auge.Vielleicht wollte sie
sie auch nicht loslassen.
Stöhnend blickte sie auf die Uhr. Sie hatte
vergessen, den Wecker zu stellen, und die Zeit zum Joggen völlig
verschlafen. Es war nun 8:20 und sehr spät für sie. Sie richtete
sich auf, schob sich das Haar aus dem Gesicht und reckte
sich.
Wieder galt ihr erster Gedanke Smith. Sie streifte
sich einen Morgenmantel über und ging über den Flur zum
Gästezimmer.
Die Tür stand offen, aber sie klopfte kurz an. Als keine Antwort
erfolgte, spähte sie hinein.
Das Bett war gemacht und alles ordentlich
aufgeräumt, so als hätte niemand in dem Zimmer genächtigt. Entweder
war er sehr ordentlich, oder er hatte auf dem Fußboden
geschlafen.Vielleicht hatte er auch überhaupt nicht
geschlafen?
Sie ging zum Wohnzimmer. Dort war er auch nicht zu
sehen.
Angstvoll zuckte in ihr der Gedanke auf, dass er
sie vielleicht verlassen hatte, aber das verwarf sie rasch. Er
hätte es ihr gesagt, wenn er den Auftrag niedergelegt hätte, und
solange er blieb, würde er sie nicht allein lassen.
Die Terrassentür stand einen Spalt breit offen. Sie
spürte einen kühlen Luftzug auf der Haut. Draußen war er auch
nicht, aber sie wartete einen Moment ab.
Alles war genauso, wie sie es zuletzt gesehen
hatte. Die Chrysanthemen in ihren Kübeln wirkten genauso fröhlich -
kleine weiße Blüten in dunklem, dichtem Grün. Der schmiedeeiserne
Tisch mit den daruntergeschobenen Stühlen und dem eng
zusammengewickelten Sonnenschirm standen noch an genau derselben
Stelle wie vorher. Der Ausblick war der Gleiche wie gestern und
vorgestern, mit dem Park und den hohen Gebäuden in der
Nachbarschaft.
Aber jetzt befand sich ein Geist in dieser
vertrauten Landschaft. Sie sah ihn wieder vor sich, wie er sich im
ersten Licht dort bewegt hatte.
»Hat Ihnen gefallen, was Sie heute Morgen
beobachtet haben?«, ertönte Smiths tiefe ironische Stimme hinter
ihr.
Grace fuhr herum und widerstand dem Drang, beide
Hände vors Gesicht zu schlagen.
Er stand mit einer dampfenden Tasse im Wohnzimmer.
Auch als er einen Schluck nahm, beobachtete er sie weiter über den
Rand hinweg. Seine blauen Augen schienen sie zu durchbohren.
Glücklicherweise hatte er sein Hemd wieder
angezogen. Aber sie sah immer noch seinen nackten Oberkörper vor
sich. Mit zusammengepressten Lippen glitt sein Blick an ihr auf und
ab.
Sie zog den Morgenmantel enger um sich und wünschte
sich, etwas weniger Durchsichtiges zu tragen.
Einen Parka vielleicht - oder eine dicke
Daunenjacke.
»Nun?«, fragte er.
Er schien es wirklich auf eine Antwort abgesehen zu
haben. Leider kamen ihr nur Sätze in den Sinn wie: Yeah, du
bewegst dich wirklich elegant, aber könntest du nächstes Mal nicht
ganz nackt üben?
Woher wusste er überhaupt, dass sie ihn beobachtet
hatte? Er hatte völlig versunken gewirkt.
Smith trank einen weiteren Schluck.
»Sie haben also den Kaffee gefunden?« Grace reckte
das Kinn vor in dem Glauben, er könnte sie nicht zwingen, etwas
zuzugeben, was sie nicht zugeben wollte. »Reicht es für
zwei?«
Dann richtete sie sich auf und schob sich an ihm
vorbei, um der Antwort auszuweichen.
Da schoss seine Hand vor und erwischte sie am Arm.
Sie spürte den Druck seiner Finger durch die dünne Seide hindurch,
als wäre sie nackt. Als sie auf seine Hand blickte, staunte sie
nur, dass dieser Kontakt ausreichte, ihren gesamten Körper
reagieren zu lassen.
Als er schwieg, hob sie zögernd den Blick.
»Ich bin ein Mensch, dem sein Privatleben sehr
wichtig ist, Gräfin.« Er setzte den Becher so lässig an die Lippen,
als
hielte er sie nicht mit der anderen Hand fest. Sie roch, dass er
Kräutertee trank, keinen Kaffee. »Ich habe es nicht gern, wenn man
mein Privatleben stört.«
Weder seine Stimme noch seine Miene verrieten auch
nur eine Spur Wut, aber es klang trotzdem eindeutig wie eine
Drohung.
Grace war gezwungen, ihm direkt in die Augen zu
blicken. »Ich war bloß neugierig, was Sie da machten.«
»Wirklich?«, fragte er gedehnt, doch sie ließ sich
davon nicht täuschen.
»Ja, wirklich.«
Sie versuchte, sich ihm zu entwinden, aber statt
sie freizugeben, riss er sie enger an sich. Sein Blick hing an
ihren Lippen, und sie sah erstaunt, wie Begehren in seinen harten
Zügen auftauchte und ihn in einen völlig anderen Menschen
verwandelte. Was sein Blick nun verriet, hatte nichts mehr mit
Selbstdisziplin und Kontrolle zu tun.
Grace leckte sich über die ausgedörrten Lippen,
wandte den Blick ab und sah auf seinen Arm hinab. Die dicken
Muskelstränge verrieten ihr, dass er sie so lange festhalten würde,
wie er wollte, ohne dass sie etwas dagegen tun konnte.
»Lassen Sie mich los.« Grace versuchte, herrisch zu
klingen. Sie glaubte, sich wehren zu müssen, damit er nicht ahnte,
wie es tatsächlich in ihr aussah. Leider verriet ihre gepresste
Stimme mehr Zustimmung als Ablehnung.
Er kniff die Augen zusammen, und sie ahnte eher,
als es zu erkennen, dass sich etwas veränderte, so, als würde er
ein Problem überdenken.
Sie zog eher halbherzig an ihrem Arm, denn
eigentlich war sie nicht sonderlich daran interessiert,
freizukommen.
Smith setzte den Becher auf einem Tischchen ab und
hob langsam die Hand. Dann strich er zärtlich über ihr Haar und
ließ seine Finger an ihrem Schlüsselbein ruhen.
»Beantworten Sie bitte meine Frage, Gräfin.« Es
klang wie ein Knurren - verlockend und provozierend. »Hat Ihnen
gefallen, was Sie gesehen haben?«
Grace schluckte. Ihre Kehle war wie zugeschnürt,
aber nicht wegen seiner Finger, die nun ihr Kinn hielten.
Die naheliegende, die sichere Antwort müsste
Nein lauten.
Aber sie wusste auch, dass er sie bei dieser Lüge
ertappen würde. Er sah sie so eindringlich an, dass sie glaubte,
keine andere Wahl zu haben, als die Wahrheit zu sagen.
»Ja.« Sie hatte es so leise gehaucht, dass es kaum
hörbarer war als ihr Atem.
In dem Augenblick wurde ihr klar, dass sie mit ihm
schlafen wollte. So verrückt und gefährlich das auch sein würde,
wenn er sie darum bat, würde sie ihn in sich aufnehmen und es keine
Sekunde lang bereuen. Es war das Schlimmste, was sie tun konnte.
Ihr Leben raste bereits völlig unkontrolliert dahin, und wenn sie
mit einem Mann wie ihm ins Bett ging, wäre es, als träte sie aufs
Gaspedal und nicht auf die Bremse.
Aber das war ihr völlig egal.
Smith lockerte seinen Griff und trat einen Schritt
näher auf sie zu. Dabei glitt seine Hand unter ihr Haar in ihren
Nacken. Er streichelte ihre zarte Haut.
Zögernd streckte sie die Hand nach ihm aus und
legte sie auf seine muskulöse Schulter. Durch das dünne Hemd
hindurch spürte sie seine Körperwärme.
Doch im selben Augenblick, als sie ihn berührte,
runzelte er die Stirn, als fiele ihm jetzt erst auf, was sie beide
taten. Dann riss er sich unsanft von ihr los.
»Was ist?«, fragte sie ihn mit heiserer
Stimme.
»Versuchen Sie, mich zu verführen, Gräfin?« Seine
Stimme klang scharf.
Grace’ Verstand war so von Empfindungen
überwältigt, dass sie über seine Worte erst nachdenken musste. »Wie
bitte?«
»Wie lange ist es her, dass Sie mit Ihrem Mann
zusammen waren?«, fragte er ungeduldig. »Oder wollen Sie einfach
nur mal das Gras auf der anderen Zaunseite probieren?«
Wut vertrieb ihren Taumel. »Aber Sie waren es doch,
der … gerade eben … ich habe Sie doch nicht verführen
wollen.«
Sein Blick fuhr an ihr auf und ab. »Sie standen
heute Morgen bei der Tür und haben mich beobachtet, standen da in
diesem durchsichtigen Nachthemd wie eine hungrige Jungfrau.Was soll
ich denn davon halten?«
Grace stemmte die Hände in die Hüften. »Ich habe
Sie niemals so angesehen.«
Er beugte sich vor. »Wollen Sie das nochmal
wahrheitsgemäß beantworten?«
»Ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden.«
»Als sie mich gestern Abend beauftragten, haben Sie
vielleicht gedacht, mein Überwachungsauftrag schlösse auch ein paar
horizontale Übungen ein?«
Grace blieb der Mund offen stehen. Sie hatte die
Wahrheit zwar ein bisschen beschönigt, aber er verdrehte alles zu
seinen Gunsten.
Ganz undamenhaft zeigte sie mit dem Finger auf
ihn.
»Sie haben mich doch gerade festgehalten,
oder?« Da diese Geste sie sich stärker fühlen ließ, stieß sie immer
wieder mit dem Finger in die Luft, um die Worte, die sie ihm
entgegenschleuderte, zu bekräftigen. »Ich habe Sie schließlich
nicht gebeten, mich zu berühren. Ehe Sie sich hier heiliger als
der Papst geben, schauen Sie besser mal in den Spiegel. Wenn einer
hier hungrig dreinblickt, dann Sie!«
Damit reckte sie das Kinn vor und wandte sich ab.
Nach kaum drei Schritten hatte er sie geschnappt und
herumgerissen.
Als er ihr die Lippen fest auf den Mund presste,
begegnete sie ihm mit gleicher Leidenschaft. Sie umklammerte seine
Schultern und drängte sich eng an ihn, während er sie heftig
umschlang. Als ihre Körper sich berührten, duchfuhr es beide wie
ein heißer Blitz.
Stöhnend, als ringe er um Beherrschung, löste er
sich von ihrem Mund und vergrub das Gesicht in ihren Haaren. Aber
sie wollte ihn nicht loslassen. Als er ihren Hals mit einem
Kometenschweif von Küssen bedeckte, entfuhr ihr ein Laut, der
sowohl Begierde als auch Erleichterung ausdrückte. Dann knabberte
er an ihrer Haut, um sie zu schmecken. Grace warf den Kopf in den
Nacken. Seine Lippen forschten weiter in Richtung Schlüsselbein, wo
seine Finger sie zuerst berührt hatten, und schließlich in der
Mulde zwischen ihren Brüsten.
Dann streifte er ihr mit einer heftigen Geste den
Morgenmantel von den Schultern, so dass er nur noch ihre Hüften
umfloss. Sein Blick labte sich am Anblick ihrer harten Brustwarzen,
die sich durch die dünne Seide schoben. Als er langsam seine Hand
unter ihre Brust gleiten ließ, hielt sie den Atem an. Er
streichelte, nur mit den Daumen, ganz langsam ihre Nippel, bis sie
die Augen schloss und vor Lust aufstöhnte.
»Gott, wie heiß du bist«, flüsterte er
verwundert.
Grace öffnete die Augen und sah verschwommen einen
seltsamen Gesichtsausdruck bei ihm, eine Mischung
aus Leidenschaft und Staunen. Flüchtig überlegte sie, ob er
wusste, dass sie ihn ansah, und ob er sich sonst mehr beherrscht
hätte.
Dann hakte er einen Finger unter den dünnen Träger
ihres Nachthemdes und schob ihn ihr sanft von der Schulter.
Schaudernd vor Lust schlug sie die Fingernägel in seinen Bizeps.
Seide und Spitze glitten herab und ließen sie nackt dastehen.
Langsam beugte er sich herab und nahm eine Brustwarze zwischen die
Lippen. Sie sah, wie seine Zunge herausschnellte und über die zarte
Haut glitt. Sie biss sich auf die Unterlippe und stöhnte wieder
auf.
Dann bemerkte sie ein seltsames Geräusch. Etwas,
das sie irgendwie beunruhigte.
Es waren Schlüssel, die rasselten.
Rasch richtete Smith sich auf. Sein Kopf fuhr zur
Tür.
»Die Handwerker«, hauchte sie heiser.
Rasch mühte sich Grace, die Träger wieder
hochzuschieben und den Morgenmantel überzustreifen, aber es klappte
nicht. Ihr Verstand war wie umnebelt, die Hände zittrig. Der glatte
Stoff wollte einfach nicht folgen.
»Ich kümmere mich darum.« Smiths Stimme klang rau.
Als die Tür aufgerissen wurde, stellt er sich schützend vor sie.
Grace entkam in die Küche, als die drei Männer gerade
hereinpolterten. Sie hörte die Männerstimmen, lehnte sich gegen den
Kühlschank und versuchte hastig, sich zu verhüllen.
Dann vergrub sie das Gesicht in den Händen. Was war
gerade geschehen?
Nun, sie wusste die Antwort. Man nehme einen
gesunden Mann und eine Frau, die ihn begehrt, seit sie ihn zum
ersten Mal gesehen hat, und schließe sie in einem Raum ein. Es war
reine, unverfälschte Lust.
Es war bloß ein Kuss, sagte sie sich. Das passiert
überall.
Yeah, aber nicht so.
Jesus, was war bloß mit ihr los? In zwei Wochen
wurde sie dreißig, liebe Güte, und bald geschieden sein. Sie war
keine Zwanzigjährige mehr, die noch glaubte, dass ein paar Küsse
das ganze Leben ändern. Dass ein Funke und ein bisschen Hitze eine
einsame, gestresste Frau in eine Femme fatale verwandeln konnten,
einen harten Mann in einen romantischen Helden.
Sie wusste, dass sie sich einen Gefallen tun würde,
wenn sie Abstand zu ihm hielt, aber wie sollte sie das anstellen?
Er wollte doch jede Minute des Tages an ihrer Seite sein.
Da wurde die Tür geöffnet.
Sie sah Smith in die Augen. Er war wieder so
selbstsicher, arrogant und kontrolliert wie zuvor.
Aber sie wusste, dass sie sich seine Leidenschaft
nicht eingebildet hatte. Als er sie an dem Abend das erste Mal
geküsst hatte, konnte man das mit Frustration und Wut erklären.Was
gerade passiert war aber nicht.
»Ich habe ihnen die Schlüssel abgenommen und
gesagt, Sie würden Bescheid geben, wann sie zurückkommen
sollen.«
»Danke … äh … ich ziehe mich jetzt an.«
»Wir müssen miteinander reden.«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, müssen wir
nicht.Weil … weil das nicht wieder vorkommen wird. Es hätte nie
passieren dürfen.«
Schweigen. »Ich hätte es nicht besser sagen
können.«
»Dann brauchen wir auch über nichts zu
reden.«
Smiths Blick glitt suchend über ihr Gesicht.
»Dinge, die man nicht akzeptiert, haben die hässliche Neigung, sich
zu Monstern zu entwickeln.«
Grace drehte wieder an ihrem Verlobungsring, teils
aus Verlegenheit, vor allem aber aufgrund einer nagenden
Frustration mit sich selbst und der Situation. Als Smith auf den
kostbaren Stein blickte, ließ sie die Hände sinken.
»Ich kann Ihnen versichern«, sagte sie kühl, »dass
ich nicht die geringste Absicht habe, mich Ihnen an den Hals zu
werfen. Falls Sie das als ein Risiko betrachtet haben, dann können
wir das abhaken.«
Als er darauf keine Antwort gab, fuhr sie fort:
»Werden Sie jetzt kündigen?«
Seine Augen verdunkelten sich vor Entschiedenheit.
»Nein. Ich gebe nicht auf. Niemals. Aber wir sollten uns darüber im
Klaren sein, dass zwischen uns lediglich eine Abmachung besteht,
nichts weiter.«
»Ich stimme Ihnen zu.«
»Gut, dass wir einer Meinung sind.«
Seine Wortwahl verletzte sie. Sie schob das Kinn
vor.
»Es hat nichts mit Meinung zu tun, es ist eine
Tatsache.« Rasch wandte Grace den Blick ab und sah dabei die Uhr an
der Mikrowelle. »Ich brauche kurz das Bad.Wir sind spät
dran.«
Nachdem sie verschwunden war, schritt Smith im
Wohnzimmer auf und ab.
Trotz seiner Predigt, dass zwischen ihnen nichts
weiter sei als eine Abmachung, verfluchte er die verdammte Störung.
So ein Pech, dass sie die einzigen Handwerker in der ganzen Stadt
hatte, die pünktlich erschienen. Auf die Minute um neun. Die
Dreckskerle.
Aber er sollte den Jungs mit dem Werkzeug und dem
Bleistift hinterm Ohr eher dankbar sein. Sie waren der einzige
Grund gewesen, dass sie sich nicht auf der Stelle
geliebt hatten. Auf dem Teppich. Ohne die Handwerker hätte er sich
nicht einmal die Zeit genommen, ihr zu erklären, dass sie keine
Zukunft hatten. Er hätte sie einfach genommen.
Und das wäre ziemlich dumm gewesen. Eine einsame
ängstliche Frau zu einer unangemessenen Liebesaffäre zu überreden
war nicht sein Ding.
Selbst wenn sie heiß wie ein Schneidbrenner
war.
Schade, dass sie nicht unter anderen Umständen
unter einem Dach schliefen. Die Gräfin mit ihrem kühlen Gehabe war
innerlich ein Vulkan. Feuer und Eis. Er konnte sich nicht
erinneren, jemals so scharf auf eine Frau gewesen zu sein.
Smith schüttelte den Kopf. Das hätte niemand
vorhersagen können.
Er griff nach einem Foto von ihr mit dem
Bürgermeister von New York.
Ihn beunruhigte nicht die Tatsache, dass er sie
begehrte. Sie war eine umwerfend schöne Frau mit jeder Menge
Charakter unter dem polierten Äußeren, und er war schließlich nur
ein Mann. Sie hatte sich zwar als sehr verführerisch erwiesen, doch
deswegen würde seine Welt nicht aus den Fugen geraten. Wenn die
Bedrohung vorbei und ihr Verfolger gefasst wäre, würde er ihr Leben
so verlassen, wie er es betreten hatte. Eine saubere Trennung, ein
Händedruck und auf zum nächsten Auftrag.Wie bei allen anderen
Klienten.
Er stellte das Foto wieder ab und kehrte zu seinem
Becher zurück. Er hasste Kräutertee, aber es war das Einzige, was
er in ihrer Küche gefunden hatte. Als sie fragte, ob er den Kaffee
gefunden habe, hatte er sich gefragt, was sie sich eigentlich dabei
dachte. Nach einer gründlichen Suche hatte
er bloß zwei Dosen Kaviar und ein paar Kräcker gefunden. Ansonsten
herrschte gähnende Leere in ihren Schränken. Ebenso im Kühlschrank:
eine uralte, halbleere Flasche mit Salatdressing und ein Glas
ausländischer Senf. Das war alles.
Smith knurrte der Magen, also ging er wieder in die
Küche. Entweder verzehrte er eine Luxus-Vorspeise oder gar nichts.
Daher nahm er eine Dose Kaviar, die Kräcker und suchte in mehreren
Schubladen, bis er ein Messer fand. Er stemmte den Deckel der Dose
auf, auf der Zarenqualiät stand, löffelte das Zeugs auf ein
paar Kräcker und schob sie nacheinander in den Mund.
Nicht schlecht, dachte er, aber er würde einkaufen
gehen müssen, wenn er hier leben wollte.
Als es klopfte, ging er hinaus auf die Diele.
»Yeah?«, rief er, ohne die Tür zu öffnen.
Missbilligend bemerkte er, dass sie keinen Spion in der Tür
hatte.
Die Stimme klang zögernd. »Hier ist Joey … der
Portier. Wer ist da bitte?«
»Ich bin ein Freund der Gräfin.«
»Oh.« Joeys Stimme klang verwirrt.
»Kann ich etwas für Sie tun, Joey?«
»Oh, gestern ist ein Paket für sie abgeliefert
worden. Sie hat vergessen, es abzuholen.«
»Legen Sie es bitte auf die Matte.«
»Äh … ja, in Ordnung.«
Smith wartete noch einen Moment und begann dann
langsam, die Tür aufzuschließen.
Da hörte er Schritte hinter sich. »Wer war
das?«
Er blickte zurück über die Schulter. Sie kam gerade
aus dem Bad, trug einen Frotteebademantel und hatte ein Handtuch um
den Kopf geschlungen. Ihr Gesicht wirkte
rosig frisch, aber er versuchte, nicht daran zu denken, wie der
Rest ihres Körpers aussähe.
Als er das in braunes Papier gewickelte Paket
aufhob, überlegte er, ob er sie irgendwie dazu bewegen könnte,
statt des flusigen Dings wieder den seidenen Morgenmantel zu
tragen. Es bestand doch kein Grund, ihn zu quälen …
»Post für Sie.« Smith holte das Paket herein. Es
war klein, nur etwa fünfzehn Zentimeter lang.
»Oh, danke.« Sie streckte die Hand danach
aus.
»Nicht so rasch«, sagte er. »Ich werde es
öffnen.«
Misstrauisch zog sie die Revers des Bademantels
zusammen und folgte ihm in die Küche.
Smith legte das Paket auf die Anrichte, griff in
die Gesäßtasche und zog ein schmales Lederetui heraus. Als er es
öffnete, sah sie die glitzernden Metallwerkzeuge darin. »Haben Sie
vielleicht Gummihandschuhe hier?«
Grace zog zwei gelbe Handschuhe aus dem Schrank
unter der Spüle und reichte sie ihm mit einem besorgten Blick. Er
streifte sie über und untersuchte dann das Paket sorgfältig. Er
betrachtete es, lauschte daran, roch und schüttelte es. Der Name
der Gräfin auf dem Etikett war handgeschrieben, ansonsten hatte es
keinerlei Kennzeichen.
»Erkennen Sie die Handschrift?«, fragte er.
Sie schüttelte den Kopf.
»Wo haben Sie all das gelernt?« Sie beobachtete ihn
von der Tür aus. Ihm gefiel der Duft ihrer Seife, er versuchte
aber, das zu ignorieren.
»Hier und dort.«
Da kicherte sie unerwartet. Als er sie besorgt
ansah, schlug sie eine Hand vor den Mund.
»Tut mir leid. Ich neige dazu, in den unpassendsten
Situationen zu lachen.«
»Das kann ich kaum glauben!« Er nahm ein dünnes
Messer aus dem Etui.
»Nein, es stimmt. Meinen Vater hat das wahnsinnig
gemacht. Einmal auf einer Party in den Ferien hat sich ein Gast so
betrunken, dass er in den Springbrunnen fiel. Alle schwiegen
betreten, nur ich nicht. Mein Vater erzählte später immer wieder,
dass mein Kichern aus der Menge aufstieg wie ein übler
Geruch.«
Smith schob die dünne Klinge durch die Verpackung
und schnitt den oberen Teil des Papiers auf. »Kinder können so was
gut.«
»Es war aber erst vor zwei Jahren.«
Er warf ihr erneut einen kurzen Blick zu und hielt
dann inne. Es schien unvorstellbar, dass jemand mit ihrer Haltung
einen solchen Lapsus begehen konnte, und er fragte sich, welche
weiteren Streiche und Missetaten sie aushecken konnte.
Sie hatte den Mund zu einem so hübschen Lächeln
verzogen, dass es ihm fast die Kehle zuschnürte.
Smith wandte sich stirnrunzelnd wieder seiner
Aufgabe zu. »Lassen Sie mich raten: Der betrunkene Typ - war der
ein Prominenter?«
»Bishop Bradford. Über den lacht sonst
keiner.«
»Wo habe ich den Namen schon mal gehört?«
»Bradford Bourbon. Kentuckys bester Whiskey.«
»Ein Whiskeykönig, der keinen Schnaps
verträgt!«
»Genau das hat mein Vater gesagt.«
Als Smith fertig war, nahm er den Deckel ab und sah
unter einem dünnen Tuch den Schriftzug Tiffanys auf blauem
Grund.
»Was ist es?«, fragte sie unruhig.
»Wenn das eine Bombe ist, dann hat der Täter einen
exquisiten
Geschmack.« Vorsichtig nahm er das kleine Kästchen heraus und
setzte es auf den Tisch. »Haben Sie etwas dagegen, wenn ich es
öffne?«
Als sie den Kopf schüttelte, schnitt er die weiße
Schleife auf und hob den Deckel ab. Auf dem Tuch lag eine
Karte.
Er spürte ihre Spannung, als sie den Umschlag
entgegennahm. Sie öffnete ihn und las laut: »Für Woody, alles
Liebe, Bo. PS: Ich freue mich auf dich nächste Woche.«
Grace begann zu lachen - es klang sehr
erleichtert.
»Was ist so komisch?«
»Bo ist zufällig die Nichte von Bishop Bradford.
Sie kennen Sie vielleicht als Senatorin Barbara Ann Bradford von
Kentucky.Was für ein Zufall.«
Smith nahm das Seidenpapier heraus und türmte es zu
einem luftigen Berg auf. »Gehen wir mal davon aus, sie will sich
nicht an Ihnen dafür rächen, dass Sie über ihren Onkel gekichert
haben. Dann wird das hier Ihnen vermutlich nicht ins Gesicht
fliegen.«
Tief unter dem schützenden Papier fand er ein
kleines Porzellankästchen mit Blumenmalerei. Er überlegte, ob er es
öffnen sollte, beschloss aber, es wäre sicher genug, wenn sie es
selbst tat.Vielleicht würde sie es schätzen, wenn er sie das
private Geschenk ungestört auspacken ließ.Also reichte er es
ihr.
Als sie den Deckel hob, holte sie scharf
Luft.
»Was ist es?«
»Nichts«, antwortete sie leise. Dann umklammerte
sie das kleine Kästchen sehr fest.
Smith räumte das Verpackungsmaterial zusammen.
Überrascht merkte er, dass er gerne gewusst hätte, was in dem
kleinen Kästchen war.
Grace nickte in Richtung der Kaviardose auf der
Anrichte.
»Sie haben wohl nach etwas Essbarem gesucht. Das tut mir leid. Ich
hatte gestern Abend nicht mit Gästen gerechnet.«
»Besser als manches, was ich in den letzten Jahren
gegessen habe.«
Dann riss er die Gummihandschuhe ab und verstaute
sie unter der Spüle. »Ach ja, die Haushaltshilfe?«
»Therese?«
Er nickte. »Als sie heute Morgen kam, habe ich ihr
gesagt, sie hätte eine Weile Urlaub.«
Die Gräfin runzelte die Stirn. »Aber sie ist völlig
vertrauenswürdig. Sie arbeitet schon seit Jahren für meine Familie
und …«
»Haben Sie einen festen Chauffeur?«
Sie nickte und sah ihn dabei misstrauisch an.
»Rufen Sie ihn an und sagen Sie ihm, auch er könne
ein wenig Urlaub machen. Ich will einen meiner eigenen Männer am
Steuer.«
»Aber Rich ist schon …«
»Ich will meinen eigenen Mann.«
Grace senkte den Kopf. Er spürte, wie sie mit sich
rang.
»Es ist ja nicht für immer«, knurrte er. »Ich weiß,
es ist schwer, aber Sie sind nicht allein.«
Ihr Blick zuckte hoch. »Sie haben Recht. Ich lebe
mit einem ausgebildeten Killer zusammen und werde von einem Mörder
verfolgt. Ich sollte über etwas Ungestörtheit froh sein.« Dann
holte sie tief Luft. »Tut mir leid. Sie verdienen es nicht, wenn
ich meinen Frust an Ihnen auslasse.«
»Ich kann damit umgehen.«
Dann sah sie ihn lange an. Ihre grünen Augen hatten
die Farbe eines Frühlingswaldes. »Dessen bin ich sicher. Sie sehen
aus, als könnten Sie alles aushalten.«
Glücklicherweise, dachte Smith, aber auch
daran, wie er sie an sich gepresst hatte.
»Das Bad ist frei«, sagte sie.
»Gut.«
Grace ging ihm voran in ihr Schlafzimmer.
»Ich habe Ihnen frische Handtücher und einen
Rasierer hingelegt.« Sie blieb in der Tür zu ihrem Ankleideraum
stehen. »Falls Sie noch irgendetwas brauchen …«
»Ist gut. Danke.«
Damit nickte sie und schloss die Doppeltür hinter
sich.