22 

Als Grace sich am nächsten Morgen um fünf
Uhr zum ersten Mal umdrehte, stieg ihr der Duft von frisch
gebrühtem Kaffee in die Nase. Da wusste sie, dass Smith
aufgestanden war.
Sie musste sich innerlich darauf vorbereiten, ihm
gegenüberzutreten, daher duschte sie erst einmal eiskalt und zog
eins ihrer Power-Kostümchen an. Es war eng anliegend geschnitten
und schwarz. Die Revers waren mit roten Biesen eingefasst, und wenn
sie es trug, fühlte sie sich jedes Mal gleich viel stärker. Dazu
hohe Absätze und einen Hauch hellroten Lippenstift - es war, als
hätte sie ihre Rüstung für diesen Tag angelegt.
Als sie in den Flur trat, telefonierte Smith. Dabei
schritt er zwischen Wohnzimmer und Esszimmer auf und ab. Er wirkte
verbissen, als er sie anblickte.
»Nein, überlass das mir«, sagte er noch, ehe er
auflegte.
Grace sah ihn kühl an.
»Isadora Cunis ist gestern Abend angegriffen
worden.«
Grace schluckte.
Sie merkte, wie sich ihr Trotz verflüchtigte, weil
sie zu zittern begann. »Ich dachte, sie wäre mit ihrem Mann
verreist. Was ist passiert?«
»Sie ist für ihre Galaveranstaltung zurückgekommen.
Sie wurde in der Eingangshalle ihres Wohnhauses gefunden.
Offensichtlich ist sie in ihrer Wohnung attackiert worden,
konnte sich aber irgendwie noch zum Lift schleppen - ein Wunder
mit ihren Verletzungen. Jetzt liegt sie im Koma im
Krankenhaus.«
Grace streckte eine Hand aus, um sich irgendwo
abzustützen, bis sie die kühle Wand spürte. »Wie ist er an sie
herangekommen?«
Smith zuckte die Achseln. »Es gibt nur eine
Erklärung. Sie kannte ihn und ließ ihn in die Wohnung.«
Grace fingerte an den Knöpfen ihrer Kostümjacke,
streifte sie ab und legte sie über die Sofalehne. Auf dem
hellbeigen Untergrund wirkte das Schwarz krass und
herausfordernd.
»Gütiger Gott«, flüsterte sie und setzte sich. Sie
kreuzte die Beine und legte die Hände in den Schoß.
Irgendwie ordneten sich ihre Gedanken, wenn sie
ihren Köper so kontrollierte.
»Ich glaube … ich fahre heute nicht nach
Connecticut«, sagte sie.
»Ich sage Eddie Bescheid.«
Sie hörte das elektronische Piepen seines Telefons,
als er die Nummer eingab, dann seine tiefe Stimme.
Sie sah Isadora vor sich, wie sie im Krankenhaus
lag, und trauerte um die Freundin.
»Grace?«
Als sie ihren Namen hörte, blickte sie hoch und
sah, dass Smith vor ihr kniete.
»Grace, soll ich Kat anrufen, dass du heute nicht
ins Büro kommst?«
Grace wollte nicken, doch dann sah sie sich in
ihrer Wohnung um. Angesichts der Tatsache, dass sämtliche Frauen in
ihrem eigenen Heim angegriffen worden waren, fühlte sie sich hier
nicht mehr sicher.
»Nein, ich gehe lieber zur Arbeit.«
Als Grace aufstehen wollte, reichte John ihr
hilfsbereit eine Hand.
Sie zwang sich, sie nicht zu ergreifen.
»Ich muss eine Weile allein sein«, sagte sie und
ging in ihr Schlafzimmer. »Bitte entschuldige mich.«
Auf eine Antwort wartete sie nicht.
Als sie später an diesem Morgen auf Kats
Schreibtisch zuging, hatte sie ein strahlendes Lächeln aufgesetzt,
von dem das Mädchen sich allerdings nicht beeindrucken ließ.
»Alles okay?«, fragte sie.
»Ja, ja, wunderbar.«
»Und Connecticut?«
»Ich musste umplanen.« Ehe Kat weitere Fragen
stellen konnte, fügte sie hinzu: »Könnten Sie mir einen Gefallen
tun und sämtliche Termine heute absagen? Ich muss mich auf den Ball
vorbereiten und will ungestört arbeiten.«
»Kein Problem.«
Grace hatte nun keinerlei Termine und verbrachte
den Vormittag in einer Art Nebel. Sie versuchte zu arbeiten, nahm
aber nichts richtig auf, und ihre Notizen ergaben kaum Sinn. In
einem letzten Versuch, wenigstens etwas zu schaffen, entschloss sie
sich, die Sitzordnung für das Festessen aufzustellen.
Nach etwa zwanzig Minuten schob sie sämtliche
Papiere beiseite und blickte zu der Büste ihres Vaters. Dann
drückte sie den Knopf der Gegensprechanlage.
»Kat, würdest du bitte den Hausservice rufen? Ich
möchte etwas ins Museum herunterschaffen lassen. Oh, sag ihnen
auch, dass ich ein paar andere Bilder hier haben möchte. Die hier
hängen schon zu lange an den Wänden.«
Dann drehte sie sich zu Smith um, der telefonierte.
Das
hatte er den ganzen Morgen über getan und vermutlich Informationen
über Isadoras Fall zusammengetragen. Sie wollte ihn nach weiteren
Einzheiten fragen, war aber nicht sicher, ob sie sich dann besser
fühlen würde.Wenn er ihr schlechte Nachrichten übermittelte, war
das immer doppelt schlimm.
Grace sah von der Büste auf die Konfektschale und
den Pfeifenständer. Sie sah Callies Bild vor sich und beschloss,
auch das alles fortzustellen.
Als Smith das Handy ablegte, fragte sie: »Was weißt
du über Callie?«
Smith machte sich eine kurze Notiz und blickte
hoch.
»Sie wohnt in dem Haus, vor dem wir sie abgesetzt
haben. Sie ist siebenundzwanzig, unverheiratet, lebt alleine und
hat keinen Pfennig auf dem Konto. Arbeitet in einer Galerie, war
sehr gut in der Schule. Hat auf der NYO einen Einser Abschluss
gemacht, ebenso bei dem folgenden Masters-Kurs in Kunstgeschichte.
Ihre Mutter lebt nicht mehr.«
Grace zog die Brauen hoch. »Wann ist sie
gestorben?«
»Vor zwei Jahren. An MS.«
Grace wollte gerade fragen, ob Callie Geschwister
hatte, als Kat durch den Lautsprecher ankündigte: »Mr. Lamont ist
hier.«
Grace verzog ärgerlich das Gesicht und war
versucht, ihn fortzuschicken. Der Jahresball würde übermorgen
stattfinden, daher wollte sie nichts riskieren. Vielleicht hatte
der Mann aber auch etwas Konstruktives zu sagen. »Er kann
hereinkommen, aber nur kurz …«
Da stürzte Lamont schon durch die aufgerissene
Doppeltür.
»Na, guten Morgen, Lou«, sagte Grace trocken.
Lamont schritt auf den Schreibtisch zu. Grace
bemerkte seinen gut geschnittenen Anzug, die bunte Krawatte. Wie
nebenbei fiel ihr auf, dass das gefaltetete Taschentuch in der
Brusttasche von der gleichen Art war, wie ihr Vater es immer
getragen hatte.
»Ihr Auktionsstar ist angekommen«, sagt er mit
einem humorlosen Lächeln. »Sie haben das Bild gerade ausgepackt.
Das Ding ist so dunkel, dass kein Mensch erkennen kann, was es
eigentlich ist.«
Grace gab sich Mühe, seinen verächtlichen Tonfall
zu ignorieren. »Ich denke, dass die Begleitpapiere für sich
sprechen. Oder möchten Sie sich vielleicht mit den Copley-Experten
streiten, die die Dokumente verfasst haben?«
Lamont schnaubte herablassend.
»Sie lassen sich morgen Abend besser nicht allzu
sehr im Rampenlicht sehen, denn das wäre peinlich. Die ganze
Angelegenheit war von Anfang an eine Katastrophe. Die Einladungen
gingen schief, es hat Wochen gedauert, bis das Menü feststand, und
die Retrospektive für ihren Vater habe ich überhaupt noch nicht zu
Gesicht bekommen. Das Porträt ist ein Albtraum, und Gott allein
weiß, wie Sie die Party in der Eingangshalle arrangieren wollen.
Ich kann Ihnen sagen, Bainbridge ist sehr beunruhigt.«
»Halten Sie sich aus dem Aufsichtsrat heraus«,
erwiderte Grace mit scharfer Stimme.
»Ich will ja nur Ihr Bestes.«
Grace biss sich auf die Lippen, um nicht noch eine
scharfe Antwort zu geben. Sie war es leid, dass Lamont überall nur
Unruhe stiftete und sie seine Kritik stets gelassen hinnehmen
musste. Ihre Stimme klang hart vor innerer Wut:
»Danke, aber ich habe es nicht nötig, von Ihnen
gerettet zu werden.«
Aufsteigende Wut färbte seine Wangen rot. »Oh, tut
mir leid. Das hatte ich vergessen. Sie sind ja imstande, auf diesem
Drahtseil eine unglaubliche Balance zu halten. Das muss ich mir
immer wieder in Erinnerung rufen, wenn die Geldgeber wissen wollen,
warum das wichtigste Ereignis des Jahres nichts weiter ist als ein
schlechtes Essen und ein peinliches Gemälde, das kein Mensch kaufen
will.«
Grace massierte ihren vor Stress verspannten
Nacken. »Lou, ich habe keine Lust, mich mit Ihnen zu
streiten.«
»Das wäre auch gar nicht nötig, wenn Sie täten, was
ich sage. Aber nein!« Er warf theatralisch beide Hände in die Höhe.
»Sie sind immer noch so eifersüchtig auf meine Beziehung zu Ihrem
Vater, dass Sie mir keinerlei Respekt entgegenbringen
können.«
»Wie bitte?« Grace war ehrlich überrascht. Sie
konnte Lou persönlich nicht leiden, aber es hatte nichts damit zu
tun, wie gut er sich mit ihrem Vater verstanden hatte.
»Sie haben es immer gehasst, wie sehr er mich
schätzte und förderte.«
Grace schüttelte den Kopf. »Mein Vater hat sich
gefreut, wie gut Sie sich entwickelten, aber ich habe mich dadurch
nie bedroht gefühlt. Sie waren eins seiner Hobbys, Lou, niemals ein
Sohnersatz. Lassen Sie nicht zu, dass Ihr Ego die Realität
umschreibt.«
Lamont stützte beide Hände auf die
Schreibtischplatte und beugte sich voller Wut vor. »Du kleine
…«
Da umklammerte eine Hand seine Schulter.
»Ganz ruhig, Junge!« Smith lächelte Lamont
verkniffen an. Er überragte den Mann um eine ganze Kopflänge.
»Lassen Sie mich los!«
»Erst wenn Sie sich beruhigt haben.«
Lamont starrte Smith wütend an und trat
zurück.
»Sie sind wirklich ein fabelhafter Berater, wissen
Sie das? Ich komme her, um ihr den Kopf zurechtzurücken, weil ihr
Aufsichtsrat mit ihren Leistungen nicht zufrieden ist, und Sie
stürzen sich gleich auf mich.« Lamont rückte sein Jackett zurecht
und glättete seine Krawatte. »Sagen Sie mir ja nicht, dass man so
was bei Ihnen lernt.«
Grace schüttelte weiterhin nur den Kopf. »Lou, Sie
gehen jetzt besser.«
»Genau. Ich habe in zehn Minuten eine
Personalversammlung. Ich werde die Anweisung geben, dass jeder,
auch die einfachste Sekretärin, dieses Jahr zu dem Ball kommen
muss, damit wir nicht so viele leere Stühle am Tisch haben.«
»Nein, ich meine das anders. Sie sollten die
Stiftung verlassen.«
Lamonts Augenbrauen schossen bis an den Haaransatz.
»Sie werfen mich raus?«
Grace erhob sich von dem schweren Sessel. Sie hatte
Angst gehabt, Lamont zu entlassen, denn obwohl er nur Probleme
bereitete, hatte sie befürchtet, er könnte irgendwie Recht haben.
Eine Stimme in ihr fragte ständig, ob das, was sie tat, in Ordnung
war. Sie hatte außerdem gehofft, dass Lou sich irgendwann
entscheiden würde, sie zu unterstützen.
Doch als sie ihn jetzt ansah, wusste sie, dass sie
diese Hoffnung aufgeben musste.
»Ja, Lou, ich werfe Sie hinaus. Ich tu es nicht
gerne, aber es ist ganz offensichtlich, dass wir beide nicht gut
zusammenarbeiten.«
»Das wird Ihnen noch leidtun«, sagte er leise und
drohend. »Ich bin dieser Firma und Ihrem Vater gegenüber immer
loyal gewesen.«
»Ich weiß, dass Sie sich bei mehreren anderen
Firmen nach einer Stelle umgesehen haben.«
»Das ist nicht wahr.«
»Doch, das stimmt. Suzanna van der Lyden und Mimi
Lauer haben mir erzählt, dass sie Sie abgelehnt haben.«
Lamont kniff die Augen zusammen.
»Lou, Sie haben sich verrannt. Sie wollen nicht
unter mir arbeiten, und ich werde nicht zurücktreten. Ich schlage
vor, dass wir Ihren Vertrag auflösen und Ihnen eine Abfindung
zahlen. Solange das alles einvernehmlich geschieht, können wir die
Presseerklärung gemeinsam verfassen, und ich schreibe Ihnen ein
gutes Zeugnis.«
Lamont kniff die Augen zu Schlitzen zusammen, aber
sie wusste nicht, ob er innerlich die Nullen seiner Abfindung
zählte oder die Entfernung zu ihr einschätzte, um
zuzuschlagen.
Dann stach er mit dem Zeigefinger in die Luft. »Ich
schwöre, das werden Sie noch bereuen!«
Sobald er das Büro verlassen hatte, gab Grace an
Kat durch: »Sagen Sie dem Sicherheitsdienst Bescheid, dass sie Lou
Lamont aus dem Gebäude geleiten. Und dass er seine Schlüssel und
das Fimenabzeichen abgibt.«
Jetzt fehlte nur noch, dass Lamont die Spenderliste
mitnahm - falls er sie nicht bereits kopiert hatte.
Dann setzte Grace sich wieder und überlegte, wen
sie an Lamonts Stelle in der Entwicklungsabteilung haben wollte.
Sie musste gleich mit der Suche anfangen, denn eine solche Stelle
zu besetzen konnte Monate dauern.
Smith saß wieder am Konferenztisch und tappte
ungeduldig mit dem Stift auf seinen Notizblock.
Warum hatte Tiny ihn noch nicht
zurückgerufen?
Er versuchte es noch einmal. Als der Mann sich
endlich meldete, fluchte er nur: »Wo zum Teufel bist du
gewesen?«
Es knackte in der Telefonleitung, und Tiny klang
so, als
wäre er unter Wasser. »Ich versuche, aus Südamerika
herauszukommen. Flat Top hat mich endlich abgelöst. Ich habe heute
Morgen dreimal versucht, dich zu erreichen, bin aber nicht
durchgekommen.«
»Wann wirst du hier sein?«
»Ich versuche, jetzt gerade einen Flug zu
bekommen.«
»Verschwende keine Zeit.«
»Tu ich das jemals?«
Smith hängte auf und wählte Detective Marks’
Privatnummer. Als der Mann sich meldete, fragte er: »Was haben Sie
Neues?«
»Sie ist immer noch bewusstlos. Aber sie wird wohl
durchkommen. Das heißt, wir haben eine positive Identifikation.
Meine Männer arbeiten am Tatort, aber ich rechne nicht mit einer
Sensation. Herrje, ich wünschte, ich wüsste mehr über diesen
Typen.«
»Die Frauen in dem Artikel wurden alle zu dem
Zeitpunkt attackiert, als sie ein gesellschaftliches Ereignis
organisierten. Sie wissen, dass diese Partys ein deutliches
Barometer für gesellschaftlichen Status darstellen. Wer eingeladen
wird und wer nicht, ist enorm wichtig.Wir sollten nach jemandem
suchen, der nicht dazugehörte. Entweder nicht eingeladen war oder
nun ausgeschlossen ist.«
Er warf einen Blick zu Grace. Sie telefonierte und
sprach mit ernster, langsamer Stimme. Er fragte sich, mit wem sie
redete.
»Das macht Sinn«, meinte Marks. »Aber wir reden
hier von einer gesellschaftlichen Ebene, wo Aufstieg und Abstieg so
aggressiv verlaufen, dass sogar ein Boxer sich eine Teilnahme daran
überlegen würde. Jeder ist doch ständig entweder auf dem Abstieg
oder Aufstieg.«
»Die sechs Frauen in dem Artikel stehen
unangefochten
an der Spitze. Sie sind der Maßstab für Geschmack in dieser Stadt,
was heißt, sie bestimmen, wer auf der A-Liste steht und wer nicht.
Ich sage dir, es ist jemand, dem man auf den Fuß getreten hat,
entweder tatsächlich oder nur in seiner Wahrnehmung. Und jede
einzelne dieser Frauen kannte ihn persönlich. Nur so konnte er
Zutritt haben.«
»Aber wir haben keinerlei Verdachtsmomente. Du hast
die Eintragungen von allen Gebäuden durchgesehen. Da gibt es
keinerlei Unregelmäßigkeiten, und alle haben sich wieder
ausgetragen. Alle hatten einen Grund, an den bestimmten Tagen dort
zu sein, und alle sind vor dem Mord wieder gegangen.«
Smith dachte an den Hintereingang von Grace’
Gebäude. »Vielleicht ist er wieder reingelangt?«
»Wie meinst du das?«
»Wenn der Typ sich nun einträgt und, während er
drinnen ist, ein Fenster öffnet oder einen Dienstboteneingang …
Dann geht er, trägt sich wieder aus, sorgt dafür, dass der Portier
ihn auch bemerkt, und kommt hinten herum wieder rein. Diese alten
Wolkenkratzer sind wie ein Labyrinth. Er könnte stundenlang
gewartet haben, weil er wusste, wo er sich verstecken konnte. Das
würde erklären, dass der Zutritt nicht erzwungen wurde und warum
die Besucherbücher alle stimmen.«
Marks schwieg einen Moment lang. »Verdammt, da hast
du vielleicht Recht.«
Als Smith auflegte, merkte er, dass Grace ihn
beobachtete. Sie sieht schlecht aus, dachte er, die Augen trüb, der
Mund schlaff. Es war, als wäre in ihr ein Licht erloschen.
»Ich gehe jetzt Mittagessen«, sagte sie
leise.
»Gut.Wo?«
»In Chelsea. Ich treffe mich mit meiner
Halbschwester.«
Eddie fädelte sich durch den Verkehrsstau, weil irgendwo eine
Hauptwasserleitung geplatzt war. Endlich setzte er sie vor dem
Eingang einer protzigen modernen Kunstgalerie ab. Grace betrachtete
noch die Fassade, die ganz aus Stahl und Glas bestand, als Callie
schon herauskam. Sie hatte das Haar hinten zusammengebunden und sah
damit ihrem Vater nicht mehr so ähnlich, wie Grace zu ihrer
Erleichterung feststellen musste.
»Hi, wohin wollen wir gehen?«, fragte Callie.
Grace schlug ein kleines, abgelegenes Restaurant
vor, wo sie ungestört sein würden.
Sie gingen los. Der Wind peitschte die bunten
Blätter an den kleinen Bäumchen am Straßenrand auf. Smith blieb
dicht hinter ihnen.
Beide Frauen schwiegen verlegen.
»Ich hatte nicht damit gerechnet, dass du anrufst«,
murmelte Callie. »Ich habe mich aber gefreut.«
»Ich bin auch froh.« Grace war nicht sicher, ob sie
das ernst meinte, aber sie wusste nicht, was sie sonst hätte sagen
können. Das Einzige, was sie gemeinsam hatten, war ihr Vater, und
das war nicht gerade ein Thema, worüber sich locker plaudern
ließ.
Als sie in dem kleinen Café Platz genommen hatten,
setzte sich Smith an den Nebentisch, damit die beiden ungestörter
waren.
Sie bestellten und schwiegen anschließend wieder
verlegen.
Grace versuchte, die andere Frau nicht allzu direkt
anzustarren, doch das war schwer. Ihr drängten sich zahlreiche
Fragen auf, die aber vermutlich alle nicht zu beantworten waren.
Was sie wissen wollte, hätte nur ihr Vater beantworten können, und
sie war nun über seinen Tod sehr wütend.
So frustriert Grace aber auch war, sie wusste, dass es nicht fair
war, es an Callie auszulassen. Die Frau hatte ja nicht darum
gebeten, in diese Situation hineingeboren zu werden.
Der Kellner brachte ihnen Wasser. Grace fragte sich
immer noch verzweifelt, worüber sie reden konnten, als die
Unterhaltung zu ihrer Überraschung locker zu fließen begann.
Zunächst mit etwas sehr Trivialem, der Ausstattung des Restaurants.
Callie machte eine Bemerkung über den Fußboden, eine Riesencollage
von Bildern mit Tänzerinnen. Grace deutete auf eine Charleston-Dame
aus den Zwanzigern, ein Stil, den sie immer gemocht hatte, und
Callie bemerkte eine Cancan-Tänzerin. Das führte zu einer
Unterhaltung über die Drucke von französischen Lithographien an den
Wänden und Grace’ Trip nach Paris vor Kurzem. Sie tauschten
Geschichten aus, zuerst langsam und zögernd, dann immer
interessierter.Wie aufgrund einer unausgesprochenen Vereinbarung
erwähnten sie ihre Kindheit nicht, sondern konzentrierten sich auf
die letzten Jahre. Aber die Vergangenheit stand stets zwischen
ihnen.
Am stärksten in den Pausen.
»Ich bin auf die New Yorker Universität gegangen«,
erzählte Callie, als ihre Teller abgeräumt waren. »Ich wollte bei
Mutter bleiben, weil sie immer kränker wurde.«
»Hast du sie lange pflegen müssen?«, fragte Grace.
Sie konnte sich kaum den Druck vorstellen, unter dem Callie
gestanden haben musste.
»Ja, ein paar Jahre lang, aber die letzten vier
Monate waren am schlimmsten. Sie hat jegliche Hilfe von meinem …
unserem Vater abgelehnt.« Callies Blick zuckte unsicher hoch. »Er
wollte sie in eine Privatklinik verlegen lassen, aber sie hat
darauf bestanden, zu Hause zu bleiben, wahrscheinlich nur, um ihm
die Stirn zu bieten. Sie war eine
sehr unabhängige Frau. Der Kontrollverlust durch die MS hat ihr
sehr zu schaffen gemacht. Die letzten paar Monate waren die
längsten in meinem Leben. Und in ihrem. Es war für uns beide eine
traurige Erleichterung, als es endlich zu Ende war.«
Grace sah Callie an, die nun einen Teelöffel in die
Hand nahm und begann, Muster auf die Tischdecke zu malen. Ein
Abbild ihres Vaters tauchte vor ihrem inneren Auge auf. Sie musste
sich zwingen, nicht den Blick abzuwenden. Sie verfolgte die Spuren
mit den Augen, hörte das leise Kratzen und fühlte sich schrecklich
verlassen. Irgendwie aber auch erleichtert.
Zu Beginn ihres Treffens waren beide ziemlich
verlegen gewesen, aber Grace war immer noch froh, dass sie Callie
angerufen hatte. Die Schwester war clever, ehrlich, schien sehr
offen und erweckte in keiner Weise den Eindruck, dass sie hinter
ihrem Geld her war. Sie ließ allerdings erkennen, dass ihr Leben
bisher ziemlich schwer gewesen war. Callie hatte nur angedeutet,
was sie mitgemacht hatte, nicht nur mit der Krankheit ihrer Mutter,
sondern auch mit der Einsamkeit, als Tochter nicht anerkannt zu
sein.
Der Kaffee wurde gebracht. Grace spürte, dass
Callie nicht weiter über ihre Mutter reden wollte. »Du
interessierst dich also für die Restaurierung von
Kunstwerken?«
»Ja, das ist meine Leidenschaft. Ich wünschte, ich
würde einen solchen Job finden, statt in der Galerie nur den
Telefondienst zu machen. Ich habe auf der Uni ziemlich gute
Projekte betreut, aber in der heutigen Kunst ist das sehr schwer
umzusetzen. Um einen Restauratorjob bewerben sich hunderte, und da
meine Mutter krank war, konnte ich auch nicht wegziehen.« Sie
zuckte die Achseln. »Vermutlich ist es Zeit, mich mal wieder zu
bewerben. Ich bin
ja jetzt allein und kann im ganzen Land anfangen. Sogar in der
ganzen Welt.«
»Wohin würdest du am liebsten gehen?«
Callie lachte und trank einen Schluck Kaffee.
»Keine Ahnung. Ich habe immer gerne mehrere Möglichkeiten, und
jetzt hab ich die Wahl und bin so überwältigt, dass ich am liebsten
hierbleiben würde.«
Grace dachte an die Restaurierungsabteilung ihrer
Stiftung. Irgendwie wollte sie Callie überhaupt nicht in der Nähe
haben, denn die Familienähnlichkeit könnte jemandem auffallen. Sie
starrte die Frau an. Die Ähnlichkeit mit ihrem Vater war nicht
aufdringlich und würde vermutlich nur jemandem auffallen, der
wusste, wonach er zu suchen hatte. Und wer würde auf die Idee
kommen? Niemand hatte ja von Cornelius’ Doppelleben gewusst.
Grace zögerte, dachte aber auch, dass es sehr
hässlich von ihr wäre, jemandem Hilfe zu verweigern, nur weil sie
sich vor irgendwelchen irrealen Konsequenzen fürchtete.
»Callie«, sagte sie, »komm doch mal in die Stiftung
und unterhalte dich mit Miles Forsythe. Das ist der Kurator unseres
Museums. Er könnte dich auf ein paar Positionen aufmerksam machen.
Zumindest könnte er dir ein paar Namen von Leuten nennen, die dir
weiterhelfen könnten.«
Callie setzte langsam die Tasse ab. Sie sah
verdutzt aus, als hätte sie niemals Hilfe von Grace erwartet. Noch
von irgendjemand anderem.
»Dafür wäre ich dir sehr dankbar«, sagte sie.
Anschließend schlenderten sie zurück zur Galerie
und verabschiedeten sich.
»Ich rede mit Miles und verschaffe dir einen
Termin.«
»Danke.« Callie rückte die Handtasche höher auf die
Schulter. »Es war nicht nötig, mich zum Essen einzuladen.«
»Ich weiß.«
Als Callie den Kopf nach einem hupenden Taxi
umdrehte, fiel die Sonne auf ihr Gesicht und hob die hohen
Wangenknochen hervor, um die Grace ihren Vater immer so beneidet
hatte.
Callie sah sie wieder an. »Ich hätte deinen
Hosenanzug mitgebracht, aber ich wusste nicht, dass du anrufen
würdest …«
»Nicht nötig. Keine Eile.«
Callie lächelte. Sie stand da in ihrer bescheidenen
Garderobe, in einem einfachen, abgetragenen Mantel und wirkte sehr
verletzlich, aber eindeutig nicht wie jemand, der es auf etwas
abgesehen hat.
»Werde ich dich sehen, wenn ich mich mit Mr.
Forsyth treffe?«, fragte sie.
»Aber natürlich«, antwortete Grace.