22 023
Als Grace sich am nächsten Morgen um fünf Uhr zum ersten Mal umdrehte, stieg ihr der Duft von frisch gebrühtem Kaffee in die Nase. Da wusste sie, dass Smith aufgestanden war.
Sie musste sich innerlich darauf vorbereiten, ihm gegenüberzutreten, daher duschte sie erst einmal eiskalt und zog eins ihrer Power-Kostümchen an. Es war eng anliegend geschnitten und schwarz. Die Revers waren mit roten Biesen eingefasst, und wenn sie es trug, fühlte sie sich jedes Mal gleich viel stärker. Dazu hohe Absätze und einen Hauch hellroten Lippenstift - es war, als hätte sie ihre Rüstung für diesen Tag angelegt.
Als sie in den Flur trat, telefonierte Smith. Dabei schritt er zwischen Wohnzimmer und Esszimmer auf und ab. Er wirkte verbissen, als er sie anblickte.
»Nein, überlass das mir«, sagte er noch, ehe er auflegte.
Grace sah ihn kühl an.
»Isadora Cunis ist gestern Abend angegriffen worden.«
Grace schluckte.
Sie merkte, wie sich ihr Trotz verflüchtigte, weil sie zu zittern begann. »Ich dachte, sie wäre mit ihrem Mann verreist. Was ist passiert?«
»Sie ist für ihre Galaveranstaltung zurückgekommen. Sie wurde in der Eingangshalle ihres Wohnhauses gefunden. Offensichtlich ist sie in ihrer Wohnung attackiert worden, konnte sich aber irgendwie noch zum Lift schleppen - ein Wunder mit ihren Verletzungen. Jetzt liegt sie im Koma im Krankenhaus.«
Grace streckte eine Hand aus, um sich irgendwo abzustützen, bis sie die kühle Wand spürte. »Wie ist er an sie herangekommen?«
Smith zuckte die Achseln. »Es gibt nur eine Erklärung. Sie kannte ihn und ließ ihn in die Wohnung.«
Grace fingerte an den Knöpfen ihrer Kostümjacke, streifte sie ab und legte sie über die Sofalehne. Auf dem hellbeigen Untergrund wirkte das Schwarz krass und herausfordernd.
»Gütiger Gott«, flüsterte sie und setzte sich. Sie kreuzte die Beine und legte die Hände in den Schoß.
Irgendwie ordneten sich ihre Gedanken, wenn sie ihren Köper so kontrollierte.
»Ich glaube … ich fahre heute nicht nach Connecticut«, sagte sie.
»Ich sage Eddie Bescheid.«
Sie hörte das elektronische Piepen seines Telefons, als er die Nummer eingab, dann seine tiefe Stimme.
Sie sah Isadora vor sich, wie sie im Krankenhaus lag, und trauerte um die Freundin.
»Grace?«
Als sie ihren Namen hörte, blickte sie hoch und sah, dass Smith vor ihr kniete.
»Grace, soll ich Kat anrufen, dass du heute nicht ins Büro kommst?«
Grace wollte nicken, doch dann sah sie sich in ihrer Wohnung um. Angesichts der Tatsache, dass sämtliche Frauen in ihrem eigenen Heim angegriffen worden waren, fühlte sie sich hier nicht mehr sicher.
»Nein, ich gehe lieber zur Arbeit.«
Als Grace aufstehen wollte, reichte John ihr hilfsbereit eine Hand.
Sie zwang sich, sie nicht zu ergreifen.
»Ich muss eine Weile allein sein«, sagte sie und ging in ihr Schlafzimmer. »Bitte entschuldige mich.«
Auf eine Antwort wartete sie nicht.
 
Als sie später an diesem Morgen auf Kats Schreibtisch zuging, hatte sie ein strahlendes Lächeln aufgesetzt, von dem das Mädchen sich allerdings nicht beeindrucken ließ.
»Alles okay?«, fragte sie.
»Ja, ja, wunderbar.«
»Und Connecticut?«
»Ich musste umplanen.« Ehe Kat weitere Fragen stellen konnte, fügte sie hinzu: »Könnten Sie mir einen Gefallen tun und sämtliche Termine heute absagen? Ich muss mich auf den Ball vorbereiten und will ungestört arbeiten.«
»Kein Problem.«
Grace hatte nun keinerlei Termine und verbrachte den Vormittag in einer Art Nebel. Sie versuchte zu arbeiten, nahm aber nichts richtig auf, und ihre Notizen ergaben kaum Sinn. In einem letzten Versuch, wenigstens etwas zu schaffen, entschloss sie sich, die Sitzordnung für das Festessen aufzustellen.
Nach etwa zwanzig Minuten schob sie sämtliche Papiere beiseite und blickte zu der Büste ihres Vaters. Dann drückte sie den Knopf der Gegensprechanlage.
»Kat, würdest du bitte den Hausservice rufen? Ich möchte etwas ins Museum herunterschaffen lassen. Oh, sag ihnen auch, dass ich ein paar andere Bilder hier haben möchte. Die hier hängen schon zu lange an den Wänden.«
Dann drehte sie sich zu Smith um, der telefonierte. Das hatte er den ganzen Morgen über getan und vermutlich Informationen über Isadoras Fall zusammengetragen. Sie wollte ihn nach weiteren Einzheiten fragen, war aber nicht sicher, ob sie sich dann besser fühlen würde.Wenn er ihr schlechte Nachrichten übermittelte, war das immer doppelt schlimm.
Grace sah von der Büste auf die Konfektschale und den Pfeifenständer. Sie sah Callies Bild vor sich und beschloss, auch das alles fortzustellen.
Als Smith das Handy ablegte, fragte sie: »Was weißt du über Callie?«
Smith machte sich eine kurze Notiz und blickte hoch.
»Sie wohnt in dem Haus, vor dem wir sie abgesetzt haben. Sie ist siebenundzwanzig, unverheiratet, lebt alleine und hat keinen Pfennig auf dem Konto. Arbeitet in einer Galerie, war sehr gut in der Schule. Hat auf der NYO einen Einser Abschluss gemacht, ebenso bei dem folgenden Masters-Kurs in Kunstgeschichte. Ihre Mutter lebt nicht mehr.«
Grace zog die Brauen hoch. »Wann ist sie gestorben?«
»Vor zwei Jahren. An MS.«
Grace wollte gerade fragen, ob Callie Geschwister hatte, als Kat durch den Lautsprecher ankündigte: »Mr. Lamont ist hier.«
Grace verzog ärgerlich das Gesicht und war versucht, ihn fortzuschicken. Der Jahresball würde übermorgen stattfinden, daher wollte sie nichts riskieren. Vielleicht hatte der Mann aber auch etwas Konstruktives zu sagen. »Er kann hereinkommen, aber nur kurz …«
Da stürzte Lamont schon durch die aufgerissene Doppeltür.
»Na, guten Morgen, Lou«, sagte Grace trocken.
Lamont schritt auf den Schreibtisch zu. Grace bemerkte seinen gut geschnittenen Anzug, die bunte Krawatte. Wie nebenbei fiel ihr auf, dass das gefaltetete Taschentuch in der Brusttasche von der gleichen Art war, wie ihr Vater es immer getragen hatte.
»Ihr Auktionsstar ist angekommen«, sagt er mit einem humorlosen Lächeln. »Sie haben das Bild gerade ausgepackt. Das Ding ist so dunkel, dass kein Mensch erkennen kann, was es eigentlich ist.«
Grace gab sich Mühe, seinen verächtlichen Tonfall zu ignorieren. »Ich denke, dass die Begleitpapiere für sich sprechen. Oder möchten Sie sich vielleicht mit den Copley-Experten streiten, die die Dokumente verfasst haben?«
Lamont schnaubte herablassend.
»Sie lassen sich morgen Abend besser nicht allzu sehr im Rampenlicht sehen, denn das wäre peinlich. Die ganze Angelegenheit war von Anfang an eine Katastrophe. Die Einladungen gingen schief, es hat Wochen gedauert, bis das Menü feststand, und die Retrospektive für ihren Vater habe ich überhaupt noch nicht zu Gesicht bekommen. Das Porträt ist ein Albtraum, und Gott allein weiß, wie Sie die Party in der Eingangshalle arrangieren wollen. Ich kann Ihnen sagen, Bainbridge ist sehr beunruhigt.«
»Halten Sie sich aus dem Aufsichtsrat heraus«, erwiderte Grace mit scharfer Stimme.
»Ich will ja nur Ihr Bestes.«
Grace biss sich auf die Lippen, um nicht noch eine scharfe Antwort zu geben. Sie war es leid, dass Lamont überall nur Unruhe stiftete und sie seine Kritik stets gelassen hinnehmen musste. Ihre Stimme klang hart vor innerer Wut:
»Danke, aber ich habe es nicht nötig, von Ihnen gerettet zu werden.«
Aufsteigende Wut färbte seine Wangen rot. »Oh, tut mir leid. Das hatte ich vergessen. Sie sind ja imstande, auf diesem Drahtseil eine unglaubliche Balance zu halten. Das muss ich mir immer wieder in Erinnerung rufen, wenn die Geldgeber wissen wollen, warum das wichtigste Ereignis des Jahres nichts weiter ist als ein schlechtes Essen und ein peinliches Gemälde, das kein Mensch kaufen will.«
Grace massierte ihren vor Stress verspannten Nacken. »Lou, ich habe keine Lust, mich mit Ihnen zu streiten.«
»Das wäre auch gar nicht nötig, wenn Sie täten, was ich sage. Aber nein!« Er warf theatralisch beide Hände in die Höhe. »Sie sind immer noch so eifersüchtig auf meine Beziehung zu Ihrem Vater, dass Sie mir keinerlei Respekt entgegenbringen können.«
»Wie bitte?« Grace war ehrlich überrascht. Sie konnte Lou persönlich nicht leiden, aber es hatte nichts damit zu tun, wie gut er sich mit ihrem Vater verstanden hatte.
»Sie haben es immer gehasst, wie sehr er mich schätzte und förderte.«
Grace schüttelte den Kopf. »Mein Vater hat sich gefreut, wie gut Sie sich entwickelten, aber ich habe mich dadurch nie bedroht gefühlt. Sie waren eins seiner Hobbys, Lou, niemals ein Sohnersatz. Lassen Sie nicht zu, dass Ihr Ego die Realität umschreibt.«
Lamont stützte beide Hände auf die Schreibtischplatte und beugte sich voller Wut vor. »Du kleine …«
Da umklammerte eine Hand seine Schulter.
»Ganz ruhig, Junge!« Smith lächelte Lamont verkniffen an. Er überragte den Mann um eine ganze Kopflänge.
»Lassen Sie mich los!«
»Erst wenn Sie sich beruhigt haben.«
Lamont starrte Smith wütend an und trat zurück.
»Sie sind wirklich ein fabelhafter Berater, wissen Sie das? Ich komme her, um ihr den Kopf zurechtzurücken, weil ihr Aufsichtsrat mit ihren Leistungen nicht zufrieden ist, und Sie stürzen sich gleich auf mich.« Lamont rückte sein Jackett zurecht und glättete seine Krawatte. »Sagen Sie mir ja nicht, dass man so was bei Ihnen lernt.«
Grace schüttelte weiterhin nur den Kopf. »Lou, Sie gehen jetzt besser.«
»Genau. Ich habe in zehn Minuten eine Personalversammlung. Ich werde die Anweisung geben, dass jeder, auch die einfachste Sekretärin, dieses Jahr zu dem Ball kommen muss, damit wir nicht so viele leere Stühle am Tisch haben.«
»Nein, ich meine das anders. Sie sollten die Stiftung verlassen.«
Lamonts Augenbrauen schossen bis an den Haaransatz. »Sie werfen mich raus?«
Grace erhob sich von dem schweren Sessel. Sie hatte Angst gehabt, Lamont zu entlassen, denn obwohl er nur Probleme bereitete, hatte sie befürchtet, er könnte irgendwie Recht haben. Eine Stimme in ihr fragte ständig, ob das, was sie tat, in Ordnung war. Sie hatte außerdem gehofft, dass Lou sich irgendwann entscheiden würde, sie zu unterstützen.
Doch als sie ihn jetzt ansah, wusste sie, dass sie diese Hoffnung aufgeben musste.
»Ja, Lou, ich werfe Sie hinaus. Ich tu es nicht gerne, aber es ist ganz offensichtlich, dass wir beide nicht gut zusammenarbeiten.«
»Das wird Ihnen noch leidtun«, sagte er leise und drohend. »Ich bin dieser Firma und Ihrem Vater gegenüber immer loyal gewesen.«
»Ich weiß, dass Sie sich bei mehreren anderen Firmen nach einer Stelle umgesehen haben.«
»Das ist nicht wahr.«
»Doch, das stimmt. Suzanna van der Lyden und Mimi Lauer haben mir erzählt, dass sie Sie abgelehnt haben.«
Lamont kniff die Augen zusammen.
»Lou, Sie haben sich verrannt. Sie wollen nicht unter mir arbeiten, und ich werde nicht zurücktreten. Ich schlage vor, dass wir Ihren Vertrag auflösen und Ihnen eine Abfindung zahlen. Solange das alles einvernehmlich geschieht, können wir die Presseerklärung gemeinsam verfassen, und ich schreibe Ihnen ein gutes Zeugnis.«
Lamont kniff die Augen zu Schlitzen zusammen, aber sie wusste nicht, ob er innerlich die Nullen seiner Abfindung zählte oder die Entfernung zu ihr einschätzte, um zuzuschlagen.
Dann stach er mit dem Zeigefinger in die Luft. »Ich schwöre, das werden Sie noch bereuen!«
Sobald er das Büro verlassen hatte, gab Grace an Kat durch: »Sagen Sie dem Sicherheitsdienst Bescheid, dass sie Lou Lamont aus dem Gebäude geleiten. Und dass er seine Schlüssel und das Fimenabzeichen abgibt.«
Jetzt fehlte nur noch, dass Lamont die Spenderliste mitnahm - falls er sie nicht bereits kopiert hatte.
Dann setzte Grace sich wieder und überlegte, wen sie an Lamonts Stelle in der Entwicklungsabteilung haben wollte. Sie musste gleich mit der Suche anfangen, denn eine solche Stelle zu besetzen konnte Monate dauern.
 
Smith saß wieder am Konferenztisch und tappte ungeduldig mit dem Stift auf seinen Notizblock.
Warum hatte Tiny ihn noch nicht zurückgerufen?
Er versuchte es noch einmal. Als der Mann sich endlich meldete, fluchte er nur: »Wo zum Teufel bist du gewesen?«
Es knackte in der Telefonleitung, und Tiny klang so, als wäre er unter Wasser. »Ich versuche, aus Südamerika herauszukommen. Flat Top hat mich endlich abgelöst. Ich habe heute Morgen dreimal versucht, dich zu erreichen, bin aber nicht durchgekommen.«
»Wann wirst du hier sein?«
»Ich versuche, jetzt gerade einen Flug zu bekommen.«
»Verschwende keine Zeit.«
»Tu ich das jemals?«
Smith hängte auf und wählte Detective Marks’ Privatnummer. Als der Mann sich meldete, fragte er: »Was haben Sie Neues?«
»Sie ist immer noch bewusstlos. Aber sie wird wohl durchkommen. Das heißt, wir haben eine positive Identifikation. Meine Männer arbeiten am Tatort, aber ich rechne nicht mit einer Sensation. Herrje, ich wünschte, ich wüsste mehr über diesen Typen.«
»Die Frauen in dem Artikel wurden alle zu dem Zeitpunkt attackiert, als sie ein gesellschaftliches Ereignis organisierten. Sie wissen, dass diese Partys ein deutliches Barometer für gesellschaftlichen Status darstellen. Wer eingeladen wird und wer nicht, ist enorm wichtig.Wir sollten nach jemandem suchen, der nicht dazugehörte. Entweder nicht eingeladen war oder nun ausgeschlossen ist.«
Er warf einen Blick zu Grace. Sie telefonierte und sprach mit ernster, langsamer Stimme. Er fragte sich, mit wem sie redete.
»Das macht Sinn«, meinte Marks. »Aber wir reden hier von einer gesellschaftlichen Ebene, wo Aufstieg und Abstieg so aggressiv verlaufen, dass sogar ein Boxer sich eine Teilnahme daran überlegen würde. Jeder ist doch ständig entweder auf dem Abstieg oder Aufstieg.«
»Die sechs Frauen in dem Artikel stehen unangefochten an der Spitze. Sie sind der Maßstab für Geschmack in dieser Stadt, was heißt, sie bestimmen, wer auf der A-Liste steht und wer nicht. Ich sage dir, es ist jemand, dem man auf den Fuß getreten hat, entweder tatsächlich oder nur in seiner Wahrnehmung. Und jede einzelne dieser Frauen kannte ihn persönlich. Nur so konnte er Zutritt haben.«
»Aber wir haben keinerlei Verdachtsmomente. Du hast die Eintragungen von allen Gebäuden durchgesehen. Da gibt es keinerlei Unregelmäßigkeiten, und alle haben sich wieder ausgetragen. Alle hatten einen Grund, an den bestimmten Tagen dort zu sein, und alle sind vor dem Mord wieder gegangen.«
Smith dachte an den Hintereingang von Grace’ Gebäude. »Vielleicht ist er wieder reingelangt?«
»Wie meinst du das?«
»Wenn der Typ sich nun einträgt und, während er drinnen ist, ein Fenster öffnet oder einen Dienstboteneingang … Dann geht er, trägt sich wieder aus, sorgt dafür, dass der Portier ihn auch bemerkt, und kommt hinten herum wieder rein. Diese alten Wolkenkratzer sind wie ein Labyrinth. Er könnte stundenlang gewartet haben, weil er wusste, wo er sich verstecken konnte. Das würde erklären, dass der Zutritt nicht erzwungen wurde und warum die Besucherbücher alle stimmen.«
Marks schwieg einen Moment lang. »Verdammt, da hast du vielleicht Recht.«
Als Smith auflegte, merkte er, dass Grace ihn beobachtete. Sie sieht schlecht aus, dachte er, die Augen trüb, der Mund schlaff. Es war, als wäre in ihr ein Licht erloschen.
»Ich gehe jetzt Mittagessen«, sagte sie leise.
»Gut.Wo?«
»In Chelsea. Ich treffe mich mit meiner Halbschwester.« Eddie fädelte sich durch den Verkehrsstau, weil irgendwo eine Hauptwasserleitung geplatzt war. Endlich setzte er sie vor dem Eingang einer protzigen modernen Kunstgalerie ab. Grace betrachtete noch die Fassade, die ganz aus Stahl und Glas bestand, als Callie schon herauskam. Sie hatte das Haar hinten zusammengebunden und sah damit ihrem Vater nicht mehr so ähnlich, wie Grace zu ihrer Erleichterung feststellen musste.
»Hi, wohin wollen wir gehen?«, fragte Callie.
Grace schlug ein kleines, abgelegenes Restaurant vor, wo sie ungestört sein würden.
Sie gingen los. Der Wind peitschte die bunten Blätter an den kleinen Bäumchen am Straßenrand auf. Smith blieb dicht hinter ihnen.
Beide Frauen schwiegen verlegen.
»Ich hatte nicht damit gerechnet, dass du anrufst«, murmelte Callie. »Ich habe mich aber gefreut.«
»Ich bin auch froh.« Grace war nicht sicher, ob sie das ernst meinte, aber sie wusste nicht, was sie sonst hätte sagen können. Das Einzige, was sie gemeinsam hatten, war ihr Vater, und das war nicht gerade ein Thema, worüber sich locker plaudern ließ.
Als sie in dem kleinen Café Platz genommen hatten, setzte sich Smith an den Nebentisch, damit die beiden ungestörter waren.
Sie bestellten und schwiegen anschließend wieder verlegen.
Grace versuchte, die andere Frau nicht allzu direkt anzustarren, doch das war schwer. Ihr drängten sich zahlreiche Fragen auf, die aber vermutlich alle nicht zu beantworten waren. Was sie wissen wollte, hätte nur ihr Vater beantworten können, und sie war nun über seinen Tod sehr wütend. So frustriert Grace aber auch war, sie wusste, dass es nicht fair war, es an Callie auszulassen. Die Frau hatte ja nicht darum gebeten, in diese Situation hineingeboren zu werden.
Der Kellner brachte ihnen Wasser. Grace fragte sich immer noch verzweifelt, worüber sie reden konnten, als die Unterhaltung zu ihrer Überraschung locker zu fließen begann. Zunächst mit etwas sehr Trivialem, der Ausstattung des Restaurants. Callie machte eine Bemerkung über den Fußboden, eine Riesencollage von Bildern mit Tänzerinnen. Grace deutete auf eine Charleston-Dame aus den Zwanzigern, ein Stil, den sie immer gemocht hatte, und Callie bemerkte eine Cancan-Tänzerin. Das führte zu einer Unterhaltung über die Drucke von französischen Lithographien an den Wänden und Grace’ Trip nach Paris vor Kurzem. Sie tauschten Geschichten aus, zuerst langsam und zögernd, dann immer interessierter.Wie aufgrund einer unausgesprochenen Vereinbarung erwähnten sie ihre Kindheit nicht, sondern konzentrierten sich auf die letzten Jahre. Aber die Vergangenheit stand stets zwischen ihnen.
Am stärksten in den Pausen.
»Ich bin auf die New Yorker Universität gegangen«, erzählte Callie, als ihre Teller abgeräumt waren. »Ich wollte bei Mutter bleiben, weil sie immer kränker wurde.«
»Hast du sie lange pflegen müssen?«, fragte Grace. Sie konnte sich kaum den Druck vorstellen, unter dem Callie gestanden haben musste.
»Ja, ein paar Jahre lang, aber die letzten vier Monate waren am schlimmsten. Sie hat jegliche Hilfe von meinem … unserem Vater abgelehnt.« Callies Blick zuckte unsicher hoch. »Er wollte sie in eine Privatklinik verlegen lassen, aber sie hat darauf bestanden, zu Hause zu bleiben, wahrscheinlich nur, um ihm die Stirn zu bieten. Sie war eine sehr unabhängige Frau. Der Kontrollverlust durch die MS hat ihr sehr zu schaffen gemacht. Die letzten paar Monate waren die längsten in meinem Leben. Und in ihrem. Es war für uns beide eine traurige Erleichterung, als es endlich zu Ende war.«
Grace sah Callie an, die nun einen Teelöffel in die Hand nahm und begann, Muster auf die Tischdecke zu malen. Ein Abbild ihres Vaters tauchte vor ihrem inneren Auge auf. Sie musste sich zwingen, nicht den Blick abzuwenden. Sie verfolgte die Spuren mit den Augen, hörte das leise Kratzen und fühlte sich schrecklich verlassen. Irgendwie aber auch erleichtert.
Zu Beginn ihres Treffens waren beide ziemlich verlegen gewesen, aber Grace war immer noch froh, dass sie Callie angerufen hatte. Die Schwester war clever, ehrlich, schien sehr offen und erweckte in keiner Weise den Eindruck, dass sie hinter ihrem Geld her war. Sie ließ allerdings erkennen, dass ihr Leben bisher ziemlich schwer gewesen war. Callie hatte nur angedeutet, was sie mitgemacht hatte, nicht nur mit der Krankheit ihrer Mutter, sondern auch mit der Einsamkeit, als Tochter nicht anerkannt zu sein.
Der Kaffee wurde gebracht. Grace spürte, dass Callie nicht weiter über ihre Mutter reden wollte. »Du interessierst dich also für die Restaurierung von Kunstwerken?«
»Ja, das ist meine Leidenschaft. Ich wünschte, ich würde einen solchen Job finden, statt in der Galerie nur den Telefondienst zu machen. Ich habe auf der Uni ziemlich gute Projekte betreut, aber in der heutigen Kunst ist das sehr schwer umzusetzen. Um einen Restauratorjob bewerben sich hunderte, und da meine Mutter krank war, konnte ich auch nicht wegziehen.« Sie zuckte die Achseln. »Vermutlich ist es Zeit, mich mal wieder zu bewerben. Ich bin ja jetzt allein und kann im ganzen Land anfangen. Sogar in der ganzen Welt.«
»Wohin würdest du am liebsten gehen?«
Callie lachte und trank einen Schluck Kaffee. »Keine Ahnung. Ich habe immer gerne mehrere Möglichkeiten, und jetzt hab ich die Wahl und bin so überwältigt, dass ich am liebsten hierbleiben würde.«
Grace dachte an die Restaurierungsabteilung ihrer Stiftung. Irgendwie wollte sie Callie überhaupt nicht in der Nähe haben, denn die Familienähnlichkeit könnte jemandem auffallen. Sie starrte die Frau an. Die Ähnlichkeit mit ihrem Vater war nicht aufdringlich und würde vermutlich nur jemandem auffallen, der wusste, wonach er zu suchen hatte. Und wer würde auf die Idee kommen? Niemand hatte ja von Cornelius’ Doppelleben gewusst.
Grace zögerte, dachte aber auch, dass es sehr hässlich von ihr wäre, jemandem Hilfe zu verweigern, nur weil sie sich vor irgendwelchen irrealen Konsequenzen fürchtete.
»Callie«, sagte sie, »komm doch mal in die Stiftung und unterhalte dich mit Miles Forsythe. Das ist der Kurator unseres Museums. Er könnte dich auf ein paar Positionen aufmerksam machen. Zumindest könnte er dir ein paar Namen von Leuten nennen, die dir weiterhelfen könnten.«
Callie setzte langsam die Tasse ab. Sie sah verdutzt aus, als hätte sie niemals Hilfe von Grace erwartet. Noch von irgendjemand anderem.
»Dafür wäre ich dir sehr dankbar«, sagte sie.
Anschließend schlenderten sie zurück zur Galerie und verabschiedeten sich.
»Ich rede mit Miles und verschaffe dir einen Termin.«
»Danke.« Callie rückte die Handtasche höher auf die Schulter. »Es war nicht nötig, mich zum Essen einzuladen.«
»Ich weiß.«
Als Callie den Kopf nach einem hupenden Taxi umdrehte, fiel die Sonne auf ihr Gesicht und hob die hohen Wangenknochen hervor, um die Grace ihren Vater immer so beneidet hatte.
Callie sah sie wieder an. »Ich hätte deinen Hosenanzug mitgebracht, aber ich wusste nicht, dass du anrufen würdest …«
»Nicht nötig. Keine Eile.«
Callie lächelte. Sie stand da in ihrer bescheidenen Garderobe, in einem einfachen, abgetragenen Mantel und wirkte sehr verletzlich, aber eindeutig nicht wie jemand, der es auf etwas abgesehen hat.
»Werde ich dich sehen, wenn ich mich mit Mr. Forsyth treffe?«, fragte sie.
»Aber natürlich«, antwortete Grace.