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Nachdem sie am frühen Abend zu ihrem
Penthouse zurückgekehrt waren, zog Grace sich rasch um. Sie trug
nun ein kleines Schwarzes, schnappte sich einen dicken Schal und
wollte zur Tür hinaus, aber Smith zog gleichzeitig seine Lederjacke
über.
»Wohin gehen Sie denn?«, wollte sie wissen.
»Mit Ihnen.«
Sie schüttelte heftig den Kopf. »O nein. Das geht
einfach nicht.«
Er zog gelangweilt die Brauen hoch.
»Wie soll ich meiner Mutter erklären, was Sie
sind?«
»Ich denke, ich kann ziemlich gut vorgeben, etwas
zu sein, was ich nicht bin«, erwiderte er lässig.
Grace legte eine Hand an die Stirn. »Verzeihen Sie.
So habe ich das nicht gemeint. Ich weiß bloß nicht, wie ich ihr das
beibringen kann.«
»Wie wäre es mit der Wahrheit?«
Sie schüttelte heftig den Kopf. »Das ist völlig
ausgeschlossen.«
»Es ist ausgeschlossen, dass Sie Ihrer eigenen
Mutter erzählen, dass Sie einen Leibwächter haben, der für Ihre
Sicherheit sorgt?«
»Sie weiß doch nicht …« Grace winkte abwehrend.
»Nichts. Meine Mutter und ich verstehen uns nicht besonders
gut.«
Smith blickte mit zusammengekniffenen Augen auf den
Verlobungsring. »Und von der Scheidung haben Sie ihr auch noch
nichts erzählt, stimmt’s?«
Grace runzelte die Stirn und wünschte sich, er
würde sie nicht so scharf beobachten. Sie fragte sich, was er sonst
noch an ihr bemerkt hatte. Wusste er vielleicht auch, wie oft sie
an ihn dachte?
»Warum ist das wichtig?«
»Das ist es nicht.«
»Warum erwähnen Sie es dann?« Ihre Stimme wurde
schneidender und lauter, aber sie konnte nicht anders. Smith konnte
sie unglaublich rasch in Rage bringen. Es war fast so, als machte
es ihm Spaß, sie zu reizen.
Er zuckte die Achseln. »Das war nur so
dahergesagt.«
»Dann behalten Sie es das nächste Mal für sich«,
murmelte sie.
»Das macht doch keinen Spaß.«
Sie starrte ihn wütend an, bis er beide Hände hob.
»Okay, okay, Sie und Ihre Mutter können alleine essen gehen.«
»Danke«, sagte sie schmollend.
Er ging zur Tür.
»Wohin gehen Sie …?«
»Ich esse ein paar Tische weiter weg. Einen anderen
Kompromiss gibt es nicht.« Damit ging er auf den Flur und rief den
Fahrstuhl.
Sie sah auf seinen Rücken, der so kerzengerade war
wie ein Ladestock, und wusste, dass er nicht weiter mit ihr
verhandeln würde.
Smith betrat den Speisesaal des Congress
Club, der nur Mitgliedern zugänglich war. Er fühlte sich in die
Zeit um die Jahrhundertwende zurückversetzt: Der weiße Marmorboden,
die blutroten Wände, die üppigen Brokatvorhänge - alles sah aus
wie in einer Bank oder in einem Oberklasse-Bordell, je nach
Hintergrund und Assoziationen.
An den Wänden hingen düstere Porträts, von denen
Smith einige erkannte. Die Gesichter, die ihn da so ernst
anstarrten, waren auch auf den Banknoten und Münzen in seiner
Tasche zu sehen. Es überraschte ihn nicht. Im Congress - wie
das Restaurant allgemein hieß - ging es nur um alteingessene Macht,
um Geld und Einfluss. Die Mitglieder bestimmten schon seit
Jahrhunderten die Geschicke des Landes und würden das auch
weiterhin tun.
Man führte ihn zu seinem Tisch. Dabei überflog sein
Blick die anderen Gäste. Einige blickten zu ihm hoch. Die ernsten
Gesichter verrieten aber nichts weiter als Freundlichkeit und
Offenheit. Sie kannten ihn zwar nicht, wussten aber, dass er nur
hier sein konnte, weil er einer von ihnen war.
Der Kellner, der ihn an den Tisch begleitet hatte,
verbeugte sich, als Smith auf dem Ledersessel Platz nahm. Auf
seinem Tisch für zwei Personen befanden sich eine Kerze in einem
Messingleuchter, schweres Silberbesteck und mehrere kostbare
Kristallgläser. Das Ganze war wie aus einer anderen Welt.
»Möchten Sie eine kleine Erfrischung, Sir?« Der
Kellner beugte sich vor und legte schwungvoll ein ledergebundenes
Buch vor ihn.
Smith schüttelte den Kopf.
Der Kellner entfernte sich. Smith zupfte unsicher
an der Krawatte, die man ihm am Empfang geliehen hatte. Er hasste
Schlipse. Das marineblaue Jackett, das man ihm ebenfalls geliehen
hatte, war viel zu eng, aber das kümmerte ihn nun nicht. In diesem
Moment wurde Grace in den Speisesaal geführt.
Sie begrüßte mehrere Männer und Frauen an den
Tischen mit einem strahlenden Lächeln. Ihre Gesten waren elegant
und gekonnt. Sie wirkte absolut sicher, aber er kannte sie
inzwischen sehr gut und wusste, dass sie nervös war, denn mit einer
Hand fuhr sie sich immer wieder an die Kehle, und ihre Augen
wirkten selbst in dem dämmrigen Licht trübe. Ihr gesellschaftliches
Gehabe war auf Autopilot gestellt.
Als sie sich gerade gesetzt hatte, trat ein Mann
auf sie zu. Smith runzelte die Stirn. Der Typ war etwa Mitte
dreißig und wirkte so glatt poliert wie ein neuer Rolls Royce. Er
hatte dunkle, längere Haare, ein gutgeschnittenes, aber recht
verschlossenes Gesicht und trug einen teuren Anzug. Adlig bis in
die Fingerspitzen.
Als er sich vorbeugte, um Grace auf die Wange zu
küssen, leuchtete ihr Gesicht regelrecht auf.
Und Smith verspürte den unangemessenen Drang, dem
Typen klarzumachen, was ihm als Nächstes passieren würde.
Zehn Minuten lang sprach der elegante Mann mit
Grace, die häufig dabei lachte. Als sie sich voneinander
verabschiedeten, wirkten beide entspannt. Mr. Charming durchquerte
nun den Saal. Smith starrte ihm nach und malte sich aus, wie er ihm
auf alle möglichen Arten die Beine brechen würde.
Zu seiner Überraschung blieb der Mann an seinem
Tisch stehen.
»Kennen wir uns?« Seine Stimme klang kultiviert und
tief, aber sein Lächeln war aggressiver, als es die Regeln
eigentlich zuließen.
Von Nahem sah er wirklich gut aus. Eindeutig ihr
Typ.
»Ich glaube nicht«, erwiderte Smith
verhalten.
»Nein?« Der Typ hob eine Schulter. »Warum sehen Sie
mich dann so an, als wäre mein unmittelbar bevorstehender Tod für
Sie ein reines Vergnügen.«
»Vielleicht bin ich nicht in der Stimmung, um
gestört zu werden.«
»Sie haben aber eine niedrige Reizschwelle, wenn
eine kleine, unverfängliche Unterhaltung Sie schon stört.«
»Nein. Sie erinnern mich bloß an den Grund, warum
ich ein Menschenfeind bin.«
Mr. Charming lächelte und beugte sich ein wenig
vor. »Ich muss Sie leider enttäuschen, denn ich bin bei ziemlich
guter Gesundheit. Eine gesegnete Mahlzeit, Sir.«
Der Junge hat Mut, dachte Smith, als er Grace’
Schwarm nachsah.
Dann wanderte sein Blick wieder durch den
Speisesaal. Grace wirkte nun eher ängstlich und erwiderte seinen
Blick, aber ihr Kontakt brach ab, als eine bildschöne ältere Frau
an ihren Tisch geführt wurde. Smith sah, wie Grace’ Miene sofort
eine gespielte Gelassenheit annahm. Die beiden Frauen gaben sich
auf beide Wangen einen Luftkuss.
Das war also die Mama.
Grace’ Mutter war so dünn, dass er sich fragte, ob
sie je in ihrem Leben eine volle Mahlzeit genossen hatte. Die
beiden hatten die gleichen hohen Wangenknochen, die gleiche gerade
Nase und einen ähnlich elegant geschwungenen Hals. Wie bei Grace
war das helle Haar der Mutter hochgesteckt. Sie trug ebenfalls ein
schwarzes Kleid. Als Mama ihre Serviette auseinanderfaltete und
sorgfältig auf den Schoß legte, blitzte ein Brillant von
beträchtlicher Größe an ihrem Finger auf.
Ein Kellner trat an den Tisch der beiden Frauen.
Die Mutter blickte ihn von oben herab an und sagte ein paar Worte.
Der Kellner verbeugte sich unterwürfig und wandte
sich dann an Grace. Grace lächelte, was ihre Mutter bisher noch
nicht vermocht hatte, und begann etwas zu sagen, doch ihre Mutter
unterbrach sie.
»Sir«, ertönte eine Stimme neben Smiths Tisch. »Was
darf ich Ihnen heute Abend bringen?«
Smith konnte den Blick nicht vom Nachbartisch
wenden. »Irgendetwas. Bitte.«
»Wie bitte?«
Er runzelte die Stirn. »Bringen Sie mir einfach
etwas zu essen. Auf einem Teller.«
Der befrackte Kellner räusperte sich. »Wir haben
eine ausgezeichnte …«
Doch bei dem Blick, den Smith ihm zuwarf, erstarb
ihm das nächste Wort in der Kehle. Er eilte davon.
Smith sah wieder zu Grace hinüber. Der Kellner war
fort. Und jetzt redete die Mutter. So, wie sich ihre Lippen
bewegten, durchzog ihre Missbilligung den Raum wie ein übler
Geruch.
»Es tut mir sehr leid, Sir«, ertönte da wieder eine
Stimme dicht an seinem Ohr. »Aber war nichts auf der Karte, das
Ihre Zustimmung finden konnte?«
Großartig. Der Kellner hatte Verstärkung
geholt.
Smith gab sich keine Mühe, seine Gereiztheit zu
verbergen. »Ich habe die Karte gar nicht angesehen.«
Jetzt begannen andere Gäste auf die Szene
aufmerksam zu werden.
Junge, konnten die Typen alles nicht noch
auffälliger machen?, dachte Smith.
»Vielleicht möchten Sie doch nachsehen«, schlug der
Hinzugekommene vor. Er beugte sich vor und schlug die
ledergebundene Speisekarte auf. »Wir bieten eine große Auswahl an
…«
»Irgendwelche Probleme?«, fragte eine dritte
Stimme.
Smith wollte schon losbrüllen, als er sah, wie die
beiden Kellner in Habt-Acht-Stellung schnellten, als hätte man
ihnen mit einer zusammengerollten Zeitung einen Klaps versetzt. Es
war der Restaurantbesitzer selbst.
»Dieser Herr …«, begann der größere der beiden
Kellner.
»Ist ein Gast der Gräfin von Sharone«, unterbrach
ihn der Chef ruhig. Die beiden Kellner sahen Smith überrascht an
und lächelten ihm dann so freundlich und aufrichtig zu wie
Missionare.
Smith lehnte sich zurück und verschränkte die Arme
über der Brust. »Es ist mir völlig egal, was Sie mir bringen,
solange es nicht von einem Auto überfahren wurde.«
»Selbstverständlich, Mr. Smith.Wird sofort
erledigt.« Der Chef verbeugte sich, und die beiden Kellner
entfernten sich.
Smith sah wieder zu Grace hinüber.
»Wer ist denn dieser Mann da?«, wollte Grace’
Mutter wissen.
»Wen meinst du, Mutter?«, erwiderte Grace, obwohl
sie es genau wusste.
»Der Mann da, neben Edward und den beiden Kellnern.
Ich habe ihn noch nie hier gesehen. Er scheint ein Problem zu
haben.«
Grace trank einen Schluck Wasser. »Wie war die
Fahrt von Newport hierher?«
Ihre Mutter starrte aber weiterhin auf die Gruppe
Frackträger um Smith herum, als könnte sie die Störung
fortbeschwören. »Gut, gut. Alles in Ordnung.«
»Und wie kommst du zurecht?«
Zu Grace’ Erleichterung wandte ihre Mutter endlich
den Blick von Smiths Tisch.
»Mercedes Walker kommt morgen von Boston her. Wir
feiern unser Wiedersehen.«
»Jack ist übrigens heute Abend hier.«
»Wirklich?« Diesmal überflogen ihre Blicke den Raum
freundlicher. Dann winkte sie Jack zu, der ihr zunickte.
Grace sah kurz in Smiths Richtung und fragte sich,
worüber die beiden wohl geredet hatten und um welches Problem es
mit den Kellnern gegangen war. Als ihre Blicke sich trafen, wirkten
seine Augen so intensiv, dass es sie heiß durchfuhr. Sie runzelte
die Stirn. Wenn sie nicht aufpasste, würde sie seine Intensität für
etwas anderes halten als rein berufliche Aufmerksamkeit.
Und das würde sie in noch viel tiefere Wasser
führen.
Sie bezahlte ihn, damit er sie beschützte, rief sie
sich in Erinnerung. Das war sein Job. Er war nicht von ihrer
verführerischen Weiblichkeit überwältigt.
Denn so war sie nicht.
Darin hatte Ranulf Recht gehabt. Leider. Egal, was
Grace’ Vorzüge waren, sie gehörte nicht zu den Frauen, die über
eine starke sexuelle Ausstrahlung verfügten. So war sie nie
gewesen. Und die offensichtliche und offen ausgedrückte
Enttäuschung ihres Mannes von ihrem Liebesleben hatte nur
bestätigt, wie sie sich immer schon gefühlt hatte.
Sie dachte an den Kuss von Smith. Er war
leidenschaftlich gewesen, weil Smith ein leidenschaftlicher Mann
war. Seine Reaktion hatte eher mit seinem eigenen Sexualtrieb zu
tun als auch nur irgendetwas mit ihr.
»Grace?«
Die schneidende Stimme ihrer Mutter brachte sie in
die Wirklichkeit zurück. »Ja?«
»Ich habe dir gerade von meiner geplanten Reise
nach Paris erzählt. Ich werde beim Viscomte wohnen …«
Dieses Mal passte Grace scharf auf, als die Mutter
ihre Reisepläne bis in die kleinsten Einzelheiten beschrieb. Sie
verstummte nur kurz, als der Kellner ihnen die Vorspeisen brachte.
Als er Grace einen Teller mit Lachsfilet vorsetzte, verzog sie das
Gesicht.
Sie hasste Fisch.
»Das schmeckt dir sicher viel besser als
Rinderbraten, Liebling«, bemerkte ihre Mutter, der man einen
identischen Teller vorsetzte. »Jetzt erzähl mir von dem
Jahresball.«
»Ich glaube, alles läuft sehr gut.« Grace nahm die
Gabel in die Hand. Sie log nicht gerne, hatte aber nicht die
geringste Neigung, die Wahrheit zu sagen.
»Dein Vater hatte ein solches Talent für diese
Dinge. Er hat damals Betsy Ross’ erste Fahne für den Galaball
gesichert. Weißt du noch?«
Grace ließ die Geschichte, die sie schon sehr oft
gehört hatte, über sich ergehen. Sie gab sich Mühe, in jeder
Sprechpause zu nicken, und führte dabei die Gabel zum Mund. Bei
jedem Bissen musste sie gegen den Brechreiz ankämpfen.
Ihr Blick ruhte aber nicht lange auf dem wohl
erhaltenen Gesicht der Mutter, sondern wanderte durch den Raum, den
sie sehr gut kannte. Hier dachte sie immer an ihren Vater. Sie war
gerne nur mit ihm allein zum Essen gegangen. Das hatte als eine
Geburtstagsüberrschung begonnen, als sie noch klein war. Als
Erwachsene hatten sie sich regelmäßig hier getroffen.
Ihr Vater hatte sie immer höchst aufmerksam
angeblickt, wenn sie etwas erzählte, und dabei mit dem silbernen
Teelöffel auf dem dicken Leinen Linien gezogen. Sie hatte immer
noch das raue Kratzen im Ohr. Beim Zuhören bewegte
er den Löffel im Kreis. Wenn er selbst sprach, malte er Quadrate,
wobei jedes Argument von einer Ecke markiert wurde.
Das waren die besten Momente mit ihm gewesen. Doch
jetzt schob Grace die Erinnerungen beiseite, weil es sie sehr
traurig stimmte.
Als sie wieder zu Smith hinübersah, versteifte sie
sich. Sie spürte, dass sein verschleierter Blick sie völlig
erkannte und er ihr aufgesetztes Lächeln und die feinen Manieren
durchschaute. Er wusste vermutlich, dass sie erschöpft war,
angespannt und einsam. Wusste er auch, dass sie das Essen, das ihre
Mutter für sie bestellt hatte, abgrundtief hasste?
»Grace«, sagte die Mutter wieder mit scharfer
Stimme.
Grace wandte den Kopf. »Entschuldige. Was sagtest
du gerade?«
»Ich habe nach Ranulf gefragt.«
Grace’ Hand umklammerte die Gabel fester. »Oh, es
geht ihm sehr gut.«
»Dein Mann ist wirklich wunderbar. Wusstest du,
dass er mir geschrieben hat?«
»Wann war das?« Grace versuchte, unbeteiligt zu
wirken. Freundlich. Glatt.
Aber innerlich fragte sie sich, warum in aller Welt
sich Ranulf wohl an ihre Mutter wandte. Sie waren doch getrennt,
daher sollte er sich an seine eigene Familie halten. Sie beschloss,
sich mit ihrem Anwalt darüber zu beraten.
»Sein Brief kam letzte Woche. Er sagte, er sei in
der Stadt und dass wir uns zu dritt treffen sollten.« Bei ihrem
missbilligende Tonfall zog Grace die Schultern hoch, als hätte
jemand sie in eine Zwangsjacke gesteckt. »Ich hatte damit
gerechnet, dass wir uns heute Abend hier treffen.«
»Er hatte zu tun.«
»Nun, ja, es war ziemlich kurzfristig.Würdest du
ihm bitte meine Grüße ausrichten?«
»Selbstverständlich.«
»Und jetzt sag mir, wann ihr endlich Kinder haben
werdet?«
Grace verschluckte sich. Hustend suchte sie nach
der Serviette.
Ihre Mutter ließ sich keine Sekunde unterbrechen.
»Ihr habt jetzt bald euren ersten Hochzeitstag. Daher wird es
langsam Zeit, findest du nicht? Dein Vater hat seine Enkel nicht
mehr kennen gelernt, und ich will nicht, dass mir das Gleiche
widerfährt.«
Grace trank einen Schluck Wasser. Und noch einen.
»Ich habe momentan mit der Stiftung sehr viel zu tun. Ich kann
nicht …«
Mit ungeduldiger Gebärde unterbrach ihre Mutter
sie. »Lass doch Lamont die Sache übernehmen. Das wollte dein Vater
sowieso.«
Grace fuhr hoch. Dann setzte sie langsam ihr Glas
ab. »Was hast du gerade gesagt?«
»Du kannst doch nicht ernsthaft die ganze Zeit in
dem langweiligen Büro sitzen wollen. Daher hat er sich Lamont
herangezogen. Außerdem hast du ja wirklich keine Ahnung, wie man
eine solche Stiftung führt. Ich habe mich neulich mit Charles
Bainbridge unterhalten und ihm gesagt, dass du viel zu viel Stress
um dich hast. Du solltest dich besser um Ranulf kümmern und dir
nicht ständig Sorgen um die Stiftung machen. Charles war mit mir
einer Meinung.«
Grace spürte, wie ihr alles Blut aus dem Gesicht
wich. Bainbridge war der Aufsichtsratvorsitzende und führte die
Gruppe an, die gegen sie arbeitete.
Ihre Mutter sah sie besorgt an. »Liebling, du isst
ja gar
nichts. Schmeckt dir der Fisch nicht? Ich rufe sofort
Edward.«
Ihr Mutter wollte schon die Hand heben, doch Grace
unterbrach sie. »Nein, nein, der Lachs ist in Ordnung.«
In dem darauffolgenden Schweigen gewann sie ihre
Beherrschung wieder.
»Mummy, wie konntest du das tun?«, fragte sie
leise.
Ihre Mutter sah sie überrascht an. »Wie konntest du
mich derart hintergehen?«
»Gütiger Gott! Meinst du das Gespräch mit
Bainbridge? Ich habe dir doch einen Gefallen getan. Du kannst doch
mit einer solchen Verantwortung gar nicht umgehen …«
»Ja, aber darüber befinde ich selbst.«
Carolina Hall erstarrte. Ihr Gesichtsausdruck wurde
eisig, und Grace musste sich Mühe geben, sich von der Strenge der
Mutter nicht überwältigen zu lassen.
»Ich finde deine Bemerkung und deine Haltung dazu
höchst undankbar.«
Grace holte tief Luft.
»Tut mir leid, Mummy. Aber ich weiß, dass ich
leisten kann, was die Stiftung braucht, und ich will die Chance
haben, mich da zu beweisen.Wenn du hinter meinem Rücken mit
Bainbridge konspirierst, hilft mir das überhaupt nicht, mein Ziel
zu erreichen.« Ihre Mutter starrte sie wortlos an. Dann spielte
Grace ihre stärkste Karte aus. »Möchtest du außerdem, dass jemand
die Stiftung leitet, der kein Hall ist?«
Das saß. Langsam taute Carolina auf.
»Du und dein Vater, ihr seid euch so ähnlich.Wenn
er sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte, dann konnte nichts
ihn umstimmen. Ich finde allerdings immer noch, dass du dich um
Ranulf und eure künftige Familie kümmern solltest.
So habe ich es mit deinem Vater gemacht, und du weißt ja, wie
erfolgreich unsere Ehe war. Möchtest du nicht für dich das Gleiche
erreichen?«
Als wäre eine Ehe ein Spiel, das man gewinnen
musste, eine Arena, in der man über andere triumphieren
sollte.
Doch alles in allem, dachte Grace, wünschte sie
sich lieber eine gute Partnerschaft als gesellschaftlichen und
beruflichen Erfolg.
Dann versuchte sie, das Thema zu wechseln. »Mummy,
wusstest du, dass wir bei diesem Jahresball eine Gedenkminute für
Daddy veranstalten?«
»Ach, wie schön. Dein Vater hat ja die Tradition
mit dem Jahresball begonnen.«
»Ich weiß.« Grace gelang es, ihre Stimme nicht
allzu erschöpft klingen zu lassen.
»Das war 1962, als er das erste Mal die Idee dazu
hatte. Den ersten Ball hatten wir bei uns zu Hause …«
Als sie die Teller geleert hatten, fragte der
Kellner, ob sie ein Dessert wünschten.
»Nein«, antwortete die Mutter. »Nur Kaffee für uns
beide.«
Grace hätte lieber keinen Kaffee bestellt. Da sagte
ihre Mutter: »Du siehst nicht gut aus, Kind.«
»Nein?« Grace trank noch einen Schluck Wasser. Aber
sie ließ einen Schluck übrig, falls ihre Mutter noch eine Bombe
platzen ließ und sie sich wieder verschluckte.
»Nein. Du wirkst auch sehr abgelenkt. Schläfst du
zur Zeit nicht gut?«
»Ich habe sehr viel zu tun.«
»Vermisst du deinen Vater?«
Sie hatte so leise gesprochen, dass Grace die Worte
fast überhört hatte. Überrascht blickte sie auf.
»Ja. Ich vermisse ihn schrecklich.«
Mit dem Kaffee wurde ihnen die Rechnung vorgelegt.
Carolina malte sorgfältig ihre Unterschrift darunter, gefolgt von
den Lettern WH1. Dann blickte sie, den Stift noch in der Hand, auf
den Streifen. Ihr Blick fuhr daran auf und ab, und dann starrte sie
in die Kerze, die auf dem Tisch zwischen ihnen brannte.
»Ihr wart euch immer so nahe. Du hast ihn
angebetet. Ich weiß noch, als du ein kleines Mädchen warst, habe
ich dich einmal in seinem Schrank gefunden. Er war ein, zwei Wochen
auf Geschäftsreise. Da hast du dich zwischen seinen Kleidern
versteckt und sogar eins seiner Jacketts angezogen. Die Krawatte um
deinen Hals hing fast bis auf den Boden. Da warst du etwa fünf oder
sechs.«
Grace lächelte traurig. »Ich erinnere mich. Du
warst so wütend, weil ich dein Schlafzimmer eigentlich nicht
betreten durfte.«
»Wirklich? Daran erinnere ich mich nicht. Aber an
deine Erklärung kann ich mich erinnern. Du sagtest, weil er fort
war, müsstest du seine Arbeit für ihn tun, aber du hättest nichts
Anständiges anzuziehen. Es war wirklich süß.«
Die Augen der Mutter wurden feucht, aber nur so
wenig, dass man es leicht hätte übersehen können. Grace griff nach
Carolinas Hand auf dem Tisch. Überraschenderweise hielten sie
einander einen Moment lang fest.
»Du hast immer zu ihm aufgeblickt«, murmelte
Carolina. »Dein Glaube an ihn war beneidenswert.«
Grace runzelte die Stirn. Beneidenswert? Was für
ein seltsamer Ausdruck, besonders von ihrer Mutter, die es zu ihrer
Lebensaufgabe gemacht hatte, ihren Gatten zu unterstützen.
Carolina lehnte sich zurück und legte den Stift
nieder.
Dann hob sie die Tasse an den Mund und zwinkerte mehrmals
hintereinander.
»Vermisst du ihn?«, fragte Grace leise.
»Natürlich. Ich habe sechsundvierzig Jahre mit dem
Mann gelebt. Da gewöhnt man sich aneinander.Wie ist dein Kaffee?
Meiner ist nicht heiß genug.«
Grace seufzte. Sie trank so spät abends nie Kaffee
und hatte nicht die geringste Absicht, zu probieren, was man ihr
vorgesetzt hatte.
»Meiner ist in Ordnung«, murmelte sie.
»Ach ja, das erinnert mich daran«, fuhr die Mutter
fort, »dass wir Willig wegen des Todesfalls dieses Jahr später
verlassen. Ich möchte, dass du zum Columbus-Wochenende nach Newport
kommst.«
»In Ordnung.«
»Und zwar mit Ranulf zusammen.« Die Mutter
beobachtete sie über den Tassenrand hinweg.
Grace erstarrte.
Sie sollte es einfach hinter sich bringen, dachte
sie, denn sie würde ihre Meinung über die Scheidung nicht ändern,
und die Reaktion ihrer Mutter würde mit der Zeit auch nicht
besser.
»Mummy, ich muss etwas mit dir besprechen.«
Da unterbrach sie eine vertraute Männerstimme.
»Mrs. Hall! Wie geht es Ihnen?«
»Jackson Walker!«, rief die Mutter und ließ sich
auf die Wange küssen. »Ich hatte gehofft, Sie würden zu uns
herüberkommen. Wie geht es Ihnen?«
»Sehr gut.« Jack lächelte und wirkte mit seinen
regelmäßigen Zügen nun nicht mehr so abweisend.
»Wie geht es Blair?«
»In jeder Hinsicht perfekt.«
Grace hörte, wie die Mutter auflachte, und überließ
die beiden ihrer Unterhaltung, um hinüber zu Smith zu blicken. Er
trank einen Kaffee, den Blick fest auf sie geheftet.
»Hast du das gehört, Grace?«
»Nein, tut mir leid.«
»Jack und Blair kommen auch zum Columbus-Wochenende
herüber.«
»Wie wunderbar.«
Grace lächelte ihren alten Freund strahlend an,
aber als sie ihm in die Augen blickte, wusste sie, dass sie ihn
nicht täuschen konnte. Ehe er sich zum Gehen wandte, legte er ihr
eine Hand auf die Schulter, beugte sich vor, um sie auf die Wange
zu küssen und flüsterte: »Ruf mich an, wenn du mit jemandem reden
willst, okay?«
Grace nickte und legte ihre Hand auf seine.
»Danke.«
»So ein netter Mann, Jackson«, flötete ihre Mutter.
»Weißt du, wenn du nicht Ranulf getroffen hättest, hätte ich
gehofft, du würdest Jackson heiraten. Die Walkers sind eine
ausgezeichnete Familie. Und er ist so erfolgreich.«
»Ja, das stimmt.«
Ihre Mutter warf einen Blick auf die Standuhr. »Es
ist schon spät. Ich muss gehen.«
Auf dem Weg zur Garderobe sagte Carolina: »Du
wolltest mir doch noch etwas sagen?«
»Nein, nichts, Mummy, es war nichts
Besonderes.«