16 

Am nächsten Morgen ging Grace schon sehr
früh in den Garten hinab, um nachzudenken. Sie spazierte zwischen
den Beeten hin und her, die schon für den bevorstehenden Winter
vorbereitet worden waren, konnte sich jedoch erinnern, wie alles in
voller Sommerblüte ausgesehen hatte. Die Teerosen, der Fingerhut,
die Pfingstrosen und Lilien waren in einem bestimmten Muster
angelegt worden. Es gab auch viele Kreuzungen, die ihr Vater
gezüchtet hatte. In den Sommermonaten war es ein einziges
Blütenmeer.
Sie ging die Rasenfläche hinab und hörte dabei
immer deutlicher das Rauschen des Meeres. Ein paar Möwen schwebten
über demWasser, wo sich die ersten Sonnenstrahlen zaghaft und rosig
ausbreiteten. Es war sehr kühl, und sie war froh, einen dicken
Pullover angezogen zu haben.
Vom Ende des Grundstücks aus führte ein Weg zum
Strand. Dort stand eine kleine weiße Badehütte aus Schindeln mit
einem roten Dach. Sie hatte eine schmale Veranda, auf der zwei
weiße Korbstühle standen. Als Grace sich setzte, knarrte der alte
Sessel unter ihrem Gewicht. Sie zog die Schuhe aus und legte die
Beine auf das Geländer.
Dann wackelte sie mit den Zehen, um die aufgehende
Sonne zu begrüßen, sah, wie eine Möwe die Richtung wechselte und
ein paar Schritte vor ihr sanft landete. Sie wollte dem Vogel
gerade sagen, sie könne ihm kein Frühstück bieten, da merkte sie,
dass sie nicht alleine war.
Grace drehte sich um und sah Smith auf der anderen
Seite des Zauns unter den Ästen eines alten Ahornbaums. Er stand an
den Stamm gelehnt und starrte aufs Meer. Sie fragte sich, wann er
das Haus verlassen hatte, weil sie bewusst sehr leise gewesen
war.
Nun, sie hatte nichts zu verlieren, daher stand sie
auf und ging auf ihn zu. Als er sie ignorierte, überlegte sie
schon, ob sie ihn besser in Ruhe ließ.
»Du weißt, dass Jack bloß ein guter Freund ist«,
platzte es aus ihr heraus.
Er runzelte die Stirn. »Es geht mich nichts an, mit
wem du schläfst.«
»Ich …« Als er sie ungläubig ansah, stöhnte sie
entrüstet auf. »Es ist wirklich blöd, dass ich mich für etwas
verteidige, was ich nicht getan habe.«
Als er keine Antwort gab, kochte ihre Frustration
über. »Komm schon, John, warum gibst du nicht einfach zu, dass du
dich geärgert hast. Können wir nicht endlich darüber reden, was
sich zwischen uns beiden abspielt?«
Seine Stimme klang desinteressiert. »Wir haben
nichts über uns zu bereden, es sei denn, du willst meine
Arbeitsbedingungen ändern.«
»Jack ist nicht mein Liebhaber. Gestern Abend
…«
Er unterbrach sie mit einem heiseren Lachen.
»Vielleicht ist das eine große Überraschung, Gräfin, aber die Welt
dreht sich nicht bloß um dich. Du möchtest mir vielleicht gerne
deine nächtlichen Eroberungen schildern, aber mich würde das sehr
langweilen.«
Er blickte wieder hinaus aufs Meer.
Vielleicht hatte sie es falsch angefangen.
Sie legte ihm eine Hand auf den Arm. »Ich wollte
mit dir zusammen sein.«
Smith schüttelte ihre Hand ungeduldig ab. »Ist wohl
kaum ein exklusiver Club, na? Jetzt, wo du deinen Mann
loswirst.«
Grace holte scharf Luft. »Ich kann kaum glauben,
was du gerade gesagt hast.«
Smith stieß sich von dem Baumstamm ab und ragte nun
über ihr auf. »Du willst mit mir reden? Ja, aber ehrlich. Mister
Charming hat wohl eine Menge zu bieten, nicht wahr? Vermutlich ist
er ständig mit Schmuck und Blumen hinter dir her, sobald er dich
nur sieht. Er wäre ein großartiger zweiter Ehemann. Und ich kann
dir nichts anderes bieten als einen One-Night-Stand mit jemandem
aus der Unterschicht. Wenn man deine Auswahl betrachtet, dann hast
du wohl die richtige Entscheidung getroffen.«
»Entschuldige bitte«, unterbrach sie ihn hitzig.
»Aber wenn ich mich recht erinnere, dann warst du es, der mich an
meinem Geburtstag abgewiesen hat. Und ich habe nicht mit Jack
geschlafen.«
Smith starrte sie wütend an. »Diese Lüge ist reine
Zeitverschwendung, Gräfin.«
»Nenn mich nicht so!«, bellte sie ihn an.
»Gut. Klingt Hure besser?«
Grace zischte. Sie war jetzt blind vor Wut, zog
ruckartig die Hand zurück und wollte ihn schlagen.
»Du willst mir eine knallen?«, knurrte er. »Na,
mach schon.«
Grace erstarrte zitternd, weil sie nicht wusste,
was mit ihr geschah.
Smith beugte sich zu ihr und schob das Kinn vor.
»Komm schon, du bist ja eine Lady, daher mache ich es dir leichter.
Ziel genau und schlag zu!«
Grace blinzelte ihn an und ließ langsam die Hand
fallen.
Dann flüsterte sie heiser: »Gott helfe mir, ich wünschte, ich
hätte dich nie gesehen.«
Dann rannte sie ins Haus. Das Herz schlug ihr bis
zum Hals.
Grace schloss die Zimmertür hinter sich zu und
lief mehrfach auf und ab, um sich wieder zu beruhigen. Sie konnte
sich nicht erinnern, jemals so wütend gewesen zu sein. Sie wusste
auch, dass ihre Gefühle unangemessen stärker waren als alles, was
er gesagt oder wie er es ausgedrückt hatte. Sie beide schlichen
vorsichtig um einen heißen Brei herum und vermieden es, der
Wahrheit ins Auge zu sehen. Und sicher machte sie das beide langsam
verrückt.
Sie war überzeugt, dass Smith sich inzwischen in
sie verliebt hatte. Das war die einzige Erklärung für sein Benehmen
Jack gegenüber. Und sie wusste verdammt nochmal genau, was sie für
ihn empfand. Am meisten regte sie die Tatsache auf, dass sie beide
nicht einfach zugeben konnten, was sich zwischen ihnen
anbahnte.
Dann setzte sie sich auf ihr Bett und sah das
Alarmgerät. Der Anblick ärgerte sie, weil es sie an den wahren
Grund für John in ihrem Leben erinnerte. Sie fand es sehr schwer,
ihre Gefühle für ihn von der Tatsache zu trennen, dass er für sie
arbeitete.Vermutlich würde er sie ohnehin bald verlassen. Sie
konnte sich nicht vorstellen, ihn nicht mehr Tag für Tag zu sehen.
Auch wenn er sie noch so mächtig ärgerte, wollte sie ihn ständig in
der Nähe haben.
Als es leise klopfte, steckte sie das kleine
schwarze Kästchen unter ihr Kopfkissen und strich sich die Kleidung
glatt.
»Herein?«
Sie stand überrascht auf, als Smith eintrat.
»Nur eine Sekunde«, sagte er, schloss die Tür
hinter sich und lehnte sich von innen dagegen. Seine Miene wirkte
sehr verschlossen.
Sie lächelte ihn schräg an, weil sie sich freute,
dass er sie gesucht und hier gefunden hatte. »Ist in Ordnung. Ich
hatte keine größeren Pläne vor dem Frühstück.«
»Also, es tut mir leid, da unten die Beherrschung
verloren zu haben«, knurrte er. »Was ich gesagt habe, war völlig
unpassend und unprofessionell. Ich hätte den Mund halten
sollen.«
»Ich glaube nicht, dass das immer die beste
Strategie ist.« Grace nahm ein Kissen unter den Arm und blickte auf
die zerknüllten Laken und Decken - den Beweis ihrer immer mehr sich
verstärkenden Schlaflosigkeit. »Ich weiß nicht, wie lange ich noch
mit diesem Druck leben kann.«
Smith atmete tief aus. Es war, als würde er
innerlich eine andere Perspektive einnehmen. »Ich mache dir ja
keine Vorwürfe. Ich verspreche dir, die Polizei wird den Mann
finden, der deine Freundinnen umgebracht hat …«
»Nein, davon rede ich nicht. Ich rede von uns
beiden.« Sie blickte auf. »Ich mag nicht, was sich zwischen uns
abspielt. Ich will mich nicht in eine solche Furie verwandeln. Aber
wenn wir zusammen sind und das Meiste bleibt unausgesprochen, das
macht mich verrückt. Ehrlich gesagt glaube ich, dass es uns beide
verrückt macht.«
Smith verschränkte die Arme vor der Brust. Das war
eine typische Haltung für ihn.
»John, wir können nicht weiter ignorieren, was
zwischen uns beiden ist. Und wag es ja nicht zu sagen, da sei
nichts. Gestern Abend, als Jack hereinkam, hast du ausgesehen, als
wolltest du ihn umbringen.«
»Tut mir leid, wenn ich dir peinlich war.«
Ungeduldig
verlagerte er das Gewicht von einem Bein aufs andere. Sie hatte
den Eindruck, dass er am liebsten wegrennen würde.
Ihre Stimme klang gepresst vor unterdrückter Wut.
»John …!«
»Also, obwohl ich das da unten so gesagt habe, es
geht mich absolut nichts an, was du mit deinem Privatleben anfängst
…«
»Das kannst du ruhig zehnmal sagen, aber du weißt
genau, dass ich es dir nicht abnehme.«
Zum ersten Mal wandte Smith den Blick ab. Er stieß
die Hände tief in die Jeanstaschen und schien innerlich mit sich zu
ringen. Als er endlich antwortete, klang seine Stimme sehr
gepresst.
»Ich habe gesehen, wie er dich küsste. Ich war
draußen auf der Veranda.«
Grace runzelte die Stirn. »Ich habe keine Ahnung,
was du gesehen zu haben glaubst. Aber Jack hat mich noch nie anders
geküsst als auf die Wange.«
Smith schüttelte den Kopf, als wäre er über sich
selbst verärgert. »Verdammt, das ist eine überflüssige
Unterhaltung.«
Er ging auf die Tür zu.
»John, wir müssen darüber reden. Bitte geh
nicht.«
»Ich muss aber.«
»Wovor hast du solche Angst?«, flüsterte sie
eindringlich.
»Vor dir.«
Das war das Letzte, was sie erwartet hatte.
»Aber warum? Du musst doch wissen, was ich für dich
empfinde.« Grace drückte das Kissen an sich. »Ich glaube, ich habe
mich in dich verliebt.«
»Jesus Christus!« Er fuhr sich durch die
Haare.
Grace zuckte zusammen. »Das war nicht unbedingt die
Reaktion, die ich mir erhofft hatte. Wenn dir beim nächsten
Mal eine Frau dieses Geständnis macht, dann sag etwas weniger
Abweisendes.«
»Genau das wollte ich vermeiden«, sagte er
verhalten.
»Warum?«, wollte sie wissen. »Was ist so
schrecklich daran, dass ich dich liebe?«
Er machte eine abwehrende Handbewegung. »Also,
erstens, du liebst mich nicht.«
Grace runzelte die Stirn. »Sag mir ja nicht, was
ich empfinde.«
»Du bist in Gefahr. Du steckst mitten in einer
Scheidung. Du bist momentan in einer sehr heiklen Situation. Wenn
wir uns unter anderen Umständen begegnet wären, hättest du dich nie
emotional auf mich eingelassen.«
»Wie kannst du es wagen!« Grace stand auf und
schleuderte das Kissen in die Ecke.
»Das ist die Wahrheit«, erwiderte er düster. »Und
wenn ich wieder fort bin, wirst du das merken.«
»Wer zum Teufel hat dich zum Experten für meine
Gefühle ernannt?«
»Je früher du die Realität der Lage erkennst, umso
besser wird es uns beiden gehen.«
Grace schüttelte heftig den Kopf.
»Ich verbitte mir,dass du meine Gefühle … mein Herz
…« Sie pochte sich auf die Brust. »… als eine Art Stressreaktion
wegerklärst.«
»Es ist keine Reaktion«, sagte er und sah sie fest
an. »Mir ist das auch schon mal passiert. Du bist nicht die erste
Klientin, die glaubt, in mich verliebt zu sein, Grace.«
Das ließ sie einen Moment verstummen.
Dann betrachtete sie seine breiten Schultern und
überlegte, wie viele Frauen sich schon hilfesuchend daran
geklammert hatten.
»Und was ist dann passiert?«, fragte sie und
wappnete sich für die Antwort. »Hast du …«
»Mit ihnen geschlafen? Nein.« Sein Mund verzog sich
zu einem kaltem Lächeln. »Ich war noch nie leicht verführbar. Nur
bei dir.«
»Na, das ist immerhin etwas«, murmelte sie.
»Nein, verdammt nochmal nicht.«
»Warum nicht? Du hast selbst gesagt, dass die
Gefahr, in der ich stehe, vorübergehen wird. Du wirst nicht den
Rest unseres Lebens für mich arbeiten.«
»Jesus, Grace, es geht hier nicht um meinen
verdammten Job. Ich habe die letzten zwanzig Jahre alleine gelebt.
Weil ich das wollte. Ich komme mit Beziehngen nicht zurecht. Und du
bist nicht die Art von Frau, die Sex ohne eine Beziehung will. Das
wird nichts mit uns beiden.«
»Woher weißt du eigentlich, was ich kann und was
nicht?«
»Denk mal an den Abend, als du das Glas zerbrochen
hast und ich dich ins Bett brachte. Du hast dich entzogen, Gräfin,
und zwar ziemlich rasch, als es ernst wurde. Das passt nicht zu
einer Frau, die ganz gerne gelegentlichen Sex mit einem Mann
hat.«
Grace spürte, wie ihr das Blut in die Wangen
stieg.
Er fluchte leise. »Also, ich kann nicht mehr
geradeaus denken, und für diesen Zustand bezahlst du mich nicht.
Wir haben ein Problem, und ich will das lösen, nicht
verschlimmern.«
»Wir haben kein Problem«, erwiderte sie
störrisch.
»Dann machst du dir selbst etwas vor. Aber du wirst
diejenige sein, die dabei Schaden nimmt.«
Sie schlang die Arme um den Oberkörper. »Da bin ich
nicht sicher, und du kannst auch nicht sicher sein.«
Er sah sie fest an. »Wenn ich in einer kritischen
Situation nicht klar denken kann, könntest du mit dem Leben dafür
bezahlen. Ich werde mich weiterhin nach Beendigung dieses Jobs
verabschieden. Du hast die Wahl.«
»Wer sagt denn, dass es die beiden einzigen
Optionen sind?«
»Dies hier wird kein glückliches Ende nehmen. Das
habe ich dir schon mal gesagt.«
»Verdammt. Es könnte aber doch möglich sein!«
Wieder fuhr er sich mit einer Hand durch die Haare.
»Grace … verlieb dich nicht in mich!«
»Warum nicht? Machst du dir Sorgen, mein Herz würde
dir irgendwie Schwierigkeiten machen?«, zischte sie.
»Es ist in deinem besten Interesse.«
Da stemmte sie die Hände in die Hüften und starrte
ihn wütend an. »Stellen wir mal eins klar, du arroganter
Dreckskerl. Ich kann viel Schlimmeres überleben als eine Affäre mit
einem verdammten Geist. Denn die Wahrheit lautet, dass ich gar
nicht so viel vermissen werde, wenn du dich aus dem Staub machst,
denn du bist eigentlich gar nicht da. Und dann hast du die Nerven,
mir zu sagen, was in meinem besten Interesse ist! Mit all deinen
Muskeln bist du ein echter Feigling. Du …« Sie deutete auf ihn. »Du
hältst dich dermaßen bedeckt, dass es ein Wunder ist, dass du Zeit
für deine Klienten hast. In meinem Interesse … Ha!«, murmelte sie.
»Warum kümmerst du dich nicht besser um dich selbst? Dann kannst du
eines Tages vielleicht anderen helfen.«
John stieß einen derartig heftigen Fluch aus, dass
sie einen Schritt zurücktrat.
»Und wie genau würde dein Leben aussehen, wenn ich
bliebe?«, wollte er wissen. »Du denkst, es wäre so toll, nächtelang
herumzuliegen und dich zu fragen, wo ich wohl bin und ob ich
jemals wieder heimkomme? Du denkst, du wirst damit fertig, dass du
mich wochenlang nicht erreichen kannst, manchmal sogar Monate? Bist
du für so was hart genug? Oder erwartest du vielleicht, dass ich
mich in einen Partylöwen verwandle, in jemanden, den du am Arm
hältst wie ein Handtäschchen, um dich auf deine schicken Partys zu
begleiten?«
Grace schüttelte den Kopf und versuchte, gelassen
zu reagieren. »Das würde ich nicht wollen. Ich habe nie von dir
erwartet, anders zu sein, als du bist. Ich will bloß, dass du uns
beiden eine Chance gibst.«
»Du willst diese Beziehungsfantasie also
ausspielen? Gut.« Smiths Blick war hart und abschätzend. »Dann
kannst du ja erst mal deiner Mutter erzählen, dass du dich von dem
Mann scheiden lässt, den du nicht liebst.Willst du ihr dann
beibringen, dass wir beide miteinander schlafen? Ich bin doch für
sie ein Albtraum!«
Grace schob das Kinn vor. »Um meine Mutter brauchst
du dir keine Sorgen zu machen. Das ist mein Problem. Und was deinen
Job angeht, ist das, was du momentan tust, das Einzige, was du
gelernt hast? Das bezweifle ich nämlich.«
Er lächelte, aber ohne Humor. »Leute ohne
Versicherungsnummer, Leute mit drei verschiedenen Pässen, Leute wie
ich können nicht einfach in ein Büro spazieren und sich um eine
Stelle bewerben.«
»Versteck dich nicht hinter praktischen Problemen«,
sagte sie ablehnend.
»Praktische Probleme? Womit zum Teufel denkst du,
verdiene ich meinen Lebensunterhalt?«
Sie sah ihn ärgerlich an.
»Na?«, drängte er.
»Du bist ein Leibwächter.« Als er ungläubig den
Kopf schüttelte, sagte sie: »Komm schon, Smith, ich weiß, dass du
ein zäher Bursche bist, aber selbst hoch dekorierte Militärs
schaffen es, in der Zivilwelt einen Job zu landen, wenn sie die
Army verlassen. Du kannst dir etwas anderes suchen.«
Sie wurde unsicher, als er sie daraufhin bloß stumm
anstarrte. Vermutlich hatte sie das Falsche gesagt.
»Nein?«, flüsterte sie zweifelnd.
»Also, hier ein paar Stichworte«, begann er.
»Nahkampfspezialist. Munitionsexperte. Scharfschütze.
Auftragskiller. Kannst du mir bitte sagen, wozu mich das in der
Normalwelt qualifiziert?«
»Wenn du uns eine Chance geben würdest, könnten wir
es irgendwie schaffen.«
»Mach dir nichts vor, Grace.«
Frustration stieg in ihr auf. »Das tue ich nicht.
Du bist derjenige, der nicht sieht, dass …«
»Es tut mir leid.«
»Verdammt! Leidtun reicht nicht, du kannst alles
anders machen.« Jetzt war sie vor Tränen fast blind. Es war, als
würde sie mit einer Statue debattieren. »Ach, shit,
vielleicht solltest du besser gehen.«
Sie ging zur Tür, doch er schnappte ihre Hand. Sie
wehrte sich wütend gegen seinen Griff, verharrte aber, als sie die
tiefen Gefühle in seinen dunklen Augen sah.
Sie wandte den Blick ab.
»Ich habe Feinde, Grace«, sagte er tödlich leise.
»Feinde, die nicht zum Anwalt gehen, um ihr Recht zu erkämpfen.
Feinde, die nicht zögern würden, dich umzubringen, nur weil du
nachts neben mir schläfst.«
Grace riss die Augen auf. Er ließ ihre Hand los und
begann auf und ab zu gehen.
»Selbst wenn ich Blackwatch verlasse, kann
ich nicht irgendwo ganz von vorn anfangen. Diese Leute haben ein
gutes Gedächtnis, und da du eine so bekannte Persönlichkeit bist,
wäre das ein Problem. Ich will nicht, dass mein Gesicht oder mein
Wohnort auf sämtlichen Titelseiten zu sehen sind. Ich habe noch nie
ein Zuhause gehabt, weil ich nicht leicht gefunden werden will. Mit
dir wäre jegliche Anonymität unmöglich, denn das würde nicht nur
mich in Gefahr bringen, sondern auch dich.«
Grace holte tief Luft. »Gütiger Gott, John, wie ist
es dazu gekommen?«
Lange lieb er stumm.
»Kannst du mir sagen, wie du da hineingeraten
bist?«
John zögerte. Sie hatte den Eindruck, als ginge er
die Fakten durch und stutzte sie für sie zurecht.
»Ich bin verletzt worden. Nach zwei Wochen im
Krankenhaus beschloss ich, falls ich bei einem Job ständig zu
Schaden käme, würde ich die Show lieber selbst leiten und nicht nur
auf Befehl handeln. Beim Militär ist ständig jemand über einem,
egal, wie hoch man aufsteigt. Es sei denn, man wird Präsident.
Sobald ich wieder auf den Beinen war, übernahm ich andere Jobs. Als
ich mehr zu tun hatte, als ich alleine bewältigen konnte, habe ich
Tiny und ein paar andere abgeworben, denen ich vertrauen konnte.Wir
arbeiten jetzt seit fünf Jahren zusammen.«
»Es ist sicher sehr schwer.« Grace senkte den
Blick. »Kann das denn immer so weitergehen?«
»Ich weiß, dass ich es morgen und übermorgen
schaffen werde.Weiter denke ich nicht.«
»Bist du nicht manchmal einsam? Möchtest du nicht
jemanden in deinem Leben haben?«
»Nein.«
»Und deine Familie?« Es musste doch jemanden geben,
auf den er sich verlassen konnte. Eine Mutter, eine Schwester, ein
Bruder.
»Ich habe keine Familie.«
»Überhaupt niemanden?«
Als er keine Antwort gab, versuchte Grace sich
vorzustellen, wie es war, so allein auf der Welt zu sein.
»Ich kann mir nur schwer vorstellen, ohne jemanden
zu leben.«
»Ich habe ja Blackwatch.«
Aber das war seine Firma.
»Hast du niemals daran gedacht, zu heiraten? Kinder
zu haben? Hast du dir nie eine Beziehung mit einer Frau
gewünscht?«
»Wenn mir nach Sex zumute ist, kann ich den
bekommen. Dann gehe ich wieder. Dauerhafte Bindungen nehmen zu viel
Zeit und Energie in Anspruch. Ich will einfach nichts damit zu tun
haben.«
Grace sank das Herz, denn sie stellte sich vor, wie
es wäre, wenn er schließlich ging, ohne sich auch nur umzudrehen.
»Wolltest du nie irgendwo bleiben?«
Smith schüttelte den Kopf. »Ich kann mich nicht
einmal daran erinnern, wann ich das letzte Mal neben einer Frau
aufgewacht bin.«
»Nun, das war ich. Oder?«
Zögernd nickte er. »Ja, das stimmt.«
»Als ich mich an dem Morgen umdrehte und dich
ansah, wusste ich, dass du mich begehrst«, sagte sie leise und sah
zu ihm hoch.
»Klar wollte ich dich da. Ich will dich auch jetzt.
Aber ich kann nicht mein ganzes Leben für dich ändern, und das
müsste ich, wenn wir zusammenbleiben wollen.«
Grace trat zu ihm und strich ihm über die Wange.
»Du kannst mein Herz nicht bewachen, John. Und wir beide haben
keine Ahnung, was die Zukunft bringen wird. Ich habe mich bereits
in dich verliebt.Wenn du mit mir zusammenbleiben willst, dann wäre
das gut. Aber triff keine Entscheidung für mich, nur weil du Angst
hast, dass mir das schaden könnte.«
Seine Stimme klang rau. »Ich habe nie gedacht,
einmal jemanden zu treffen wie dich.«
Er nahm ihre Hand und küsste die Handfläche. Dann
legte er sie auf seine breite Brust.
Dann trat er einen Schritt zurück.
»Ob du es weißt oder nicht, Grace, du willst auch
geliebt werden. Aber ich kann dir nichts geben, was ich nicht in
mir selbst spüre.«
Noch ehe sie darauf eine Antwort finden konnte, war
er verschwunden.