21 

Später am Abend, es war schon fast elf,
rief Smith Eddie an.
»Ja?«, ertönte seine schläfrige Stimme.
»Ich brauche dich morgen sehr früh.«
Daraufhin erfolgte ein Stöhnen. »Was meinst du mit
früh, Boss?«
»Sechs Uhr.«
Wieder ein Stöhnen. »Man würde meinen, eine Topfrau
wie sie legt Wert auf ihren Schönheitsschlaf. Liegt irgendwas
Besonderes an?«
»Sie hat eine Verabredung zum Frühstück in
Connecticut, gleich hinter der Grenze.«
»Klar, ich werde geschniegelt und gebügelt zur
Stelle sein. Vielleicht aber auch noch im Schlafanzug.«
»Eddie?«
»Ja, Boss?«
»Sag Tiny, er soll mich morgen früh gleich
anrufen.«
»Warum?«
Smith fuhr sich durch die Haare. Seitdem er für
Grace arbeitete, waren sie ziemlich gewachsen. Er brauchte dringend
einen Schnitt.
»Ich denke darüber nach, diesen Job
aufzugeben.«
»Warum das denn?« Als Smith keine Antwort gab,
fragte Eddie: »Was läuft hier ab?«
Smith hatte immer noch den Schrecken vor Augen, als
er
feststellen musste, dass Grace verschwunden war. Ein Grund dafür
war auch sein eigenes Versagen. Als er an dem Morgen aus dem Bad
kam, war er abgelenkt gewesen, hatte mit den Ringen gespielt, sogar
ans Heiraten gedacht. Und weil er nicht vollständig auf seine
Aufgabe konzentriert war, hatte es länger gedauert, dass er ihr
Verschwinden bemerkt hatte. Diese Verzögerng war ein klarer Beweis
dafür, dass er sämtliche Sachlichkeit und kühle Objektivität
verloren hatte.
Die oberste Regel für einen Leibwächter war recht
einfach: Man muss stets wissen, wo sich der Klient befindet. Grace
hatte ihr Leben riskiert, indem sie einfach ohne ihn losgegangen
war. Aber er hatte die Gefahr durch seine Nachlässigkeit noch
vergrößert. Genau das hatte er befürchtet - dass sie beide einfach
nicht mehr zu klarem Denken imstande waren.
»Boss? Bist du noch da?«
»Yeah«, antwortete Smith. Er hatte sich auf die
Bettkante gesetzt.
»Braucht sie dich nicht mehr?«
Smith wich der Frage aus. »Es hat sich
herausgestellt, dass sie von ihrer Halbschwester verfolgt
wurde.«
»Sie hat eine Halbschwester?«
»Ja, seit Neuestem. Ich überprüfe die Frau gerade,
aber bisher stimmt alles haargenau.«
»Aber warum willst du kündigen? Haben sie den
Killer gefunden?«
»Nein.«
»Boss, würdest du mir bitte verraten, was wirklich
Sache ist?«
Als Smith keine Antwort gab, fragte Eddie: »Machst
du dir Sorgen, weil du dich mit ihr eingelassen hast?«
Smith öffnete den Mund zu einer Lüge, aber die
geriet
daneben und erstarb sozusagen auf seiner Zunge. »Ist das so
offensichtlich?«
»Nein, aber ich kenne dich schon zu lange. Hey,
falls dir an meiner Meinung etwas liegt, sie ist eine gute Frau.
Und sie ist scharf auf dich. Es ist fast, als hättest du ihren
Namen auf die Brust tätowiert, wenn ich das mal so ausdrücken
darf.«
»Eddie, du wirst immer poetischer«, knurrte Smith,
dem die Unterhaltung immer peinlicher wurde.
»Das liegt an dem Schriftstellerkurs.«
»Also, bis morgen früh.«
»He, Boss?«
»Yeah?«
»Es ist Zeit, dass du dich endlich bindest.«
»Männer wie ich binden sich nicht. Das weißt du
genau.«
»Hast du noch nie daran gedacht?«
»Nein.« … erst vor Kurzem, dachte
Smith.
»Weißt du«, plauderte Eddie weiter,
»Blackwatch kommt auch ohne dich zurecht.Tiny hat die Jungs
so im Griff wie ein Hammer die Nägel.«
»Jetzt kommst du mir auch noch mit
Metaphern?«
»Das war ein Gleichnis, Boss.«
Nach dem Gespräch begann Smith in seinem Zimmer auf
und ab zu gehen. Er wusste, dass er trotz aller Disziplin und
Selbstkontrolle die Richtung verloren hatte.
Seit Jahren hatte er immer nur ein einziges Ziel
gehabt. Er wollte mit dem, was er am besten konnte, eine Menge Geld
verdienen. Es war ein einfaches, direktes Ziel, sofern man wusste,
wie man mit einer Waffe umging, ohne dabei zu Schaden zu kommen.
Aber nach all den Jahren, in denen er genau das bewundernswert
geschafft hatte, war er nun
verwirrt und gespalten. Blackwatch und alles, was damit zu
tun hatte, war für ihn nicht mehr das Zentrum der Welt.
Stattdessen war dies nun Grace.
Er versuchte sich zu erinnern, wann er zum letzten
Mal darüber nachgedacht hatte, was er als Mann brauchte oder
wollte, und ihm fiel etwas ein, was sie ihm in einem Streit an den
Kopf geworfen hatte. Sie hatte gesagt, er sei ein Geist und dass
sie ihn nicht vermissen würde, denn er sei ja nie wirklich Teil
ihres Lebens gewesen.
Sie hatte Recht, auf praktische und vielleicht auch
auf tiefere, beunruhigende Weise.Was hatte er ihr denn wirklich
gegeben außer Sex? Und Liebeskummer? Sie kannte nicht einmal seinen
richtigen Namen.
Den hatte er schon seit vielen Jahren nicht mehr
benutzt.
Ein Geist.
Da dämmerte es ihm, dass er vielleicht vor längerer
Zeit einfach verschwunden war und es jetzt erst merkte.Vielleicht
hatte er sich hinter dem Ehrgeiz versteckt, in seinem seltsamen,
gewaltsamen und gefährlichen Beruf Erfolg zu haben? Andere Menschen
zu beschützen war die beste Ablenkung, wenn man sich selbst
vergessen wollte.
Wann hatte diese Verdrängung begonnen? Als er vor
vielen Jahren der Brutalität seines Vaters entkam? Bei den Rangers?
Oder in den wichtigen Jahren nach seiner Militärzeit, als er
ständig unter falschen Namen und Identitäten leben musste, damit
seine Feinde ihn nicht aufspürten?
Vermutlich aber war es die Summe all dieser
Schatten, hinter denen er sich verborgen hatte.
Wie verdammt ironisch, dachte er. Der Höhepunkt
seiner lebenslangen Anstrengungen war, dass er selbst als Mensch
verschwand.
Er dachte daran, was Eddie über Bindungen gesagt
hatte, dass man noch einmal von vorn anfangen könne. Von
irgendjemand anderem hätte er das lachhaft gefunden, außer
vielleicht von Tiny. Aber wenn er sich von Blackwatch löste,
was dann? Was würde er mit seinem Leben anfangen? Würden er und
Grace miteinander leben können? Als er an die riesige Zeitspanne
dachte, die sich vor ihm ausbreitete, empfand er die
Entscheidungen, vor die er gestellt würde, wie eine
Riesenlast.
Verdammt guter Vergleich, dachte er.
Er verfluchte Eddie und dessen Offenheit. In dem
Moment tauchte Grace in der Tür auf. Sie trug eins dieser
Nachthemdchen, die wie eine Nebelwolke von ihren schmalen Schultern
hingen. Die fast- aber nur fast- durchsichtig waren. Sein Blick
ging an den Umrissen ihrer Hüften und Taille entlang bis hoch zu
den Brüsten.
»Ja, was ist?«, fragte er brüsk.
»Ist alles für morgen bereit?«
»Yeah.«
Schweigen. Smith spürte, wie sich die Atmosphäre
veränderte, als ihre Blicke sich trafen. Die Zeit löste sich auf,
verlangsamte sich. Blieb stehen.
Er trat zu ihr. Um sie zu beschützen, würde er
alles tun.
Sogar sie verlassen.
Er streckte die Hand nach ihr aus, streichelte ihr
Schlüsselbein, fuhr herab über die Seide und Spitze. Über ihrem
Herzen hielt er inne. Er spürte, wie es pochte.
Dann schlang er die Arme um sie und trug sie zu
seinem Bett. Er zögerte, ehe er sich neben sie legte, um sich an
dem Anblick zu weiden, wie sie den Kopf auf die Seite legte, den
Rücken durchbog, wie das Haar über das weiße Kissen fiel. So hatte
er sie gewollt, schon vor vielen Tagen und Wochen,
als sie ihm zum ersten Mal ihre Wohnung gezeigt hatte. So würde er
sie immer in Erinnerung behalten.
Eine unvergessliche Frau.
Er riss sich das Hemd vom Körper, spürte ihre
Hände, die gierig nach ihm griffen, und erschauderte, als sie
seinen Brustkorb und Bauch streichelten. Sein Bedürfnis, in sie
einzudringen, war so stark, dass seine Hände zitterten, als er ihr
das Nachthemd vom Körper streifte und sich selbst den Rest seiner
Kleider herunterriss. Über und über küsste er sie zärtlich, ehe er
mit einem mächtigen Stoß in sie eindrang, der sie in eine andere
Welt beförderte.
Nachdem die Wirklichkeit langsam wieder auftauchte,
rollte er sich zusammen mit Grace herum, so dass sie nun auf ihm
lag.
»Ich werde dir immer gehören«, flüsterte er an
ihrem schweißnassen Hals.
»Versprichst du mir das?«, flüsterte sie
heiser.
Er nickte. Es war wie ein Urteil.
Weil er wusste, dass er sie nun verlassen
musste.
Er rollte wieder herum und schmiegte sich eng an
sie.
Dann schlief Grace ein, und Smith dachte, sie
sollten sich nicht weiter quälen, indem er das Unvermeidliche
weiter hinausschob. Je eher der Übergang stattfand, desto besser.
Er würde Tiny bitten, seinen Auftrag zu übernehmen.
Eine Zukunft gab es nicht. Nach dem glücklichen
Ende der Bedrohung würde es nicht fair sein, sich wieder in ihr
Leben zu mischen. Sie verdiente ein normales Dasein, mit normalen
Prüfungen und Herausforderungen. Sie brauchte die Bürde nicht, die
er ständig mit sich herumschleppte. Sie brauchte es überhaupt
nicht, dass irgendein Irrer mit einer Knarre in ihrem Schlafzimmer
auftauchte und drohte, ihren Liebsten zu erschießen.
Als er sicher war, dass sie fest schlief, schlich
er sich mit dem Handy in der Hand ins Wohnzimmer. Er würde nicht
warten, bis Tiny ihn anrief.
Sein ältester Freund war auch der beste Mann bei
Blackwatch. Fast so gut wie Smith selbst. Eigentlich sogar
besser, zumindest in diesem Fall. Der Mann würde seinen Job mit
klarem Kopf und ausgeruht antreten.
Falls er Grace jemandem anvertraute, dann nur
Tiny.
Als Tiny sich meldete, fragte Smith sofort: »Was
machst du gerade?«
Tiny lachte. »Ich sitze hier in einem Spinnennest.
Gott, ich hasse diese Tropen. Irgendwas kriecht immer in deine
Kleider, aber kaum jemals ein weibliches Wesen.«
»Du musst mein Projekt übernehmen.«
»Wann?«
»Sofort«, knurrte Smith.
»Wie bitte?«
»Sofort.«
Tiny pfiff leise. »Himmel, du verlässt die Gräfin?
Was hat die Frau dir bloß angetan?«
Smith ignorierte die Bemerkung. »Wann kannst du
hier sein?«
»Ah … schaun wir mal. Heißt das, dass du Senator
Pryne auf seinem Trip in den Nahen Osten begleiten kannst? Flat Top
wollte das eigentlich übernehmen, aber den brauchen wir
hier.«
»Wenn du nach New York kommen kannst, übernehme ich
das.«
»Gut. Ich gebe dir morgen meine Flugdaten
durch.«
Smith klappte das Telefon zu.
Er starrte vor sich hin, ohne etwas zu sehen. Erst
eine Weile später merkte er, dass es der Flügel war.
Er trat darauf zu. Jedes Mal, wenn er irgendwo ein
Klavier sah, musste er spielen. Bei der Army war das nicht oft
vorgekommen, aber danach hatte er in Hotelbars gespielt, in
Privathäusern, in Nachtclubs.
Er betrachtete seine Hände. Sie waren an vieles
gewöhnt, aber an nur wenige Tätigkeiten, die ihn so
erfüllten.
Klaverspielen war seine Naturbegabung.
Grace erwachte im selben Moment, als die Musik
begann. Sie klang leise und tief, aber geichzeitig sehr
machtvoll.
Sie hob ihr Nachthemd auf, streifte es über den
Kopf und ging auf den Flur. Ehe sie das Wohnzimmer betrat, blieb
sie wie durch die Musik verzaubert stehen. Doch sie fürchtete, John
würde zu spielen aufhören, sobald er merkte, dass sie ihm lauschte.
Sie lehnte sich an die Wand, drehte den Kopf in Richtung der Töne
und schloss die Augen. Er spielte gut. Sogar sehr gut.
Angeregt durch die Musik, hing sie ein paar
verlockenden Fantasien nach. Dass er bei ihr blieb. Mit ihr lebte.
Ihr Kinder schenkte.
Als die Musik abbrach, betrat sie das Zimmer. Smith
saß mit gesenktem Kopf auf der Bank vor dem Klavier. Seine
schlanken Finger lagen noch auf den Tasten. Er trug nur seine
Boxershorts, und der Kontrast zwischen seiner nackten Haut und dem
glänzenden Klavier war sehr verlockend.
»Wie lange hast du schon zugehört?«, fragte er,
ohne aufzusehen.
»Eine Weile.«
Er wandte den Kopf. Seine Augen glänzten im
Dämmerlicht. »Ich wollte dich nicht wecken.«
»Ich bin aber froh, dass ich aufgewacht bin. Du
spielst
wunderschön.« Smith stand auf und schloss den Deckel. Grace
fragte: »Hast du das studiert?«
»Nein, ich habe es mir selbst beigebracht.« Dann
trat er mit den Händen in den Hüften vor sie und sah sie ernst
an.
Als sie das letzte Mal zu ihm gegangen war,
angeblich, um gute Nacht zu wünschen, hatte er sie geküsst. Sie war
überrascht und erleichtert gewesen, weil er den ganzen Tag über so
distanziert gewesen war. Als sie sich dann liebten, wollte sie
glauben, alles wäre wieder gut, aber anschließend hatten sich
Zweifel geregt.
Es hatte sie beunruhigt, wie er sich beim
Einschlafen an sie geschmiegt hatte. Es war fast wie ein Abschied
gewesen.
»Wir müssen miteinander reden«, sagte er.
Grace’ Magen schnürte sich zusammen.
»Worüber?«
»Ich habe einen meiner Männer angerufen. Ich
möchte, dass er diesen Job übernimmt.«
Grace holte tief Luft. »Mir ist egal, wie viele
Männer dir bei Blackwatch helfen. Besonders, wenn es
bedeutet, dass ich mit dem Jahresball weitermachen kann.«
»So hatte ich das nicht gemeint.«
Grace schlang instinktiv die Arme um den
Oberkörper. »Was hast du dann gemeint?«
»Ich werde fortgehen.«
Grace nahm die Worte auf. Sofort regte sich
Widerstand. »Wie meinst du das? Du kannst nicht fortgehen. Ich… wir
… sie haben den Killer noch nicht …«
»Tiny ist ein guter Leibwächter. Ich würde ihm mein
Leben anvertrauen. Und deins auch.«
»Ich will aber nicht Tiny. Ich will dich.«
»Ich habe einen anderen Auftrag angenommen.«
Grace blieb der Mund offen stehen. Dann lachte sie
bitter auf. »Du verlässt mich?«
»Ich wechsle nur den Job.«
»Die gleiche Art Arbeit, oder?
»Anders.« Er zögerte. »Ein anderer Klient.«
Er sagt es mir erst, nachdem alles abgemacht
ist, dachte sie bitter. Erst, als er alles geregelt hatte und
es keinen Ausweg mehr gab.
Sie wandte sich ab.Tränen stiegen ihr in die Augen.
Doch sie zwinkerte wütend, weil sie das nicht zulassen
wollte.
»Grace«, stöhnte er heiser. »Ich muss fort.«
Sie wirbelte zu ihm herum. »Nein, das musst du
nicht.«
»Ich traue mir nicht mehr zu, dich zu beschützen.
Ich bin nicht mehr der richtige Mann für diese Aufgabe.«
»Findest du nicht, dass das meine Entscheidung ist?
Ich bin es schließlich, die dich bezahlt.«
»Du hast aber keine Ahnung, wie du meine Fähigkeit
beurteilen sollst.«
Sie schoss ihm einen wütenden Blick zu. »Danke für
dein Vertrauen.«
»Außerdem bist du auch nicht mehr objektiv.«
Ungeduldig warf sie die Haare über die
Schultern.»Und wann hast du all das beschlossen?«
»Heute Abend.«
»Du hast mit mir geschlafen und sagst mir
anschließend, dass du mich verlässt?«, rief sie. »Hattest du Angst,
dass du sonst vor deinem nächsten Auftrag nicht mehr zum Vögeln
kommst?«
Smith runzelte die Stirn. Seine Brauen trafen sich
dicht über den Augen. »Du weißt, dass das zwischen uns nie so sein
würde.«
»Ach, wirklich? Würdest du mir dann bitte verraten,
was
passiert, wenn du fort bist? Werde ich dich jemals
wiedersehen?«
Seine Antwort war ein Schweigen.
»O Gott«, stöhnte sie.
»Ich will das nicht.«
»Dann ändere es doch!«, schrie sie.
Als er sie nur stumm ansah, schüttelte sie den
Kopf. »Ich kann es nicht glauben, dass du einfach so von mir
fortgehst.«
Sehr leise erwiderte er. »Es tut mir leid,
Grace.Wirklich.«
Da reckte sie das Kinn vor, stürzte an ihm vorbei
zu ihrem Schreibtisch und holte das Scheckbuch.
»Ich möchte, dass du sofort verschwindest.« Hastig
kritzelte sie etwas mit ihrem goldenen Stift. Dann riss sie den
Scheck aus dem Buch und reichte ihn ihm. »Mach schon. Nimm das.
Machen wir jetzt Schluss.«
»Nein, erst wenn Tiny hier ist.«
»Du hast gesagt, du willst fort. Darum packst du
jetzt besser und verschwindest hier. Ich habe kein Interesse daran,
an einen deiner Jungs weitergereicht zu werden.«
Die Luft zwischen ihnen knisterte vor Spannung.
Langsam trat Smith vor, nahm den Scheck entgegen und legte ihn
zurück auf den Schreibtisch.
»Ich gehe nirgendwohin, bis Tiny hier ist.«
»Du hast das nicht begriffen«, sagte sie und
deutete auf die Haustür. »Du und Blackwatch, ihr seid
entlassen. Raus hier.«
Seine Stimme klang tonlos und leise und verbarg
seinen eisernen Willen: »Ich werde erst gehen, wenn ich weiß, dass
du in Sicherheit bist.«
Grace raste nun vor Schmerz und Enttäuschung und
zwinkerte die Tränen fort. »Das ist ungeheuer grausam. Du sagst, du
verlässt mich, und zwingst mich dann …«
»Du hast ja keine Ahnung, wie es für mich war, als
du einfach so verschwunden bist.«
Sie warf die Hände in die Höhe.
»Es tut mir leid. Ich habe mich doch entschuldigt.«
Sie ballte die Hände zu Fäusten. »… und ich bin
zurückgekommen.«
Er unterbrach sie: »Ich habe schon etliche
Begegnungen mit dem Tod erlebt, Grace. Die Vorstellung, dass dir
etwas zugestoßen wäre, hat mich nach dreißig Jahren fast zum Heulen
gebracht.«
Benommen schloss sie den Mund.
»Ich weiß nicht, was ich tun würde«, sagte er
nachdrücklich. »… falls dir jemals etwas zustößt. Und das Ausmaß
meiner Angst zeigt mir an, dass ich dich von jemand anderem
schützen lassen muss. Und dass ich dich nie wiedersehen
kann.«
Impulsiv griff sie nach seinen Händen. »Nein, das
stimmt nicht. Wenn dir so viel an mir liegt, dann solltest du nicht
gehen.«
»Grace, mach dir nichts vor. Die drei Frauen, die
umgebracht wurden, waren nicht vorsichtig genug. Du musst deine
Sicherheit an oberste Stelle setzen und dabei genauso gnadenlos
sein wie der Mann, der deine Freundinnen ermordet hat. Du willst
nicht, dass ich dich beschütze, und du willst auch nicht, dass ich
weiter in deinem Leben herumhänge. Glaub mir.«
»Dann lass also Tiny oder wen auch immer kommen.
Das heißt aber nicht, dass du gehen musst. Wir können zusammen eine
Zukunft planen.«
Er schüttelte den Kopf. »Eine saubere Tennung ist
das einzig Richtige.«
Sie ließ seine Hände fallen und wandte sich ab,
weil sie
spürte, dass er zu keinem Kompromiss bereit war. Er würde gehen,
und sie konnte nichts dagegen tun. Wie eine Wolke senkte sich
Benommenheit auf sie, die den Schmerz vorübergehend betäubte.
»Ich will Tiny nicht«, sagte sie. »Ich will ihn
nicht.«
Weil er mich bloß an dich erinnert, dachte
sie.
»Grace, sei nicht unvorsichtig, nur weil du wütend
auf mich bist. Du weißt, dass es ohne Schutz momentan nicht sicher
ist.«
Sie dachte an ihre drei Freundinnen.
So wütend sie auch auf John war, sie würde kein
Risiko mit dem eigenen Leben eingehen. Kein Mann war es wert, dass
man ermordet wurde, auch er nicht.
Aber mit diesem Schmerz in ihrer Brust fühlte sie
sich ohnehin schon halb tot.
Grace richtete sich auf. »Wann wird Tiny hier
sein?«
»In vierundzwanzig Stunden, sofern alles nach Plan
läuft.«
»Und der Jahresball? Du weißt, dass er an diesem
Wochenende stattfindet? Ich bin immer noch fest entschlossen,
hinzugehen.«
»Ich setze ein paar Männer ein, die Tiny
unterstützen. Du erlaubst Marks, den ganzen Tag und beim Ball
selbst seine Männer einzusetzen. Dann ist das Risiko geringer. Der
Killer scheint seine Opfer gerne zu Hause zu erwischen. Aber das
ist Tinys Angelegenheit. Ich selbst würde kein Risiko
eingehen.«
Zum Teufel mit Tiny, dachte sie.
Sie war bereit zuzugeben, dass John Recht hatte.
Sie brauchte weiterhin einen Leibwächter. Aber niemanden von
Blackwatch. Sie hatte vierundzwanzig Stunden Zeit, eine neue
Firma zu beauftragen.
Und einen Tag, bis sie sich auf immer von ihm
verabschieden musste.
Sie reckte das Kinn vor.
»Ich möchte eines klarstellen«, sagte sie. »Ich
finde, du begehst einen schrecklichen Fehler, indem du einfach aus
meinem Leben verschwindest, und ich bezweifle, dass dir wirklich so
viel an mir liegt, wie du behauptest. Ich glaube, falls dir
wirklich an mir läge, dann würdest du Himmel und Hölle in Bewegung
setzen, um in meiner Nähe zu sein.«
»Grace, ich…«
»Hör auf, mir Vorhaltungen zu machen. Und sei nicht
so felsenfest überzeugt, dass du immer Recht hast und alle
Antworten wüsstest. Hör mir zu: Ich glaube, dass du mich liebst,
John, und für einen Mann, der sein Leben lang allein gelebt hat,
ist das vermutlich fürchterlich erschreckend. Ich wünsche mir trotz
allem, dass du die Kraft findest, bei mir zu bleiben, aber ich
werde dich um nichts mehr bitten. Wenn du mich jetzt verlässt, dann
sollst du wissen: Ich werde nicht auf dich warten. Ich werde mein
Leben weiterleben. Und ich werde dir vielleicht niemals wieder mein
Herz schenken können.«
Damit wandte sie sich ab und schüttelte traurig den
Kopf.