21 022
Später am Abend, es war schon fast elf, rief Smith Eddie an.
»Ja?«, ertönte seine schläfrige Stimme.
»Ich brauche dich morgen sehr früh.«
Daraufhin erfolgte ein Stöhnen. »Was meinst du mit früh, Boss?«
»Sechs Uhr.«
Wieder ein Stöhnen. »Man würde meinen, eine Topfrau wie sie legt Wert auf ihren Schönheitsschlaf. Liegt irgendwas Besonderes an?«
»Sie hat eine Verabredung zum Frühstück in Connecticut, gleich hinter der Grenze.«
»Klar, ich werde geschniegelt und gebügelt zur Stelle sein. Vielleicht aber auch noch im Schlafanzug.«
»Eddie?«
»Ja, Boss?«
»Sag Tiny, er soll mich morgen früh gleich anrufen.«
»Warum?«
Smith fuhr sich durch die Haare. Seitdem er für Grace arbeitete, waren sie ziemlich gewachsen. Er brauchte dringend einen Schnitt.
»Ich denke darüber nach, diesen Job aufzugeben.«
»Warum das denn?« Als Smith keine Antwort gab, fragte Eddie: »Was läuft hier ab?«
Smith hatte immer noch den Schrecken vor Augen, als er feststellen musste, dass Grace verschwunden war. Ein Grund dafür war auch sein eigenes Versagen. Als er an dem Morgen aus dem Bad kam, war er abgelenkt gewesen, hatte mit den Ringen gespielt, sogar ans Heiraten gedacht. Und weil er nicht vollständig auf seine Aufgabe konzentriert war, hatte es länger gedauert, dass er ihr Verschwinden bemerkt hatte. Diese Verzögerng war ein klarer Beweis dafür, dass er sämtliche Sachlichkeit und kühle Objektivität verloren hatte.
Die oberste Regel für einen Leibwächter war recht einfach: Man muss stets wissen, wo sich der Klient befindet. Grace hatte ihr Leben riskiert, indem sie einfach ohne ihn losgegangen war. Aber er hatte die Gefahr durch seine Nachlässigkeit noch vergrößert. Genau das hatte er befürchtet - dass sie beide einfach nicht mehr zu klarem Denken imstande waren.
»Boss? Bist du noch da?«
»Yeah«, antwortete Smith. Er hatte sich auf die Bettkante gesetzt.
»Braucht sie dich nicht mehr?«
Smith wich der Frage aus. »Es hat sich herausgestellt, dass sie von ihrer Halbschwester verfolgt wurde.«
»Sie hat eine Halbschwester?«
»Ja, seit Neuestem. Ich überprüfe die Frau gerade, aber bisher stimmt alles haargenau.«
»Aber warum willst du kündigen? Haben sie den Killer gefunden?«
»Nein.«
»Boss, würdest du mir bitte verraten, was wirklich Sache ist?«
Als Smith keine Antwort gab, fragte Eddie: »Machst du dir Sorgen, weil du dich mit ihr eingelassen hast?«
Smith öffnete den Mund zu einer Lüge, aber die geriet daneben und erstarb sozusagen auf seiner Zunge. »Ist das so offensichtlich?«
»Nein, aber ich kenne dich schon zu lange. Hey, falls dir an meiner Meinung etwas liegt, sie ist eine gute Frau. Und sie ist scharf auf dich. Es ist fast, als hättest du ihren Namen auf die Brust tätowiert, wenn ich das mal so ausdrücken darf.«
»Eddie, du wirst immer poetischer«, knurrte Smith, dem die Unterhaltung immer peinlicher wurde.
»Das liegt an dem Schriftstellerkurs.«
»Also, bis morgen früh.«
»He, Boss?«
»Yeah?«
»Es ist Zeit, dass du dich endlich bindest.«
»Männer wie ich binden sich nicht. Das weißt du genau.«
»Hast du noch nie daran gedacht?«
»Nein.« … erst vor Kurzem, dachte Smith.
»Weißt du«, plauderte Eddie weiter, »Blackwatch kommt auch ohne dich zurecht.Tiny hat die Jungs so im Griff wie ein Hammer die Nägel.«
»Jetzt kommst du mir auch noch mit Metaphern?«
»Das war ein Gleichnis, Boss.«
Nach dem Gespräch begann Smith in seinem Zimmer auf und ab zu gehen. Er wusste, dass er trotz aller Disziplin und Selbstkontrolle die Richtung verloren hatte.
Seit Jahren hatte er immer nur ein einziges Ziel gehabt. Er wollte mit dem, was er am besten konnte, eine Menge Geld verdienen. Es war ein einfaches, direktes Ziel, sofern man wusste, wie man mit einer Waffe umging, ohne dabei zu Schaden zu kommen. Aber nach all den Jahren, in denen er genau das bewundernswert geschafft hatte, war er nun verwirrt und gespalten. Blackwatch und alles, was damit zu tun hatte, war für ihn nicht mehr das Zentrum der Welt.
Stattdessen war dies nun Grace.
Er versuchte sich zu erinnern, wann er zum letzten Mal darüber nachgedacht hatte, was er als Mann brauchte oder wollte, und ihm fiel etwas ein, was sie ihm in einem Streit an den Kopf geworfen hatte. Sie hatte gesagt, er sei ein Geist und dass sie ihn nicht vermissen würde, denn er sei ja nie wirklich Teil ihres Lebens gewesen.
Sie hatte Recht, auf praktische und vielleicht auch auf tiefere, beunruhigende Weise.Was hatte er ihr denn wirklich gegeben außer Sex? Und Liebeskummer? Sie kannte nicht einmal seinen richtigen Namen.
Den hatte er schon seit vielen Jahren nicht mehr benutzt.
Ein Geist.
Da dämmerte es ihm, dass er vielleicht vor längerer Zeit einfach verschwunden war und es jetzt erst merkte.Vielleicht hatte er sich hinter dem Ehrgeiz versteckt, in seinem seltsamen, gewaltsamen und gefährlichen Beruf Erfolg zu haben? Andere Menschen zu beschützen war die beste Ablenkung, wenn man sich selbst vergessen wollte.
Wann hatte diese Verdrängung begonnen? Als er vor vielen Jahren der Brutalität seines Vaters entkam? Bei den Rangers? Oder in den wichtigen Jahren nach seiner Militärzeit, als er ständig unter falschen Namen und Identitäten leben musste, damit seine Feinde ihn nicht aufspürten?
Vermutlich aber war es die Summe all dieser Schatten, hinter denen er sich verborgen hatte.
Wie verdammt ironisch, dachte er. Der Höhepunkt seiner lebenslangen Anstrengungen war, dass er selbst als Mensch verschwand.
Er dachte daran, was Eddie über Bindungen gesagt hatte, dass man noch einmal von vorn anfangen könne. Von irgendjemand anderem hätte er das lachhaft gefunden, außer vielleicht von Tiny. Aber wenn er sich von Blackwatch löste, was dann? Was würde er mit seinem Leben anfangen? Würden er und Grace miteinander leben können? Als er an die riesige Zeitspanne dachte, die sich vor ihm ausbreitete, empfand er die Entscheidungen, vor die er gestellt würde, wie eine Riesenlast.
Verdammt guter Vergleich, dachte er.
Er verfluchte Eddie und dessen Offenheit. In dem Moment tauchte Grace in der Tür auf. Sie trug eins dieser Nachthemdchen, die wie eine Nebelwolke von ihren schmalen Schultern hingen. Die fast- aber nur fast- durchsichtig waren. Sein Blick ging an den Umrissen ihrer Hüften und Taille entlang bis hoch zu den Brüsten.
»Ja, was ist?«, fragte er brüsk.
»Ist alles für morgen bereit?«
»Yeah.«
Schweigen. Smith spürte, wie sich die Atmosphäre veränderte, als ihre Blicke sich trafen. Die Zeit löste sich auf, verlangsamte sich. Blieb stehen.
Er trat zu ihr. Um sie zu beschützen, würde er alles tun.
Sogar sie verlassen.
Er streckte die Hand nach ihr aus, streichelte ihr Schlüsselbein, fuhr herab über die Seide und Spitze. Über ihrem Herzen hielt er inne. Er spürte, wie es pochte.
Dann schlang er die Arme um sie und trug sie zu seinem Bett. Er zögerte, ehe er sich neben sie legte, um sich an dem Anblick zu weiden, wie sie den Kopf auf die Seite legte, den Rücken durchbog, wie das Haar über das weiße Kissen fiel. So hatte er sie gewollt, schon vor vielen Tagen und Wochen, als sie ihm zum ersten Mal ihre Wohnung gezeigt hatte. So würde er sie immer in Erinnerung behalten.
Eine unvergessliche Frau.
Er riss sich das Hemd vom Körper, spürte ihre Hände, die gierig nach ihm griffen, und erschauderte, als sie seinen Brustkorb und Bauch streichelten. Sein Bedürfnis, in sie einzudringen, war so stark, dass seine Hände zitterten, als er ihr das Nachthemd vom Körper streifte und sich selbst den Rest seiner Kleider herunterriss. Über und über küsste er sie zärtlich, ehe er mit einem mächtigen Stoß in sie eindrang, der sie in eine andere Welt beförderte.
Nachdem die Wirklichkeit langsam wieder auftauchte, rollte er sich zusammen mit Grace herum, so dass sie nun auf ihm lag.
»Ich werde dir immer gehören«, flüsterte er an ihrem schweißnassen Hals.
»Versprichst du mir das?«, flüsterte sie heiser.
Er nickte. Es war wie ein Urteil.
Weil er wusste, dass er sie nun verlassen musste.
Er rollte wieder herum und schmiegte sich eng an sie.
Dann schlief Grace ein, und Smith dachte, sie sollten sich nicht weiter quälen, indem er das Unvermeidliche weiter hinausschob. Je eher der Übergang stattfand, desto besser. Er würde Tiny bitten, seinen Auftrag zu übernehmen.
Eine Zukunft gab es nicht. Nach dem glücklichen Ende der Bedrohung würde es nicht fair sein, sich wieder in ihr Leben zu mischen. Sie verdiente ein normales Dasein, mit normalen Prüfungen und Herausforderungen. Sie brauchte die Bürde nicht, die er ständig mit sich herumschleppte. Sie brauchte es überhaupt nicht, dass irgendein Irrer mit einer Knarre in ihrem Schlafzimmer auftauchte und drohte, ihren Liebsten zu erschießen.
Als er sicher war, dass sie fest schlief, schlich er sich mit dem Handy in der Hand ins Wohnzimmer. Er würde nicht warten, bis Tiny ihn anrief.
Sein ältester Freund war auch der beste Mann bei Blackwatch. Fast so gut wie Smith selbst. Eigentlich sogar besser, zumindest in diesem Fall. Der Mann würde seinen Job mit klarem Kopf und ausgeruht antreten.
Falls er Grace jemandem anvertraute, dann nur Tiny.
Als Tiny sich meldete, fragte Smith sofort: »Was machst du gerade?«
Tiny lachte. »Ich sitze hier in einem Spinnennest. Gott, ich hasse diese Tropen. Irgendwas kriecht immer in deine Kleider, aber kaum jemals ein weibliches Wesen.«
»Du musst mein Projekt übernehmen.«
»Wann?«
»Sofort«, knurrte Smith.
»Wie bitte?«
»Sofort.«
Tiny pfiff leise. »Himmel, du verlässt die Gräfin? Was hat die Frau dir bloß angetan?«
Smith ignorierte die Bemerkung. »Wann kannst du hier sein?«
»Ah … schaun wir mal. Heißt das, dass du Senator Pryne auf seinem Trip in den Nahen Osten begleiten kannst? Flat Top wollte das eigentlich übernehmen, aber den brauchen wir hier.«
»Wenn du nach New York kommen kannst, übernehme ich das.«
»Gut. Ich gebe dir morgen meine Flugdaten durch.«
Smith klappte das Telefon zu.
Er starrte vor sich hin, ohne etwas zu sehen. Erst eine Weile später merkte er, dass es der Flügel war.
Er trat darauf zu. Jedes Mal, wenn er irgendwo ein Klavier sah, musste er spielen. Bei der Army war das nicht oft vorgekommen, aber danach hatte er in Hotelbars gespielt, in Privathäusern, in Nachtclubs.
Er betrachtete seine Hände. Sie waren an vieles gewöhnt, aber an nur wenige Tätigkeiten, die ihn so erfüllten.
Klaverspielen war seine Naturbegabung.
 
Grace erwachte im selben Moment, als die Musik begann. Sie klang leise und tief, aber geichzeitig sehr machtvoll.
Sie hob ihr Nachthemd auf, streifte es über den Kopf und ging auf den Flur. Ehe sie das Wohnzimmer betrat, blieb sie wie durch die Musik verzaubert stehen. Doch sie fürchtete, John würde zu spielen aufhören, sobald er merkte, dass sie ihm lauschte. Sie lehnte sich an die Wand, drehte den Kopf in Richtung der Töne und schloss die Augen. Er spielte gut. Sogar sehr gut.
Angeregt durch die Musik, hing sie ein paar verlockenden Fantasien nach. Dass er bei ihr blieb. Mit ihr lebte. Ihr Kinder schenkte.
Als die Musik abbrach, betrat sie das Zimmer. Smith saß mit gesenktem Kopf auf der Bank vor dem Klavier. Seine schlanken Finger lagen noch auf den Tasten. Er trug nur seine Boxershorts, und der Kontrast zwischen seiner nackten Haut und dem glänzenden Klavier war sehr verlockend.
»Wie lange hast du schon zugehört?«, fragte er, ohne aufzusehen.
»Eine Weile.«
Er wandte den Kopf. Seine Augen glänzten im Dämmerlicht. »Ich wollte dich nicht wecken.«
»Ich bin aber froh, dass ich aufgewacht bin. Du spielst wunderschön.« Smith stand auf und schloss den Deckel. Grace fragte: »Hast du das studiert?«
»Nein, ich habe es mir selbst beigebracht.« Dann trat er mit den Händen in den Hüften vor sie und sah sie ernst an.
Als sie das letzte Mal zu ihm gegangen war, angeblich, um gute Nacht zu wünschen, hatte er sie geküsst. Sie war überrascht und erleichtert gewesen, weil er den ganzen Tag über so distanziert gewesen war. Als sie sich dann liebten, wollte sie glauben, alles wäre wieder gut, aber anschließend hatten sich Zweifel geregt.
Es hatte sie beunruhigt, wie er sich beim Einschlafen an sie geschmiegt hatte. Es war fast wie ein Abschied gewesen.
»Wir müssen miteinander reden«, sagte er.
Grace’ Magen schnürte sich zusammen. »Worüber?«
»Ich habe einen meiner Männer angerufen. Ich möchte, dass er diesen Job übernimmt.«
Grace holte tief Luft. »Mir ist egal, wie viele Männer dir bei Blackwatch helfen. Besonders, wenn es bedeutet, dass ich mit dem Jahresball weitermachen kann.«
»So hatte ich das nicht gemeint.«
Grace schlang instinktiv die Arme um den Oberkörper. »Was hast du dann gemeint?«
»Ich werde fortgehen.«
Grace nahm die Worte auf. Sofort regte sich Widerstand. »Wie meinst du das? Du kannst nicht fortgehen. Ich… wir … sie haben den Killer noch nicht …«
»Tiny ist ein guter Leibwächter. Ich würde ihm mein Leben anvertrauen. Und deins auch.«
»Ich will aber nicht Tiny. Ich will dich.«
»Ich habe einen anderen Auftrag angenommen.«
Grace blieb der Mund offen stehen. Dann lachte sie bitter auf. »Du verlässt mich?«
»Ich wechsle nur den Job.«
»Die gleiche Art Arbeit, oder?
»Anders.« Er zögerte. »Ein anderer Klient.«
Er sagt es mir erst, nachdem alles abgemacht ist, dachte sie bitter. Erst, als er alles geregelt hatte und es keinen Ausweg mehr gab.
Sie wandte sich ab.Tränen stiegen ihr in die Augen. Doch sie zwinkerte wütend, weil sie das nicht zulassen wollte.
»Grace«, stöhnte er heiser. »Ich muss fort.«
Sie wirbelte zu ihm herum. »Nein, das musst du nicht.«
»Ich traue mir nicht mehr zu, dich zu beschützen. Ich bin nicht mehr der richtige Mann für diese Aufgabe.«
»Findest du nicht, dass das meine Entscheidung ist? Ich bin es schließlich, die dich bezahlt.«
»Du hast aber keine Ahnung, wie du meine Fähigkeit beurteilen sollst.«
Sie schoss ihm einen wütenden Blick zu. »Danke für dein Vertrauen.«
»Außerdem bist du auch nicht mehr objektiv.«
Ungeduldig warf sie die Haare über die Schultern.»Und wann hast du all das beschlossen?«
»Heute Abend.«
»Du hast mit mir geschlafen und sagst mir anschließend, dass du mich verlässt?«, rief sie. »Hattest du Angst, dass du sonst vor deinem nächsten Auftrag nicht mehr zum Vögeln kommst?«
Smith runzelte die Stirn. Seine Brauen trafen sich dicht über den Augen. »Du weißt, dass das zwischen uns nie so sein würde.«
»Ach, wirklich? Würdest du mir dann bitte verraten, was passiert, wenn du fort bist? Werde ich dich jemals wiedersehen?«
Seine Antwort war ein Schweigen.
»O Gott«, stöhnte sie.
»Ich will das nicht.«
»Dann ändere es doch!«, schrie sie.
Als er sie nur stumm ansah, schüttelte sie den Kopf. »Ich kann es nicht glauben, dass du einfach so von mir fortgehst.«
Sehr leise erwiderte er. »Es tut mir leid, Grace.Wirklich.«
Da reckte sie das Kinn vor, stürzte an ihm vorbei zu ihrem Schreibtisch und holte das Scheckbuch.
»Ich möchte, dass du sofort verschwindest.« Hastig kritzelte sie etwas mit ihrem goldenen Stift. Dann riss sie den Scheck aus dem Buch und reichte ihn ihm. »Mach schon. Nimm das. Machen wir jetzt Schluss.«
»Nein, erst wenn Tiny hier ist.«
»Du hast gesagt, du willst fort. Darum packst du jetzt besser und verschwindest hier. Ich habe kein Interesse daran, an einen deiner Jungs weitergereicht zu werden.«
Die Luft zwischen ihnen knisterte vor Spannung. Langsam trat Smith vor, nahm den Scheck entgegen und legte ihn zurück auf den Schreibtisch.
»Ich gehe nirgendwohin, bis Tiny hier ist.«
»Du hast das nicht begriffen«, sagte sie und deutete auf die Haustür. »Du und Blackwatch, ihr seid entlassen. Raus hier.«
Seine Stimme klang tonlos und leise und verbarg seinen eisernen Willen: »Ich werde erst gehen, wenn ich weiß, dass du in Sicherheit bist.«
Grace raste nun vor Schmerz und Enttäuschung und zwinkerte die Tränen fort. »Das ist ungeheuer grausam. Du sagst, du verlässt mich, und zwingst mich dann …«
»Du hast ja keine Ahnung, wie es für mich war, als du einfach so verschwunden bist.«
Sie warf die Hände in die Höhe.
»Es tut mir leid. Ich habe mich doch entschuldigt.« Sie ballte die Hände zu Fäusten. »… und ich bin zurückgekommen.«
Er unterbrach sie: »Ich habe schon etliche Begegnungen mit dem Tod erlebt, Grace. Die Vorstellung, dass dir etwas zugestoßen wäre, hat mich nach dreißig Jahren fast zum Heulen gebracht.«
Benommen schloss sie den Mund.
»Ich weiß nicht, was ich tun würde«, sagte er nachdrücklich. »… falls dir jemals etwas zustößt. Und das Ausmaß meiner Angst zeigt mir an, dass ich dich von jemand anderem schützen lassen muss. Und dass ich dich nie wiedersehen kann.«
Impulsiv griff sie nach seinen Händen. »Nein, das stimmt nicht. Wenn dir so viel an mir liegt, dann solltest du nicht gehen.«
»Grace, mach dir nichts vor. Die drei Frauen, die umgebracht wurden, waren nicht vorsichtig genug. Du musst deine Sicherheit an oberste Stelle setzen und dabei genauso gnadenlos sein wie der Mann, der deine Freundinnen ermordet hat. Du willst nicht, dass ich dich beschütze, und du willst auch nicht, dass ich weiter in deinem Leben herumhänge. Glaub mir.«
»Dann lass also Tiny oder wen auch immer kommen. Das heißt aber nicht, dass du gehen musst. Wir können zusammen eine Zukunft planen.«
Er schüttelte den Kopf. »Eine saubere Tennung ist das einzig Richtige.«
Sie ließ seine Hände fallen und wandte sich ab, weil sie spürte, dass er zu keinem Kompromiss bereit war. Er würde gehen, und sie konnte nichts dagegen tun. Wie eine Wolke senkte sich Benommenheit auf sie, die den Schmerz vorübergehend betäubte.
»Ich will Tiny nicht«, sagte sie. »Ich will ihn nicht.«
Weil er mich bloß an dich erinnert, dachte sie.
»Grace, sei nicht unvorsichtig, nur weil du wütend auf mich bist. Du weißt, dass es ohne Schutz momentan nicht sicher ist.«
Sie dachte an ihre drei Freundinnen.
So wütend sie auch auf John war, sie würde kein Risiko mit dem eigenen Leben eingehen. Kein Mann war es wert, dass man ermordet wurde, auch er nicht.
Aber mit diesem Schmerz in ihrer Brust fühlte sie sich ohnehin schon halb tot.
Grace richtete sich auf. »Wann wird Tiny hier sein?«
»In vierundzwanzig Stunden, sofern alles nach Plan läuft.«
»Und der Jahresball? Du weißt, dass er an diesem Wochenende stattfindet? Ich bin immer noch fest entschlossen, hinzugehen.«
»Ich setze ein paar Männer ein, die Tiny unterstützen. Du erlaubst Marks, den ganzen Tag und beim Ball selbst seine Männer einzusetzen. Dann ist das Risiko geringer. Der Killer scheint seine Opfer gerne zu Hause zu erwischen. Aber das ist Tinys Angelegenheit. Ich selbst würde kein Risiko eingehen.«
Zum Teufel mit Tiny, dachte sie.
Sie war bereit zuzugeben, dass John Recht hatte. Sie brauchte weiterhin einen Leibwächter. Aber niemanden von Blackwatch. Sie hatte vierundzwanzig Stunden Zeit, eine neue Firma zu beauftragen.
Und einen Tag, bis sie sich auf immer von ihm verabschieden musste.
Sie reckte das Kinn vor.
»Ich möchte eines klarstellen«, sagte sie. »Ich finde, du begehst einen schrecklichen Fehler, indem du einfach aus meinem Leben verschwindest, und ich bezweifle, dass dir wirklich so viel an mir liegt, wie du behauptest. Ich glaube, falls dir wirklich an mir läge, dann würdest du Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um in meiner Nähe zu sein.«
»Grace, ich…«
»Hör auf, mir Vorhaltungen zu machen. Und sei nicht so felsenfest überzeugt, dass du immer Recht hast und alle Antworten wüsstest. Hör mir zu: Ich glaube, dass du mich liebst, John, und für einen Mann, der sein Leben lang allein gelebt hat, ist das vermutlich fürchterlich erschreckend. Ich wünsche mir trotz allem, dass du die Kraft findest, bei mir zu bleiben, aber ich werde dich um nichts mehr bitten. Wenn du mich jetzt verlässt, dann sollst du wissen: Ich werde nicht auf dich warten. Ich werde mein Leben weiterleben. Und ich werde dir vielleicht niemals wieder mein Herz schenken können.«
Damit wandte sie sich ab und schüttelte traurig den Kopf.