15 

Es war schon dunkel und merklich kühler
geworden, als in der Bibliothek die Aperitifs serviert wurden.
Wilhelm hatte ein Feuer im Kamin angezündet. Grace stand mit dem
Rücken zu den Flammen und nippte an einem Glas Chardonnay.
Die Bibliothek war ihr Lieblingsraum im Haus, denn
sie war im Gegensatz zu allen anderen nicht so riesig. Die Wände
entlang zogen sich Regale mit zahllosen ledergebundenen Büchern.
Sie hatte es immer geliebt, wie die eingeprägten Goldbuchstaben auf
den Rücken im Feuerschein glänzten. Die mit dunkelroter Seide
bezogenen Sessel und Sofas standen an den richtigen Stellen zum
Lesen an den Fenstern, die aber nun von dicken, weichen Vorhängen
verhüllt waren. Ein dunkelroter Orientteppich trug noch zu der
kostbar-gemütlichen Atmosphäre bei.
Als sie noch klein war, hatte sie die Bibliothek
immer für ein Zauberreich gehalten, das aus anderen Dimensionen
hierherversetzt worden war.
Jack trat auf sie zu. In seinem dunklen Abendanzug,
mit seinen edlen Zügen und großen, verschleierten Augen wirkte er
sehr attraktiv. Grace fragte sich, warum sie sich nie in ihn
verliebt hatte.Viele Frauen waren ihm nachgejagt. Die meisten
sogar.
Er lächelte sie an. »Dein Freund ist ein bisschen
wortkarg, nicht?«
Grace sah zu Smith hinüber, der an einem Türrahmen
auf der anderen Raumseite lehnte. Er trug Schwarz, allerdings
keinen Anzug. In dem gedämpften Licht wirkten seine Augen sehr
dunkel.
Sie erwiderte Jacks Lächeln. »Du kennst ihn einfach
nicht.«
»Ich habe auch keine Eile, ihn kennen zu lernen.
Bevor ich den zum Tischnachbarn habe, sitze ich lieber draußen in
der Kälte.«
»Ich freue mich auf Blair morgen«, sagte Grace, die
nicht weiter über Smith reden wollte. »Sag mal, wann werdet ihr
beide endlich heiraten?«
Jack lachte und trank einen Schluck Bourbon. »Du
wechselst das Thema. Gute Strategie und ein besonders geeignetes
Thema. Sollen wir lieber über das Wetter reden?«
Grace lachte. »Du wirst sie doch heiraten,
oder?«
Ihr Freund kniff die Augen schmal zusammen, blickte
in sein Glas und ließ die Flüssigkeit darin kreisen. »Irgendwann
werde ich es schaffen.Wer weiß.Vielleicht sogar sehr bald.«
»Worauf wartest du?«
Seinem eleganten Achselzucken folgte ein
verschmitztes Lächeln. »Die Planeten müssen in der richtigen
Konstellation stehen. Mein Mond sollte sich im ersten Haus
befinden, aber in den letzten dreißig Jahren war er immer im
zweiten. Vielleicht ist es auch andersherum.«
»Sie ist eine wunderbare Frau.«
»Ich weiß. Und sie kommt mit mir zurecht. Das macht
sie geradezu zu einer Heiligen.« Jack blickte hoch. »Aber erzähl
mir ja nicht, dass das Eheleben fantastisch ist. Meine Mutter
versucht mir das ständig einzureden, und ich kann es kaum noch
hören.«
Grace hob ihr Glas an die Lippen und blieb stumm.
Das war vermutlich das Letzte, was sie jemandem erzählen
würde.
Als Marta ankündigte, das Essen sei serviert, bot
ihr Jack den Arm, den sie auch ergriff. So gingen sie zusammen ins
Esszimmer. Dabei spürte sie Smiths scharfen Blick im Rücken. Sie
musste dagegen ankämpfen, nicht herumzuwirbeln und ihm zu sagen,
dass seine Intensität sie sehr nervös machte. Sie war bei sich zu
Hause, umgeben von Freunden. Es war nicht gerade zu erwarten, dass
Hugh Blankenbaker mit der Gabel auf sie zustürzte.
Doch sobald sie sich gesetzt hatte, gab es andere
Sorgen. Mitten im ersten Gang unterbrach die Stimme ihrer Mutter
mit Sensenschärfe alle anderen Gespräche. »Nun sagen Sie mal, Mr.
Smith, was machen Sie eigentlich?«
Allgemeines Schweigen. Alle Augen waren auf Smith
gerichtet, nur Grace’ nicht. Sie blickte auf ihren Teller und
fragte sich, wie sie ihre Mutter am besten ablenken konnte.
Sie konnte ja ihre bevorstehende Scheidung
erwähnen, dachte sie trocken.
»Dienstleistungsgewerbe«, erwiderte John
gelangweilt.
»Und was für Dienste haben Sie zu bieten?«
Grace antwortete an seiner statt. »John arbeitet in
der Organisationsentwicklung. Ich habe ihn in die Stiftung berufen,
um nach Vaters Tod die Teamarbeit zu fördern.«
Carolina starrte ihre Tochter einen Moment lang an.
»Na, wenn es sein muss. Ich kann allerdings immer noch nicht
verstehen, warum du nicht alles Mr. Lamont überlässt. Dein Vater
hatte größtes Vertrauen in ihn.«
Ja, vielleicht, dachte Grace. Aber er hat dem Mann
nicht die Stiftung hinterlassen, oder?
Stattdessen lächelte sie mit schmalen Lippen.
»Danke für den Vorschlag.«
Als sich die Unterhaltung wieder belebte, trafen
sich Grace’ und Smiths Blicke.
Jack stieß sie an. »Na?«
»Wie bitte?«
»Was versteigerst du dieses Jahr beim Ball?«
Ehe sie ihm in aller Freundschaft antworten konnte,
waren die anderen am Tisch wieder verstummt und sahen sie an. Sie
setzte ein Lächen auf und brachte ein paar vorbereitete Floskeln
vor.
»Wir haben die Veranstaltung dieses Jahr verlegt.
Sie findet im Atrium der Hall-Stiftung statt und nicht im Plaza.
Alles wird in den Räumlichkeiten sehr spektakulär wirken, wenn wir
die Akustik hinbekommen.«
Mr. Blankenbaker beugte sich vor und rückte dabei
die Brille auf seiner kleinen Nase höher. »Und was wird
versteigert?«
»Wir haben uns noch nicht entschieden«, antwortete
Grace.
Und es ist eine verdammt schwere Wahl. Zwischen
null und nichts.
»Wären Sie an Copleys Porträt von Nathaniel Walker
interessiert?«
Grace senkte langsam den Löffel. Sie glaubte, ihn
falsch verstanden zu haben. »Wie bitte?«
»John Singleton Copleys Porträt von Nathaniel
Walker. Ich glaube, es stammt aus dem Jahr 1775. Kurz vor der
Schlacht von Concord in Massachusetts, wo Walker von den Briten
gefangen genommen und nach Fort Sagamore verbracht wurde. Sicher
erinnern Sie sich an die Geschichte.«
»Ja, selbstverständlich. Die Stiftung wäre sehr an
diesem Gemälde interessiert!«
Mr. Blankenbaker nickte Jack zu. »Ihr Ahne hängt
schon ziemlich lange über meinem Kamin. Meine Frau hat es Ihrem
Vater abgekauft.«
»Ich erinnere mich«, murmelte Jack. Er freute sich
offensichtlich über Blankenbakers Angebot.
Dann nickte der Mann sein Einverständnis.
»Nun,Walker sieht in unserem Salon zwar großartig
aus, aber meine Frau kauft ständig neue Bilder. Daher können wir
das Porträt der Stiftung spenden. Sie wird sicher zustimmen.
Besonders, wenn Sie selbst der Käufer sind.«
»Wenn es angeboten wird, wird es zu mir
zurückkommen, egal, was es kostet.« Jacks Lächeln konkurrierte mit
dem Glitzern in seinen Augen.
Blankenbaker wandte sich an Grace. »Kommen Sie
morgen nach Edge Water und sehen Sie sich das Bild an. Ich muss
allerdings sagen, dass es gereinigt werde müsste. Es ist ziemlich
dunkel, aber ein ausgezeichnetes Beispiel für Copleys frühe
Abeiten, ehe er über den Teich verschwand und sich einen Namen in
London machte.«
Als Grace sich bei dem Mann bedankte, beugte Jack
sich vor und flüsterte: »Heißt das, dass du die langen Unterhosen
aus meinem Schrank nicht willst, die der Sage nach einmal von
Benedict Arnold getragen wurden?«
Grace verdrehte die Augen und stieß ihn in die
Rippen. Dann sah sie wieder hoch.
Smith starrte sie von seinem Platz gegenüber an.
Sein Blick war sehr streng. Es war, als hätte sie ihn irgendwie
beleidigt, und sie dachte, dass ihre Mutter ihn vielleicht
verärgert hatte. Carolina Woodward Hall konnte sich rühmen, das oft
genug getan zu haben.
Grace trank einen Schluck Wasser und fragte sich,
ob ihr Vater und Smith sich wohl verstanden hätten.Vermutlich traf
das zu. Cornelius fühlte sich zu starken Persönlichkeiten
hingezogen, und Smith gehörte sicherlich in diese Kategorie. Aber
ihr Vater hätte vermutlich etwas dagegen gehabt, dass Grace sich
von ihm so angezogen fühlte.
Als sie ihm ein paar Monate vor seinem Tod
anvertraut hatte, wie schlecht es um ihre Ehe bestellt war, hatte
er sehr nachdrücklich reagiert. Er hatte ihr geraten, sofort nach
Hause zu gehen und sich mit ihrem Mann zu vertragen. Er hatte die
internationale Bedeutung der Sharones betont und auf alle Vorteile
hingewiesen, die ihr der Adelstitel verschaffte. Sie würde Kinder
von königlichem Geblüt haben.Als sie ihm nahebringen wollte, wie
unglücklich sie war, hatte er einfach überhört, dass sie den Mann,
neben dem sie jeden Abend einschlief, nicht liebte. In seinen Augen
war sie eine Verpflichtung gegenüber einem anständigen Mann
eingegangen und fand sich besser damit ab.
An jenem Tag hatte ihr Vater sie sehr enttäuscht.
Aber sie war zurück zu Ranulf gegangen.
Grace blickte zu dem Porträt von Cornelius an der
Wand über dem oberen Tischende. Er sah sehr streng aus. Das
dunkelrote Haar war straff aus der aristokratischen Stirn
gebürstet. Sein Blick wirkte reserviert und abschätzig.
Nach dem Abendessen zerstreute sich die Gruppe.
Smith begleitete Grace zu ihrem Zimmer und ging dann in seins auf
der anderen Flurseite. Er schritt in dem Zimmer, das er für sich
beansprucht hatte, auf und ab. Glücklich war er nicht.
Er hatte Grace und Mister Charming während des
Essens beim Flirten beobachtet, was ihm unendlich auf die Nerven
gegangen war. Sein Zahnpastagrinsen, als er sich von ihr
verabschiedete, hatte ihm den Rest gegeben. Smith fragte sich, ob
Walker so verdammt fröhlich aussah, weil er plante, die Nacht mit
Grace zu verbringen.
Er fuhr sich durch die Haare. Dabei fing er sein
Abbild im Spiegel auf. Er wirkte wie ein Wolf in der Falle und
fragte sich, was mit ihm nicht stimmte.
Du bist eifersüchtig, du Idiot!
»Bin ich nicht!«, murmelte er und wandte
sich ab.
Er ermahnte sich, schimpfte mit sich. Er hatte
keinerlei Ansprüche auf Grace, keinen Grund, sich um das zu
kümmern, was sie in seiner Abwesenheit trieb. Warum sollte sie
nicht mit diesem Männlein flirten, dieser Hugh-Grant-Imitation? Sie
war eine schöne, lebhafte, junge, kluge Frau, die tun und lassen
konnte, was sie wollte.
Smith fluchte laut. Das war eine wunderbare
Erklärung. Echt logisch. Schade nur, dass sie ihn traf wie eine
Faust zwischen die Augen.
Die Vorstellung von ihr im Gespann mit Jack Walker
versetzte ihn in eine Stimmung, in der er nur noch gewinnen wollte.
Er wollte Walker suchen, ihn hinters Haus schleppen und ihm diese
weißen Superzähne geraderichten. Das war natürlich völlig
lächerlich.
Aber etwas Körperliches zu tun war sehr
verlockend.
Smith blickte sich in dem Zimmer um, nahm die hohe
Kommode in der Ecke in Augenschein und entschied sich dagegen. Das
wäre ein guter Gegner - für ein lebloses Objekt, aber er würde sich
wie ein Idiot fühlen, wenn er hier nun alles kurz und klein schlug.
Schließlich war er kein Rockstar.
Nein, er war bloß ein sexuell frustrierter Mann,
der versuchen musste, nur durch einen Flur getrennt in der Nähe
der Frau zu schlafen, die er begehrte - während sie mit einem
anderen schlief.
O verflucht. Sie war nicht das Problem. Das Problem
war seine besitzergreifende Eifersucht. Nach langen Jahren, in
denen er sich einen Dreck darum gekümmert hatte, was alle anderen
in der Welt trieben, ganz zu schweigen davon, mit wem sie ins Bett
gingen, konnte er nicht glauben, dass ihn das Liebesleben einer
Frau interessierte.
Aber diese Verwandlung war zu einem sehr
ungünstigen Zeitpunkt eingetreten.
Smith stöhnte auf. Er musste Grace ein Alarmgerät
geben, falls mitten in der Nacht etwas passierte. Sie waren zwar
nicht in der Stadt, aber Willig bedeutete nicht unbedingt
Sicherheit.
Er öffnete seine Tasche. Als er gefunden hatte, was
er suchte, gab er sich erst einmal ein paar Ratschläge. Er würde
keine Sekunde länger als nötig in ihrem Zimmer bleiben. Er würde
ihr das Ding geben und dann sofort wieder verschwinden.
Er hatte nicht das geringste Interesse daran,
Walker zu begegnen.
Auf seine Selbstkontrolle konnte er sich stets
verlassen. Aber bis zum Äußersten würde er das nicht
austesten.
Grace saß an ihrem Frisiertisch im Bad, als sie
glaubte, ein Klopfen an der Tür zu hören. Sie legte die Haarbürste
ab und lauschte.
Beim zweiten Klopfen tauschte sie das Handtuch, das
sie sich umgewickelt hatte, gegen eine seidene Robe aus und ging
zur Tür. Überrascht sah sie Smith auf dem Gang.
Seinem Gesichtausdruck nach zu urteilen war er kaum
in besserer Stimmung als vorher.
»Was dagegen, wenn ich kurz reinkomme?«
»Bitte.« Grace trat zurück. Sie war sich
schärfstens bewusst, dass sie unter dem Negligee nackt war.
Als er die Tür hinter sich schloss, heftete sich
sein Blick auf ihr feuchtes Haar. Seine Stimme klang mürrisch und
abweisend. »Hier.« Smith hielt ihr ein kleines schwarzes Kästchen
hin. »Das ist ein Alarmgerät. Wenn du auf den Knopf drückst, bin
ich sofort zur Stelle.«
»Danke«, sagte sie und betrachtete es.
Er wandte sich zum Gehen.
»John?« Sie hatte eigentlich nichts sagen wollen,
aber der Name war ihr einfach so von der Zunge geglitten. Als er
sie über die Schulter hinweg anblickte, begann ihr Herz zu
rasen.
»Schon gut«, murmelte sie.
Dann folgte ein langes Schweigen. Endlich wandte er
sich um. Seine Mundwinkel verzogen sich zu einem freudlosen
Lächeln.
»Du schienst überrascht, als du mich vor der Tür
sahst. Hast du jemand anderen erwartet?«
»Nein«, erwiderte sie stirnrunzelnd.
»Sicher?«
»Wen denn …? Jack vielleicht?«
»Scheint der Typ, der gut mit zwei Frauen
fertigwird.Vermutlich ist er auch sehr diskret. Gute Wahl, wenn dir
nach einer Affäre zumute ist.«
Grace zog ihre Robe über der Brust zusammen. »Ist
es aber nicht.«
»Bist du sicher, Gräfin?«
Sein Blick glitt glitzernd an ihr auf und ab. Grace
war verwirrt, aber fand die Veränderung in ihm auch sehr anziehend.
Er strahlte eine heiße, starke sexuelle Energie aus.
»John?«, flüsterte sie. Es klang wie eine
Einladung, und sie wusste es.
Er schüttelte den Kopf, doch sie wusste nicht, ob
es ablehnend gemeint war oder weil er von sich selbst so enttäuscht
war.
»Du bist so verdammt schön«, stieß er hervor. Sein
Blick glitt über ihr Gesicht, den Hals, den gesamten Körper. »Ich
könnte dich fast dafür hassen.«
»Ich will aber nicht, dass du mich hasst.«
»Yeah, aber dann wäre es leichter für mich, mit
meinen Gefühlen fertigzuwerden.«
»Was für Gefühle?« Die Worte waren nur
gehaucht.
»Dass ich mit dir ins Bett will.«
Grace trat unfreiwillig einen Schritt auf ihn zu.
Mit einer einzigen, überraschenden Bewegung riss er sie in die
Arme. Sein Mund presste sich auf ihre Lippen zu einem Kuss, der
hart und fordernd war. Sie öffnete die Lippen und ließ ihn stöhnend
ein. Genau das hatte sie sich schon so lange gewünscht, seit jenem
Abend, als sie sich fast geliebt hatten.
Heute Abend gab es kein Zurück.
Sie spürte, wie seine Finger ihr Negligee öffneten
und ihre nackte Haut streichelten. Als seine Hände ihre Brüste
umfassten, drängte sie sich enger an ihn. Sie umklammerte sein Hemd
und tastete nach den Knöpfen.
Da klopfte es plötzlich laut an der Tür.
»Bist du angezogen? Ich hoffe nicht«, rief Jacks
Stimme, indem er hereinstürmte. »Ich habe Wein mitgebracht …«
Grace und Smith fuhren stöhnend auseinander. Sie
zerrte an der Robe, um sich zu bedecken, und spürte, wie ihr das
Blut in die Wangen schoss. In dem folgenden peinlichen Moment
erinnerte sie sich an die Handwerker, die sie an jenem Morgen so
grob unterbrochen hatten.
Sie und John fanden nie den richtigen
Zeitpunkt.Vielleicht aber hatte der Rest der Welt dieses
Problem.Wie auch immer - es war fürchterlich.
Jack riss die Augen auf. »Ich wollte nicht …«
»Ich wollte gerade gehen«, knurrte Smith. Als er an
dem anderen Mann vorbeischritt, trat Jack rasch beiseite.
Nachdem er die Tür hinter sich zugeknallt hatte,
blickte Jack Grace entschuldigend an. »Ich wusste nicht, dass du
und er … äh … Das erklärt sicherlich eine Menge.«
Grace räusperte sich und fragte sich, was sie sagen
konnte. Sie wollte hinüber zu John eilen und ihm die
Schlussfolgerungen ausreden, zu denen er offensichtlich gelangt
war. Wenn sie seinen Blick aber richtig gedeutet hatte, dann wollte
er vermutlich keinerlei derartigen Besuche von ihr.
Außerdem wartete ihr Freund auf eine
Erklärung.
»Äh … wir sind nicht zusammen … Zumindest ist es
nicht so, wie es aussieht …« Sie hielt inne. »Ach, Scheiße!«
Dann trat sie zu einem Fenster und starrte aufs
Meer hinaus.
»Was ist nur los, Grace?«
Sie warf beide Hände in die Höhe, weil sie nicht
länger die glückliche Ehefrau spielen wollte. »Dir kann ich es ja
ruhig sagen. Ranulf und ich haben uns getrennt.«
Jack pfiff leise durch die Zähne. »Das tut mir
leid. Wann war es?«
»Vor einem Monat. Ich habe die Scheidung
beantragt.«
»Wegen dem Mann, der gerade hinausgegangen
ist?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, mit John hat das
nichts zu tun. Ranulf und ich hätten niemals heiraten
sollen.«
»Das tut mir wirklich leid.« Er verstummte. Dann
lachte er leise auf. »Kann ich dir jetzt sagen, dass ich Ranulf nie
leiden
konnte? Trotz all seiner berühmten Ahnen war er nicht gut genug
für dich.«
»Das ist sehr nett von dir.« Sie wandte sich mit
einem traurigen Lächeln zu ihrem Freund.
»Und wer ist dieser Smith?«
»Das ist kompliziert. Aber … zwischen uns ist
nichts.« Sie sah ihn trocken an. »Trotz allem, was du gerade
gesehen hast.«
»Bist du sicher? Ich begreife nun, dass er mich
immer so wütend anstarrt, als wollte er mich im nächsten Moment
erschießen. Er ist sehr besitzergreifend. Mit dir.«
Grace schüttelte den Kopf. »Also, ich will nicht
über ihn reden, wenn es dir recht ist … es ist …«
»Kompliziert. Das sehe ich.«
Sie lächelte sanft. »Hör mal, meine Mutter weiß es
noch nicht mit Ranulf. Behalte es für dich. Ich werde es ihr
mitteilen, ehe wir wieder abfahren.«
Jack schüttelte den Kopf. »Das wird ein langes
Wochenende.«
»Genau das Gleiche habe ich gedacht, als wir über
die Brücke herfuhren.«
Jack zögerte. »Ich muss aber noch eins über John
Smith sagen.«
»Ja?«
Ihr Freund sah sie ernst an und nickte zur Tür.
»Sei vorsichtig. Wenn du ihn ansiehst, kann jeder an deinem Blick
erkennen, was du für ihn empfindest.«
Grace spürte, wie ein Schauder ihren Rücken
hinabjagte. Jack hatte eindeutig ihre Schauspielerei und die
kleinen Lügen durchschaut.
»Es war nie so mit Ranulf«, flüsterte sie. »Es war
bisher mit niemandem so.«
Jack stellte die Weinflasche und die Gläser ab und
trat zu ihr. »Wir können uns nicht aussuchen, in wen wir uns
verlieben.«
Grace seufzte unglücklich. »Ich bin nicht in ihn
verliebt.«
Jack legte einen Arm um sie, und sie ließ einen
langen Moment den Kopf an seiner Schulter ruhen. Als sie sich
wieder aufrichtete, lächelte sie und strich sich eine Haarsträhne
hinters Ohr.
»Warum sparen wir uns den Wein und unser Geplauder
über die alten Zeiten nicht für ein anderes Mal auf?«
»Danke, Jack. Du bist ein guter Freund.«
Er beugte sich vor, um sie auf die Wange zu küssen.
Als er sich wieder aufrichtete, ertönte sein Handy. Irgendwie
gelang es ihm, den Anruf zu beantworten, die Flasche und die Gläser
zu nehmen und zu gehen, ohne etwas fallen zu lassen.
Grace schaltete das Licht aus und ging zu Bett. Ihr
letzter Gedanke galt der Wut in Johns Gesicht, als er sich
abgewandt hatte.
Sie würde ihm ein wenig Zeit geben, sich abzuregen,
und dann mit ihm reden.
Als Smith die Tür zu seinem Zimmer hinter sich
schloss, fühlte er sich wie ein Idiot.Wie ein außergewöhnlich
großer Idiot.
Das Bild von ihr in ihrer Seidenrobe verfolgte ihn.
Und was sie ihm verweigert hatte.
Dass Walker und sie in genau diesem Moment zusammen
waren …
Er konnte kaum die richtigen Worte finden.
Verdammt!
Und er hatte schon gedacht, das Dinner wäre eine
Qual gewesen. In einem Zimmer eingesperrt zu sein, wo er nur durch
einen Gang von ihrem Bett getrennt war - das war
unerträglich.
Er legte mit ruckartigen Bewegungen seine Waffe ab.
In dieser Stimmung sollte er keinen Revolver tragen.
Was er brauchte, war frische Luft.
Er ging durch eine Tür am Ende der Halle auf die
Veranda. Hier hatte er einen wunderbaren Blick aufs Meer. Er
lauschte den Wellen, sog die feuchte, warme Luft ein und atmete
tief ein paar Mal ein und aus. Dann versuchte er, sich vor Augen zu
führen, was ihn schon einmal so um den Verstand gebracht
hatte.
Es war schon eine Weile her.
In der letzten Zeit hatte er sehr erfolgreich
gearbeitet. Bis er Grace kennen lernte. Wie aus einer kleinen
frivolen Laune des Schicksals heraus hatte er nun eine Menge
Empfindungen, aber keinerlei Beherrschung. Er war frustriert.
Scharf wie ein Hund.Voller Aggression.
Smith stützte sich auf das Geländer und beugte sich
vor. Er starrte in den dunklen, sternenübersäten Himmel, als suchte
er dort eine Antwort. Das überraschte ihn. Eigentlich war er kein
nachdenklicher Typ. Und die Sehnsucht, die er empfand, war für ihn
ebenso untypisch wie der Schmerz in der Brust.
Als er sich von den schweigenden Gestirnen
abwandte, betrachtete er das Haus. Da merkte er, dass er vor Grace’
Schlafzimmer stand. Er sah sie durch die Scheibe mit Jack reden und
wie sie sich in die Arme des anderen fallen ließ.
Da durchfuhr ihn ein kalter, scharfer
Schmerz.
Aus dem ersten Impuls heraus hätte er am liebsten
die Tür eingetreten und die beiden zusammengeschlagen. Um
diese Regung zu unterdrücken, umklammerte er das kalte Geländer
hinter sich so fest, dass seine Handflächen brannten.
Als sie den Kopf von Jack Walkers Schulter hob und
dem Mann in die Augen blickte, breitete sich das Bild in Smith aus
wie ein Fleck. Mit schrecklicher Klarheit sah er, wie sie sich
gegen Walker drängte, die blonden Haare ihr in Wellen über den
Rücken fielen und sie die Arme ausstreckte, um die Schultern des
Mannes zu umklammern.
Walker streichelte ihr Gesicht und beugte sich dann
langsam zu ihren Lippen.
Smith wirbelte herum und rannte zurück in sein
Zimmer.
Mehr wollte er nicht sehen, denn er hatte Angst,
wie er darauf reagieren würde.