15 016
Es war schon dunkel und merklich kühler geworden, als in der Bibliothek die Aperitifs serviert wurden. Wilhelm hatte ein Feuer im Kamin angezündet. Grace stand mit dem Rücken zu den Flammen und nippte an einem Glas Chardonnay.
Die Bibliothek war ihr Lieblingsraum im Haus, denn sie war im Gegensatz zu allen anderen nicht so riesig. Die Wände entlang zogen sich Regale mit zahllosen ledergebundenen Büchern. Sie hatte es immer geliebt, wie die eingeprägten Goldbuchstaben auf den Rücken im Feuerschein glänzten. Die mit dunkelroter Seide bezogenen Sessel und Sofas standen an den richtigen Stellen zum Lesen an den Fenstern, die aber nun von dicken, weichen Vorhängen verhüllt waren. Ein dunkelroter Orientteppich trug noch zu der kostbar-gemütlichen Atmosphäre bei.
Als sie noch klein war, hatte sie die Bibliothek immer für ein Zauberreich gehalten, das aus anderen Dimensionen hierherversetzt worden war.
Jack trat auf sie zu. In seinem dunklen Abendanzug, mit seinen edlen Zügen und großen, verschleierten Augen wirkte er sehr attraktiv. Grace fragte sich, warum sie sich nie in ihn verliebt hatte.Viele Frauen waren ihm nachgejagt. Die meisten sogar.
Er lächelte sie an. »Dein Freund ist ein bisschen wortkarg, nicht?«
Grace sah zu Smith hinüber, der an einem Türrahmen auf der anderen Raumseite lehnte. Er trug Schwarz, allerdings keinen Anzug. In dem gedämpften Licht wirkten seine Augen sehr dunkel.
Sie erwiderte Jacks Lächeln. »Du kennst ihn einfach nicht.«
»Ich habe auch keine Eile, ihn kennen zu lernen. Bevor ich den zum Tischnachbarn habe, sitze ich lieber draußen in der Kälte.«
»Ich freue mich auf Blair morgen«, sagte Grace, die nicht weiter über Smith reden wollte. »Sag mal, wann werdet ihr beide endlich heiraten?«
Jack lachte und trank einen Schluck Bourbon. »Du wechselst das Thema. Gute Strategie und ein besonders geeignetes Thema. Sollen wir lieber über das Wetter reden?«
Grace lachte. »Du wirst sie doch heiraten, oder?«
Ihr Freund kniff die Augen schmal zusammen, blickte in sein Glas und ließ die Flüssigkeit darin kreisen. »Irgendwann werde ich es schaffen.Wer weiß.Vielleicht sogar sehr bald.«
»Worauf wartest du?«
Seinem eleganten Achselzucken folgte ein verschmitztes Lächeln. »Die Planeten müssen in der richtigen Konstellation stehen. Mein Mond sollte sich im ersten Haus befinden, aber in den letzten dreißig Jahren war er immer im zweiten. Vielleicht ist es auch andersherum.«
»Sie ist eine wunderbare Frau.«
»Ich weiß. Und sie kommt mit mir zurecht. Das macht sie geradezu zu einer Heiligen.« Jack blickte hoch. »Aber erzähl mir ja nicht, dass das Eheleben fantastisch ist. Meine Mutter versucht mir das ständig einzureden, und ich kann es kaum noch hören.«
Grace hob ihr Glas an die Lippen und blieb stumm. Das war vermutlich das Letzte, was sie jemandem erzählen würde.
Als Marta ankündigte, das Essen sei serviert, bot ihr Jack den Arm, den sie auch ergriff. So gingen sie zusammen ins Esszimmer. Dabei spürte sie Smiths scharfen Blick im Rücken. Sie musste dagegen ankämpfen, nicht herumzuwirbeln und ihm zu sagen, dass seine Intensität sie sehr nervös machte. Sie war bei sich zu Hause, umgeben von Freunden. Es war nicht gerade zu erwarten, dass Hugh Blankenbaker mit der Gabel auf sie zustürzte.
Doch sobald sie sich gesetzt hatte, gab es andere Sorgen. Mitten im ersten Gang unterbrach die Stimme ihrer Mutter mit Sensenschärfe alle anderen Gespräche. »Nun sagen Sie mal, Mr. Smith, was machen Sie eigentlich?«
Allgemeines Schweigen. Alle Augen waren auf Smith gerichtet, nur Grace’ nicht. Sie blickte auf ihren Teller und fragte sich, wie sie ihre Mutter am besten ablenken konnte.
Sie konnte ja ihre bevorstehende Scheidung erwähnen, dachte sie trocken.
»Dienstleistungsgewerbe«, erwiderte John gelangweilt.
»Und was für Dienste haben Sie zu bieten?«
Grace antwortete an seiner statt. »John arbeitet in der Organisationsentwicklung. Ich habe ihn in die Stiftung berufen, um nach Vaters Tod die Teamarbeit zu fördern.«
Carolina starrte ihre Tochter einen Moment lang an. »Na, wenn es sein muss. Ich kann allerdings immer noch nicht verstehen, warum du nicht alles Mr. Lamont überlässt. Dein Vater hatte größtes Vertrauen in ihn.«
Ja, vielleicht, dachte Grace. Aber er hat dem Mann nicht die Stiftung hinterlassen, oder?
Stattdessen lächelte sie mit schmalen Lippen. »Danke für den Vorschlag.«
Als sich die Unterhaltung wieder belebte, trafen sich Grace’ und Smiths Blicke.
Jack stieß sie an. »Na?«
»Wie bitte?«
»Was versteigerst du dieses Jahr beim Ball?«
Ehe sie ihm in aller Freundschaft antworten konnte, waren die anderen am Tisch wieder verstummt und sahen sie an. Sie setzte ein Lächen auf und brachte ein paar vorbereitete Floskeln vor.
»Wir haben die Veranstaltung dieses Jahr verlegt. Sie findet im Atrium der Hall-Stiftung statt und nicht im Plaza. Alles wird in den Räumlichkeiten sehr spektakulär wirken, wenn wir die Akustik hinbekommen.«
Mr. Blankenbaker beugte sich vor und rückte dabei die Brille auf seiner kleinen Nase höher. »Und was wird versteigert?«
»Wir haben uns noch nicht entschieden«, antwortete Grace.
Und es ist eine verdammt schwere Wahl. Zwischen null und nichts.
»Wären Sie an Copleys Porträt von Nathaniel Walker interessiert?«
Grace senkte langsam den Löffel. Sie glaubte, ihn falsch verstanden zu haben. »Wie bitte?«
»John Singleton Copleys Porträt von Nathaniel Walker. Ich glaube, es stammt aus dem Jahr 1775. Kurz vor der Schlacht von Concord in Massachusetts, wo Walker von den Briten gefangen genommen und nach Fort Sagamore verbracht wurde. Sicher erinnern Sie sich an die Geschichte.«
»Ja, selbstverständlich. Die Stiftung wäre sehr an diesem Gemälde interessiert!«
Mr. Blankenbaker nickte Jack zu. »Ihr Ahne hängt schon ziemlich lange über meinem Kamin. Meine Frau hat es Ihrem Vater abgekauft.«
»Ich erinnere mich«, murmelte Jack. Er freute sich offensichtlich über Blankenbakers Angebot.
Dann nickte der Mann sein Einverständnis.
»Nun,Walker sieht in unserem Salon zwar großartig aus, aber meine Frau kauft ständig neue Bilder. Daher können wir das Porträt der Stiftung spenden. Sie wird sicher zustimmen. Besonders, wenn Sie selbst der Käufer sind.«
»Wenn es angeboten wird, wird es zu mir zurückkommen, egal, was es kostet.« Jacks Lächeln konkurrierte mit dem Glitzern in seinen Augen.
Blankenbaker wandte sich an Grace. »Kommen Sie morgen nach Edge Water und sehen Sie sich das Bild an. Ich muss allerdings sagen, dass es gereinigt werde müsste. Es ist ziemlich dunkel, aber ein ausgezeichnetes Beispiel für Copleys frühe Abeiten, ehe er über den Teich verschwand und sich einen Namen in London machte.«
Als Grace sich bei dem Mann bedankte, beugte Jack sich vor und flüsterte: »Heißt das, dass du die langen Unterhosen aus meinem Schrank nicht willst, die der Sage nach einmal von Benedict Arnold getragen wurden?«
Grace verdrehte die Augen und stieß ihn in die Rippen. Dann sah sie wieder hoch.
Smith starrte sie von seinem Platz gegenüber an. Sein Blick war sehr streng. Es war, als hätte sie ihn irgendwie beleidigt, und sie dachte, dass ihre Mutter ihn vielleicht verärgert hatte. Carolina Woodward Hall konnte sich rühmen, das oft genug getan zu haben.
Grace trank einen Schluck Wasser und fragte sich, ob ihr Vater und Smith sich wohl verstanden hätten.Vermutlich traf das zu. Cornelius fühlte sich zu starken Persönlichkeiten hingezogen, und Smith gehörte sicherlich in diese Kategorie. Aber ihr Vater hätte vermutlich etwas dagegen gehabt, dass Grace sich von ihm so angezogen fühlte.
Als sie ihm ein paar Monate vor seinem Tod anvertraut hatte, wie schlecht es um ihre Ehe bestellt war, hatte er sehr nachdrücklich reagiert. Er hatte ihr geraten, sofort nach Hause zu gehen und sich mit ihrem Mann zu vertragen. Er hatte die internationale Bedeutung der Sharones betont und auf alle Vorteile hingewiesen, die ihr der Adelstitel verschaffte. Sie würde Kinder von königlichem Geblüt haben.Als sie ihm nahebringen wollte, wie unglücklich sie war, hatte er einfach überhört, dass sie den Mann, neben dem sie jeden Abend einschlief, nicht liebte. In seinen Augen war sie eine Verpflichtung gegenüber einem anständigen Mann eingegangen und fand sich besser damit ab.
An jenem Tag hatte ihr Vater sie sehr enttäuscht. Aber sie war zurück zu Ranulf gegangen.
Grace blickte zu dem Porträt von Cornelius an der Wand über dem oberen Tischende. Er sah sehr streng aus. Das dunkelrote Haar war straff aus der aristokratischen Stirn gebürstet. Sein Blick wirkte reserviert und abschätzig.
 
Nach dem Abendessen zerstreute sich die Gruppe. Smith begleitete Grace zu ihrem Zimmer und ging dann in seins auf der anderen Flurseite. Er schritt in dem Zimmer, das er für sich beansprucht hatte, auf und ab. Glücklich war er nicht.
Er hatte Grace und Mister Charming während des Essens beim Flirten beobachtet, was ihm unendlich auf die Nerven gegangen war. Sein Zahnpastagrinsen, als er sich von ihr verabschiedete, hatte ihm den Rest gegeben. Smith fragte sich, ob Walker so verdammt fröhlich aussah, weil er plante, die Nacht mit Grace zu verbringen.
Er fuhr sich durch die Haare. Dabei fing er sein Abbild im Spiegel auf. Er wirkte wie ein Wolf in der Falle und fragte sich, was mit ihm nicht stimmte.
Du bist eifersüchtig, du Idiot!
»Bin ich nicht!«, murmelte er und wandte sich ab.
Er ermahnte sich, schimpfte mit sich. Er hatte keinerlei Ansprüche auf Grace, keinen Grund, sich um das zu kümmern, was sie in seiner Abwesenheit trieb. Warum sollte sie nicht mit diesem Männlein flirten, dieser Hugh-Grant-Imitation? Sie war eine schöne, lebhafte, junge, kluge Frau, die tun und lassen konnte, was sie wollte.
Smith fluchte laut. Das war eine wunderbare Erklärung. Echt logisch. Schade nur, dass sie ihn traf wie eine Faust zwischen die Augen.
Die Vorstellung von ihr im Gespann mit Jack Walker versetzte ihn in eine Stimmung, in der er nur noch gewinnen wollte. Er wollte Walker suchen, ihn hinters Haus schleppen und ihm diese weißen Superzähne geraderichten. Das war natürlich völlig lächerlich.
Aber etwas Körperliches zu tun war sehr verlockend.
Smith blickte sich in dem Zimmer um, nahm die hohe Kommode in der Ecke in Augenschein und entschied sich dagegen. Das wäre ein guter Gegner - für ein lebloses Objekt, aber er würde sich wie ein Idiot fühlen, wenn er hier nun alles kurz und klein schlug. Schließlich war er kein Rockstar.
Nein, er war bloß ein sexuell frustrierter Mann, der versuchen musste, nur durch einen Flur getrennt in der Nähe der Frau zu schlafen, die er begehrte - während sie mit einem anderen schlief.
O verflucht. Sie war nicht das Problem. Das Problem war seine besitzergreifende Eifersucht. Nach langen Jahren, in denen er sich einen Dreck darum gekümmert hatte, was alle anderen in der Welt trieben, ganz zu schweigen davon, mit wem sie ins Bett gingen, konnte er nicht glauben, dass ihn das Liebesleben einer Frau interessierte.
Aber diese Verwandlung war zu einem sehr ungünstigen Zeitpunkt eingetreten.
Smith stöhnte auf. Er musste Grace ein Alarmgerät geben, falls mitten in der Nacht etwas passierte. Sie waren zwar nicht in der Stadt, aber Willig bedeutete nicht unbedingt Sicherheit.
Er öffnete seine Tasche. Als er gefunden hatte, was er suchte, gab er sich erst einmal ein paar Ratschläge. Er würde keine Sekunde länger als nötig in ihrem Zimmer bleiben. Er würde ihr das Ding geben und dann sofort wieder verschwinden.
Er hatte nicht das geringste Interesse daran, Walker zu begegnen.
Auf seine Selbstkontrolle konnte er sich stets verlassen. Aber bis zum Äußersten würde er das nicht austesten.
 
Grace saß an ihrem Frisiertisch im Bad, als sie glaubte, ein Klopfen an der Tür zu hören. Sie legte die Haarbürste ab und lauschte.
Beim zweiten Klopfen tauschte sie das Handtuch, das sie sich umgewickelt hatte, gegen eine seidene Robe aus und ging zur Tür. Überrascht sah sie Smith auf dem Gang.
Seinem Gesichtausdruck nach zu urteilen war er kaum in besserer Stimmung als vorher.
»Was dagegen, wenn ich kurz reinkomme?«
»Bitte.« Grace trat zurück. Sie war sich schärfstens bewusst, dass sie unter dem Negligee nackt war.
Als er die Tür hinter sich schloss, heftete sich sein Blick auf ihr feuchtes Haar. Seine Stimme klang mürrisch und abweisend. »Hier.« Smith hielt ihr ein kleines schwarzes Kästchen hin. »Das ist ein Alarmgerät. Wenn du auf den Knopf drückst, bin ich sofort zur Stelle.«
»Danke«, sagte sie und betrachtete es.
Er wandte sich zum Gehen.
»John?« Sie hatte eigentlich nichts sagen wollen, aber der Name war ihr einfach so von der Zunge geglitten. Als er sie über die Schulter hinweg anblickte, begann ihr Herz zu rasen.
»Schon gut«, murmelte sie.
Dann folgte ein langes Schweigen. Endlich wandte er sich um. Seine Mundwinkel verzogen sich zu einem freudlosen Lächeln.
»Du schienst überrascht, als du mich vor der Tür sahst. Hast du jemand anderen erwartet?«
»Nein«, erwiderte sie stirnrunzelnd.
»Sicher?«
»Wen denn …? Jack vielleicht?«
»Scheint der Typ, der gut mit zwei Frauen fertigwird.Vermutlich ist er auch sehr diskret. Gute Wahl, wenn dir nach einer Affäre zumute ist.«
Grace zog ihre Robe über der Brust zusammen. »Ist es aber nicht.«
»Bist du sicher, Gräfin?«
Sein Blick glitt glitzernd an ihr auf und ab. Grace war verwirrt, aber fand die Veränderung in ihm auch sehr anziehend. Er strahlte eine heiße, starke sexuelle Energie aus.
»John?«, flüsterte sie. Es klang wie eine Einladung, und sie wusste es.
Er schüttelte den Kopf, doch sie wusste nicht, ob es ablehnend gemeint war oder weil er von sich selbst so enttäuscht war.
»Du bist so verdammt schön«, stieß er hervor. Sein Blick glitt über ihr Gesicht, den Hals, den gesamten Körper. »Ich könnte dich fast dafür hassen.«
»Ich will aber nicht, dass du mich hasst.«
»Yeah, aber dann wäre es leichter für mich, mit meinen Gefühlen fertigzuwerden.«
»Was für Gefühle?« Die Worte waren nur gehaucht.
»Dass ich mit dir ins Bett will.«
Grace trat unfreiwillig einen Schritt auf ihn zu. Mit einer einzigen, überraschenden Bewegung riss er sie in die Arme. Sein Mund presste sich auf ihre Lippen zu einem Kuss, der hart und fordernd war. Sie öffnete die Lippen und ließ ihn stöhnend ein. Genau das hatte sie sich schon so lange gewünscht, seit jenem Abend, als sie sich fast geliebt hatten.
Heute Abend gab es kein Zurück.
Sie spürte, wie seine Finger ihr Negligee öffneten und ihre nackte Haut streichelten. Als seine Hände ihre Brüste umfassten, drängte sie sich enger an ihn. Sie umklammerte sein Hemd und tastete nach den Knöpfen.
Da klopfte es plötzlich laut an der Tür.
»Bist du angezogen? Ich hoffe nicht«, rief Jacks Stimme, indem er hereinstürmte. »Ich habe Wein mitgebracht …«
Grace und Smith fuhren stöhnend auseinander. Sie zerrte an der Robe, um sich zu bedecken, und spürte, wie ihr das Blut in die Wangen schoss. In dem folgenden peinlichen Moment erinnerte sie sich an die Handwerker, die sie an jenem Morgen so grob unterbrochen hatten.
Sie und John fanden nie den richtigen Zeitpunkt.Vielleicht aber hatte der Rest der Welt dieses Problem.Wie auch immer - es war fürchterlich.
Jack riss die Augen auf. »Ich wollte nicht …«
»Ich wollte gerade gehen«, knurrte Smith. Als er an dem anderen Mann vorbeischritt, trat Jack rasch beiseite.
Nachdem er die Tür hinter sich zugeknallt hatte, blickte Jack Grace entschuldigend an. »Ich wusste nicht, dass du und er … äh … Das erklärt sicherlich eine Menge.«
Grace räusperte sich und fragte sich, was sie sagen konnte. Sie wollte hinüber zu John eilen und ihm die Schlussfolgerungen ausreden, zu denen er offensichtlich gelangt war. Wenn sie seinen Blick aber richtig gedeutet hatte, dann wollte er vermutlich keinerlei derartigen Besuche von ihr.
Außerdem wartete ihr Freund auf eine Erklärung.
»Äh … wir sind nicht zusammen … Zumindest ist es nicht so, wie es aussieht …« Sie hielt inne. »Ach, Scheiße!«
Dann trat sie zu einem Fenster und starrte aufs Meer hinaus.
»Was ist nur los, Grace?«
Sie warf beide Hände in die Höhe, weil sie nicht länger die glückliche Ehefrau spielen wollte. »Dir kann ich es ja ruhig sagen. Ranulf und ich haben uns getrennt.«
Jack pfiff leise durch die Zähne. »Das tut mir leid. Wann war es?«
»Vor einem Monat. Ich habe die Scheidung beantragt.«
»Wegen dem Mann, der gerade hinausgegangen ist?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, mit John hat das nichts zu tun. Ranulf und ich hätten niemals heiraten sollen.«
»Das tut mir wirklich leid.« Er verstummte. Dann lachte er leise auf. »Kann ich dir jetzt sagen, dass ich Ranulf nie leiden konnte? Trotz all seiner berühmten Ahnen war er nicht gut genug für dich.«
»Das ist sehr nett von dir.« Sie wandte sich mit einem traurigen Lächeln zu ihrem Freund.
»Und wer ist dieser Smith?«
»Das ist kompliziert. Aber … zwischen uns ist nichts.« Sie sah ihn trocken an. »Trotz allem, was du gerade gesehen hast.«
»Bist du sicher? Ich begreife nun, dass er mich immer so wütend anstarrt, als wollte er mich im nächsten Moment erschießen. Er ist sehr besitzergreifend. Mit dir.«
Grace schüttelte den Kopf. »Also, ich will nicht über ihn reden, wenn es dir recht ist … es ist …«
»Kompliziert. Das sehe ich.«
Sie lächelte sanft. »Hör mal, meine Mutter weiß es noch nicht mit Ranulf. Behalte es für dich. Ich werde es ihr mitteilen, ehe wir wieder abfahren.«
Jack schüttelte den Kopf. »Das wird ein langes Wochenende.«
»Genau das Gleiche habe ich gedacht, als wir über die Brücke herfuhren.«
Jack zögerte. »Ich muss aber noch eins über John Smith sagen.«
»Ja?«
Ihr Freund sah sie ernst an und nickte zur Tür. »Sei vorsichtig. Wenn du ihn ansiehst, kann jeder an deinem Blick erkennen, was du für ihn empfindest.«
Grace spürte, wie ein Schauder ihren Rücken hinabjagte. Jack hatte eindeutig ihre Schauspielerei und die kleinen Lügen durchschaut.
»Es war nie so mit Ranulf«, flüsterte sie. »Es war bisher mit niemandem so.«
Jack stellte die Weinflasche und die Gläser ab und trat zu ihr. »Wir können uns nicht aussuchen, in wen wir uns verlieben.«
Grace seufzte unglücklich. »Ich bin nicht in ihn verliebt.«
Jack legte einen Arm um sie, und sie ließ einen langen Moment den Kopf an seiner Schulter ruhen. Als sie sich wieder aufrichtete, lächelte sie und strich sich eine Haarsträhne hinters Ohr.
»Warum sparen wir uns den Wein und unser Geplauder über die alten Zeiten nicht für ein anderes Mal auf?«
»Danke, Jack. Du bist ein guter Freund.«
Er beugte sich vor, um sie auf die Wange zu küssen. Als er sich wieder aufrichtete, ertönte sein Handy. Irgendwie gelang es ihm, den Anruf zu beantworten, die Flasche und die Gläser zu nehmen und zu gehen, ohne etwas fallen zu lassen.
Grace schaltete das Licht aus und ging zu Bett. Ihr letzter Gedanke galt der Wut in Johns Gesicht, als er sich abgewandt hatte.
Sie würde ihm ein wenig Zeit geben, sich abzuregen, und dann mit ihm reden.
 
Als Smith die Tür zu seinem Zimmer hinter sich schloss, fühlte er sich wie ein Idiot.Wie ein außergewöhnlich großer Idiot.
Das Bild von ihr in ihrer Seidenrobe verfolgte ihn. Und was sie ihm verweigert hatte.
Dass Walker und sie in genau diesem Moment zusammen waren …
Er konnte kaum die richtigen Worte finden.
Verdammt!
Und er hatte schon gedacht, das Dinner wäre eine Qual gewesen. In einem Zimmer eingesperrt zu sein, wo er nur durch einen Gang von ihrem Bett getrennt war - das war unerträglich.
Er legte mit ruckartigen Bewegungen seine Waffe ab. In dieser Stimmung sollte er keinen Revolver tragen.
Was er brauchte, war frische Luft.
Er ging durch eine Tür am Ende der Halle auf die Veranda. Hier hatte er einen wunderbaren Blick aufs Meer. Er lauschte den Wellen, sog die feuchte, warme Luft ein und atmete tief ein paar Mal ein und aus. Dann versuchte er, sich vor Augen zu führen, was ihn schon einmal so um den Verstand gebracht hatte.
Es war schon eine Weile her.
In der letzten Zeit hatte er sehr erfolgreich gearbeitet. Bis er Grace kennen lernte. Wie aus einer kleinen frivolen Laune des Schicksals heraus hatte er nun eine Menge Empfindungen, aber keinerlei Beherrschung. Er war frustriert. Scharf wie ein Hund.Voller Aggression.
Smith stützte sich auf das Geländer und beugte sich vor. Er starrte in den dunklen, sternenübersäten Himmel, als suchte er dort eine Antwort. Das überraschte ihn. Eigentlich war er kein nachdenklicher Typ. Und die Sehnsucht, die er empfand, war für ihn ebenso untypisch wie der Schmerz in der Brust.
Als er sich von den schweigenden Gestirnen abwandte, betrachtete er das Haus. Da merkte er, dass er vor Grace’ Schlafzimmer stand. Er sah sie durch die Scheibe mit Jack reden und wie sie sich in die Arme des anderen fallen ließ.
Da durchfuhr ihn ein kalter, scharfer Schmerz.
Aus dem ersten Impuls heraus hätte er am liebsten die Tür eingetreten und die beiden zusammengeschlagen. Um diese Regung zu unterdrücken, umklammerte er das kalte Geländer hinter sich so fest, dass seine Handflächen brannten.
Als sie den Kopf von Jack Walkers Schulter hob und dem Mann in die Augen blickte, breitete sich das Bild in Smith aus wie ein Fleck. Mit schrecklicher Klarheit sah er, wie sie sich gegen Walker drängte, die blonden Haare ihr in Wellen über den Rücken fielen und sie die Arme ausstreckte, um die Schultern des Mannes zu umklammern.
Walker streichelte ihr Gesicht und beugte sich dann langsam zu ihren Lippen.
Smith wirbelte herum und rannte zurück in sein Zimmer.
Mehr wollte er nicht sehen, denn er hatte Angst, wie er darauf reagieren würde.