5 006
Zwanzig Minuten später ging Smith die Stufen der Hall-Stiftung an der Wall Street hinauf. Er hatte sich der Drehtür der Bank kaum genähert, als ein Wachmann in Uniform ihm eine Seitentür aufhielt.
»Mr. Smith?«
Als Smith bejahte, trat der Mann beiseite, um ihn einzulassen.
»Sie erwartet Sie«, sagte er dabei. »In ihrem Büro im obersten Stock. Bitte nehmen Sie diesen Fahrstuhl.« Smith nickte dem Mann zu und betrat den Lift. Mit sanftem Ruck hielt er im zweiundfünfzigsten Stock an. Smith trat auf einen mit dicken Teppichen belegten Gang, an dessen Ende er einen Lichtstreifen unter einer Doppeltür bemerkte. Das Geräusch seiner Schritte wurde von dem dicken Teppich verschluckt. Er ging an Konferenzräumen und Büros vorbei und dachte, ohne die spektakulären Ölgemälde an den Wänden hätte es sich um die Chefsuite eines beliebigen Konzerns handeln können.
Als Smith sich der Doppeltür näherte, verlangsamten sich seine Schritte. Dann trat er ohne anzuklopfen ein und erblickte sie.
Grace war bloß eine Silhouette vor dem funkelnden Bild der Stadt. Sie trug ein rotes, rückenfreies Abendkleid und stand abgewandt vor einem riesigen Fenster. Die Seide umfloss ihren schlanken, geschmeidigen Körper. Das Haar hatte sie hochgesteckt. Mit ihrer eleganten Figur ähnelte sie einer Ballerina.
Smith sah sein Spiegelbild im Fenster im selben Augenblick, als ihm heiße Lust in die Lenden fuhr. Dann hörte er, wie sie scharf einatmete und sich offenbar einen Moment lang sammeln musste, ehe sie sich zu ihm umwandte. Als er ihr Gesicht erblickte, bemerkte er, wie angespannt sie wirkte.
»Sie bewegen sich sehr leise«, sagte sie.
Smith zuckte die Achseln. »Macht wenig Sinn, wenn ich mich überall lautstark ankündige.«
Ihr Mund verzog sich zu einem kleinen Lächeln. Smith schnürte es fast die Kehle zu. Normalerweise ließen ihn gutaussehende Frauen kalt, aber ihre Schönheit wollte er geradezu mit dem ganzen Körper in sich aufsaugen.
Und dagegen wehrte er sich.
»Was ist los?«, fragte er scharf.
»Haben Sie schon das Neueste gehört?« Ihre Stimme klang gebrochen vor Angst und wirkte dadurch höher, als er in Erinnerung hatte.
»Suzanna van der Lyden?« Er nickte.
Grace schlang die Arme um ihren Körper. Bei der Bewegung glitzerten Brillanten auf.
»Ich kann es nicht glauben.« Die Gräfin wandte sich wieder ab, als wollte sie nicht, dass er sah, wie sie um Beherrschung rang. »Gott, wie es ihrer Familie nun geht? Sie hat einen kleinen Sohn.«
Sie warf einen kurzen Blick über die Schulter und betrachtete ihn aufmerksam, als wollte sie erkunden, was er dachte, was für ein Mann er war.
»Kann ich Ihnen vertrauen?«, fragte sie dann leise und dringlich.
»Sie können mir Ihr Leben anvertrauen, Gräfin.«
Schweigen. Dann wandte sie sich ihm ganz zu. »Mein Mann und ich haben uns getrennt. Wir werden uns scheiden lassen.«
Sie beobachtete ihn dabei scharf, als wollte sie herausfinden, ob sein Versprechen Substanz hatte oder bloße Worte waren. Zweifellos war sie besorgt, dass er diese Nachricht gleich an die Medien weitergeben würde. Das konnte er ihr kaum verdenken. Die Trennung von Graf und Gräfin Sharone war eine heiße Story.
Nach einem Moment fuhr sie fort: »Ich will es erst öffentlich bekannt geben, wenn wir die Scheidung geklärt haben. Daher habe ich der Polizei nicht erzählt, dass ich verfolgt werde.«
»Glauben Sie, dass Ihr Mann jemanden auf Sie angesetzt hat?«
»Er könnte jemanden beauftragt haben, mich auszuspionieren.
»Liebt er Sie noch?«
Sie zuckte die Achseln. »Ich bezweifle es.Aber das bedeutet nicht, dass er nicht irgendetwas finden will, das er gegen mich verwenden kann.«
»Und Sie?«
»Ob ich ihn liebe? Nein. Ich habe ihn geheiratet, weil das von mir erwartet wurde.« Sie stieß ein heiseres Lachen aus. »Mein Vater mochte ihn gut leiden. Meine Mutter fand seine Familie passend. Ich dachte, es gibt Schlimmeres, als einen gutaussehenden Mann von königlichem Geblüt zu heiraten.«
Sie blickte wieder aus dem Fenster. »Ich hatte natürlich Unrecht. Man sollte nie aus einem anderen Grund heiraten als aus Liebe.«
Smith runzelte die Stirn.
»Verzeihen Sie, Gräfin, aber glauben Sie wirklich, dass Sie die Scheidung geheim halten können? Nach der Hochzeit?« Er erinnerte sich, wie er im Flugzeug, unterwegs irgendwohin, davon gelesen hatte. Hunderte von Superreichen aus aller Welt waren zu dem Fest nach Europa gereist.Wenn man den Zeitungen glauben konnte, hatte ihr Kleid allein hunderttausend Dollar gekostet.
»Hier in der Stiftung laufen momentan bestimmte Dinge ab, und ich muss stark und unangreifbar wirken. Wenn die Nachricht von meiner Scheidung bekannt wird, wird man annehmen, ich stünde kurz vor einem Nervenzusammenbruch.«
»Und das trifft nicht zu?«
»Sehe ich etwa aus wie ein Wrack?« Ihre Stimme klang fest. Ihre Blicke trafen sich im Spiegelbild der Fensterscheibe.
Er schüttelte den Kopf. In dem roten Kleid sah sie nur verführerisch aus und nicht anders.
Wieder lachte sie heiser. »Gut. Ich habe in den letzten Monaten gelernt, mich über genau diese Illusion zu freuen.«
»Warum setzen wir uns nicht?«, fragte er unvermittelt. »Sie wirken, als würden Sie gleich umfallen.«
Grace richtete den Kopf stolz auf, und einen Moment lang rechnete er damit, dass sie sich weigern würde. Sie würde ebenso wenig zugeben, müde zu sein, wie zu gestehen, welche Angst sie in sich spürte.
Doch anstatt trotzig zu reagieren, setzte sie sich hinter einen großen Schreibtisch. Smith nahm ihr gegenüber Platz. Dann wartete er darauf, dass sie wieder das Wort ergriff, wartete darauf, dass sie die Frage aussprach, die zu beantworten er bereit war.
Grace war fest entschlossen, nicht vor Smith zusammenzubrechen, aber sie fand es jeden Moment schwerer, nicht einfach aufzugeben.
In den letzten paar Stunden hatte sie überlegt, wie sie sich am besten schützen konnte, und die einzige Antwort darauf war er gewesen. Als sie die Oper verlassen hatte, konnte sie sich noch nicht entschließen, nach Hause zu gehen, weil sie Angst vor dem Alleinsein hatte. Also hatte sie seine Handynummer gewählt.
Er war es, den sie wollte, ihn allein. Er war ein zäher Bursche, ein entschlossener Held, bei dessen Anblick jeder Killer das Weite suchen würde. Er würde ihre Sicherheit garantieren. Wenn er sie beschützte, dann erlebte sie vielleicht einmal einen ganzen Tag ohne eine Panikattacke.Vielleicht könnte sie sich sogar wieder auf ihre Arbeit konzentrieren. Vielleicht könnte sie einen Teil ihres früheren Lebens zurückgewinnen.
Ihr Blick suchte ihn. Er hatte einen Sessel knapp außerhalb des Lichtscheins der Schreibtischlampe gewählt. In dem Schatten wirkte er sehr gefährlich: reglos und von gespannter Aufmerksamkeit. Seine Augen konnte sie nicht sehen, aber sie wusste, dass er sie ansah. Selbst im Bann ihrer Angst spürte sie ein Aufwallen von Wärme. Und sie ermahnte sich, dass sie ja Geschäftliches mit ihm zu bereden hatte.
Grace räusperte sich. »Ich möchte Sie mit meinem Schutz beauftragen.«
Mit angehaltenem Atem wartete sie auf seine Antwort.
Smith rückte in seinem Stuhl zurück, wobei seine Lederjacke leise knarrte.
»Wie weit wollen Sie damit gehen?«
»Wie meinen Sie das?«
»Welche Zugeständnisse sind Sie bereit zu machen?«
Sie hob die Brauen. »Zum Beispiel?«
Jetzt wirkte seine Stimme ungeduldig. »Indem Sie Ihren Tagesablauf ändern, Ihre Aktivitäten einschränken, die Stadt verlassen?«
Grace riss die Augen auf. »Ich kann die Stiftung nicht verlassen.Wir planen den Jahresball und …«
Smith schüttelte resolut den Kopf und machte Anstalten, aufzustehen.
»Warten Sie!« Grace’ Stimme klang befehlend. »Wohin gehen Sie?«
Smith erstarrte mitten in der Bewegung. Der Blick, mit dem er sie nun bedachte, sagte ihr deutlich, dass er nicht daran gewohnt war, herumkommandiert zu werden.
»Ich meine, bitte, gehen Sie noch nicht. Sie sind der beste Mann für den Job. Und ich will nur den Besten.« Sanfter fügte sie hinzu: »Ich brauche Sie.«
Smith erhob sich und blickte von seiner vollen Größe auf sie herab. Als er die Hände in die Hüften stemmte, spannte sich die Lederjacke über den breiten Schultern.
Sicher war er ein richtiges Muskelpaket, dachte sie. Nun, eigentlich wusste sie es genau, denn sie hatte ihn ja schon in den Armen gehalten. Und war von ihm umarmt worden.
Lust durchfuhr sie und verdrängte ihre Angst, aber das war kaum besser, so dass sie sich am liebsten verwünscht hätte.Warum konnte sie nicht einfach gelassen bleiben? Von einer Welle der Friedlichkeit erfasst, von Ruhe und Entspannung überwältigt werden?
Nein, jetzt spürte sie auch noch Lust!
»Bitte bleiben Sie«, sagte sie.
»Meine Dame, ich bin der beste Mann für den Job, weil meine Klienten am Leben bleiben. Und zwar nur, weil sie genau das tun, was ich ihnen rate.« Seine Stimme klang gelangweilt, obwohl seine Miene sehr konzentriert wirkte. »Ich habe keinerlei Interesse daran, mit meinen Klienten darüber zu diskutieren, was ich zu tun habe, um deren Leben zu beschützen.«
»Sie verstehen das nicht.« Grace stand auf, damit sie mindestens so dicht auf ihn zutreten konnte, um ihm in die Augen zu blicken. »Ich muss einfach hier am Ort bleiben.«
»Sie wollen lieber einen Ball planen, als Ihr eigenes Leben schützen?« Seine Stimme klang entrüstet, und er wandte sich erneut zum Gehen. »Ich kann Ihnen jemanden empfehlen, der genau das tut, was Sie wünschen. Es gibt jede Menge starke Männer, die Ihnen einfach gehorchen.«
Grace eilte um den Schreibtisch herum und stellte sich zwischen ihn und die Tür.
»Hören Sie mich an.« Noch ehe er widersprechen konnte, deutete sie auf die Büste ihres Vaters. »Das ist mein Vater. Ich bin hier in seinem Büro, weil er verstorben ist, aber nur, weil er das so bestimmt hat. Ich stehe auf Kriegsfuß mit dem Aufsichtsrat und dem zweiten Vorsitzenden. Wenn ich jetzt fortgehe, werde ich nur noch eine Repräsentationsfigur an der Spitze sein.
In meinem Aufsichtsrat sitzt eine Gruppe von Traditionalisten. Die rechte Hand meines Vaters arbeitet gegen mich, weil er selbst an die Spitze will.Wenn ich jetzt verschwinde, verliere ich die Kontrolle über die Stiftung, weil sie mich hinausdrängen werden. Das wäre das erste Mal, dass die Stiftung nicht von einem Mitglied der Familie Hall geleitet wird, und das kann ich einfach nicht zulassen.« Sie sah ihn flehend an. »Es geht um viel mehr als bloß um einen Ball. Aber ich kann auch nicht länger mit dieser Angst leben. Das bringt mich fast um.«
Smith betrachtete sie einen Moment lang. »Sind Sie bereit, völlig aufrichtig zu mir zu sein?«
»Ich habe Ihnen bereits von meinem Mann erzählt, nicht wahr?«
Grace war es unangenehm, mit Smith über ihre Ehe zu reden. Er war neben ihren Anwälten der Einzige, der jetzt Bescheid wusste, und sie hatte ihm nicht gerne die Wahrheit erzählt. Die Regenbogenpresse würde ein Vermögen für eine solche Nachricht zahlen. Aber sie hatte ja keine andere Wahl. Irgendjemandem musste sie vertrauen, und dieser John Smith schien nicht der Typ, der sich für Geld verkaufte. Dafür schien er zu viel Anstand zu haben.
»Haben Sie irgendwelche Neider oder Feinde, die Ihnen schaden wollen?«
Grace runzelte die Stirn. »Wie ich schon sagte, Lou Lamont ist auf meine Position scharf. Er ist sehr aggressiv, aber ich würde nicht glauben, dass er …«
»Sie wären überrascht, wenn Sie wüssten, wozu Menschen fähig sind. Noch jemand?«
Grace schüttelte den Kopf. »Mir fällt sonst niemand ein.«
»Haben Sie Liebhaber?« Eine knappe Frage.
»Gott … warum fragen Sie mich das?«
»Wenn ich für Sie arbeite, muss ich alles wissen.«
»Nehmen Sie mich denn als Klientin?«, fragte sie.
Daraufhin folgte ein längeres Schweigen. »Ich werde ununterbrochen in Ihrer Nähe sein.«
»Natürlich.«
Seine lebhaft blauen, strahlenden Augen verschmälerten sich zu Schlitzen. »Wenn ich den Fall übernehme, müssen Sie völlig aufrichtig sein und alles tun, was ich Ihnen sage.«
In diesem Augenblick wäre es ihr egal gewesen, wenn er ihr erstgeborenes Kind verlangt hätte.
»Absolut.«
»Dann werde ich Sie beschützen.«
Grace holte zum ersten Mal seit Wochen tief Luft. »Gott sei Dank.«
»Und jetzt beantworten Sie bitte meine Frage«, verlangte er. »Haben Sie einen Liebhaber?«
Sie runzelte die Stirn. »Nein. Ich habe keinerlei Beziehungen.«
»Gab es Liebhaber während Ihrer Ehe?«
»Ich weiß nicht, was das …«
»Sagen Sie mir bitte nicht, dass ich Sie über Eifersucht erst aufklären muss.« Seine Stimme klang scharf wie die eines Sergeant beim Drill.
Er ist es gewohnt, dass man ihm gehorcht, dachte sie. Genau wie ihr Vater. Wie man es von ihrem Mann erwartet hatte.
Sie hatte auch gerade zugestimmt, alles zu tun, was er von ihr verlangte.
Vom Regen in die Traufe, dachte sie grimmig.
Aber bloßer Gehorsam war für sie nicht mehr möglich. Er würde sie beschützen, und dafür war sie ihm dankbar, aber das bedeutete nicht, dass sie sich von ihm ununterbrochen herumkommandieren ließ.
Leider hatte er einen guten Grund, sie nach ihrem Liebesleben zu fragen.
Grace holte tief Luft. »Ich war ihm treu. Die ganze Zeit.«
Über seine Züge huschte ein undefinierbarer Ausdruck.
War es Missbilligung? Aber die meisten Menschen hielten Treue für eine Tugend.
»Was passiert denn als Nächstes?«, fragte sie.
»Ich unterrichte den Sicherheitsdienst hier bei der Stiftung. Sie kommen und gehen viel unregelmäßiger und weniger vorhersehbar. Ich ziehe in Ihre Wohnung.«
Sie hörte auf, zustimmend zu nicken. »In meine Wohnung?«
»Ich kann Sie nicht beschützen, wenn ich nicht da bin«, antwortete er trocken. »Und dieser Verrückte, der hinter Ihnen her ist, hat keinen Achtstundentag.«
Grace war völlig sprachlos. Sie hatte noch nicht bedacht, wie nahe sie sich sein würden. »Sind Sie sicher, dass das nötig ist?«
Er sah sie düster an. »Ist es ein Problem für Sie?«
»Sie wollen in meinem Zuhause leben.« Grace fasste sich an den Hals, weil sie sich sehr unsicher fühlte. »Ich weiß doch nichts über Sie.«
»Vermutlich wissen Sie auch nicht viel mehr über den Typen, der Ihnen die Steuern macht.«
Grace stellte sich ihren Steuerberater vor, der eine Lesebrille trug und ihr gerade eben ans Schlüsselbein reichte. Eugene Fesnick, CPA. Wenn der in ihrem Gästezimmer schlafen würde, wäre es nicht das Gleiche. Überhaupt nicht.
»Aber Sie … sind anders.«
»Ich stehe eher auf einer Stufe mit den Jungs, die Ihr Auto waschen, nicht wahr?«
Grace runzelte die Stirn und wollte diesen falschen Eindruck schon zurückweisen, weil sie ihn für etwas Besseres hielt, aber er schien von dem Gesagten seltsam unberührt. Ihm war völlig egal, was sie über ihn dachte. Für ihn war das völlig unwichtig. Er konzentrierte sich auf seine Aufgabe, ihre Sicherheit. Das war alles.
Aber sie wollte nicht wirken, wie es vermutlich so oft der Fall war: oberflächlich, versnobt, privilegiert. Sie hatte sich große Mühe gegeben, dieses Image abzuschütteln. Ihr »populäres Gehabe«, wie ihr Mann es nannte, war ein weiterer Grund, warum Ranulf mit ihr als Frau nicht zufrieden war.
Sie schüttelte den Kopf. »So habe ich das nicht gemeint. Sie sind bloß …«
Smith wandte sich wieder zum Gehen. »Kommen Sie, Gräfin? Oder wollen Sie die ganze Nacht im Büro bleiben?«
Grace weigerte sich, ihm zu folgen. »Es ist bloß, dass ich nicht viele Menschen kenne, die … so hart wirken wie Sie. Das ist für mich ein bisschen einschüchternd. Und wenn Sie mein Haus teilen, ist das alles umso … stärker.«
Smith blieb bei der Tür stehen, schob die Hände tief in die Hosentaschen und blickte bewusst hinaus in den Flur. Sein Profil war starr und schön. Und verriet keinerlei Gefühl.
»Würden Sie mich bitte ansehen, wenn ich mit Ihnen rede?«, verlangte sie.
Als er den Kopf ruckartig drehte, machte sie sich auf einen Vorwurf gefasst. Oder Schlimmeres. Seine Miene wirkte so wütend, dass sie damit rechnete, er würde sie als Klientin ablehnen, noch ehe er mit der Aufgabe begonnen hatte.
Seine Stimme klang sehr ernst. »Gräfin, wir müssen eins klarstellen. Ich bin nicht hier, um Sie kennen zu lernen, ich bin hier, um Ihr Leben zu schützen. Das ist alles. Wenn Sie über Ihre Gefühle reden wollen und wie wir miteinander umgehen, dann rufen Sie eine Freundin an. Davon haben Sie mehr.«
Wut zuckte in ihr auf. »Oh, verzeihen Sie, wenn ich Sie menschlich behandeln will …«
»Schätzchen, das brauche ich nicht.«
Sie sah ihn vernichtend an. »Das wirkte aber keineswegs so, als wir uns das erste Mal begegnet sind. Da wirkten Sie eher ziemlich erregt …«
»Nur weil Sie so albern waren, Barbie.«
»Aber nur, weil Sie mich so angestarrt haben.«
»Daran sollten Sie sich inzwischen gewöhnt haben. Oder putzen Sie sich nur so heraus, weil Sie gerne mit Make-up spielen?«
»Ich putze mich nicht …« Dann verloren sich ihre Worte. »Worüber streiten wir eigentlich?«
Stumm starrten sie einander an.
Und dann lächelte er plötzlich. Das verschlug Grace fast den Atem. Er war sehr attraktiv, wenn er ernst blieb, aber wenn er lächelte, war er nahezu unwiderstehlich.
Vielleicht sah sie ihn doch lieber in finsterer Stimmung.
»Was ist daran so komisch?«, murmelte sie.
»Unter all dem Putz sind Sie ganz schön stahlhart, nicht wahr?«
Grace errötete. »Ich halte mich für zielstrebig.«
Da verschwand sein Lächeln. »Wie auch immer, eines Tages wird Ihnen das nützen. Aber ich nehme keine Befehle entgegen. Ich erteile sie. Ist das klar?«
Grace biss die Zähne zusammen und dachte sich, nun wäre ein guter Moment, für sich einzustehen. »Ich will gerne tun, was Sie für das Beste halten. Aber ein bisschen Gegenseitigkeit macht das Ganze sicher leichter.«
»Ich stehe nicht auf Gegenseitigkeit. Danke.«
Grace legte den Kopf schräg. »Ich soll also einfach alles mitmachen? Sie ziehen in meine Wohnung, übernehmen mein Leben, zwingen mich, über intime Fragen und mein …« Dann geriet sie ins Stolpern, weil sie das Wort Sexualleben nicht aussprechen wollte, fühlte sich aber albern dabei. »Während ich Sie niemals herausfordern darf, selbst dann nicht, wenn Sie einen Fehler begehen?«
»Das haben Sie aber rasch rausbekommen, Gräfin.«
»Das ist unfair.«
»Kehren wir zur Realität zurück. Sie brauchen mich mehr als ich Sie.Wer stellt daher die Spielregeln auf?«
»Ich glaube, ich mag Sie nicht sonderlich«, sagte sie. Das stimmte. Sie war nicht sicher, was sie für ihn empfand, aber das Wort mögen kam ihr nicht in den Sinn.
»Gut, das macht es für uns beide leichter.«
Grace runzelte wieder die Stirn und nickte langsam.
»Gehen wir.«
Er blickte sich im Raum um. Sein Blick fiel auf ihre Handtasche und die Stola auf der glänzenden Tischplatte. Er holte beides und kam zurück zur Tür.
Grace näherte sich mit erhobenem Kopf. Sie wollte keineswegs, dass er bemerkte, wie sehr er sie erregt hatte. Dann blieb sie wartend vor ihm stehen.
»Ja?«, wollte er wissen.
»Oh, ich dachte, Sie helfen mir mit der Stola«, erwiderte sie verlegen. Aber natürlich würde ein Mann wie er nicht den üblichen Anstandsregeln folgen. »Geben Sie sie mir bitte.«
Sie sah, wie er die Stirn runzelte und dann auf ihre ausgestreckte Hand blickte. Er reichte ihr die Handtasche.
Und dann beugte er sich blitzartig vor und legte die rote Seide um ihre Schultern. Anschließend richtete er sich nicht sofort wieder auf. Seine Hände ruhten weiter auf dem feinen Stoff, während sie den Atem anhielt und ihn ansah.
Sie öffnete die Lippen, als sie bemerkte, wie er auf ihren Mund starrte.
Aber er küsste sie nicht.
»Denken Sie daran, Gräfin, ich bin nicht Ihr Begleiter. Und das werde ich auch niemals sein.«
Damit trat er zurück und entfernte sich so rasch, dass sie nach der Stola greifen musste, die fast zu Boden fiel.