5 

Zwanzig Minuten später ging Smith die
Stufen der Hall-Stiftung an der Wall Street hinauf. Er hatte sich
der Drehtür der Bank kaum genähert, als ein Wachmann in Uniform ihm
eine Seitentür aufhielt.
»Mr. Smith?«
Als Smith bejahte, trat der Mann beiseite, um ihn
einzulassen.
»Sie erwartet Sie«, sagte er dabei. »In ihrem Büro
im obersten Stock. Bitte nehmen Sie diesen Fahrstuhl.« Smith nickte
dem Mann zu und betrat den Lift. Mit sanftem Ruck hielt er im
zweiundfünfzigsten Stock an. Smith trat auf einen mit dicken
Teppichen belegten Gang, an dessen Ende er einen Lichtstreifen
unter einer Doppeltür bemerkte. Das Geräusch seiner Schritte wurde
von dem dicken Teppich verschluckt. Er ging an Konferenzräumen und
Büros vorbei und dachte, ohne die spektakulären Ölgemälde an den
Wänden hätte es sich um die Chefsuite eines beliebigen Konzerns
handeln können.
Als Smith sich der Doppeltür näherte, verlangsamten
sich seine Schritte. Dann trat er ohne anzuklopfen ein und
erblickte sie.
Grace war bloß eine Silhouette vor dem funkelnden
Bild der Stadt. Sie trug ein rotes, rückenfreies Abendkleid und
stand abgewandt vor einem riesigen Fenster. Die Seide umfloss ihren
schlanken, geschmeidigen Körper. Das Haar hatte
sie hochgesteckt. Mit ihrer eleganten Figur ähnelte sie einer
Ballerina.
Smith sah sein Spiegelbild im Fenster im selben
Augenblick, als ihm heiße Lust in die Lenden fuhr. Dann hörte er,
wie sie scharf einatmete und sich offenbar einen Moment lang
sammeln musste, ehe sie sich zu ihm umwandte. Als er ihr Gesicht
erblickte, bemerkte er, wie angespannt sie wirkte.
»Sie bewegen sich sehr leise«, sagte sie.
Smith zuckte die Achseln. »Macht wenig Sinn, wenn
ich mich überall lautstark ankündige.«
Ihr Mund verzog sich zu einem kleinen Lächeln.
Smith schnürte es fast die Kehle zu. Normalerweise ließen ihn
gutaussehende Frauen kalt, aber ihre Schönheit wollte er geradezu
mit dem ganzen Körper in sich aufsaugen.
Und dagegen wehrte er sich.
»Was ist los?«, fragte er scharf.
»Haben Sie schon das Neueste gehört?« Ihre Stimme
klang gebrochen vor Angst und wirkte dadurch höher, als er in
Erinnerung hatte.
»Suzanna van der Lyden?« Er nickte.
Grace schlang die Arme um ihren Körper. Bei der
Bewegung glitzerten Brillanten auf.
»Ich kann es nicht glauben.« Die Gräfin wandte sich
wieder ab, als wollte sie nicht, dass er sah, wie sie um
Beherrschung rang. »Gott, wie es ihrer Familie nun geht? Sie hat
einen kleinen Sohn.«
Sie warf einen kurzen Blick über die Schulter und
betrachtete ihn aufmerksam, als wollte sie erkunden, was er dachte,
was für ein Mann er war.
»Kann ich Ihnen vertrauen?«, fragte sie dann leise
und dringlich.
»Sie können mir Ihr Leben anvertrauen,
Gräfin.«
Schweigen. Dann wandte sie sich ihm ganz zu. »Mein
Mann und ich haben uns getrennt. Wir werden uns scheiden
lassen.«
Sie beobachtete ihn dabei scharf, als wollte sie
herausfinden, ob sein Versprechen Substanz hatte oder bloße Worte
waren. Zweifellos war sie besorgt, dass er diese Nachricht gleich
an die Medien weitergeben würde. Das konnte er ihr kaum verdenken.
Die Trennung von Graf und Gräfin Sharone war eine heiße
Story.
Nach einem Moment fuhr sie fort: »Ich will es erst
öffentlich bekannt geben, wenn wir die Scheidung geklärt haben.
Daher habe ich der Polizei nicht erzählt, dass ich verfolgt
werde.«
»Glauben Sie, dass Ihr Mann jemanden auf Sie
angesetzt hat?«
»Er könnte jemanden beauftragt haben, mich
auszuspionieren.
»Liebt er Sie noch?«
Sie zuckte die Achseln. »Ich bezweifle es.Aber das
bedeutet nicht, dass er nicht irgendetwas finden will, das er gegen
mich verwenden kann.«
»Und Sie?«
»Ob ich ihn liebe? Nein. Ich habe ihn geheiratet,
weil das von mir erwartet wurde.« Sie stieß ein heiseres Lachen
aus. »Mein Vater mochte ihn gut leiden. Meine Mutter fand seine
Familie passend. Ich dachte, es gibt Schlimmeres, als einen
gutaussehenden Mann von königlichem Geblüt zu heiraten.«
Sie blickte wieder aus dem Fenster. »Ich hatte
natürlich Unrecht. Man sollte nie aus einem anderen Grund heiraten
als aus Liebe.«
Smith runzelte die Stirn.
»Verzeihen Sie, Gräfin, aber glauben Sie wirklich,
dass Sie die Scheidung geheim halten können? Nach der
Hochzeit?« Er erinnerte sich, wie er im Flugzeug, unterwegs
irgendwohin, davon gelesen hatte. Hunderte von Superreichen aus
aller Welt waren zu dem Fest nach Europa gereist.Wenn man den
Zeitungen glauben konnte, hatte ihr Kleid allein hunderttausend
Dollar gekostet.
»Hier in der Stiftung laufen momentan bestimmte
Dinge ab, und ich muss stark und unangreifbar wirken. Wenn die
Nachricht von meiner Scheidung bekannt wird, wird man annehmen, ich
stünde kurz vor einem Nervenzusammenbruch.«
»Und das trifft nicht zu?«
»Sehe ich etwa aus wie ein Wrack?« Ihre Stimme
klang fest. Ihre Blicke trafen sich im Spiegelbild der
Fensterscheibe.
Er schüttelte den Kopf. In dem roten Kleid sah sie
nur verführerisch aus und nicht anders.
Wieder lachte sie heiser. »Gut. Ich habe in den
letzten Monaten gelernt, mich über genau diese Illusion zu
freuen.«
»Warum setzen wir uns nicht?«, fragte er
unvermittelt. »Sie wirken, als würden Sie gleich umfallen.«
Grace richtete den Kopf stolz auf, und einen Moment
lang rechnete er damit, dass sie sich weigern würde. Sie würde
ebenso wenig zugeben, müde zu sein, wie zu gestehen, welche Angst
sie in sich spürte.
Doch anstatt trotzig zu reagieren, setzte sie sich
hinter einen großen Schreibtisch. Smith nahm ihr gegenüber Platz.
Dann wartete er darauf, dass sie wieder das Wort ergriff, wartete
darauf, dass sie die Frage aussprach, die zu beantworten er bereit
war.
Grace war fest entschlossen, nicht vor Smith
zusammenzubrechen, aber sie fand es jeden Moment schwerer, nicht
einfach aufzugeben.
In den letzten paar Stunden hatte sie überlegt, wie
sie sich am besten schützen konnte, und die einzige Antwort darauf
war er gewesen. Als sie die Oper verlassen hatte, konnte sie sich
noch nicht entschließen, nach Hause zu gehen, weil sie Angst vor
dem Alleinsein hatte. Also hatte sie seine Handynummer
gewählt.
Er war es, den sie wollte, ihn allein. Er war ein
zäher Bursche, ein entschlossener Held, bei dessen Anblick jeder
Killer das Weite suchen würde. Er würde ihre Sicherheit
garantieren. Wenn er sie beschützte, dann erlebte sie vielleicht
einmal einen ganzen Tag ohne eine Panikattacke.Vielleicht könnte
sie sich sogar wieder auf ihre Arbeit konzentrieren. Vielleicht
könnte sie einen Teil ihres früheren Lebens zurückgewinnen.
Ihr Blick suchte ihn. Er hatte einen Sessel knapp
außerhalb des Lichtscheins der Schreibtischlampe gewählt. In dem
Schatten wirkte er sehr gefährlich: reglos und von gespannter
Aufmerksamkeit. Seine Augen konnte sie nicht sehen, aber sie
wusste, dass er sie ansah. Selbst im Bann ihrer Angst spürte sie
ein Aufwallen von Wärme. Und sie ermahnte sich, dass sie ja
Geschäftliches mit ihm zu bereden hatte.
Grace räusperte sich. »Ich möchte Sie mit meinem
Schutz beauftragen.«
Mit angehaltenem Atem wartete sie auf seine
Antwort.
Smith rückte in seinem Stuhl zurück, wobei seine
Lederjacke leise knarrte.
»Wie weit wollen Sie damit gehen?«
»Wie meinen Sie das?«
»Welche Zugeständnisse sind Sie bereit zu
machen?«
Sie hob die Brauen. »Zum Beispiel?«
Jetzt wirkte seine Stimme ungeduldig. »Indem Sie
Ihren Tagesablauf ändern, Ihre Aktivitäten einschränken, die Stadt
verlassen?«
Grace riss die Augen auf. »Ich kann die Stiftung
nicht verlassen.Wir planen den Jahresball und …«
Smith schüttelte resolut den Kopf und machte
Anstalten, aufzustehen.
»Warten Sie!« Grace’ Stimme klang befehlend. »Wohin
gehen Sie?«
Smith erstarrte mitten in der Bewegung. Der Blick,
mit dem er sie nun bedachte, sagte ihr deutlich, dass er nicht
daran gewohnt war, herumkommandiert zu werden.
»Ich meine, bitte, gehen Sie noch nicht. Sie sind
der beste Mann für den Job. Und ich will nur den Besten.« Sanfter
fügte sie hinzu: »Ich brauche Sie.«
Smith erhob sich und blickte von seiner vollen
Größe auf sie herab. Als er die Hände in die Hüften stemmte,
spannte sich die Lederjacke über den breiten Schultern.
Sicher war er ein richtiges Muskelpaket, dachte
sie. Nun, eigentlich wusste sie es genau, denn sie hatte ihn ja
schon in den Armen gehalten. Und war von ihm umarmt worden.
Lust durchfuhr sie und verdrängte ihre Angst, aber
das war kaum besser, so dass sie sich am liebsten verwünscht
hätte.Warum konnte sie nicht einfach gelassen bleiben? Von einer
Welle der Friedlichkeit erfasst, von Ruhe und Entspannung
überwältigt werden?
Nein, jetzt spürte sie auch noch Lust!
»Bitte bleiben Sie«, sagte sie.
»Meine Dame, ich bin der beste Mann für den Job,
weil
meine Klienten am Leben bleiben. Und zwar nur, weil sie genau das
tun, was ich ihnen rate.« Seine Stimme klang gelangweilt, obwohl
seine Miene sehr konzentriert wirkte. »Ich habe keinerlei Interesse
daran, mit meinen Klienten darüber zu diskutieren, was ich zu tun
habe, um deren Leben zu beschützen.«
»Sie verstehen das nicht.« Grace stand auf, damit
sie mindestens so dicht auf ihn zutreten konnte, um ihm in die
Augen zu blicken. »Ich muss einfach hier am Ort bleiben.«
»Sie wollen lieber einen Ball planen, als Ihr
eigenes Leben schützen?« Seine Stimme klang entrüstet, und er
wandte sich erneut zum Gehen. »Ich kann Ihnen jemanden empfehlen,
der genau das tut, was Sie wünschen. Es gibt jede Menge starke
Männer, die Ihnen einfach gehorchen.«
Grace eilte um den Schreibtisch herum und stellte
sich zwischen ihn und die Tür.
»Hören Sie mich an.« Noch ehe er widersprechen
konnte, deutete sie auf die Büste ihres Vaters. »Das ist mein
Vater. Ich bin hier in seinem Büro, weil er verstorben ist, aber
nur, weil er das so bestimmt hat. Ich stehe auf Kriegsfuß mit dem
Aufsichtsrat und dem zweiten Vorsitzenden. Wenn ich jetzt fortgehe,
werde ich nur noch eine Repräsentationsfigur an der Spitze
sein.
In meinem Aufsichtsrat sitzt eine Gruppe von
Traditionalisten. Die rechte Hand meines Vaters arbeitet gegen
mich, weil er selbst an die Spitze will.Wenn ich jetzt verschwinde,
verliere ich die Kontrolle über die Stiftung, weil sie mich
hinausdrängen werden. Das wäre das erste Mal, dass die Stiftung
nicht von einem Mitglied der Familie Hall geleitet wird, und das
kann ich einfach nicht zulassen.« Sie sah ihn flehend an. »Es geht
um viel mehr als bloß um einen Ball.
Aber ich kann auch nicht länger mit dieser Angst leben. Das bringt
mich fast um.«
Smith betrachtete sie einen Moment lang. »Sind Sie
bereit, völlig aufrichtig zu mir zu sein?«
»Ich habe Ihnen bereits von meinem Mann erzählt,
nicht wahr?«
Grace war es unangenehm, mit Smith über ihre Ehe zu
reden. Er war neben ihren Anwälten der Einzige, der jetzt Bescheid
wusste, und sie hatte ihm nicht gerne die Wahrheit erzählt. Die
Regenbogenpresse würde ein Vermögen für eine solche Nachricht
zahlen. Aber sie hatte ja keine andere Wahl. Irgendjemandem musste
sie vertrauen, und dieser John Smith schien nicht der Typ, der sich
für Geld verkaufte. Dafür schien er zu viel Anstand zu haben.
»Haben Sie irgendwelche Neider oder Feinde, die
Ihnen schaden wollen?«
Grace runzelte die Stirn. »Wie ich schon sagte, Lou
Lamont ist auf meine Position scharf. Er ist sehr aggressiv, aber
ich würde nicht glauben, dass er …«
»Sie wären überrascht, wenn Sie wüssten, wozu
Menschen fähig sind. Noch jemand?«
Grace schüttelte den Kopf. »Mir fällt sonst niemand
ein.«
»Haben Sie Liebhaber?« Eine knappe Frage.
»Gott … warum fragen Sie mich das?«
»Wenn ich für Sie arbeite, muss ich alles
wissen.«
»Nehmen Sie mich denn als Klientin?«, fragte
sie.
Daraufhin folgte ein längeres Schweigen. »Ich werde
ununterbrochen in Ihrer Nähe sein.«
»Natürlich.«
Seine lebhaft blauen, strahlenden Augen
verschmälerten sich zu Schlitzen. »Wenn ich den Fall übernehme,
müssen
Sie völlig aufrichtig sein und alles tun, was ich Ihnen
sage.«
In diesem Augenblick wäre es ihr egal gewesen, wenn
er ihr erstgeborenes Kind verlangt hätte.
»Absolut.«
»Dann werde ich Sie beschützen.«
Grace holte zum ersten Mal seit Wochen tief Luft.
»Gott sei Dank.«
»Und jetzt beantworten Sie bitte meine Frage«,
verlangte er. »Haben Sie einen Liebhaber?«
Sie runzelte die Stirn. »Nein. Ich habe keinerlei
Beziehungen.«
»Gab es Liebhaber während Ihrer Ehe?«
»Ich weiß nicht, was das …«
»Sagen Sie mir bitte nicht, dass ich Sie über
Eifersucht erst aufklären muss.« Seine Stimme klang scharf wie die
eines Sergeant beim Drill.
Er ist es gewohnt, dass man ihm gehorcht, dachte
sie. Genau wie ihr Vater. Wie man es von ihrem Mann erwartet
hatte.
Sie hatte auch gerade zugestimmt, alles zu tun, was
er von ihr verlangte.
Vom Regen in die Traufe, dachte sie grimmig.
Aber bloßer Gehorsam war für sie nicht mehr
möglich. Er würde sie beschützen, und dafür war sie ihm dankbar,
aber das bedeutete nicht, dass sie sich von ihm ununterbrochen
herumkommandieren ließ.
Leider hatte er einen guten Grund, sie nach ihrem
Liebesleben zu fragen.
Grace holte tief Luft. »Ich war ihm treu. Die ganze
Zeit.«
Über seine Züge huschte ein undefinierbarer
Ausdruck.
War es Missbilligung? Aber die meisten Menschen
hielten Treue für eine Tugend.
»Was passiert denn als Nächstes?«, fragte
sie.
»Ich unterrichte den Sicherheitsdienst hier bei der
Stiftung. Sie kommen und gehen viel unregelmäßiger und weniger
vorhersehbar. Ich ziehe in Ihre Wohnung.«
Sie hörte auf, zustimmend zu nicken. »In meine
Wohnung?«
»Ich kann Sie nicht beschützen, wenn ich nicht da
bin«, antwortete er trocken. »Und dieser Verrückte, der hinter
Ihnen her ist, hat keinen Achtstundentag.«
Grace war völlig sprachlos. Sie hatte noch nicht
bedacht, wie nahe sie sich sein würden. »Sind Sie sicher, dass das
nötig ist?«
Er sah sie düster an. »Ist es ein Problem für
Sie?«
»Sie wollen in meinem Zuhause leben.« Grace fasste
sich an den Hals, weil sie sich sehr unsicher fühlte. »Ich weiß
doch nichts über Sie.«
»Vermutlich wissen Sie auch nicht viel mehr über
den Typen, der Ihnen die Steuern macht.«
Grace stellte sich ihren Steuerberater vor, der
eine Lesebrille trug und ihr gerade eben ans Schlüsselbein reichte.
Eugene Fesnick, CPA. Wenn der in ihrem Gästezimmer schlafen würde,
wäre es nicht das Gleiche. Überhaupt nicht.
»Aber Sie … sind anders.«
»Ich stehe eher auf einer Stufe mit den Jungs, die
Ihr Auto waschen, nicht wahr?«
Grace runzelte die Stirn und wollte diesen falschen
Eindruck schon zurückweisen, weil sie ihn für etwas Besseres hielt,
aber er schien von dem Gesagten seltsam unberührt. Ihm war völlig
egal, was sie über ihn dachte. Für ihn war
das völlig unwichtig. Er konzentrierte sich auf seine Aufgabe,
ihre Sicherheit. Das war alles.
Aber sie wollte nicht wirken, wie es vermutlich so
oft der Fall war: oberflächlich, versnobt, privilegiert. Sie hatte
sich große Mühe gegeben, dieses Image abzuschütteln. Ihr »populäres
Gehabe«, wie ihr Mann es nannte, war ein weiterer Grund, warum
Ranulf mit ihr als Frau nicht zufrieden war.
Sie schüttelte den Kopf. »So habe ich das nicht
gemeint. Sie sind bloß …«
Smith wandte sich wieder zum Gehen. »Kommen Sie,
Gräfin? Oder wollen Sie die ganze Nacht im Büro bleiben?«
Grace weigerte sich, ihm zu folgen. »Es ist bloß,
dass ich nicht viele Menschen kenne, die … so hart wirken wie Sie.
Das ist für mich ein bisschen einschüchternd. Und wenn Sie mein
Haus teilen, ist das alles umso … stärker.«
Smith blieb bei der Tür stehen, schob die Hände
tief in die Hosentaschen und blickte bewusst hinaus in den Flur.
Sein Profil war starr und schön. Und verriet keinerlei
Gefühl.
»Würden Sie mich bitte ansehen, wenn ich mit Ihnen
rede?«, verlangte sie.
Als er den Kopf ruckartig drehte, machte sie sich
auf einen Vorwurf gefasst. Oder Schlimmeres. Seine Miene wirkte so
wütend, dass sie damit rechnete, er würde sie als Klientin
ablehnen, noch ehe er mit der Aufgabe begonnen hatte.
Seine Stimme klang sehr ernst. »Gräfin, wir müssen
eins klarstellen. Ich bin nicht hier, um Sie kennen zu lernen, ich
bin hier, um Ihr Leben zu schützen. Das ist alles. Wenn Sie über
Ihre Gefühle reden wollen und wie wir miteinander umgehen, dann
rufen Sie eine Freundin an. Davon haben Sie mehr.«
Wut zuckte in ihr auf. »Oh, verzeihen Sie, wenn ich
Sie menschlich behandeln will …«
»Schätzchen, das brauche ich nicht.«
Sie sah ihn vernichtend an. »Das wirkte aber
keineswegs so, als wir uns das erste Mal begegnet sind. Da wirkten
Sie eher ziemlich erregt …«
»Nur weil Sie so albern waren, Barbie.«
»Aber nur, weil Sie mich so angestarrt
haben.«
»Daran sollten Sie sich inzwischen gewöhnt haben.
Oder putzen Sie sich nur so heraus, weil Sie gerne mit Make-up
spielen?«
»Ich putze mich nicht …« Dann verloren sich ihre
Worte. »Worüber streiten wir eigentlich?«
Stumm starrten sie einander an.
Und dann lächelte er plötzlich. Das verschlug Grace
fast den Atem. Er war sehr attraktiv, wenn er ernst blieb, aber
wenn er lächelte, war er nahezu unwiderstehlich.
Vielleicht sah sie ihn doch lieber in finsterer
Stimmung.
»Was ist daran so komisch?«, murmelte sie.
»Unter all dem Putz sind Sie ganz schön stahlhart,
nicht wahr?«
Grace errötete. »Ich halte mich für
zielstrebig.«
Da verschwand sein Lächeln. »Wie auch immer, eines
Tages wird Ihnen das nützen. Aber ich nehme keine Befehle entgegen.
Ich erteile sie. Ist das klar?«
Grace biss die Zähne zusammen und dachte sich, nun
wäre ein guter Moment, für sich einzustehen. »Ich will gerne tun,
was Sie für das Beste halten. Aber ein bisschen Gegenseitigkeit
macht das Ganze sicher leichter.«
»Ich stehe nicht auf Gegenseitigkeit. Danke.«
Grace legte den Kopf schräg. »Ich soll also einfach
alles mitmachen? Sie ziehen in meine Wohnung, übernehmen
mein Leben, zwingen mich, über intime Fragen und mein …« Dann
geriet sie ins Stolpern, weil sie das Wort Sexualleben nicht
aussprechen wollte, fühlte sich aber albern dabei. »Während ich Sie
niemals herausfordern darf, selbst dann nicht, wenn Sie einen
Fehler begehen?«
»Das haben Sie aber rasch rausbekommen,
Gräfin.«
»Das ist unfair.«
»Kehren wir zur Realität zurück. Sie brauchen mich
mehr als ich Sie.Wer stellt daher die Spielregeln auf?«
»Ich glaube, ich mag Sie nicht sonderlich«, sagte
sie. Das stimmte. Sie war nicht sicher, was sie für ihn empfand,
aber das Wort mögen kam ihr nicht in den Sinn.
»Gut, das macht es für uns beide leichter.«
Grace runzelte wieder die Stirn und nickte
langsam.
»Gehen wir.«
Er blickte sich im Raum um. Sein Blick fiel auf
ihre Handtasche und die Stola auf der glänzenden Tischplatte. Er
holte beides und kam zurück zur Tür.
Grace näherte sich mit erhobenem Kopf. Sie wollte
keineswegs, dass er bemerkte, wie sehr er sie erregt hatte. Dann
blieb sie wartend vor ihm stehen.
»Ja?«, wollte er wissen.
»Oh, ich dachte, Sie helfen mir mit der Stola«,
erwiderte sie verlegen. Aber natürlich würde ein Mann wie er nicht
den üblichen Anstandsregeln folgen. »Geben Sie sie mir
bitte.«
Sie sah, wie er die Stirn runzelte und dann auf
ihre ausgestreckte Hand blickte. Er reichte ihr die
Handtasche.
Und dann beugte er sich blitzartig vor und legte
die rote Seide um ihre Schultern. Anschließend richtete er sich
nicht sofort wieder auf. Seine Hände ruhten weiter auf dem feinen
Stoff, während sie den Atem anhielt und ihn ansah.
Sie öffnete die Lippen, als sie bemerkte, wie er
auf ihren Mund starrte.
Aber er küsste sie nicht.
»Denken Sie daran, Gräfin, ich bin nicht Ihr
Begleiter. Und das werde ich auch niemals sein.«
Damit trat er zurück und entfernte sich so rasch,
dass sie nach der Stola greifen musste, die fast zu Boden
fiel.